Erste Liebe

Beinahe hätte ich es vergessen. Als ich in Elysium eintraf, informierte T’vril mich, dass die von hohem Geblüt sich manchmal zum Abendessen in einem der vornehmeren Säle trafen. Dies war einmal der Fall gewesen, seit ich hier war, aber ich hatte es vorgezogen, nicht teilzunehmen. Es gibt Gerüchte über Elysium, muss man wissen. Einige davon sind zu erwarten, und viele davon sind wahr, wie ich herausgefunden habe. Aber es gibt ein Gerücht, von dem ich hoffte, dass es sich nie bestätigen würde.

Die Gerüchte erinnern uns daran, dass die Amn nicht immer zivilisiert waren. Früher war Senm, genau wie Hochnord, ein Land der Barbaren, und die Amn waren schlicht die erfolgreichsten unter ihnen. Nach dem Krieg der Götter haben sie ihre barbarischen Gebräuche der ganzen Welt aufgezwungen und haben alle anderen daran gemessen, wie gut sie diese Bräuche annahmen. Aber sie haben nicht all ihre Bräuche weitergereicht. Jede Kultur hat ihre dunklen Geheimnisse. Und einst, behaupten die Gerüchte, hat die Elite der Amn den Geschmack von Menschen fleisch höher eingeschätzt als jede andere Delikatesse.

Manchmal macht mir das Blut in meinen Adern mehr Angst als die Seelen in meinem Leib.

Als Nahadoths Qualen endeten, zogen die Wolken am Nachthimmel wieder weiter. Sie hatten bewegungslos verharrt — wie eine über den Mond gezogene Haube. Auf ihr schimmerten farbige Muster wie schwache, kränkliche Regenbögen. Als die Wolken sich endlich wieder bewegten, entspannte sich etwas in mir.

Ich erwartete das Klopfen an meiner Tür fast schon, als es ertönte, und rief, man solle eintreten. In der Spiegelung des Glases sah ich T’vril, der unentschlossen auf der Schwelle stand.

»Yeine«, sagte er, stockte und schwieg.

Ich ließ ihn eine Weile zappeln, bevor ich sagte: »Komm herein.«

Er kam herein, aber nur so weit, dass er die Tür schließen konnte. Dann schaute er mich einfach an und wartete wahrscheinlich darauf, dass ich sprach. Ich hatte ihm nichts zu sagen, und schließlich seufzte er.

»Die Enefadeh können Schmerzen ertragen«, sagte er. »Sie haben im Laufe der Jahrhunderte viel Schlimmeres ertragen müssen, glaub mir. Ich war mir nur nicht sicher, wie viel du ertragen kannst.«

»Danke für dein Vertrauen.«

T’vril zuckte bei meinem Ton zusammen. »Ich wusste, dass du dir etwas aus Si’eh machst. Als Scimina damit bei ihm anfing, da dachte ich ...« Er sah weg und breitete hilflos seine Hände aus. »Ich dachte, es wäre besser für dich, das nicht zu sehen.«

»Weil ich so willensschwach und sentimental bin, dass ich all meine Geheimnisse ausplaudere, um ihn zu retten?«

Er schaute mich wütend an. »Weil du nicht wie wir anderen bist. Ich dachte, du würdest alles tun, was dir möglich ist, um einen Freund vor Schmerzen zu bewahren, ja. Ich wollte dir das ersparen. Hasse mich dafür, wenn du willst.«

Ich drehte mich zu ihm um und war insgeheim erstaunt. T’vril sah mich immer noch als das unschuldige, großmütige Mädchen, das an seinem ersten Tag in Elysium so dankbar für seine Freundlichkeit gewesen war. Wie viele Jahrhunderte war das her? Nicht einmal zwei Wochen.

»Ich hasse dich nicht«, sagte ich.

