Obs so nennen konnte.
Der Raum war von Glas umschlossen, wie eine überdimensionale Glasglocke. Wäre da nicht ein blasser, reflektierender Film gewesen, hätte es so ausgesehen, als ob wir im Freien oben auf einer Turmspitze stünden, der man die Spitze abgeschnitten hatte. Der Boden des Zimmers bestand aus demselben weißen Material wie der Rest von Elysium und war kreisrund. Das unterschied es von allen anderen Zimmern, die ich in den letzten beiden Wochen im Palast gesehen hatte. Es machte ihn zu einem Ort, der Itempas heilig war.
Wir standen hoch über dem großen weißen Hauptteil des Palastes. Aus diesem schrägen Winkel konnte ich nur einen winzigen Teil des Vorhofs sehen. Ich erkannte ihn an dem grünen Klecks des Gartens und der Spitze des Piers. Mir war nie klar geworden, dass Elysium rund war. Darüber hinaus war die Erde eine dunkle Masse, die sich wie eine große Schale um uns herumzubiegen schien. Kreise waren in Kreisen, die in Kreisen waren; es war in der Tat ein heiliger Ort.
Man betrat das Zimmer von unten nach oben durch den Boden, und Dekarta stand dem Eingang gegenüber. Er stützte sich schwer auf seinen wunderschönen Darrholz-Stab, den er zweifellos benötigt hatte, um die steile Wendeltreppe, die in dieses Zimmer führte, heraufzusteigen. Hinter und über ihm bedeckten Wolken den Himmel, gebündelt und aneinandergereiht wie eine Perlenkette. Sie waren so grau und hässlich wie mein Ballkleid, außer im Osten, wo die Wolken begannen, gelbweiß zu erstrahlen.
»Beeilt euch«, sagte Dekarta und nickte zu Punkten innerhalb des Raumes. »Relad hier. Scimina da, ihm gegenüber. Viraine zu mir. Yeine, hier.«
Ich tat wie mir geheißen und stellte mich vor einen einfachen weißen Sockel, der auf dem Boden stand und ungefähr brusthoch war. In seiner Oberfläche war ein Loch von der Größe einer Handfläche — der Schacht, der aus dem Verlies hier hoch führte. Einige Zoll darüber schwebte ein winziger, dunkler Gegenstand ohne Halterung in der Luft. Er war verwittert, unförmig und sah sehr nach einem Klumpen Dreck aus. Das war der Stein der Erde? Das hier?
Ich tröstete mich mit der Tatsache, dass wenigstens die arme Seele aus dem Verlies jetzt tot war.
Dekarta hielt inne und starrte wütend die Enefadeh hinter mir an. »Nahadoth, du kannst deine angestammte Position einnehmen. Was den Rest von euch angeht — ich habe eure Anwesenheit nicht befohlen.«
Zu meiner Überraschung antwortete Viraine. »Ihre Anwesenheit könnte gute Dienste leisten, Mylord. Der Elysiumvater wäre möglicherweise erfreut, seine Kinder zu sehen, sogar diese Verräter.«
»Kein Vater freut sich, Kinder zu sehen, die sich gegen ihn gewandt haben.« Dekartas Blick schwenkte zu mir. Ich fragte mich, ob er mich sah oder nur Kinneths Augen in meinem Gesicht.
»Ich möchte, dass sie hier sind«, sagte ich.
Er zeigte keine Reaktion, außer dass er seine ohnehin schon sehr dünnen Lippen noch mehr zusammenkniff. »Das müssen gute Freunde sein, wenn sie kommen, um dich sterben zu sehen.«
»Es wäre schwieriger, sich dem hier ohne ihre Unterstützung zu stellen, Großvater. Sagt mir, habt Ihr Ygreth eine Begleitung erlaubt, als Ihr sie ermordet habt?«
Er richtete sich auf, was er selten tat. Zum ersten Mal sah ich einen Schatten des Mannes, der er einmal gewesen war, groß und hager wie jeder Amn und so großartig wie meine Mutter. Es war erschreckend, diese Ähnlichkeit auf einmal zu sehen. Er war allerdings zu dünn für seine Größe, was seine ungesunde Hagerkeit nur betonte. »Ich werde meine Handlungen nicht vor dir rechtfertigen, Enkelin.«
Ich nickte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die anderen mich beobachteten. Relad sah ängstlich aus, Scimina verärgert. Viraine — ich konnte seinen Ausdruck nicht deuten, aber er beobachtete mich mit einer plötzlichen Intensität, die mich verwirrte. Aber ich konnte dafür keinen weiteren Gedanken erübrigen. Dies war vielleicht meine letzte Chance, herauszufinden, warum meine Mutter gestorben war. Ich glaubte immer noch, dass Viraine die Tat verübt hatte, auch wenn das immer noch keinen Sinn ergab, weil er sie geliebt hatte. Aber wenn er auf Geheiß von Dekarta gehandelt hatte ...
