Nachdem Si’eh gegangen war, stand ich früh auf und hatte die Absicht, T’vril vor dem Besuch des Salons an diesem Tag aufzusuchen. Als er mir versicherte, dass ich allen wichtigen Leuten begegnet war, hatte er nur den Wettbewerb der Erben im Auge gehabt. Was meine Mutter anging, so hoffte ich, dass jemand noch mehr über die Nacht, in der sie abgedankt hatte, wusste.
Aber ich bog links ab, wo ich rechts hätte abbiegen sollen, nahm den Aufzug nicht weit genug hinunter, und statt vor T’vrils Büro fand ich mich beim Palasteingang wieder und sah den Vorhof, in dem das unangenehmste Kapitel meines Lebens seinen Lauf genommen hatte.
Dekarta war dort.
Als ich fünf oder sechs war, hatte ich von meinen Itempas-Tutoren etwas über die Welt gelernt. »Dies ist das Universum, das von den Göttern beherrscht wird«, sagten sie. »Bright Itempas ist der Oberste unter ihnen. Und dann ist da die Welt, in der das Adelskonsortium regiert unter der Führung der Ara- meri-Familie. Dekarta, der Lord Arameri, ist der Oberste unter ihnen.«
Ich hatte später einmal zu meiner Mutter gesagt, dass dieser Lord Arameri ein großer Mann sein müsse.
»Das ist er«, sagte sie, und damit war die Unterhaltung beendet.
Es waren nicht die Worte, die mir im Gedächtnis geblieben waren, aber die Art, wie sie sie sagte.
Der Vorhof Elysiums ist das Erste, was Besucher sehen, also ist er bewusst eindrucksvoll. Außer dem Lotrechten Portal und dem Palasteingang — ein gähnender Tunnel aus konzentrischen Bögen, um den herum der einschüchternde Hauptteil von Elysium steht — gibt es noch den Garten der Hunderttausend und den Pier. Natürlich legt an diesem Pier nichts an, da er vom Vorhof aus über einen Abgrund, der eine halbe Meile tief ist, hinausragt. Er hat ein dünnes, elegantes Geländer, das ungefähr hüfthoch ist. Dieses Geländer würde niemanden, der Selbstmord begehen wollte, aufhalten können, aber ich denke, es gibt allen anderen ein wenig Sicherheit.
Dekarta, Viraine und einige andere standen am Fuß des Piers. Die Gruppe war recht weit entfernt, und sie hatten mich noch nicht bemerkt. Ich hätte mich sofort umgedreht und wäre wieder in den Palast gegangen, wenn ich nicht eine der Gestalten bei Dekarta und Viraine erkannt hätte. Zhakkarn, die Kriegergöttin.
Das ließ mich innehalten. Die anderen Anwesenden waren De- kartas Höflinge — ich erinnerte mich vage, einige von ihnen an meinem ersten Tag gesehen zu haben. Ein weiterer Mann, der nicht halb so gut gekleidet war wie der Rest, stand ein paar Schritte weiter auf dem Pier, als ob er die Aussicht genießen würde, aber er zitterte. Ich konnte das sogar von meinem Standort aus sehen.
Dekarta sagte etwas, worauf Zhakkarn die Hand hob und einen glänzenden silbernen Speer herbeizauberte. Sie zeigte auf den Mann und ging drei Schritte vor. Die Speerspitze befand sich, trotz des Windes ohne zu zittern, nur ein paar Zentimeter hinter dem Rücken des Mannes.
Der Mann machte einen Schritt vorwärts und sah sich dann um. Der Wind ließ sein Haar wie eine dünne Wolke um seinen Kopf wehen; er sah aus wie ein Amn oder eine verwandte Rasse. Aber ich erkannte sein Auftreten und seine wilden, trotzigen Augen. Er war ein Ketzer, einer, der Bright missachtete. Es hatte einmal ganze Armeen von seinesgleichen gegeben, aber jetzt waren nur noch wenige übrig, die sich in Enklaven versteckten und ihre gefallenen Götter im Geheimen verehrten. Dieser hier muss- te unvorsichtig gewesen sein.
