Er hätte mich in der Nacht töten sollen. Es wäre leichter gewesen.
Das ist selbstsüchtig von dir.
Was?
Er hat dir seinen Körper gegeben. Er hat dir Lust bereitet, an die kein sterblicher Geliebter heranreichen kann. Er hat gegen seine Natur angekämpft, um dich am Leben zu erhalten, und du wünschst, er hätte sich nicht die Mühe gemacht.
Ich meinte nicht ...
Doch, meintest du. Oh, Kind. Du glaubst, du liebst ihn? Du glaubst, du bist seiner Liebe würdig?
Ich kann nicht für ihn sprechen. Aber ich weiß, was ich fühle.
Sei keine ...
Und ich weiß, was ich höre. Eifersucht steht dir nicht.
Was?
Das ist es, warum du so böse auf mich bist, nicht wahr? Du bist genau wie Itempas — du kannst es nicht ertragen, zu teilen ...
Schweig!
... aber das ist auch nicht nötig. Verstehst du nicht? Er hat niemals aufgehört, dich zu lieben. Und er wird es auch nie tun. Du und Itempas, ihr werdet immer sein Herz in Händen halten.
Ja. Das stimmt. Aber ich bin tot, und Itempas ist verrückt.
Und ich sterbe. Armer Nahadoth.
Armer Nahadoth und wir Armen.
Ich erwachte langsam. Zunächst spürte ich Wärme und Behaglichkeit. Sonnenlicht schien mir seitlich ins Gesicht und erschien rot durch meine Augenlider. Eine Hand rieb in kleinen Kreisen über meinen Rücken.
Ich öffnete meine Augen und verstand nicht, was ich als Erstes sah. Eine weiße, wogende Oberfläche. Ich hatte flüchtige Erinnerungen an etwas Ähnliches — gefrorene Explosionen —, und dann schwammen die Erinnerungen davon, tiefer in mein Bewusstsein und aus meiner Reichweite hinaus. Einen Moment lang hielt das Verstehen an: Ich war sterblich und nicht bereit für gewisse Kenntnisse. Dann verschwand selbst das, und ich war wieder ich selbst. Ich trug einen Plüschbademantel. Ich saß bei jemandem auf dem Schoß. Ich stutzte und hob meinen Kopf.
Nahadoths Tagesgestalt schaute mich mit ehrlichen, viel zu menschlichen Augen an.
Halb fiel ich und halb sprang ich von seinem Schoß ohne nachzudenken und rollte mich auf die Füße. Er stand mit mir zusammen auf, und ein spannungsgeladener Moment verging, in dem ich ihn anstarrte und er einfach nur dastand.
Der Moment wurde unterbrochen, als er sich zu dem kleinen Nachttisch umdrehte, auf dem ein glänzendes silbernes Teeservice stand. Er goss ein, und das leise Geräusch der Flüssigkeit ließ mich zusammenzucken, obwohl ich nicht wusste, warum. Dann hielt er mir die Tasse hin, bot sie mir an.
Nackt stand ich vor ihm und bot mich an ...
Verschwunden, wie Fische im Teich.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er. Ich zuckte wieder zusammen und war nicht sicher, ob ich die Worte verstanden hatte. Wie fühlte ich mich? Warm. Sicher. Sauber. Ich hob eine Hand und schnupperte an meinem Handgelenk — ich roch nach Seife.
»Ich habe dich gebadet. Ich hoffe, du vergibst mir, dass ich so frei war.« Seine Stimme war tief und sanft, als ob er mit einer schreckhaften Stute sprach. Er sah anders aus als am Tag zuvor — zum einen gesünder, aber auch brauner, wie ein Darre-Mann. »Du hast so tief geschlafen, dass du nicht aufgewacht bist. Ich habe den Bademantel im Schrank gefunden.«
Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich einen Bademantel besaß. Mit einiger Verspätung dämmerte es mir, dass er mir immer noch die Tasse Tee hinstreckte. Ich nahm sie, mehr aus Höflichkeit denn aus wirklichem Interesse. Als ich daran nippte, war ich überrascht, dass er lauwarm und mit reichlich kühlender Minze und beruhigenden Kräutern angereichert war. Naha hielt die Kanne hin, bot mir schweigend noch mehr an, und ich ließ ihn eingießen.
»Was für ein Wunder du bist«, murmelte ich und trank. Lärm. Er starrte mich an, und da störte es mich. Ich schloss meine Augen, um ihn auszuschließen, und genoss den Tee.
»Du warst eiskalt und schmutzig, als ich aufwachte. Du warst mit etwas — ich glaube, Ruß — über und über bedeckt. Das Bad schien dich zu wärmen und half dir auch.« Er zeigte mit dem Kopf auf den Stuhl, wo wir gesessen hatten. »Da war nirgendwo anders, also ...«
»Das Bett«, sagte ich und zuckte erneut zusammen. Meine Stimme war heiser, und meine Kehle fühlte sich roh und wund an. Die Minze half.
Naha hielt kurz inne, und seine Lippen kräuselten sich mit einem Hauch seiner üblichen Grausamkeit. »Das Bett wäre nicht sinnvoll gewesen.«
Verwirrt schaute ich an ihm vorbei und hielt meinen Atem an. Das Bett war ein Trümmerhaufen, dessen zersplitterter Rahmen auf zerbrochenen Beinen durchhing. Die Matratze sah so aus, als ob man sie mit einem Schwert zerfetzt und dann in Brand gesetzt hätte. Lose Gänsedaunen und verkohlte Stofffetzen übersäten das Zimmer.