»Ihr müsst mir nichts erklären«, antwortete ich. »Ich kann es erraten. Als Ihr jung wart, wart Ihr wie diese beiden...« Ich zeigte auf Relad und Scimina. »Selbstverliebt, vergnügungssüchtig und grausam. Aber Ihr wart nicht so herzlos wie sie, nicht wahr? Ihr habt Ygreth geheiratet, und Euch muss wirklich etwas an ihr gelegen haben, sonst hätte Eure Mutter sie nicht als Euer Opfer auserwählt, als die Zeit reif war. Aber Ihr habt Macht noch mehr geliebt, und so seid Ihr auf den Handel eingegangen. Ihr wurdet Familienoberhaupt. Und Eure Tochter wurde Eure Todfeindin.«
Dekartas Lippen zuckten, und ich konnte nicht sagen, ob das ein Zeichen von Gefühlen war oder die Schüttellähmung, die ihn hin und wieder heimzusuchen schien. »Kinneth liebte mich.«
»Ja, das tat sie.« Weil das die Art Frau war, die meine Mutter gewesen war. Sie konnte lieben und hassen gleichzeitig; sie konnte das eine benutzen, um das andere zu verbergen und zu nähren. Sie war, wie Nahadoth gesagt hatte, eine wahre Arameri gewesen. Nur waren ihre Ziele andere.
»Sie liebte Euch«, sagte ich, »und ich denke, dass Ihr sie getötet habt.«
Diesmal war ich sicher, dass Schmerz über das Gesicht des alten Mannes huschte. Es befriedigte mich für einen Augenblick, aber auch nicht länger. Der Krieg war verloren — dieses Scharmützel hatte keinen Einfluss auf das große Ganze. Ich würde sterben. Und obwohl mein Tod die Sehnsüchte so vieler erfüllen würde — die meiner Eltern, die der Enefadeh, meine eigenen —, konnte ich ihn unter diesen unpersönlichen Umständen nicht ertragen. Mein Herz war voller Angst.
Trotzdem drehte ich mich um und sah die Enefadeh an, die hinter mir aufgereiht standen. Kurue konnte mir nicht in die Augen schauen, aber Zhakkarn tat es, und sie nickte mir respektvoll zu. Si’eh stieß ein leises, katzenartiges Jammern aus, das zwar nicht menschlich, aber dadurch nicht weniger gepeinigt klang. In meinen Augen brannten Tränen. Welch eine Torheit. Auch wenn ich nicht heute sterben würde, wäre ich nur ein Schluckauf in seinem endlosen Leben. Ich war diejenige, die starb — und trotzdem würde ich ihn schrecklich vermissen.
Schließlich sah ich zu Nahadoth, der hinter mir auf einem Knie in Deckung gegangen war und von den grauen Wolkenketten umrahmt wurde. Es war klar, dass sie ihn dazu zwangen, niederzuknien — hier an der Stätte von Itempas. Aber er beobachtete mich und nicht den östlichen Himmel, der immer heller wurde. Ich hatte erwartet, dass er unbeteiligt aussehen würde, aber so war es nicht. Scham, Trauer und eine Wut, die einst Planeten zerschmettert hatte, standen in seinen Augen — zusammen mit anderen Gefühlen, die zu sehr an die Nerven gingen, um sie zu benennen. Gegen meinen Willen brannten Tränen in meinen Augen. Konnte ich dem trauen, was ich sah? Durfte ich es wagen? Schließlich würde er bald wieder mächtig sein. Was kostete es ihn schon, mir jetzt Liebe vorzuspielen, um mich damit dazu zu bringen, ihren Plan auszuführen?
Voller Schmerz senkte ich meinen Blick. Ich war lange genug in Elysium, dass ich mir selber schon nicht mehr vertraute.
»Ich habe deine Mutter nicht getötet«, sagte Dekarta.