»Ihr könnt sie nicht ewig in Ketten lassen«, sagte der Mann. Der Wind trug seine Worte zu mir und fort und foppte so meine Ohren. Die beschützende Magie, die die Luft in Elysium warm und ruhig hielt, war auf dem Pier offensichtlich nicht aktiv. »Nicht einmal der Elysiumvater ist unfehlbar!«
Dekarta sagte nichts dazu, aber er beugte sich vor und raunte Zhakkarn etwas zu. Der Mann auf dem Pier versteifte sich. »Nein! Das könnt Ihr nicht! Das geht nicht!« Er drehte sich um und versuchte, an Zhakkarn und dem hervorstechenden Speer vorbeizukommen, wobei er seine Augen auf Dekarta gerichtet hielt.
Zhakkarn bewegte nur die Speerspitze, und der Mann spießte sich selber auf.
Ich schrie auf und schlug die Hände vor den Mund. Der Pa- lasteingang verstärkte den Klang; Dekarta und Viraine warfen mir einen Blick zu. Aber dann erklang ein Geräusch, das meinen Ausruf erstickte — der Mann begann zu schreien.
Dieser Schrei ging durch mich hindurch wie Zhakkarns Speer. Der Körper des Mannes zitterte noch mehr als vorher, er war um den Speer herum gekrümmt und umklammerte den Schaft. Zu spät erkannte ich, dass es nicht nur sein Schrei war, der ihn schüttelte, sondern noch eine andere Macht, denn seine Brust begann, um die Spitze des Speers herum rot zu glühen. Rauch stieg von seinen Armein, seinem Kragen, seinem Mund und seiner Nase auf. Das Schlimmste waren seine Augen, weil er hellwach war. Er wusste, was mit ihm geschah, wusste es und verzweifelte — und genau das war Teil seines Leidens.
Ich floh. Elysiumvater steh mir bei, aber ich konnte es nicht ertragen; ich rannte zurück in den Palast und duckte mich hinter einer Ecke. Aber auch das half nichts, ich konnte ihn immer noch schreien hören, während er von innen heraus verbrannte — schreien und schreien, bis ich dachte, dass ich den Verstand verlieren und für den Rest meines Lebens taub sein würde.
Allen Göttern — sogar Nahadoth — sei Dank, hörte er irgendwann auf.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort kauerte und mit den Händen meine Ohren bedeckte. Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr alleine war, und ich hob den Kopf. Dekarta lehnte sich schwer auf einen dunklen, polierten Gehstock aus dem Holz, das so dunkel war wie die Darr-Wälder, und beobachtete mich; Viraine an seiner Seite. Die anderen Höflinge hatten sich im Gang zerstreut. Zhakkarn war nirgendwo zu sehen.
»Nun«, sagte Dekarta, und seine Stimme triefte vor Spott, »da sehen wir nun die Wahrheit. Die Feigheit ihres Vaters hat bei ihr die Oberhand, nicht der Mut der Arameri.«
Das verwandelte meinen Schock in rasende Wut. Ich sprang aus der Hocke auf.
»Die Darre waren einmal berühmte Krieger«, sagte Viraine, bevor ich etwas sagen und mich um Kopf und Kragen reden konnte. Im Gegensatz zu Dekarta war sein Ausdruck neutral. »Aber Jahrhunderte unter der friedvollen Regentschaft des Elysiumvaters zivilisiert selbst die wildesten Rassen, Mylord, und das können wir ihr nicht zum Vorwurf machen. Ich bezweifle, dass sie jemals gesehen hat, wie ein Mensch getötet wird.«
»Die Mitglieder meiner Familie müssen stärker sein«, sagte Dekarta. »Das ist der Preis, den wir für unsere Macht zahlen. Wir können nicht so sein wie die Dunkelrassen, die ihre Götter aufgaben, um ihre Haut zu retten. Wir müssen wie dieser Mann sein, auch wenn er irregeleitet war.« Er zeigte zurück zum Pier oder wo immer die Leiche des Ketzers jetzt war. »Wie Shahar. Wir müssen willens sein, zu sterben — und zu töten — für unseren Lord Itempas.« Er lächelte, und ich bekam eine Gänsehaut.