Es war nicht nur das Bett. Eins der großen Fenster des Zimmers war wie von einem Spinnennetz durchzogen — ich konnte von Glück reden, dass es nicht zerborsten war. Der Frisierspiegel hingegen war zerbrochen. Eins meiner Bücherregale lag auf dem Boden. Sein Inhalt war überall verstreut, aber unversehrt. Zu meiner großen Erleichterung sah ich das Buch meines Vaters dort. Das andere Bücherregal war zu Zündholz zertrümmert, ebenso wie die meisten Bücher, die darin gestanden hatten.
Naha nahm mir die leere Teetasse aus der Hand, bevor ich sie fallen ließ. »Du musst einen von deinen Enefadeh-Freunden holen, um das in Ordnung zu bringen. Ich habe die Bediensteten heute Morgen ferngehalten, aber das wird nicht allzu lange gut gehen.«
»Ich ... ich weiß nicht...« Ich schüttelte meinen Kopf. So viel von dem, was geschehen war, erschien mir wie ein Traum, mehr metaphysisch denn wirklich. Ich erinnerte mich, dass ich gefallen war. Es gab kein Loch in der Zimmerdecke. Dennoch, das Bett...
Naha sagte nichts, als ich durch das Zimmer ging und unter meinen Hausschuhen Glas und Splitter knirschten. Als ich einen Splitter des Spiegels aufhob und mein Gesicht anstarrte, sagte er: »Du siehst dem Wandgemälde in der Bibliothek nicht so ähnlich, wie ich dachte.«
Daraufhin drehte ich mich um und schaute ihn an. Er lächelte mich an. Ich hatte gedacht, dass er ein Mensch war, aber nein. Er hatte zu lange und zu seltsam gelebt, er wusste zu viel. Vielleicht war er so wie die alten Dämonen, halb sterblich und halb etwas anderes.
»Wie lange weißt du es schon?«, fragte ich.
»Seit wir uns begegnet sind.« Seine Lippen kräuselten sich.
»Obwohl man das nicht wirklich eine ›Begegnung‹ nennen kann, das gebe ich zu.«
Er war stehengeblieben und hatte mich angestarrt, an dem ersten Abend in Elysium. Das hatte ich in der Welle des Entsetzens danach völlig vergessen. Dann später in Seiminas Quartier ... »Du bist ein guter Schauspieler.«
»Das muss ich auch sein.« Sein Lächeln war vergangen. »Selbst dann war ich nicht sicher. Nicht, bis ich aufwachte und das hier sah.« Er zeigte auf das verwüstete Zimmer. »Und du hier neben mir — lebendig.«
Das hatte ich nicht erwartet. Aber ich war es, und jetzt würde ich mich mit den Konsequenzen auseinandersetzen müssen.
»Ich bin nicht sie«, sagte ich.
»Nein. Aber ich wette, dass du ein Teil von ihr bist oder sie ist ein Teil von dir. Ich weiß ein bisschen über diese Dinge.« Er fuhr mit einem Finger durch seine widerspenstigen schwarzen Locken. Nur Haare, nicht die rauchartigen Locken seines Gott-Ichs, aber was er meinte, war deutlich.
»Warum hast du es niemandem gesagt?«
»Glaubst du, dass ich das tun würde?«
»Ja.«
Er lachte, obwohl in dem Klang eine gewisse Schärfe lag. »Und du kennst mich so gut.«
»Du würdest alles tun, um dein Leben einfacher zu gestalten.«
»Ah. Dann kennst du mich also doch.« Er ließ sich in den Stuhl fallen — das einzige unversehrte Möbelstück im Zimmer. »Aber wenn du so viel weißt, Lady, dann solltest du in der Lage sein, zu erraten, warum ich niemals den Arameri von deiner ... Einzigartigkeit erzählen würde.«
Ich legte den Spiegelsplitter hin und ging zu ihm. »Erkläre es mir«, befahl ich, denn ich empfand wohl Mitleid für ihn, aber ich würde ihn nie mögen.
Er schüttelte den Kopf, als ob er mich für meine Ungeduld tadelte. »Ich will auch frei sein.«
Ich stutzte. »Aber wenn der Lord der Finsternis jemals befreit wird ...« Was geschah mit der sterblichen Seele, die sich in dem Körper des Gottes befand? Würde er schlafen und nie aufwachen? Würde ein Teil von ihm überdauern — gefangen und be- wusst in einem fremden Geist? Oder würde er einfach aufhören, zu existieren?
Er nickte, und mir wurde klar, dass ihm all diese Gedanken und noch mehr im Laufe der Jahrhunderte auch schon gekommen sein mussten. »Er hat versprochen, mich zu vernichten, wenn dieser Tag je kommen sollte.«
Und als mir klar wurde, dass dieser Naha an jenem Tag jubeln würde, lief es mir kalt über den Rücken. Vielleicht hatte er schon vorher versucht, sich umzubringen, nur, um am nächsten Morgen wieder aufzuerstehen, weil er von einer Magie, die einen Gott quälen soll, gefangen gehalten wird.
Nun, wenn alles so lief wie geplant, würde er bald frei sein.
