Diamanten

Du bist unbedeutend. Eine unter Millionen, weder etwas Besonderes, noch einzigartig. Ich habe nicht um diese Schmach gebeten, und ich nehme den Vergleich übel.

Fein. Ich mag dich auch nicht.

Wir tauchten unter einem Kronleuchter in einer imposanten, hell erleuchteten Halle auf, die aus weißem und grauem Marmor bestand. Enge, rechteckige Fenster säumten sie. Wenn ich Elysium niemals gesehen hätte, wäre ich beeindruckt gewesen. Auf beiden Seiten der Halle befanden sich Türen aus poliertem Dunkelholz. Ich nahm an, dass wir vor der für uns wichtigen standen. Durch die offenen Fenster hörte man Händler, die ihre Waren anpriesen, ein jammerndes Baby, ein wieherndes Pferd und Frauengelächter. Stadtleben.

Niemand war anwesend, obwohl es früher Abend war. Ich kannte Nahadoth gut genug, um den Verdacht zu hegen, dass dies Absicht war.

»Ist Gemd allein?« Ich nickte in Richtung der Türen.

»Nein. Er hat einige Wachen, Kollegen und Ratgeber bei sich.«

Natürlich. Planen bedeutete Zusammenarbeit. Ich schaute finster drein und riss mich dann zusammen: Ich konnte das nicht tun, wenn ich wütend war. Mein Ziel war es, zu verzögern — Frieden, so lange wie möglich. Wut würde da nicht helfen.

»Bitte versuche, niemanden zu töten«, murmelte ich, als wir auf die Tür zugingen. Nahadoth gab keine Antwort, aber die Halle wurde dunkler, und die Schatten wirkten im flackernden Licht der Fackeln scharf wie Rasierklingen. Die Luft fühlte sich schwer an.

Dies hatten meine Armeri-Vorfahren auf Kosten ihres eigenen Fleisch und Blutes gelernt: Der Lord der Finsternis kann nicht beherrscht werden. Er kann nur losgelassen werden. Wenn Gemd mich dazu zwang, auf Nahadoths Macht zurückzugreifen ...

Es war besser, zu beten, dass das nicht nötig sein würde.

Ich schritt voran.

Die Türen schwangen von selbst auf, als ich mich ihnen näherte, und schlugen gegen die Wände. Aufgrund des Lärms, der dadurch entstand, hätte eigentlich Gemds halbe Palastwache herbeieilen müssen, wenn sie nicht so unfähig gewesen wäre. Ich durchschritt dieTür und sorgte so für einen angemessen verblüffenden Auftritt. Ein Chor überraschter Rufe und Flüche begrüßte mich. Männer, die um einen großen, mit Papieren bedeckten Tisch gesessen hatten, versuchten, auf die Füße zu kommen, einige griffen nach ihren Waffen, andere starrten mich nur sprachlos an. Zwei von ihnen trugen dunkelrote Umhänge, die ich als dieTracht derTok-Krieger erkannte. Also das war eins der Länder, mit denen Menchey sich verbündet hatte. Am Kopfende des Tisches saß ein Mann, der ungefähr sechzig Jahre alt war: prächtig gekleidet, die Haare schwarzgrau meliert und ein Gesicht wie aus Kieselsteinen und Stahl. Er erinnerte mich an Dekarta, aber nur aufgrund seiner Haltung. Die Mencheyev waren auch ein Volk von Hochnord, und sie sahen mehr wie Darre denn wie Amn aus. Er stand halb auf, dann blieb er, wo er war — mehr ärgerlich als überrascht.

Ich fixierte meinen Blick auf ihn, obwohl ich wusste, dass Menchey — genau wie Darr — mehr von seinem Senat als von seinem Häuptling regiert wurde. Auf vielfältige Art waren wir nur Galionsfiguren, er und ich. Aber in dieser Konfrontation war er der Schlüssel.

»Minister«, sagte ich auf Senmite. »Seid gegrüßt.«

Er kniff die Augen zusammen. »Ihr seid dieses Darre-Mist- stück.«

»Eine von vielen, ja.«

Gemd wandte sich an einen seiner Männer und murmelte etwas. Der Mann huschte davon. Zweifellos, um die Wachen zu kontrollieren und herauszufinden, wie ich hineingelangt war. Dann drehte Gemd sich wieder um, sein Blick war abschätzend und argwöhnisch.