Ich schreckte auf und wandte mich ihm zu. Er hatte so leise gesprochen, dass ich einen Moment lang dachte, ich hätte mich verhört. »Was?«
»Ich habe sie nicht umgebracht. Ich hätte sie niemals getötet. Wenn sie mich nicht so gehasst hätte, hätte ich sie angefleht, nach Elysium zurückzukehren und sogar dich mitzubringen.« Zu meinem Entsetzen sah ich Nässe auf Dekartas Wangen. Er weinte. Und starrte mich wütend durch seine Tränen hindurch an. »Ich hätte sogar um ihretwillen versucht, dich zu lieben.«
»Großvater«, sagte Scimina. IhrTon grenzte an Anmaßung und vibrierte förmlich vor Ungeduld. »Obwohl ich Eure Güte gegenüber unserer Cousine zu schätzen weiß ...«
»Schweig«, knurrte Dekarta sie an. Seine Augen, die farblos wie Diamanten waren, fixierten sie so scharf, dass sie zusammenzuckte. »Du hast keine Ahnung, wie nah daran ich war, dich zu töten, als ich von Kinneths Tod erfuhr.«
Scimina versteifte sich und war ein Abbild von Dekartas Haltung. Sie befolgte seinen Befehl natürlich nicht. »Das wäre Euer Privileg gewesen, Großvater. Aber ich hatte mit Kinneths Tod nichts zu tun. Ich habe ihr oder ihrer Bastard-Tochter keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich weiß nicht einmal, warum Ihr sie als das heutige Opfer erwählt habt.«
»Um zu sehen, ob sie eine wahre Arameri ist«, sagte Dekarta sehr leise. Sein Blick traf wieder meinen. Es dauerte drei Herzschläge, bis ich begriff, was er damit meinte, und dann wich das Blut aus meinem Gesicht.
»Ihr dachtet, dass ich sie getötet habe«, flüsterte ich. »Allmächtiger Vater, das habt Ihr wirklich geglaubt.«
»Diejenigen zu ermorden, die wir am meisten lieben, ist eine weit zurückreichende Tradition in unserer Familie«, sagte Dekarta.
Hinter uns war der Himmel im Osten sehr hell geworden.
Ich stammelte. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bevor ich in meiner Wut einen zusammenhängenden Satz hervorbrachte — und als es mir gelang, war er in Darre. Das wurde mir aber erst klar, als Dekarta angesichts meiner Flüche eher verwirrt denn beleidigt wirkte. »Ich bin keine Arameri!«, beendete ich den Satz und ballte die Fäuste. »Ihr esst Euren Nachwuchs, und Ihr ernährt Euch von Leiden wie Ungeheuer aus einem uralten Märchen! Außer meinem Blut werde ich nie etwas mit Euch gemeinsam haben, und wenn ich das aus mir verbannen könnte, würde ich es auch noch tun!«
»Vielleicht bist du keine von uns«, sagte Dekarta. »Ich sehe jetzt, dass du unschuldig bist, und indem ich dich töte, zerstöre ich nur, was von ihr übrig ist. Ein Teil von mir bedauert das. Aber ich werde nicht lügen, Enkelin. Es gibt noch einen anderen Teil von mir, der deinen Tod bejubeln wird. Du hast sie mir weggenommen. Sie hat Elysium verlassen, um bei deinem Vater zu sein und dich aufzuziehen.«
»Fragt Ihr Euch, warum?« Ich zeigte in dem Glaszimmer auf die Götter und Blutsverwandten, die gekommen waren, um mich sterben zu sehen. »Ihr habt ihre Mutter getötet. Habt Ihr gedacht, sie würde darüber hinwegkommen?«
Zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, flackerte etwas Menschliches in Dekartas traurigem, selbstironischem Lächeln. »Ich denke ja. Das war töricht von mir, nicht wahr?«
Ich konnte nicht anders und erwiderte sein Lächeln. »Ja, Großvater, das war es.«
Dann berührte Viraine Dekartas Schulter. Uber dem östlichen Horizont stand hell und warnend ein goldener Fleck. Der Sonnenaufgang stand kurz bevor. Die Zeit für Geständnisse war vorüber.
Dekarta nickte und sah mich dann lange schweigend an, bevor er sprach. »Es tut mir leid«, sagte er sehr leise. Eine Entschuldigung, die viele Fehltritte umfasste. »Wir müssen anfangen.«
Selbst dann sagte ich immer noch nicht, was ich glaubte. Ich zeigte nicht auf Viraine und nannte ihn den Mörder meiner Mutter. Ich hatte noch Zeit. Ich hätte Dekarta darum bitten können, sich um ihn zu kümmern, bevor die Nachfolge vollzogen wurde, als einen letzten Tribut an Kinneth. Ich weiß nicht, warum ich es nicht tat. Doch, ich weiß es. Ich glaube, ab dem Moment hatten Rache und Antworten keine Bedeutung mehr für mich. Welchen Unterschied würde es machen, zu wissen, warum meine Mutter gestorben war? Sie wäre immer noch tot. Was würde es mir bringen, ihren Mörder zu bestrafen? Ich wäre auch tot. Würde irgendetwas davon meinem oder ihrem Tod Bedeutung verleihen?