Ich stand auf und ging zu dem unbeschädigten Fenster. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war bereits Nachmittag. Der letzte Tag meines Lebens war halb vorüber. Ich versuchte, mir darüber klar zu werden, wie ich die restliche Zeit verbringen sollte, als ich eine neue Präsenz spürte. Ich drehte mich um. Si’eh stand dort und sah vom Bett aus zu mir, zu Naha und wieder zurück.
»Es scheint dir gut zu gehen«, sagte ich erfreut. Er war wieder richtig jung; auf einem seiner Knie prangte ein Grasfleck. Der Ausdruck in seinen Augen, als er Naha ansah, war allerdings alles andere als kindlich. Als sich seine Pupillen zu bösartigen Schlitzen verengten, wusste ich, dass ich eingreifen musste. Ich ging zu Si’eh und trat dabei absichtlich in sein Gesichtsfeld. Dann breitete ich mit einer einladenden Geste meine Arme aus.
Er legte seine Arme um mich, was zunächst liebevoll erschien. Dann aber hob er mich hoch, stellte mich hinter sich, drehte sich um und sah erneut Naha an.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Yeine?«, fragte er und hockte sich hin. Das war nicht das Hocken eines Kämpfers, sondern eher die Bewegung, die ein Tier macht, bevor es abspringt. Naha erwiderte kalt seinen Blick.
Ich legte meine Hand auf seine Schulter, die wie ein Bogen gespannt war. »Es geht mir gut.«
»Dieser hier ist gefährlich, Yeine. Wir trauen ihm nicht.«
»Wie nett, Si’eh«, sagte Naha, und da war dieser grausame Klang wieder in seiner Stimme. Er breitete seine Arme aus und ahmte so spöttisch meine Geste nach. »Ich habe dich vermisst. Komm und gib deinem Vater einen Kuss.«
Si’eh zischte, und ich fragte mich kurz, ob ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, ihn aufzuhalten. Dann lachte Naha und setzte sich wieder in den Stuhl. Natürlich wusste er genau, wie weit er gehen konnte.
Si’eh sah so aus, als ob er immer noch Entsetzliches vorhätte, als mir endlich die Idee kam, ihn abzulenken. »Si’eh. Ich war letzte Nacht mit deinem Vater zusammen.«
Er wirbelte herum, um mich anzusehen, und war so erschrocken, dass seine Augen schlagartig wieder menschlich wurden. Hinter ihm kicherte Naha leise.
»Das ist nicht möglich«, sagte Si’eh. »Es ist Jahrhunderte her seit ...« Er hielt inne und beugte sich nach vorne. Ich sah, wie seine Nasenflügel leicht bebten — einmal, zweimal. »Himmel und Erde. Du warst mit ihm zusammen.«
Verlegen schnupperte ich verstohlen am Kragen meines Bademantels. Ich hoffte, dass nur Götter in der Lage waren, das festzustellen.
»Ja.«
»Aber er ... das hätte ...« Si’eh schüttelte vehement seinen Kopf. »Yeine, oh, Yeine, weißt du, was das bedeutet?«
»Es bedeutet, dass dein kleines Experiment erfolgreicher war, als du dachtest«, sagte Naha. In den Schatten des Stuhls glitzerten seine Augen und erinnerten mich ein wenig an sein anderes Ich.
»Vielleicht solltest du sie auch einmal ausprobieren, Si’eh. Du musst doch genug von perversen alten Männern haben.«
Si’eh wurde stocksteif, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich staunte, dass solche Provokationen bei ihm anschlugen — aber vielleicht war das eine weitere seiner Schwächen. Er hatte sich den Gesetzen der Kindheit verschrieben; vielleicht lautete eins dieser Gesetze: Du sollst nicht ruhig bleiben, wenn du schikaniert wirst ...
Ich berührte sein Kinn und drehte sein Gesicht wieder zu mir. »Das Zimmer. Könntest du ...?«
»Oh. Ja.« Er drehte Naha demonstrativ den Rücken zu, sah sich im Zimmer um und sagte dann schnell und schrill etwas in seiner Sprache. Das Zimmer war plötzlich wieder wie neu. Einfach so.
»Praktisch«, sagte ich.
»Niemand kann Durcheinander besser aufräumen als ich.« Er ließ ein schnelles Grinsen aufblitzen.
Naha stand auf und sah die wiederhergestellten Bücherregale durch, wobei er uns geflissentlich ignorierte. Erst jetzt wurde mir klar, dass er vor Si’ehs Auftauchen anders gewesen war ... besorgt, respektvoll und beinahe freundlich. Ich öffnete den Mund, um ihm dafür zu danken, und besann mich dann eines Besseren. Si’eh hatte sich viel Mühe gegeben, diese Seite vor mir zu verbergen, aber ich hatte die Zeichen eines grausamen Zugs in ihm gesehen. Zwischen den beiden gab es seit sehr langer Zeit böses Blut, und so etwas war höchst selten einseitig.
»Lass uns irgendwo hingehen, wo wir reden können. Ich habe eine Nachricht für dich.« Si’eh unterbrach meine Tagträume und zog mich zur nächsten Wand. Wir gingen hindurch in den unge- nutzen Raum dahinter.