T’vril atmete aus und gesellte sich am Fenster zu mir. »Nun ... Scimina war wütend, als du gegangen bist, wie du dir vorstellen kannst.«

Ich nickte. »Nahadoth? Si’eh?«

»Zhakkarn und Kurue haben sie fortgebracht. Scimina hat das Interesse an uns verloren und ist kurz nach dir gegangen.«

»›Uns‹?«

Er zögerte eine Sekunde, und ich konnte beinahe hören, wie er sich leise verfluchte. Nach einem Moment sagte er: »Ihr ursprünglicher Plan war, das kleine Spielchen mit den Dienern zu spielen.«

»Ah, ja.« Ich spürte, wie ich wieder wütend wurde. »Und da hast du vorgeschlagen, dass sie stattdessen Si’eh benutzen soll?«

Er sprach angespannt. »Wie ich schon sagte, Yeine, die Enefadeh können Seiminas Zeitvertreib überleben. Sterbliche normalerweise nicht. Du bist nicht die Einzige, die ich beschützen muss.«

Das machte es auch nicht richtiger, aber nachvollziehbar. Wie so vieles in Elysium war es falsch, aber nachvollziehbar. Ich seufzte.

»Ich hatte mich selbst zuerst angeboten.«

Ich schreckte auf. T’vril sah aus dem Fenster und hatte ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen. »Als Lady Yeines Freund«, sagte ich. »Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich das vorausgesetzt habe. Aber sie sagte, dass ich nicht besser wäre als die übrigen Diener.« Sein Lächeln verschwand, und ich sah, wie die Muskeln an seinem Kiefer zuckten.

Wieder einmal zur Seite geschoben, wurde mir klar. Noch nicht einmal sein Schmerz ist gut genugfür die Zentralfamilie. Trotzdem konnte er sich nicht zu sehr beklagen; seine Unwichtigkeit hatte ihm viel Leiden erspart.

»Ich muss gehen«, sagte T’vril. Er hob eine Hand, zögerte und legte sie dann auf meine Schulter. Die Geste und das Zögern erinnerten mich an Si’eh. Ich legte meine Hand auf seine. Ich würde ihn vermissen — was paradox war, da ich diejenige war, die zum Sterben verurteilt war.

»Natürlich bist du mein Freund«, flüsterte ich. Seine Hand drückte für einen Moment fester zu, dann ging er zur Tür.

Bevor er hinausgehen konnte, hörte ich ihn erschreckt murmeln. Die Stimme, die ihm antwortete, kannte ich ebenfalls. Ich drehte mich um, und als T’vril hinausging, kam Viraine herein.

»Entschuldigung«, sagte er. »Darf ich hereinkommen?« Er schloss die Tür nicht, falls ich Nein sagte.

Einen Moment lang starrte ich ihn an und war erstaunt über seine Dreistigkeit. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er Sci- minas Folter an Si’eh und Nahadoth magisch ermöglicht hatte. Das war seine wahre Rolle hier, so viel wusste ich jetzt — er unterstützte all das Böse, das meine Familie sich ausdachte; besonders wenn es um die Götter ging. Er war der Bewahrer und Antreiber der Enefadeh und derjenige, der die Arameripeitsche schwang.

Aber ein Aufseher ist nicht allein für das Elend eines Sklaven verantwortlich. Ich seufzte und sagte nichts. Offensichtlich deutete er dies als Zustimmung. Viraine schloss die Tür und kam hinüber. Anders als T’vril brachte er keine Entschuldigung zum Ausdruck, nur die übliche, zurückhaltende Kälte der Arameri.

»Es war nicht klug von Euch, sich in Menchey einzumischen«, sagte er.

»Das hat man mir vor Augen geführt.«

»Wenn Ihr mir vertraut hättet ...«

Mein Mund klappte völlig ungläubig auf.

»Wenn Ihr mir vertraut hättet«, wiederholte Viraine mit einem Anflug von Sturheit, »hätte ich Euch geholfen.«

Ich hätte beinahe gelacht. »Für welchen Preis?«

Viraine schwieg einen Moment, dann stellte er sich neben mich — fast an dieselbe Stelle, an der T’vril gestanden hatte. Er fühlte sich allerdings ganz anders an. Hauptsächlich wärmer. Ich konnte die Wärme seines Körpers von da, wo ich stand, spüren.