»Jetzt seid Ihr nicht unter vielen«, sagte er langsam. »Oder doch? Ihr könnt nicht so töricht gewesen sein, alleine zu kommen.«

Ich konnte gerade noch verhindern, dass ich mich umsah. Natürlich würde Nahadoth sich nicht zeigen. Die Enefadeh hatten sich immerhin bereit erklärt, mir zu helfen. Aber den Lord der Finsternis hinter mir wie einen überdimensionalen Schatten stehen zu haben, das hätte das bisschen Autorität, das ich in den Augen dieser Männer hatte, untergraben.

Aber Nahadoth war da. Ich konnte ihn spüren.

»Ich bin gekommen«, sagte ich. »Nicht ganz alleine — aber welche Arameri ist schon jemals ganz alleine, nicht wahr?«

Einer seiner Männer, der fast so prächtig gekleidet war wie Gemd, kniff seine Augen zusammen. »Ihr seid keine Arameri«, sagte er. »Sie haben Euch bis vor ein paar Monaten nicht einmal anerkannt.«

»Habt Ihr deswegen dieses Bündnis ins Leben gerufen?«, fragte ich und ging nach vorne. Einige der Männer versteiften sich, aber die meisten nicht. Ich bin nicht sehr einschüchternd. »Ich kann den Sinn darin nicht erkennen. Wenn ich für die Arameri so unwichtig bin, dann ist Darr doch keine Bedrohung.«

»Darr ist immer eine Bedrohung«, grollte ein anderer Mann. »Ihr männerverschlingenden Huren ...«

»Genug«, sagte Gemd, und der Mann verstummte.

Gut, er war also nicht nur eine Galionsfigur.

»Also geht es nicht darum, dass die Arameri mich adoptiert haben?« Ich nahm den Mann, den Gemd zum Schweigen gebracht hatte, ins Visier. »Ah, ich verstehe. Es geht um alten Groll. Der letzte Krieg zwischen unseren Völkern liegt mehr Generationen zurück, als wir alle zählen können. Reicht das Gedächtnis der Mencheyev so weit?«

»Darr hat in dem Krieg die Atir-Hochebene für sich beansprucht«, sagte Gemd ruhig. »Ihr wisst, dass wir sie zurück wollen.«

Ich wusste es, und ich wusste auch, dass das ein dummer, dummer Grund war, einen Krieg anzufangen. Die Leute, die auf dem Atir lebten, sprachen nicht einmal mehr die Sprache der Mencheyev. Das ergab alles keinen Sinn. Und es reichte, um meine Beherrschung schwinden zu lassen.

»Wer ist es?«, fragte ich. »Welcher meiner Cousins zieht hier die Fäden? Relad? Scimina? Irgendeiner ihrer Speichellecker? Für wen habt Ihr Euch prostituiert, Gemd, und wie viel war Euch das Vornüberbeugen wert?«

Gemds Kiefer mahlte, aber er sagte nichts. Seine Männer waren nicht so gut ausgebildet — sie kochten vor Wut und zogen Dolche. Allerdings nicht alle. Ich achtete darauf, wer sich unbehaglich fühlte, und wusste, dass Scimina oder ein anderer Verwandter durch sie Einfluss genommen hatte.

»Ihr sein ein ungebetener Gast, \Yeine-etinu«, sagte Gemd. »Lady Yeine, sollte ich wohl sagen. Ihr stört meine Angelegenheiten. Sagt, weshalb Ihr hergekommen seid, und dann verlasst uns bitte.«

Ich neigte meinen Kopf. »Macht Eure Pläne, Darr anzugreifen, rückgängig.«

Gemd wartete einen Moment. »Oder?«

Ich schüttelte meinen Kopf. »Es gibt keine Alternative, Minister. Ich habe viel von meinen Arameri-Verwandten in den letzten Tagen gelernt, einschließlich der Kunst, absolute Macht auszuüben. Wir stellen keine Ultimaten. Wir geben Befehle, und sie werden befolgt.«

Die Männer sahen sich an, und ihre Gesichter zeigten alles zwischen Wut und Unglauben. Zwei Gesichter blieben ausdruckslos: der prächtig gekleidete Mann an Gemds Seite und Gemd selbst. Ich konnte die Berechnung in ihren Augen erkennen.