Einige Räume später seufzte Si’eh, öffnete seinen Mund, schloss ihn wieder und entschloss sich dann endlich, zu sprechen. »Die Nachricht, die ich bringe, ist von Relad. Er will dich sehen.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich finde, du solltest nicht hingehen.«
Ich runzelte die Stirn. »Warum nicht?«
»Denk nach, Yeine. Du bist nicht die Einzige, die morgen dem Tod ins Gesicht schaut. Wenn du Scimina zur Erbin machst, wird sie als Erstes ihren kleinen Bruder umbringen, und er weiß das. Was wäre, wenn er beschließt, dass dich umzubringen — und zwar jetzt, vor der Zeremonie — der beste Weg ist, um sein Leben ein paar Tage zu verlängern? Es wäre natürlich sinnlos, denn Dekarta hat gesehen, was mit Darr geschieht. Er wird einfach ein anderes Opfer bestimmen und der Person sagen, sie soll Scimina erwählen. Aber verzweifelte Männer denken nicht immer vernünftig.«
Si’ehs Argumentation war einleuchtend — aber etwas anderes stimmte nicht. »Hat Relad dir befohlen, mir diese Nachricht zu überbringen?«
»Nein, er hat mich gebeten. Und er bittet darum, dich zu sehen. Er sagte: Wenn du sie siehst, erinnere sie daran, dass ich nicht meine Schwester bin. Ich habe ihr nie etwas zuleide getan. Ich weiß, dass sie auf dich hört.‹« Si’eh schaute finster drein. »Erinnere sie — das war der einzige Befehl. Er weiß, wie er mit uns reden muss. Er hat mir absichtlich die Wahl gelassen.«
Ich blieb stehen. Si’eh ging ein paar Schritte weiter, bevor er es bemerkte und sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu mir umwandte. »Und warum hast du es mir dann gesagt?«, fragte ich.
Ein Anflug von Unbehaglichkeit huschte über sein Gesicht, und er senkte den Blick. »Es stimmt, ich hätte es nicht tun sollen«, sagte er langsam. »Kurue hätte es nicht erlaubt, wenn sie es ge- wusst hätte. Aber was Kurue nicht weiß ...« Ein schwaches Lächeln erschien auf Si’ehs Gesicht. »Nun, es könnte sie heiß machen, aber wir hoffen einfach mal, dass das nicht geschieht.«
Ich verschränkte meine Arme und wartete. Er hatte meine Frage immer noch nicht beantwortet, und er wusste es.
Si’eh sah verärgert aus. »Das macht keinen Spaß mehr mit dir.«
»Si’eh.«
»Schon gut, schon gut.« Er steckte die Hände in die Taschen und zuckte mit vollkommener Lässigkeit die Schultern, aber seine Stimme war ernst.
»Du hast zugestimmt, uns zu helfen, das ist alles. Das macht dich zu unserer Verbündeten, nicht zu unserem Werkzeug. Kurue hat unrecht, wir sollten dir nichts verschweigen.«
Ich nickte. »Danke.«
»Dank mir, indem du es Kurue gegenüber nicht erwähnst. Oder Nahadoth oder Zhakkarn, wo wir gerade dabei sind.« Er hielt inne und lächelte mich dann plötzlich vergnügt an. »Obwohl es scheint, als ob Nahadoth seine eigenen Geheimnisse hätte, was dich angeht.«
Meine Wangen wurden heiß. »Das war meine Entscheidung.« Die Worte sprudelten aus mir heraus, da ich mich unnötigerweise zu einer Erklärung verpflichtet fühlte. »Ich habe ihn überrumpelt und ...«
»Yeine, bitte. Du willst jetzt nicht versuchen, mir zu sagen, dass du ihn ausgenutzt hättest oder so was in der Art?«
Da ich eigentlich genau das hatte sagen wollen, schwieg ich.
Si’eh schüttelte den Kopf und seufzte. Ich erschrak, als ich in seinem Lächeln eine merkwürdige Traurigkeit sah. »Ich bin froh, Yeine ... mehr, als du glaubst. Er ist seit dem Krieg so alleine gewesen.«
»Er ist nicht allein. Er hat euch.«
»Wir trösten ihn, ja, und halten ihn davon ab, völlig den Verstand zu verlieren. Wir können sogar seine Geliebten sein, obwohl diese Erfahrung für uns genauso ... anstrengend ist wie für dich.« Ich errötete erneut, obwohl das zum Teil an dem beunruhigenden Gedanken lag, dass Nahadoth seinen Kindern beiwohnte. Aber die Drei waren schließlich Geschwister. Die Götter leben nicht nach Regeln.
Als ob er den Gedanken gehört hätte, nickte Si’eh. »Er braucht Gleichgestellte, keine Mitleidsangebote seiner Kinder.«
»Ich bin keinem der Drei ebenbürtig, Si’eh, egal, wessen Seele in mir wohnt.«
Er wurde ernst. »Liebe kann den Boden zwischen Sterblichen und Göttern ebnen, Yeine. Das haben wir zu respektieren gelernt.«
Ich schüttelte den Kopf. Das hatte ich von dem Moment an gewusst, seit das verrückte Verlangen, mit einem Gott schlafen zu wollen, über mich gekommen war. »Er liebt mich nicht.«
Si’eh rollte mit den Augen. »Ich liebe dich, Yeine, aber manchmal kannst du wirklich eine Sterbliche sein.«
Völlig verdutzt schwieg ich. Si’eh schüttelte seinen Kopf, rief eine seiner schwebenden Kugeln aus dem Nichts herbei und warf sie von einer Hand in die andere. Diese war blaugrün, was gnadenlos meine Erinnerungen neckte. »Also, was gedenkst du wegen Relad zu tun?«
»Was ... oh.« Dieser ständige Wechsel zwischen göttlichen und weltlichen Dingen war so verwirrend. »Ich werde mich mit ihm treffen.«
»Yeine ...«
»Er wird mich nicht töten.« Vor meinem geistigen Auge sah ich wieder Relads Gesicht wie vor zwei Nächten, umrahmt von dem Türrahmen meines Zimmers. Er war gekommen, um mir von Si’ehs Folter zu erzählen, was noch nicht einmal T’vril getan hatte.