»Habt Ihr eine Begleitung für den Ball gewählt?«

»Begleitung?« Die Frage erwischte mich auf dem falschen Fuß. »Nein. Ich habe mir kaum Gedanken über den Ball gemacht. Vielleicht komme ich auch gar nicht.«

»Das müsst Ihr. Dekarta wird Euch auf magische Weise zwingen, wenn Ihr nicht freiwillig erscheint.«

Natürlich. Viraine wäre zweifellos derjenige, der diesen Zwang ausüben würde. Ich schüttelte den Kopf und seufzte. »Also gut. Wenn Großvater mich unbedingt demütigen will, kann ich nichts tun, außer es zu erdulden. Aber ich sehe keinen Grund, das Gleiche einer Begleitung anzutun.«

Er nickte langsam. Das hätte mir eine Warnung sein sollen. Ich hatte noch nie gesehen, dass Viraine sich anders als lebhaft verhalten hatte, auch nicht, wenn er entspannt war.

»Vielleicht hättet Ihr wenigstens ein bisschen Spaß an dem Abend«, sagte er, »wenn ich Euer Begleiter wäre.«

Ich schwieg so lange, dass er sich herumdrehte. Er sah meinen Blick und lachte. »Ist es für Euch so ungewöhnlich, dass Euch jemand den Hof macht?«

»Jemand, der kein Interesse an mir hat? Ja.«

»Woher wisst Ihr, dass ich kein Interesse habe?«

»Warum solltet Ihr?«

»Brauche ich einen Grund?«

Ich verschränkte meine Arme. »Ja.«

Viraine zog seine Augenbrauen hoch. »Dann muss ich mich schon wieder entschuldigen. Mir war nicht bewusst, dass ich auf Euch in den letzten Wochen einen so schlechten Eindruck gemacht habe.«

»Viraine ...« Ich rieb mir die Augen. Ich war müde — nicht körperlich, aber seelisch, und das war schlimmer. »Ihr wart äußerst hilfreich, das stimmt, aber ich kann nicht sagen, dass Ihr liebenswürdig seid. Ich habe sogar hin und wieder Euren Geisteszustand angezweifelt. Nicht, dass Euch das irgendwie von den anderen Arameri unterscheiden würde.«

»Schuldig im Sinne der Anklage.« Er lachte wieder. Auch das fühlte sich falsch an. Er gab sich zu viel Mühe. Er schien es zu bemerken und wurde plötzlich wieder ernst.

»Eure Mutter«, sagte er, »war meine erste Geliebte.«

Meine Hand zuckte zum Messer. Es befand sich auf der ihm abgewandten Seite, und er bemerkte es nicht.

Nachdem es keine offensichtliche Regung von mir gab, schien er sich zu entspannen. Er schaute nach unten auf die Lichter der Stadt unter uns. »Ich wurde hier geboren, wie die meisten Arameri, aber die von hohem Geblüt schickten mich zum Litaria — der Schreiberakademie —, als ich vier Jahre alt war und man mein Talent für Sprachen bemerkte. Als ich zurückkehrte, war ich erst zwanzig und der jüngste Meister, der je zugelassen wurde. Einsame Klasse, wenn ich das so sagen darf, aber immer noch sehr jung. Ein Kind sozusagen.«

Ich war selbst noch nicht zwanzig, aber natürlich werden Barbaren früher erwachsen als zivilisierte Leute. Ich sagte nichts.

»Mein Vater war inzwischen verstorben«, fuhr er fort. »Meine Mutter ...«, er zuckte mit den Schultern, »war eines Nachts verschwunden. So etwas passiert hier. Es war auch besser so. Als ich zurückkehrte, verlieh man mir den Status eines Vollbluts, und sie war von niederem Geblüt. Wenn sie noch lebte, wäre ich nicht länger ihr Sohn.« Er sah mich nach einer Pause an. »Das muss sich herzlos für Euch anhören.«

Ich schüttelte langsam meinen Kopf. »Ich bin lange genug in Elysium.«

Er gab ein leises Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Belustigung und Zynismus lag. »Ich hatte es schwerer, mich an diesen Ort zu gewöhnen als Ihr«, sagte er. »Eure Mutter half mir. Sie war ... in vielen Dingen, wie Ihr. Sanft an der Oberfläche und darunter vollkommen anders.«

Ich war überrascht von seiner Beschreibung und warf ihm einen Blick zu.

»Natürlich war ich in sie verliebt. Ihre Schönheit, ihre Scharfsinnigkeit, all diese Macht ...« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich wäre damit zufrieden gewesen, sie aus der Ferne zu bewundern. 5o jung war ich auch wieder nicht. Niemand war überraschter als ich, als sie mir mehr anbot.«

»Meine Mutter würde das nicht tun.«

Viraine schaute mich an, und ich erwiderte den Blick zornig.