Der Tod hat immer Bedeutung, Kind. Du wirst es bald verstehen.
Viraine ging langsam im Kreis durchs Zimmer. Er hob seine Hände, sah nach oben und begann — während des Gehens — zu sprechen.
»Vater des Himmels und der Erde unter uns, Meister aller Schöpfung, höre deine bevorzugten Diener. Wir erflehen deine Führung im Chaos des Ubergangs.«
Er blieb vor Relad stehen, dessen Gesicht in dem grauen Licht wächsern aussah. Ich konnte die Geste, die Viraine vollführte, nicht sehen, aber Relads Siegel glühte plötzlich weiß, als ob eine kleine Sonne auf seiner Stirn eingraviert wäre. Er zuckte nicht zusammen und zeigte auch sonst keinen Schmerz, obwohl das Licht ihn noch blasser aussehen ließ. Viraine nickte zu sich selbst und setzte seinen Weg durch das Zimmer fort. Dabei ging er hinter meinem Rücken entlang. Ich drehte meinen Kopf, um ihn zu beobachten. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihn nicht aus dem Auge verlieren.
»Wir erflehen deine Hilfe, um unsere Feinde zu überwältigen.« Hinter mir hatte Nahadoth sein Gesicht von dem stärker werdenden Licht des Tagesanbruchs abgewendet. Die schwarze Aura um ihn herum fing an, abzubröckeln, wie sie es auch in der Nacht unter Seiminas Folter getan hatte. Viraine berührte Nahadoths Stirn. Aus dem Nichts erschien ein Siegel, das ebenfalls weiß glühend war, und Nahadoth zischte, als ob es ihm weitere Schmerzen zufügte. Viraine ging weiter.
»Wir erbitten deinen Segen für die zuletzt Erwählten«, sagte er und berührte Seiminas Stirn. Sie lächelte, als ihr Siegel entflammte. Das weiße Licht erhellte die scharfen Winkel und erwartungsvoll angespannten Ebenen in ihrem Gesicht.
Dann blieb Viraine vor mir stehen, und der Sockel befand sich zwischen uns. Als er dahinter entlangging, wurde mein Blick wieder von dem Stein der Erde angezogen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er so außerordentlich unscheinbar war.
Der Klumpen erzitterte. Nur für einen kurzen Moment schwebte dort ein perfekter, hübscher silberner Samen, bevor er sich wieder in den dunklen Klumpen verwandelte.
Wenn Viraine mich in dem Moment angesehen hätte, wäre wahrscheinlich alles verloren gewesen. Ich verstand, was geschehen war; die Eingebung kam wie ein einziger, eiskalter Blitzschlag, und ich erkannte die Gefahr — und das war auf meinem Gesicht abzulesen. Der Stein war wie Nahadoth, wie alle Götter, die an die Erde gefesselt waren; seine wahre Form verbarg sich hinter einer Maske. Die Maske verlieh ihm ein durchschnittliches, unwichtiges Aussehen. Aber für diejenigen, die genauer hinsahen und mehr erwarteten — besonders die, die seine wahre Natur kannten —, würde er zu mehr werden. Er würde seine Form ändern, um all ihr Wissen widerzuspiegeln.
Ich war verurteilt, und der Stein war die Klinge meines Scharfrichters. Ich hätte ihn als bedrohliches, schreckliches Ding sehen müssen. Dass ich Schönheit und Versprechen sah, war eine eindeutige Warnung an alle Arameri, dass ich mehr vorhatte, als nur heute zu sterben.
Glücklicherweise sah Viraine mich noch immer nicht an. Er hatte sich dem östlichen Himmel zugewandt, genau wie jeder andere im Zimmer. Ich schaute von Gesicht zu Gesicht und sah Stolz, Angst, Erwartung, Bitterkeit. Letzteres gehörte zu Nahadoth, der außer mir der Einzige war, der nicht den Himmel anschaute. Stattdessen trafen sich unsere Blicke und versenkten sich ineinander. Womöglich war das der Grund, warum wir die Einzigen waren, die nicht von der Sonne beeinflusst wurden, als sie begann, sich über den Horizont zu wölben, und Macht die ganze Welt zum Beben brachte wie einen erschütterten Spiegel.