Sicherlich war ihm klar gewesen, dass Scimina den Wettbewerb gewinnen würde, wenn sie mich dazu zwang, meine Geheimnisse preiszugeben. Also warum hatte er es getan?
Ich hatte da meine eigene Theorie, die auf dem Treffen im Solarium beruhte. Ich war der Meinung, dass Relad noch weniger Arameri war, als T’vril, vielleicht noch weniger als ich.
Irgendwo unter all der Bitterkeit und Selbstverachtung, versteckt unter zigtausend schützenden Lagen, hatte Relad Arameri ein weiches Herz.
Nutzlos für einen Arameri-Erben, wenn es stimmte. Jenseits von nutzlos — gefährlich. Aber genau deswegen war ich gewillt, das Risiko einzugehen und ihm zu vertrauen.
»Ich könnte mich immer noch für ihn entscheiden«, sagte ich zu Si’eh, »und er weiß das. Es wäre unsinnig, weil es das Leiden meines Volkes besiegeln würde. Aber ich könnte es tun. Ich bin seine letzte Hoffnung.«
»Du klingst sehr überzeugt«, sagte Si’eh zweifelnd.
Ich hatte den plötzlichen Drang, Si’ehs Haare zu zerzausen. Vielleicht würde es ihm aufgrund seiner Wesensart sogar gefallen: Was ihm aber nicht gefallen würde, wäre der Gedanke, der hinter diesem Impuls stand: Si’eh war in einem wesentlichen Punkt wirklich ein Kind. Er verstand Sterbliche nicht. Er lebte seit Jahrhunderten unter uns, seit Jahrtausenden, aber trotzdem war er nie einer von uns gewesen. Er kannte das Prinzip Hoffnung nicht.
»Ich bin sehr sicher«, sagte ich. »Aber ich wäre dankbar, wenn du mit mir kommst.«
Er sah überrascht aus, nahm jedoch sofort meine Hand. »Gern. Aber warum?«
»Geistiger Beistand. Und nur für den Fall, dass ich mich fürchterlich irre.«
Er grinste und öffnete eine weitere Wand, die uns dorthin bringen würde.
Relads Wohnung war so groß wie Seiminas, und beide waren dreimal so groß wie meine. Wenn ich ihre Wohnungen an meinem ersten Tag in Elysium gesehen hätte, wäre mir sofort klar geworden, dass ich keine wirkliche Mitstreiterin um Dekartas Regentschaft war.
Seine Wohnung war allerdings ganz anders angeordnet als die von Scimina: ein riesiger, offener Raum mit einer kurzen Treppe im Hintergrund, die auf eine Galerie führte.
Die Hauptetage wurde dominiert von einer viereckigen Vertiefung im Boden, in die man eine Weltkarte aus wunderschön gefärbten Keramikfliesen gelegt hatte. Abgesehen davon war der Raum überraschend karg. Es gab nur wenige Möbelstücke — ein Sideboard, das mit Alkoholflaschen überladen war, und ein kleines Bücherregal. Und dann war da noch Relad, der bei der Karte stand. Er sah steif und förmlich aus und war erschreckend nüchtern.
»Sei gegrüßt, Cousine«, sagte er, als ich hereinkam. Dann hielt er inne und warf Si’eh einen wütenden Blick zu. »Es ist nur Yeine eingeladen.«
Ich legte eine Hand auf Si’ehs Schulter. »Er war besorgt, dass du mir vielleicht etwas antun willst, Cousin. Willst du das?«
»Was? Selbstverständlich nicht!« Der überraschte Gesichtsausdruck von Relad beruhigte mich. Tatsächlich deutete alles an dieser kleinen Szene darauf hin, dass Relad mich um den Finger wickeln wollte — und man wickelte Leute, die überflüssig waren, nicht um den Finger. »Warum zum Mahlstrom sollte ich das tun? Tot nützt du mir nichts.«
Ich knipste mein Lächeln an und beschloss, diese taktlose Bemerkung durchgehen zu lassen. »Das ist gut zu wissen, Cousin.«
»Stört euch nicht an mir«, sagte Si’eh. »Ich bin nur eine Fliege an der Wand.«
Relad strengte sich an und beachtete ihn nicht. »Kann ich dir etwas anbieten? Tee? Oder sonst etwas?«
»Nun, wenn du so fragst ...«, fing Si’eh an, aber ich drückte fest seine Schulter. Ich wollte Relad nicht provozieren, jedenfalls jetzt noch nicht.
»Danke, nein«, sagte ich. »Aber ich weiß das Angebot zu schätzen. Ich weiß ebenso deine Warnung von vorgestern Nacht zu schätzen, Cousin.« Ich streichelte Si’ehs Haar.
Relad rang genau drei Sekunden lang mit einer angemessenen Erwiderung und murmelte schließlich: »Schon gut.«
»Warum hast du mich hergebeten?«
»Ich habe ein Angebot für dich.« Er zeigte mit einer fahrigen Geste auf den Boden.