»Es war eine kurze Affäre«, sagte er. »Nur ein paar Wochen. Dann begegnete sie Eurem Vater und verlor das Interesse an mir.« Er lächelte dünn. »Ich kann nicht behaupten, dass ich glücklich darüber war.«

»Ich sagte Euch ...«, begann ich hitzig.

»Ihr habt sie nicht gekannt«, sagte er leise. Es war dieses Leise, das mich verstummen ließ. »Kein Kind kennt seine Eltern wirklich.«

»Ihr habt sie auch nicht gekannt.« Ich weigerte mich, darüber nachzudenken, wie kindisch sich das anhörte.

Einen Moment lang war solche Trauer in Viraines Gesicht, so andauernder Schmerz, dass ich wusste, er sagte die Wahrheit. Er hatte sie geliebt. Er war ihr Geliebter gewesen. Sie war fortgegangen, hatte meinen Vater geheiratet und Viraine mit Erinnerungen und Sehnsucht zurückgelassen. Und jetzt brannte mir neue Trauer auf der Seele, weil er recht hatte — ich hatte sie nicht gekannt. Nicht, wenn sie so etwas tun konnte.

Viraine schaute weg. »Nun. Ihr wolltet den Grund für mein Angebot, Euch zu begleiten, wissen. Ihr seid nicht die Einzige, die ihr nachtrauert.« Er atmete tief ein. »Wenn Ihr Eure Meinung ändert, lasst es mich wisen.« Er neigte seinen Kopf und ging zur Tür.

»Wartet«, sagte ich, und er blieb stehen. »Ich sagte Euch bereits: Meine Mutter tat nichts ohne Grund. Also warum hat sie sich mit Euch eingelassen?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Was glaubt Ihr?«

Er dachte eine Weile darüber nach und schüttelte dann den Kopf. Er lächelte wieder, hoffnungslos und verbittert. »Ich glaube, ich will es gar nicht wissen. Und Ihr auch nicht.«

Er ging. Ich starrte die geschlossene Tür lange Zeit an.

Dann ging ich und suchte nach Antworten.

Zunächst ging ich zum Zimmer meiner Mutter, wo ich das Kästchen mit den Briefen aus dem Kopfteil des Bettes nahm. Als ich es in meinen Händen hielt und mich umdrehte, starrte meine unbekannte Großmutter mütterlicherseits mich aus ihrem Bilderrahmen heraus an. »Tut mir leid«, murmelte ich und ging.

Es war nicht schwer, einen passenden Flur zu finden. Ich ging einfach so lange, bis ich das Prickeln einer mir bekannten Macht in unmittelbarer Nähe spürte. Ich folgte diesem Gefühl bis zu einer ansonsten unauffälligen Wand und wusste, dass ich eine gute Stelle gefunden hatte.

Die Sprache der Götter sollte nicht von Sterblichen benutzt werden, aber ich hatte die Seele einer Göttin. Für etwas muss- te das gut sein.

»Atadie«, flüsterte ich, und die Wand öffnete sich.

Ich ging durch zwei ungenutzte Räume, bevor ich Si’ehs Sonnensystemmodell fand. Als sich die Wand hinter mir wieder schloss, sah ich mich um und bemerkte, dass dieser Ort im Gegensatz zum letzten Mal geradezu leer wirkte. Einige Dutzend der bunten Sphären lagen verstreut auf dem Boden und bewegten sich nicht. Einige wiesen Risse auf, bei anderen fehlten Stücke. Nur eine Handvoll schwebte an ihren Plätzen, der gelbe Ball war nirgendwo zu sehen.

Hinter den Spähren lag Si’eh auf einer sanft geschwungenen Erhöhung aus Palastmaterial; Zhakkarn kauerte neben ihm. Si’eh war jünger als in der Arena, aber immer noch zu alt: Er hatte lange Beine, war schlaksig und wirkte wie ein Spätteenager. Zu meiner Überraschung hatte Zhakkarn ihr Kopftuch abgenommen, und ihr Haar lag in winzigen, plattgedrückten Locken an ihrem Kopf Es war meinem sehr ähnlich, nur ihres war blauweiß.