Von dem Moment an, wenn die Sonne aus der Sicht der Sterblichen verschwindet, bis das letzte Licht erloschen ist: Das ist Zwielicht. Von dem Moment an, wenn die Sonne beginnt, sich über dem Horizont zu wölben, bis sie nicht länger die Erde berührt: Das ist Dämmerung.
Ich sah mich überrascht um und hielt den Atem an, als der Stein vor mir aufblühte.
Das war das einzig passende Wort für das, was ich da sah. Der hässliche Klumpen zitterte und entfaltete sich — Lagen schälten sich herunter, um Licht freizugeben. Aber es war nicht das gleichmäßig weiße Licht von Itempas, und es war auch nicht das wabernde Unlicht Nahadoths. Dies war das seltsame Licht, das ich in dem Verlies gesehen hatte. Es war grau und unschön und schien jegliche Farbe aus der Umgebung herauszuziehen. Der Stein hatte jetzt keine Form mehr, noch nicht einmal die des silbernen Aprikosenkerns. Er war ein Stern, der Licht abgab, aber irgendwie ohne Stärke war.
Trotzdem fühlte ich seine wahre Kraft, die in Wellen auf mich abstrahlte. Ich bekam Gänsehaut, und mir drehte sich der Magen um. Ich machte ungewollt einen Schritt rückwärts und verstand nun, warum T’vril die Bediensteten vorgewarnt hatte. In dieser Macht lag nichts Gesundes. Sie war ein Bestandteil der Göttin des Lebens, aber diese war tot. Der Stein war nur ein grausiges Relikt.
»Nenne deine Wahl, wer unsere Familie führen soll, Enkelin«, sagte Dekarta.
Ich wandte mich von dem Stein ab, obwohl seine Strahlung auf der Gesichtshälfte, die ihm zugewandt blieb, Juckreiz hervorrief. Einen Moment lang verschwamm alles vor meinen Augen. Ich fühlte mich so schwach. Das Ding brachte mich um, und ich hatte es noch nicht einmal berührt.
»R-Relad«, sagte ich. »Ich wähle Relad.«
»Was?« Seiminas Stimme, entsetzt und empört. »Was hast du gesagt, du Bastard?«
Hinter mix bewegte sich etwas. Es war Viraine, der auf meine Seite des Sockels gekommen war. Auf meinem Rücken spürte ich seine Hand, die mich stützte, als mir von der Kraft des Steins schwindelig wurde und ich schwankte. Ich sah diese Geste als Trost an und gab mir mehr Mühe, stehenzubleiben. Als Viraine ein Stück zur Seite trat, fiel mein Blick auf Kurue. Ihr Ausdruck war grimmig und entschlossen.
Ich glaubte, ich wusste, weshalb.
Die Sonne bewegte sich schnell, wie es ihre Gewohnheit war. Sie war bereits zur Hälfte über die Horizontlinie hinausgetreten. Bald war nicht länger Dämmerung, sondern Tag.
Dekarta nickte, unbeeindruckt von Seiminas plötzlichem Gestammel. »Dann nimm den Stein«, befahl er mir. »Setze deine Wahl in die Tat um.«
Meine Wahl. Ich hob meine zitternde Hand, um den Stein zu nehmen, und fragte mich, ob der Tod Schmerzen bereitete. Meine Wahl.
»Tu es«, flüsterte Relad. Er beugte sich vor, und sein ganzer Körper war angespannt. »Tu es, tu es, tu es ...«
»Nein!« Scimina wieder, ein Schrei. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie auf mich zusprang.
»Es tut mir leid«, flüsterte Viraine hinter mir — und plötzlich hielt alles an.
Ich blinzelte und war nicht sicher, was geschehen war. Etwas veranlasste mich dazu, nach unten zu sehen. Dort ragte durch das Mieder meines hässlichen Kleides etwas Neues hervor: die Spitze einer Messerklinge. Sie war auf der rechten Seite des Brustbeins, neben der Rundung meiner Brust, aus meinem Körper getreten. Der Stoff, der sich darum befand, veränderte sich und wurde zu einem seltsamen, nassen Schwarz.
Blut, wie mir klar wurde. Das Licht des Steins stahl sogar diese Farbe.
Mein Arm wurde bleischwer. Was hatte ich getan? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich war sehr müde. Ich musste mich hinlegen.
Das tat ich auch.
Und ich starb.