Ich schaute auf die Weltkarte im Boden, und meine Augen fanden automatisch Hochnord und die kleine Ecke darin, die Darr darstellte. Vier polierte, flache weiße Steine lagen in einiger Entfernung um Darrs Grenzen herum — einer in jedem der drei Königreiche, die — wie ich vermutete — Teil des Bündnisses waren, und in Menchey lag noch ein zweiter. Alle befanden sich auf mehreren Seiten an Darrs Grenze. Mitten in Darr lag ein grau marmorierter Stein, der wahrscheinlich unsere lächerliche Truppenstärke symbolisieren sollte. Aber genau südlich von Menchey an der Küste, wo der Kontinent auf die See der Reue traf, befanden sich drei gelblich-weiße Steine. Ich hatte keine Ahnung, was sie darstellten.
Ich sah auf zu Relad. »Darr ist das Einzige, um das ich mir Sorgen mache. Scimina hat mir das Leben meines Volkes angeboten. Kannst du mir das auch anbieten?«
»Möglicherweise mehr als das.« Relad schritt hinunter in die Vertiefung, wo die Karte war, und blieb unterhalb von Hochnord stehen. Seine Füße standen mitten in der See der Reue, was mich kurz entgegen jeglicher Vernunft belustigte.
»Das Weiße sind deine Feinde, wie du sicherlich schon erraten hast; Seiminas Spielfiguren. Die hier ...«, er zeigte auf die gelben Steine, »gehören zu mir.«
Ich stutzte, aber noch bevor ich etwas sagen konnte, schnaubte Si’eh. »Du hast keine Verbündeten in Hochnord, Relad. Du hast den ganzen Kontinent seit Jahren ignoriert. Seiminas Sieg ist das Ergebnis deines Versäumnisses.«
»Das weiß ich«, fuhr Relad ihn an. Dann drehte er sich wieder zu mir um. »Es stimmt, ich habe keine Freunde in Hochnord. Und selbst, wenn ich welche hätte — die Königreiche dort hassen alle dein Land, Cousine. Scimina bietet ihnen lediglich eine Möglichkeit, das zu tun, was sie schon seit Generationen in den Fingern juckt.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Hochnord war einmal das Land der Barbaren, und wir Darre gehörten zu den barbarischsten. Die Priester mögen uns seither zivilisiert haben, aber niemand kann die Vergangenheit auslöschen.«
Relad nickte wegwerfend — es war ihm egal, und das sah man. Er war wirklich schrecklich ungeschickt darin, andere um den Finger zu wickeln. Erneut zeigte er auf die gelben Steine. »Söldner«, sagte er. »Hauptsächlich Piraten aus Ken und Min, einige Ghor-Nachtkämpfer und eine schlagkräftige Gruppe aus Zhu- rem-Stadt. Ich kann ihnen befehlen, für dich zu kämpfen, Cousine.«
Ich starrte die gelben Steine an und fühlte mich an meinen Gedanken über Sterbliche und das Prinzip Hoffnung erinnert.
Si’eh hüpfte hinunter in die Vertiefung der Karte und ging zu den gelben Steinen. Er schaute sie sich an, als ob er die tatsächliche Anzahl der Streitkräfte, die sie repräsentierten, sehen konnte. Er pfiff. »Du musst dich völlig verausgabt haben, um so viele zusammenzutrommeln und sie rechtzeitig nach Hochnord zu beordern, Relad. Ich wusste nicht, dass du so viel Kapital im Laufe der Jahre angehäuft hast.« Er warf Relad und mir einen Blick über die Schulter hinweg zu. »Aber sie sind viel zu weit weg, um bis morgen in Darr einzutreffen. Seiminas Freunde sind bereits unterwegs.«
Relad nickte und beobachtete mich. »Meine Streitkräfte sind nah genug, um Mencheys Hauptstadt heute Abend anzugreifen. Sie können sogar einen Tag später gegen Tokland losschlagen. Sie sind komplett ausgerüstet, ausgeruht und gut versorgt. Ihre Schlachtpläne wurden von Zhakkarn höchstpersönlich ausgearbeitet.« Er verschränkte ein wenig abwehrend seine Arme. »Wenn Menchey angegriffen wird, wird die Hälfte deiner Feinde sich von dem Angriff auf Darr abwenden. Dann muss dein Volk sich nur noch mit den Zarenne und Atir-Rebellen auseinandersetzen, wobei sie allerdings immer noch zwei zu eins in der Unterzahl wären. Aber die Darre hätten immerhin eine Außenseiterchance.«
Ich warf Relad einen scharfen Blick zu. Er hatte mich bei dem Ganzen hier gut eingeschätzt — überraschend gut. Irgendwie wusste er, dass es nicht die Aussicht auf Krieg war, die mir Angst machte, schließlich war ich eine Kriegerin. Aber ein Krieg, den man nicht gewinnen konnte, gegen Feinde, die nicht nur Beute machten, sondern unseren Lebensmut, wenn nicht sogar unser Leben zerstören würden ... das konnte ich nicht ertragen.
Bei Chancen, die zwei zu eins standen, konnte man gewinnen. Es war nicht einfach, aber machbar.
Ich warf Si’eh einen Blick zu, und er nickte. Meine Instinkte sagten mir, dass Relads Angebot glaubwürdig war, aber er wusste, wozu Relad fähig war, und würde mich warnen, falls Betrug dahintersteckte. Ich glaube, wir waren beide überrascht, dass Relad dies überhaupt bewältigt hatte.