»Ihr habt keine absolute Macht«, sagte der Mann neben Gemd. Er behielt einen neutralen Ton, was auf Unsicherheit hindeutete. »Ihr seid noch nicht einmal als Erbin benannt worden.«

»Das ist wahr«, sagte ich. »Nur der Lord Dekarta hat die absolute Macht über das Königreich der Hunderttausend. Ob es blüht. Ob es ins Straucheln gerät. Ob es ausgelöscht und vergessen wird.« Gemds Stirn spannte sich bei diesen Worten an, aber er runzelte sie nicht. »Großvater hat diese Macht, aber er kann sie, wenn er möchte, selbstverständlich an diejenigen in Elysium delegieren, die seine Gunst haben.«

Ich ließ sie darüber nachdenken, ob ich diese Gunst errungen hatte oder nicht. Es war wahrscheinlich ein Zeichen der Gunst, dass man mich nach Elysium geholt und als Vollblut benannt hatte.

Gemd warf dem Mann neben ihm einen Blick zu, bevor er sagte: »Es muss Euch bewusst sein, Lady Yeine, dass Pläne, die einmal in Bewegung gesetzt wurden, nicht so einfach wieder angehalten werden können. Wir werden Zeit brauchen, um Euren ... Befehl zu besprechen.«

»Natürlich«, sagte ich. »Ihr habt zehn Minuten. Ich warte.«

»Oh zum ...« Diesmal handelte es sich um einen anderen Mann, jünger und größer — einer von denjenigen, die ich als Arameri-Werkzeug eingeordnet hatte. Er sah mich an, als ob ich eine Fäkalie an der Sohle seines Schuhs sei. »Minister, Ihr könnt nicht ernsthaft diese lächerliche Forderung in Betracht ziehen!«

Gemd starrte ihn wütend an, aber der schweigende Tadel verfehlte offensichtlich seine Wirkung. Der jüngere Mann verließ den Tisch und kam auf mich zu. Seine ganze Haltung strahlte Bedrohung aus. Jeder Darrefrau wird beigebracht, wie sie mit solch einem Verhalten von Männern umzugehen hat. Es ist nur ein Trick aus dem Tierreich, so wie Hunde, die ihr Fell aufstellen und knurren. Nur ganz selten steht dahinter eine wahre Drohung, und die Stärke einer Frau liegt darin, zu unterscheiden, wann die Drohung echt ist und wann es sich nur um Fell und Lärm handelt. Für den Moment war die Drohung nicht echt, aber das konnte sich ändern.

Er blieb vor mir stehen, drehte sich zu seinen Kameraden um und zeigte auf mich. »Schaut sie euch an! Wahrscheinlich muss- ten sie einen Schreiber rufen, damit der bestätigt, dass sie wirklich einer Aramerimöse entsprungen ist ...«

»Rish!« Gemd sah wütend aus. »Setz dich.«

Der Mann — Rish — beachtete ihn nicht und wandte sich wieder an mich. Unvermittelt wurde die Drohung real. Ich konnte es daran erkennen, wie er sich hinstellte. Er bog seinen Körper so, dass seine rechte Hand in die Nähe meiner rechten Seite kam. Er wollte mir eine Rückhand verpassen. Ich hatte den Bruchteil einer Sekunde, um mich zu entscheiden, ob ich ausweichen oder nach meinem Messer greifen sollte ...

Und in der kurzen Zeit fühlte ich, wie sich die Macht um mich herum zusammenballte, hart wie Heimtücke und scharf wie Kristall.

Dass mir diese Analogie in den Sinn kam, hätte mir als Warnung dienen sollen.

Rish holte aus. Ich hielt still und wappnete mich gegen den Schlag. Drei Zoll vor meinem Gesicht schien Rishs Faust an etwas Unsichtbarem abzuprallen. Als sie das tat, ertönte ein hohes, hartes Klappern, als ob Stein auf Stein träfe.