»Vielleicht sollten wir den nächsten dir überlassen, Enkelin.«
Ich war zu aufgebracht und wütend, um den Hass, den mein Gesicht zeigte, unter Kontrolle zu bringen. »Wie viel Stärke braucht man, um einen unbewaffneten Mann zu töten? Um jemand anderem den Befehl dazu zu erteilen? Und dann noch auf die Art ...« Ich schüttelte den Kopf. Der Schrei hallte immer noch in meinen Ohren wider. »Das war Grausamkeit und keine Gerechtigkeit!«
»War es das?« Zu meiner Überraschung sah Dekarta tatsächlich nachdenklich aus. »Diese Welt gehört dem Elysiumvater. Das ist unbestritten. Der Mann wurde dabei erwischt, wie er verbotene Bücher verteilte, Bücher, die diese Wirklichkeit leugnen. Und jeder Leser dieser Bücher — jeder gute Bürger, der Zeuge dieser Blasphemie wurde und sie nicht angezeigt hat — ist nun auch diesem Irrglauben verfallen, seinem Bemühen, Irrsinn zu verbreiten. Sie sind alle Kriminelle, die in unserer Mitte leben, die nicht die Absicht haben, Gold zu stehlen oder Leben, sondern Herzen. Gemüter. Vernunft und Frieden.« Dekarta seufzte. »Wahre Gerechtigkeit wäre es, die gesamte Nation auszulöschen; diesen Makel auszubrennen, bevor er sich weiter verbreiten kann. Stattdessen habe ich die Todesstrafe nur für alle in dieser Splittergruppe angeordnet und ihre Ehepartner und Kinder. Nur für diejenigen, die nicht mehr zu retten sind.«
Ich starrte Dekarta an und war zu entsetzt, um noch Worte zu finden. Jetzt wusste ich, warum der Mann sich umgedreht hatte, um sich selber aufzuspießen. Jetzt wusste ich, wohin Zhakkarn verschwunden war.
»Lord Dekarta hat ihm die Wahl gelassen«, fügte Viraine hinzu. »Springen wäre der einfachere Tod gewesen. Die Winde wirbeln sie normalerweise gegen den Stützpfeiler des Palastes, sie kommen nicht unten auf. Es ist ... schnell.«
»Ihr ...« Ich wollte meine Ohren wieder mit meinen Händen bedecken. »Ihr nennt Euch Diener von Itempas? Ihr seid tollwütige Untiere. Dämonen!«
Dekarta schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Narr, immer noch etwas von ihr in dir zu suchen.« Er wandte sich ab und ging durch die Halle davon; sogar mit dem Stock war er langsam. Viraine begab sich an seine Seite, um ihm zu helfen, falls er stolperte. Er sah sich noch einmal zu mir um — Dekarta nicht.
Ich stieß mich von der Wand ab. »Meine Mutter lebte mehr in Brights Sinne, als Ihr es je könntet!«
Dekarta blieb stehen, und einen Herzschlag lang hatte ich Angst, weil mir klar wurde, dass ich zu weit gegangen war. Aber er drehte sich nicht um.
»Das ist wahr«, sagte Dekarta, seine Stimme war sehr leise. »Deine Mutter hätte überhaupt keine Gnade gezeigt.«
Er ging weiter. Ich lehnte mich wieder gegen die Wand und hörte lange nicht auf zu zittern.