»Du solltest öfter mal auf das Trinken verzichten, Cousin«, sagte ich leise.
Relad lächelte humorlos. »Das war keine Absicht, das kann ich dir versichern. Es ist nur, dass der bevorstehende Tod selbst den besten Wein sauer werden lässt.«
Ich verstand vollkommen.
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Dann machte Relad einen Schritt nach vorne und bot mir seine Hand an. Überrascht schlug ich ein. Wir waren uns einig.
Später gingen Si’eh und ich langsam zu meinem Zimmer zurück. Er wählte diesmal eine andere Route und ging durch Teile von Elysium, die ich in den zwei Wochen seit meiner Ankunft noch nicht gesehen hatte. Dabei zeigte er mir einige Wunderwerke — unter anderem ein hohes, enges Gemach, das kein ungenutzter Raum war, aber trotzdem aus irgendeinem Grund verschlossen und vergessen wirkte. Die Decke sah aus, als ob es sich um einen Unfall in den Bauplänen der Götter handelte. Die blasse Elysi- umsubstanz hing in nach unten zugespitzten Ausstülpungen wie Stalaktiten herab, allerdings weit weniger zierlich und elegant. Einige waren so nah, dass man sie berühren konnte. Der Sinn dieses Gemachs erschloss sich mir nicht, bis Si’eh mich zu einer Holzverkleidung an der Wand führte.
Als ich sie berührte, öffnete sich ein Spalt in der Decke, durch den ein scharfer, eiskalter Windstoß hereinwehte. Ich zitterte, aber vergaß mein Unbehagen, als die Ausstülpungen der Decke anfingen zu singen. Der Wind hatte sie in Schwingungen versetzt. Es war eine Musik, wie ich sie noch nie vernommen hatte, schwingend und fremdartig — eine Vielzahl von Tönen, die zu schön war, um sie als Lärm zu bezeichnen. Ich ließ nicht zu, dass Si’eh die Holzvertäfelung berührte, um die Luft auszusperren, bis ich kein Gefühl mehr in den Fingern hatte.
In der anschließenden Stille kauerte ich an der Wand und pustete in meine Hände, um sie zu wärmen. Si’eh hockte vor mir und sah mich durchdringend an. Mir war zu kalt, und deshalb bemerkte ich es zunächst nicht, aber dann beugte er sich plötzlich vor und küsste mich. Erschreckt erstarrte ich, aber es war nicht unangenehm. Es war der Kuss eines Kindes, spontan und bedingungslos. Allein die Tatsache, dass er kein Kind war, rief bei mir Unbehagen hervor.
Si’eh lehnte sich zurück und seufzte wehmütig, als er den Ausdruck auf meinem Gesicht sah. »Tut mir leid«, sagte er und ließ sich neben mir nieder.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich. »Sag mir nur, wofür der war.« Ich erkannte, dass das ein versteckter Befehl war und fügte hinzu: »Wenn du willst.«
Er schüttelte den Kopf, spielte den Schüchternen und drückte sein Gesicht gegen meinen Arm. Ich mochte seine Wärme dort, aber ich mochte das Schweigen nicht. Ich entzog mich ihm und zwang ihn dadurch, sich gerade hinzusetzen, weil er sonst umgefallen wäre.
»Yeine!« »Si’eh!«
Er seufzte und sah verärgert aus. Dann setzte er sich in den Schneidersitz. Einen Moment lang dachte ich, er würde schmollen, aber schließlich sagte er: »Ich finde es einfach nicht fair, das ist alles. Naha durfte dich schmecken und ich nicht.«
Jetzt fühlte ich mich definitiv unbehaglich. »Selbst in meinem Barbarenland nehmen sich Frauen keine Kinder als Geliebte.«
Der Ärger in seinem Gesichtsausdruck verstärkte sich. »Ich habe dir schon einmal gesagt, ich will das nicht von dir. Ich rede hiervon.« Er ging plötzlich auf die Knie und lehnte sich nach vorne. Ich zuckte weg, und er wartete ab. Mir kam in den Sinn, dass ich ihn liebte, ihm meine innerste Seele anvertraute. Sollte ich ihm da nicht mit einem Kuss trauen? Also atmete ich tief ein und entspannte mich. Si’eh wartete, bis ich ihm zunickte und noch ein bisschen länger, nur um sicher zu sein. Dann lehnte er sich vor und küsste mich erneut.
Diesmal war es anders, weil ich ihn schmeckte — nicht Si’eh, das süße, ein wenig unanständige Kind, aber den Si’eh hinter der menschlichen Maske. Es war ... schwer zu beschreiben. Ein plötzlicher Ausbruch von etwas Erfrischendem, wie einer reifen Melone oder vielleicht eines Wasserfalls. Ein reißender Strom, ein Strudel — er floss in mich hinein, durch mich hindurch und wieder zu ihm zurück. Das ging so schnell, dass ich kaum Luft holen konnte. Salz. Blitze. Das tat so weh, dass ich mich fast entzogen hätte, aber in der Entfernung spürte ich, wie Si’ehs Hände sich schmerzhaft um meine Arme schlössen. Bevor ich aufschreien konnte, schoss ein kalter Wind durch mich hindurch und linderte sowohl den Schock als auch meine Blutergüsse.