Beide starrten mich an. Ich hockte mich neben sie und stellte das Kästchen ab. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich Si’eh.

Si’eh versuchte, sich aufzusetzen, aber an seinen Bewegungen sah ich, wie schwach er war. Ich wollte ihm helfen, aber Zhakkarn kam mir zuvor und stützte seinen Rücken mit einer großen Hand. »Erstaunlich, Yeine«, sagte Si’eh. »Du hast die Wände alleine geöffnet? Ich bin beeindruckt.«

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich. »Irgendwie?«

»Spiel mit mir.«

»Spiel ...« Aber ich hielt inne, als ich Zhakkarns strengen Blick auffing. Ich dachte einen Moment nach, dann streckte ich meine Hände mit den Handflächen nach oben aus. »Leg deine Hände auf meine.«

Das tat er. Seine Hände waren größer als meine, und sie zitterten wie die eines alten Mannes. Es war so falsch. Aber er grinste. »Glaubst du, dass du schnell genug bist?«

Ich schlug nach seinen Händen und punktete. Er bewegte sich so langsam, dass ich währenddessen ein Gedicht hätte aufsagen können. »Offensichtlich schon.«

»Anfängerglück. Lass mal sehen, ob du das noch mal schaffst.«

Wieder schlug ich nach seinen Händen. Diesmal war er schneller, und ich hätte beinahe danebengeschlagen. »Ha! Also gut, aller guten Dinge sind drei.« Ich schlug noch einmal, und diesmal ging es ins Leere.

Überrascht sah ich auf zu ihm. Er grinste und war sichtlich jünger, wenn auch nicht viel. Ein Jahr vielleicht. »Siehst du? Ich sagte doch, du bist zu langsam.«

Ich verstand und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Hast du vielleicht Lust, Fangen zu spielen?«

Es war Mitternacht. Mein Körper wollte schlafen und nicht spielen, und das machte mich langsam. Dadurch hatte Si’eh einen Vorteil; erst recht, nachdem er sich genug erholt hatte und rennen konnte. Danach jagte er mich durch den ganzen Raum und amüsierte sich prächtig, da ich ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Es tat ihm sichtlich gut, dass ich mitmachte, bis er schließlich von selbst anhielt und wir beide japsend zu Boden fielen. Endlich sah er wieder normal aus — ein dürrer neun- oder zehnjähriger Junge, hübsch und sorglos. Ich stellte den Grund für meine Liebe zu ihm nicht länger in Frage.

»Also, das hat Spaß gemacht«, sagte Si’eh schließlich. Er setzte sich auf, reckte sich und fing an, die toten Sphären zu sich zu rufen. Sie rollten über den Boden zu ihm hin, er hob sie auf, tätschelte sie liebevoll, hob sie hoch und schubste jede geschickt in eine Drehbewegung, bevor er sie losließ und sie davonschwebten. »Und was ist in dem Kästchen?«

Ich warf Zhakkarn, die sich an unserem Spiel nicht beteiligt hatte, einen Blick zu. Ich vermutete, dass Kinderspiele sich nicht besonders gut mit dem Wesen des Kampfes vertrugen. Sie nickte mir einmal zu und diesmal zustimmend. Ich errötete und sah weg.

»Briefe«, sagte ich und legte meine Hand auf das Kästchen meiner Mutter. »Sie sind ...« Ich zögerte, weil mir die Worte im Hals stecken blieben. »Die Briefe meines Vaters an meine Mutter und einige Entwürfe von ihm an sie, die er nicht abgeschickt hatte. Ich glaube ...« Ich schluckte. Meine Kehle war plötzlich eng, meine Augen brannten. In Trauer liegt keine Logik.

Si’eh ignorierte mich, schob meine Hand zur Seite und öffnete das Kästchen. Ich gewann meine Fassung wieder, während er jeden einzelnen Brief herausnahm, überflog, auf den Boden legte und schließlich aufstand, um das Muster zu erweitern. Ich hatte keine Ahnung, was er tat. Schließlich legte er den letzten Brief in die Ecke eines fünf mal fünf Schritte großen Quadrats. Ein kleineres Quadrat an der Seite war für die Briefe meiner Mutter. Dann stand er auf, verschränkte seine Arme und starrte hinunter auf das Durcheinander.