Rish zog seine Hand zurück, entsetzt und vielleicht verwirrt, weil es ihm nicht gelungen war, mich in die Schranken zu weisen. Er schaute seine Faust an, auf der sich um die Knöchel herum ein glänzend schwarzer Fleck mit Facetten gebildet hatte. Ich stand nah genug, um zu sehen, wie das Fleisch um diesen Fleck herum Blasen warf und perlte, als ob es über offenem Feuer briete. Nur dass es nicht verbrannte, sondern eifror. Ich konnte den Kältehauch von meinem Standpunkt aus spüren. Die Wirkung war allerdings die gleiche, und als das Fleisch wie verbrannt verging und wegknisterte, kam darunter kein Knochen, sondern Stein zum Vorschein.

Ich wunderte mich, dass Rish so lange brauchte, bis er schrie.

Alle Männer im Raum reagierten auf Rishs Schrei. Einer taumelte vom Tisch zurück und fiel beinahe über einen Stuhl. Zwei andere rannten zu Rish und versuchten, ihm zu helfen. Gemd bewegte sich und wollte auch helfen, aber irgendein mächtiger Überlebensinstinkt musste in dem gutgekleideten Mann an seiner Seite geweckt worden sein — er packte Gemd an der Schulter, um ihn aufzuhalten. Das erwies sich als weise, denn der erste Mann, der Rish erreichte — einer derToks —, ergriff Rishs Handgelenk, um nachzusehen, was los war.

Das Schwarze breitete sich rasend schnell aus; fast die ganze Hand war jetzt ein glitzernder Klumpen aus schwarzem Kristall, der fast wie eine Faust aussah. Nur Rishs Fingerspitzen bestanden noch aus Fleisch, aber auch sie veränderten sich, während ich hinsah. Rish war wahnsinnig vor Schmerzen und kämpfte mit dem Tok. Dieser ergriff Rishs Faust und wollte ihn ruhighalten. Beinahe in demselben Moment riss er die Hand weg, als ob der Stein zu kalt wäre, um ihn zu berühren — und dann starrte der Tok seine Handfläche an, denn der schwarze Fleck breitete sich jetzt auch dort aus.

Nicht ganz Kristall, wurde mir in dem Teil meiner Gedanken, die nicht vor Entsetzen eingefrorern waren, klar. Die schwarze Substanz war zu schön, um aus Quartz zu bestehen, zu fehlerlos und klar in ihren Facetten. Der Stein brach das Licht wie ein Diamant, denn das war es, was aus ihrem Fleisch geworden war. Schwarzer Diamant, der seltenste und wertvollste von allen.

Der Tok fing an zu schreien. Ebenso wie einige andere Männer in dem Raum.

Währenddessen schwieg ich, und mein Gesicht blieb ausdruckslos.

Er hätte nicht versuchen sollen, mich zu schlagen. Er verdiente, was er bekam. Er hätte nicht versuchen sollen, mich zu schlagen.

Und der Mann, der versuchte, ihm zu helfen? Was hatte der verdient?

Sie sind alle meine Feinde, die Feinde meines Volkes. Sie hätten nicht ... sie hätten nicht ... O Götter. Götter!

Der Lord der Finsternis kann nicht beherrscht werden, Kind. Er kann nur losgelassen werden. Und du hast ihn gebeten, nicht zu töten.

Ich durfte keine Schwäche zeigen.

Während die beiden Männer wild mit den Armen fuchtelten und schrien, ging ich um sie herum und zum Tisch. Gemd sah mich an, und sein Mund war verzerrt vor Abscheu und Fassungslosigkeit.

Ich sagte: »Nehmt Euch alle Zeit, die Ihr braucht, um meinen Befehl zu erörtern.« Dann drehte ich mich herum und wollte gehen.