Dann zog Si’eh sich zurück. Ich starrte ihn an, aber seine Augen waren immer noch geschlossen. Er stieß einen tiefen, befriedigten Seufzer aus, setzte sich wieder neben mich, hob meinen Arm und legte ihn schützend um sich.
»Was ... war das?«, fragte ich, als ich mich ein wenig erholt hatte.
»Ich«, sagte er. Natürlich.
»Wonach schmecke ich?«
Si eh seufzte, kuschelte sich an meine Schulter, und seine Arme lagen um meine Hüfte. »Weich, neblige Orte voller scharfer Kanten und versteckter Farben.«
Ich konnte nicht anders und musste kichern. Ich fühlte mich benebelt, als ob ich zu viel von Relads Likör getrunken hätte. »Das ist kein Geschmack!«
»Natürlich ist es das. Du hast Naha geschmeckt, nicht wahr? Er schmeckt, als ob man unten aus dem Universum herausfällt.«
Das stoppte mein Kichern, denn es stimmte. Wir saßen noch eine Weile zusammen, sprachen nicht und dachten nicht — oder zumindest ich tat es nicht. Nach der andauernden Sorge und den ständigen Intrigen der letzten zwei Wochen war das hier die reine Wonne. Vielleicht dachte ich deswegen über eine andere Art Frieden nach, als das Denken wieder einsetzte.
»Was wird mit mir geschehen?«, fragte ich. »Danach.«
Er war ein kluges Kind, er wusste sofort, was ich meinte.
»Du wirst eine Weile umhertreiben«, sagte er sehr leise. »Seelen tun das in der ersten Zeit, wenn sie vom Fleisch befreit wurden. Später werden sie dann zu Orten hingezogen, die mit bestimmten Aspekten ihres Charakters harmonieren. Orte, die für fleischlose Seelen sicher sind — nicht so etwas wie diese Welt.«
»Die Himmel und die Höllen.«
Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, damit er uns nicht anstieß. »So nennen die Sterblichen sie.«
»Ist das nicht, was sie sind?«
»Ich weiß es nicht. Was macht das schon?« Ich stutzte, er seufzte. »Ich bin kein Sterblicher, Yeine, ich bin nicht so davon besessen, wie ihr es seid. Sie sind einfach nur ... Orte, an denen das Leben sich ausruhen kann, wenn es nicht lebt. Es gibt viele davon, weil Enefa wusste, dass ihr Abwechslung braucht.« Er seufzte. »Wir glauben, dass Enefa deswegen die ganze Zeit umhertrieb. Sie erschuf so viele Orte, und diejenigen, die am besten mit ihr harmoniert hätten, verschwanden, als sie starb.«
Ich zitterte und meinte, dass tief in mir drin noch etwas anderes erzitterte.
»Werden ... werden unsere beiden Seelen einen Ort finden — sie und ich? Oder wird ihre wieder umhertreiben?«
»Ich weiß es nicht.« Der Schmerz in seiner Stimme war kaum zu hören. Jeder andere hätte ihn nicht wahrgenommen.
Ich streichelte schnell seinen Rücken. »Wenn ich kann«, sagte ich, »wenn ich es irgendwie kontrollieren kann, werde ich sie mit mir nehmen.«
»Es kann sein, dass sie nicht gehen möchte. Die einzigen Orte, die jetzt noch übrig sind, sind diejenigen, die ihre Brüder erschaffen haben. Die passen allerdings nicht so recht zu ihr.«
»Dann kann sie in mir bleiben, wenn das besser ist. Ich bin kein
Himmel, aber wir sind bis jetzt auch miteinander ausgekommen. Wir müssen uns allerdings unterhalten. Diese ganzen Visionen und Träume müssen aufhören. Sie lenken ziemlich ab.«
Si’eh hob seinen Kopf und starrte mich an. Ich verzog so lange wie möglich keine Miene, aber das währte nicht lange. Natürlich schaffte er es länger als ich. Er hatte Jahrhunderte mehr Übung darin.
Wir lagen schallend lachend auf dem Boden und hielten uns umschlungen. So endete der letzte Tag meines Lebens.
Ich ging alleine zu meiner Wohnung zurück, ungefähr eine Stunde vor der Abenddämmerung. Als ich eintrat, saß Naha immer noch in dem großen Sessel, so als ob er sich den ganzen Tag nicht bewegt hätte. Auf dem Nachttisch war allerdings ein leeres Tablett. Er schreckte auf, als ich hereinkam. Ich vermutete, dass er eingenickt war oder vor sich hin geträumt hatte.
»Geh, wohin du willst, für den Rest des Tages«, sagte ich zu ihm. »Ich wäre gerne eine Weile allein.«
Er widersprach nicht und stand auf. Auf meinem Bett lag ein Kleid, ein langes Abendkleid, sehr hübsch gearbeitet, aber es war dunkelgrau. Passende Schuhe und Accessoires lagen daneben.
»Diener haben das gebracht«, sagte Nahadoth. »Du sollst das heute Abend tragen.«
»Danke.«
Er ging auf dem Weg nach draußen an mir vorbei, sah mich aber nicht an. Ich hörte, wie er an der Schwelle des Zimmers kurz stehenblieb. Vielleicht drehte er sich um. Vielleicht öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen. Aber er sagte nichts, und kurz darauf hörte ich, wie sich die Wohnungstür öffnete und schloss.
Ich badete und zog mich an. Dann setzte ich mich ans Fenster und wartete.