»Es fehlen einige«, sagte Zhakkarn. Ich erschrak und stellte fest, dass sie hinter mir stand und ebenfalls auf das Muster hinunterstarrte.

Verwirrt schaute ich auch hin, aber ich konnte aus dieser Entfernung weder die feine Handschrift meiner Mutter noch die etwas breitgezogene Handschrift meines Vaters lesen. »Woher wisst ihr das?«

»Sie beziehen sich beide auf vorangegangene Briefe«, sagte Zhakkarn und zeigte hier und da auf bestimmte Seiten.

»Und die Kette ist an viel zu vielen Stellen unterbrochen«, fügte Si’eh hinzu, während er vorsichtig zwischen den Seiten umherging. Ab und zu hockte er sich hin und schaute sich die Briefe genauer an. »Deine Eltern waren Gewohnheitstiere. Sie schrieben mit der Genauigkeit eines Uhrwerks ein Jahr lang einmal die Woche. Aber hier fehlen sechs — nein, sieben Wochen. Es gibt keine Entschuldigungen für die verpassten Wochen, und da sehe ich den Bezug auf die früheren Briefe.« Er sah mich über die Schulter hinweg an. »Wusste noch jemand außer dir, dass es dieses Kästchen dort gab? Moment, nein, das ist zwanzig Jahre her — der halbe Palast könnte es gewusst haben.«

Ich schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Sie waren verborgen. Der Ort schien unberührt.«

»Das kann auch bedeuten, dass es so lange her ist, dass der Staub Zeit hatte, sich zu setzen.« Si’eh richtete sich auf und drehte sich zu mir um. »Was wolltest du dort eigentlich finden?«

»Viraine ...« Ich biss die Zähne zusammen. »Viraine behauptet, dass er der Geliebte meiner Mutter war.«

Si’eh zog seine Augenbrauen hoch und tauschte einen Blick mit Zhakkarn aus. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Wort ›Lie- be‹ mit dem in Verbindung bringen würde, was sie mit ihm gemacht hat.«

Angesichts dieser beiläufigen Bestätigung konnte ich nicht protestieren. Ich setzte mich hin.

Si’eh ließ sich neben mir auf seinen Bauch plumpsen und stützte sich auf den Ellenbogen auf. »Was? Halb Elysium ist zu irgendeinem Zeitpunkt mit der anderen Hälfte im Bett.«

Ich schüttelte meinen Kopf. »Nichts. Es ist nur ... ein bisschen viel auf einmal.«

»Er ist nicht dein Vater oder so was, wenn du dir darüber Sorgen machst.«

Ich verdrehte meine Augen und hob meine braune Darre-Hand. »Tue ich nicht.«

»Lust wird oft als Waffe benutzt«, sagte Zhakkarn. »Darin liegt keine Liebe.«

Ich schaute sie finster an und war von dieser Vorstellung überrascht. Mir gefiel es immer noch nicht, dass meine Mutter mit Viraine zusammen gewesen sein sollte, aber es half, die Tatsache als Taktik anzusehen. Nur, was hatte sie damit erreichen wollen? Was wusste Viraine, das kein anderer in Elysium wusste? Besser gesagt, was hätte der junge, verliebte Viraine, der neu in Elysium war, zu viel Selbstbewusstsein hatte und eifrig darauf bedacht war, zu gefallen, wohl eher verraten als jeder andere Arameri?

»Etwas über Magie«, murmelte ich zu mir selbst. »Das muss es gewesen sein, was sie aus ihm herausholen wollte. Etwas über ... euch?« Ich warf Zhakkarn einen Blick zu.

Zhakkarn zuckte mit den Schultern. »Wenn sie in derartige Geheimnisse eingeweiht wurde, hat sie sie nie angewendet.«

»Hmm. Wofür ist Viraine hier noch verantwortlich?«

»Magiebenutzung«, sagte Si’eh und zählte an den Fingern ab. »Alles von Routine bis zu, na ja, uns. Informationsverbreitung — er ist der Verbindungsmann zwischen Dekarta und dem Orden der Itempaner. Er beaufsichtigt alle wichtigen Zeremonien und Rituale.«

Si’eh brach ab. Ich schaute ihn an, und Überraschung malte sich auf seinem Gesicht. Ich warf Zhakkarn einen Blick zu, die nachdenklich aussah.