»W-wartet.« Gemd. Ich hielt an und erlaubte meinem Blick nicht, auf den beiden Männern zu verweilen. Rish war jetzt fast zur Hälfte Diamant; der Stein kroch über seinen Arm und seine Brust, ein Bein hinunter und eine Seite seines Halses hinauf. Er lag auf dem Boden und schrie nicht länger, obwohl er immer noch mit tiefer, gequälter Stimme wehklagte. Vielleicht war seine Kehle bereits zu Diamant geworden. Der andere Mann griff nach seinen Kameraden und bettelte um ein Schwert, damit er seinen Arm abschneiden konnte. Ein junger Kerl, einer von Gemds Erben, wenn man nach seinem Aussehen urteilte, zog sein Schwert und näherte sich ihm, aber dann packte ihn ein anderer Mann und riss ihn zurück. Wieder eine weise Entscheidung; schwarze Flecken, die nicht größer als ein Sandkorn waren, glänzten auf dem Boden um die beiden Männer herum. Stückchen von Rishs Fleisch, die sich verwandelt hatten und durch das Herumwirbeln der Arme weggeflogen waren. Während ich hinsah, fiel der Tok auf seine gute Hand, und sein Daumen berührte einen von den Flecken. Auch er begann, sich zu verwandeln.

»Gebietet dem Einhalt«, murmelte Gemd.

»Ich habe nicht damit angefangen.«

Er fluchte schnell in seiner Sprache. »Macht, dass es aufhört, gottverdammt! Was für ein Ungeheuer seid Ihr?«

Ich konnte nicht anders, als zu lachen. Dass in dem Gelächter kein Humor lag, sondern nur bittere Selbstverachtung, dürfte ihnen entgangen sein.

»Ich bin eine Arameri«, sagte ich.

Einer der Männer hinter uns verstummte plötzlich, und ich drehte mich um. Es war nicht der Tok — er kreischte immer noch, während die Schwärze sich sein Rückgrat hinunterfraß. Der Diamant hatte sich ausgebreitet, umschloss Rishs Mund und nahm die gesamte untere Hälfte seines Gesichts ein. Auf seinem Torso schien er zum Stillstand gekommen zu sein, obwohl er sich immer noch an dem anderen Bein hinunterarbeitete. Ich vermutete, dass er dann aufhörte, wenn er alle Teile des Körpers, die nicht lebenswichtig waren, verschlungen hatte. Rish würde verstümmelt und vielleicht wahnsinning zurückbleiben, aber leben. Ich hatte Nahadoth schließlich gebeten, nicht zu töten.

Ich wandte meine Augen ab, sonst hätte ich mich verraten, indem ich mich übergab.

»Ihr müsst eins verstehen«, sagte ich. Das Entsetzen war aus meinem Herzen bis in meine Stimme gelangt und verlieh ihr eine tiefere Klangfarbe. Diese leichte Resonanz hatte ich vorher nicht gehabt. »Wenn es mein Volk rettet, dass ich diese Männer sterben lasse, dann werden sie sterben.« Ich lehnte mich vor und legte meine Hände auf den Tisch. »Wenn es mein Volk rettet, dass ich jeden in diesem Raum, jeden in diesem Palast töte, dann wisset, Gemd: Ich werde es tun. Ihr würdet es auch tun, wenn Ihr an meiner Stelle wäret.«

Er hatte Rish angestarrt. Jetzt flog sein Blick zu mir, und ich sah Erkenntnis und Verachtung in seinen Augen. Lag da ein Hauch von Selbstverachtung in dem Hass? Hatte er mir geglaubt, als ich sagte: Ihr würdet es auch tun? Denn er würde es tun. Jeder würde es tun, das war mir jetzt klar. Es gab nichts, das wir Sterbliche nicht taten, wenn es darum ging, unsere Liebsten zu beschützen.

Ich würde mir das den Rest meines Lebens vor Augen halten.

»Genug.« Ich konnte Gemd kaum über die Schreie hinweg hören, aber ich sah, wie sich sein Mund bewegte. »Genug. Ich werde den Angriff widerrufen.«

»Und das Bündnis auflösen?«

»Ich kann nur für Menchey sprechen.« Sein Ton klang gebrochen. Er schaute mir nicht in die Augen. »Die werden es vielleicht fortsetzen wollen.«

»Dann warnt sie, Minister Gemd. Das nächste Mal, wenn ich mich gezwungen sehe, das hier zu tun, werden nicht nur zwei, sondern zweihundert leiden. Wenn sie es darauf anlegen, zweitausend. Ihr habt diesen Krieg gewählt, nicht ich. Ich werde nicht fair kämpfen.«

Gemd schaute mich mit stummem Hass an. Ich hielt seinem Blick für eine Weile länger stand, dann ging ich zu den beiden Männern hinüber. Die glitzernden, tödlichen schwarzen Flecken schadeten mir nicht, obwohl sie unter meinen Füßen knirschten.

Nahadoth konnte die Magie aufhalten, dessen war ich sicher. Er konnte sie möglicherweise sogar wiederherstellen — aber die Sicherheit Darrs hing davon ab, dass ich Gemd das Fürchten lehrte.

»Bereite dem ein Ende«, flüsterte ich.

Das Schwarze breitete sich schlagartig aus und verschlang innerhalb von Sekunden beide Männer. Kältedämpfe umgaben sie, und ihre Todesschreie vermischten sich mit den Geräuschen von zerplatzendem Fleisch und brechenden Knochen. Dann war es still. Wo vorher die beiden Männer gelegen hatten, befanden sich nun zwei facettenreiche Edelsteine, die zusammengekauerten Gestalten glichen. Hübsch und sehr wertvoll, wie ich annahm; immerhin konnten ihre Familien ab heute sorglos leben. Falls denn die Familien die Uberreste ihrer Lieben verkauften.

Auf meinem Weg hinaus ging ich zwischen den Diamanten hindurch. Die Wachen, die hinter mir hereingekommen waren, gingen mir hastig aus dem Weg. Einige von ihnen stolperten. Hinter mir schlössen sich die Türen, diesmal leise, und ich blieb stehen.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragte Nahadoth hinter mir.

»Nach Hause?« »Elysium.«

Ah, ja. Das Zuhause der Arameri.

»Dann mal los«, sagte ich.

Dunkelheit umfing mich. Als sie sich lichtete, waren wir wieder im Vorhof von Elysium, diesmal aber im Garten der Hunderttausend und nicht am Pier. Ein Pfad polierter Steine wand sich durch ordentliche Blumenbeete, und an jedem stand ein anderer exotischer Baum. Zwischen den Blättern hindurch konnte ich in der Ferne den Sternenhimmel und die Berge, die bis zu ihm aufragten, sehen.

Ich ging durch den Garten, bis ich einen Fleck mit freier Sicht unter einem winzigen Satinglockenbaum fand. Meine Gedanken drehten sich in langsamen, trägen Kreisen. Allmählich gewöhnte ich mich daran, die Kälte Nahadoths hinter mir zu spüren.

»Meine Waffe«, sagte ich zu ihm.

»So wie du meine bist.«

Ich nickte und seufzte in eine Brise hinein, die meine Haare hochhob und die Blätter des Satinglockenbaums zum Rauschen brachte. Als ich mich umdrehte, um Nahadoth anzusehen, zog ein Wolkenfetzen vor der Sichel des Mondes her. Sein Umhang schien während dieses kurzen Moments einzuatmen. Er wuchs unglaublich, bis er fast den Palast durch schwarze Wellen verfinsterte. Dann war die Wolke vorüber, und er war wieder einfach nur ein Umhang.

Ich fühlte mich plötzlich wie dieser Umhang — wild, außer Kontrolle, schwindlig und lebendig. Ich hob meine Arme und schloss meine Augen, als eine weitere Brise wehte. Es fühlte sich so gut an.

»Ich wünschte, ich könnte fliegen«, sagte ich.

»Ich kann dir diese Magie für eine Weile schenken.«

Ich schüttelte den Kopf, schloss meine Augen und wiegte mich im Wind. »Magie ist falsch.« Ich wusste das jetzt nur zu gut.

Er sagte nichts dazu, was mich überraschte, bis ich näher darüber nachdachte. Nachdem er die Scheinheiligkeit so vieler Arameri-Generationen erlebt hatte, war es ihm wahrscheinlich inzwischen egal, denn er beschwerte sich nicht mehr.

Es war verlockend, so sehr verlockend, sich auch nicht mehr darum zu scheren. Meine Mutter, Darr, die Nachfolge — was machte das alles schon? Ich könnte all das so leicht vergessen und den Rest meines Lebens — die ganzen vierTage — einfach nur mit Vorlieben oder Vergnügungen, die mir gefielen, verbringen.

Jedes Vergnügen, außer einem.