Zeremonien und Rituale. In meinen Bauch spürte ich ein aufgeregtes Kribbeln, als mir klar wurde, was Si’eh meinte. Ich setzte mich kerzengerade auf. »Wann war die letzte Nachfolge?«

»Dekartas war vor vierzig Jahren«, sagte Zhakkarn.

Meine Mutter war bei ihrem Tod fünfundvierzig. »Sie wäre zu jung gewesen, um zu verstehen, was bei der Zeremonie vor sich ging.«

»Sie war nicht bei der Zeremonie«, sagte Si’eh. »Dekarta hatte mir befohlen, an dem Tag mit ihr zu spielen, damit sie beschäftigt ist.«

Das war überraschend. Warum hätte Dekarta meine Mutter, seine Erbin, von der Zeremonie fernhalten sollen, die sie doch eines Tages selbst durchlaufen musste?

Ein intelligentes Kind hätte ihren Sinn begreifen können. Ging es darum, dass sie einen Diener während der Zeremonie töteten? Ich konnte mir keinen Arameri vorstellen, am allerwenigsten meinen Großvater, der diese harte Realität selbst einem Kind vorenthalten hätte.

»Ist bei der Zeremonie etwas Ungewöhnliches geschehen?«, fragte ich. »Habt ihr euch damals an den Stein herangemacht?«

»Nein, wir waren noch nicht bereit. Es war eine normale Nachfolge, wie die hundert anderen, die seit unserer Gefangennahme durchgeführt wurden.« Si’eh seufzte. »Zumindest erzählt man mir das, ich war ja nicht dort. Niemand von uns war es, außer Nahadoth. Sie wollen ihn immer dabeihaben.«

Ich stutzte. »Warum nur ihn«?

»Itempas wohnt der Zeremonie bei«, sagte Zhakkarn. Während ich sie mit offenen Mund anstarrte, versuchte in meinem Kopf der Gedanke Gestalt anzunehmen, dass der Elysiumvater hier war, genau hier, hierher kam. Zhakkarn fuhr fort: »Er begrüßt persönlich den neuen Herrscher der Arameri. Dann bietet er Nahadoth Freiheit an, aber nur, wenn er Itempas dient. Bisher hat sich Nahadoth geweigert, aber Itempas weiß, dass er gerne seine Meinung ändert. Er wird weiterhin fragen.«

Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte, mich von dem Gefühl der Ehrerbietung zu befreien, das man mir ein Leben lang eingetrichtert hatte. Der Elysiumvater bei der Nachfolgezeremonie. Er würde dort sein, um mich sterben zu sehen. Er würde seinen Segen dazu geben.

Abscheulich. Mein Leben lang hatte ich ihn verehrt.

Um mich von meinen wirbelnden Gedanken abzulenken, kniff ich mich mit meinen Fingern in den Nasenrücken. »Also wer war das letzte Mal das Opfer? Irgendein anderer unglückseliger Verwandter, der in diesen Familienalbtraum hineingezogen wurde?«

»Nein, nein«, sagte Si’eh. Er stand auf, reckte sich noch einmal, beugte sich dann tief hinunter und machte einen Handstand, wobei er bedenklich wackelte. Zwischen seinen keuchenden Atemzügen sprach er weiter. »Der Anführer eines Arameri-Clans ... muss den Willen haben, zu töten ... und zwar jeden in diesem Palast ... wenn Itempas das will. Um sich zu beweisen ... müssen die künftigen Anführer ... jemanden, dem sie nahestehen, opfern.«

Ich dachte darüber nach. »Also wurde ich auserwählt, weil weder Relad noch Scimina irgendjemandem nahestehen?«

Si’eh wackelte zu sehr, fiel auf den Boden, machte eine Rolle und stand sofort wieder. Dann untersuchte er seine Fingernägel, als ob er nie hingefallen wäre. »Na ja, ich denke schon. Niemand weiß wirklich, warum Dekarta dich auserwählt hat. Aber bei Dekarta war das Opfer Ygreth.«

Der Name kam mir bekannt vor, obwohl ich ihm nicht sofort ein Gesicht zuordnen konnte. »Ygreth?«

Si’eh sah mich überrascht an. »Seine erste Frau. Deine Großmutter mütterlicherseits. Hat Kinneth dir das nicht erzählt?«

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