»Letzte Nacht«, sagte ich und nahm meine Arme wieder herunter. »Warum hast du mich nicht getötet?«

»Du bist nützlicher, wenn du lebst.«

Ich lachte. Ich fühlte mich leichtsinnig und unbekümmert. »Heißt das, dass ich die einzige Person in Elysium bin, die keine Angst vor dir haben muss?« Ich wusste, dass das eine dumme Frage war, noch bevor ich sie ganz ausgesprochen hatte, aber ich glaube, ich war in dem Moment nicht ganz bei Verstand.

Glücklicherweise antwortete der Lord der Finsternis nicht auf meine dumme, gefährliche Frage. Ich warf ihm einen Blick zu, um seine Stimmung auszuloten, und sah, dass sein Umhang sich wieder verändert hatte. Diesmal hatten sich die Strähnen lang und dünn weitergewebt und schwebten wie Lagerfeuerrauch durch den Garten. Diejenigen, die mir am nächsten waren, drehten sich nach innen und umgaben mich von allen Seiten. Sie erinnerten mich an bestimmte Pflanzen in meiner Heimat, denen Zähne oder klebrige Tentakel wuchsen, damit sie Insekten einfangen konnten.

Im Herzen dieser dunklen Pflanze befand sich mein Köder: sein glühendes Gesicht, seine lichtlosen Augen. Ich ging auf ihn zu, tiefer in seinen Schatten hinein, und er lächelte.

»Du hättest mich nicht töten müssen«, sagte ich leise. Ich zog meinen Kopf ein, sah durch meine Wimpern hindurch zu ihm auf und krümmte meinen Körper als schweigende Einladung. Mein Leben lang hatte ich gesehen, wie hübschere Frauen als ich das taten, aber ich hatte es nie selbst gewagt. Ich hob eine Hand und bewegte sie auf seine Brust zu. Fast erwartete ich, nichts zu berühren und in die Finsternis gesogen zu werden. Aber diesmal war dort ein Körper in den Schatten, dessen Festigkeit erschreckend war. Ich konnte ihn und meine Hand, die ihn berührte, nicht sehen, aber ich spürte weiche, kühle Haut unter meinen Fingerspitzen.

Nackte Haut. Götter.

Ich leckte mir über die Lippen und schaute ihm in die Augen. »Du hättest sehr viel tun können, ohne meine ... Nützlichkeit zu beeinträchtigen.«

Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. Etwas in seinem Gesicht veränderte sich — wie eine Wolke, die vor dem Mond entlangzieht: der Schatten des Raubtiers. Seine Zähne waren schärfer, als er sprach. »Ich weiß.«

In mir veränderte sich ebenfalls etwas, als das wilde Gefühl verstummte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht. Ein Teil von mir hatte darauf gewartet.

»Würdest du das tun?« Ich leckte mir wieder über die Lippen und schluckte gegen die plötzliche Enge in meiner Kehle an. »Mich töten? Wenn ich ... darum bitte?«

Eine Pause entstand.

Als der Lord der Finsternis mein Gesicht berührte und mit seinen Fingerspitzen meinen Kiefer nachzeichnete, dachte ich, dass ich mir etwas einbildete. In dieser Geste lag unmissverständliche Zärtlichkeit. Aber dann glitt seine Hand genauso zärtlich hinunter und legte sich um meinen Hals. Als er sich nah zu mir lehnte, schloss ich meine Augen.

»Bittest du darum?« Seine Lippen strichen über mein Ohr, als er flüsterte.

Ich öffnete meinen Mund, um zu sprechen — und konnte es nicht. Auf einmal zitterte ich. Tränen stiegen mir in die Augen und liefen über mein Gesicht auf sein Handgelenk. Ich wollte so sehr sprechen, darum bitten. Aber ich stand einfach dort, zitterte und weinte, während sein Atem mein Ohr kitzelte. Ein und aus. Drei Mal.

Dann ließ er meinen Hals los, und meine Knie knickten ein. Ich fiel nach vorne, und plötzlich war ich in seiner weichen, kühlen Dunkelheit versteckt und gegen eine Brust gedrückt, die ich nicht sehen konnte. Ich begann, hineinzuschluchzen. Nach einer Weile legte sich die Hand, die mich beinahe getötet hatte, schützend um mein Genick. Ich muss eine Stunde lang geheult haben, vielleicht auch weniger. Ich weiß es nicht. Er hielt mich die ganze Zeit fest.

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