An dem Tag blieb ich dem Salon fern. Ich hätte nicht dort neben Dekarta sitzen und Gleichgültigkeit heucheln können, während meine Gedanken immer noch von dem Schrei des Ketzers erfüllt waren. Ich war keine Arameri und würde nie eine sein, also warum sollte ich so tun als ob? Und für den Moment hatte ich andere Sorgen.
T’vril füllte Papiere aus, als ich sein Büro betrat. Bevor er aufstehen und mich begrüßen konnte, legte ich eine Hand auf seinen Schreibtisch. »Die Habseligkeiten meiner Mutter. Wo sind sie?«
Er machte seinen Mund zu und öffnete ihn wieder, um zu sprechen. »Ihre Wohnung ist in Turm Sieben.«
Nun war es an mir, zu zögern. »Ihre Wohnung ist unversehrt?«
»Als sie ging, ordnete Dekarta an, dass die Wohnung so bleiben soll, wie sie ist. Nachdem klar war, dass sie nicht zurückkehren würde ...« Er spreizte seine Finger. »Mein Vorgänger hing an seinem Leben und schlug deshalb nicht vor, die Wohnung auszuräumen. Mir geht es genauso.«
Dann fügte er, diplomatisch wie immer, hinzu: »Ich sorge dafür, dass Euch jemand den Weg zeigt.«
Das Zimmer meiner Mutter.
Der Diener hatte mich auf meinen unausgesprochenen Befehl hin allein gelassen. Als die Tür sich schloss, wurde es still. Ovale Sonnenlichtflecken bedeckten den Boden. Die Vorhänge waren schwer und hatten sich bei meinem Eintreten nicht bewegt. T’vrils Leute hatten das Zimmer sauber gehalten, und so tanzten nicht einmal ein paar Staubkörner im Licht. Wenn ich den Atem anhielt, kam ich mir vor wie in einem Porträt und nicht wie in einem Ort des Hier und Jetzt.
Ich machte einen Schritt vorwärts. Dies war das Empfangszimmer. Sekretär, Sofa, Tisch zum Teetrinken oder Arbeiten. Ein paar persönliche Noten hier und da — Bilder an der Wand, Skulpturen auf schmalen Regalbrettern, ein wunderschön geschnitzter Altar im Senmiten-Stil. Alles sehr elegant.
Nichts davon passte zu ihr.
Ich ging durch die Wohnung. Links war das Badezimmer. Größer als meins, aber meine Mutter hatte Baden immer geliebt. Ich erinnerte mich daran, wie ich in einem Schaumbad mit ihr gesessen und gekichert hatte, als sie ihre Haare auf ihrem Kopf auftürmte und dabei Grimassen schnitt ...
Nein. Ich musste damit aufhören, oder ich war bald zu nichts mehr zu gebrauchen.
Das Schlafgemach. Das Bett war oval und riesig, zweimal so groß wie meins, weiß, tief und mit Kopfkissen. Kommoden, ein Frisiertisch, eine Feuerstelle mit Kaminsims — reine Dekoration, da in Elysium keine Notwendigkeit für Feuer bestand —, ein weiterer Tisch. Auch hier gab es persönliche Gegenstände: Flaschen, die sorgfältig auf dem Frisiertisch angeordnet waren; die Favoriten meiner Mutter standen vorne. Einige Topfpflanzen, die nach so vielen Jahren übermäßig groß und von kräftigem Grün waren. Porträts an den Wänden.
Diese erregten meine Aufmerksamkeit. Ich ging zu dem Kaminsims, um mir das größte genauer ansehen zu können: die eingerahmte Darstellung einer gutaussehenden, blonden Amn-Frau. Sie war prächtig gekleidet, und ihre Haltung ließ darauf schließen, dass sie in einer wesentlich edleren Umgebung aufgewachsen war als ich. Irgendetwas an ihrem Ausdruck faszinierte mich. Ihr Lächeln kräuselte nur andeutungsweise ihre Lippen, und obwohl sie den Betrachter anschaute, war ihr Blick vage, nicht fokussiert. Tagträume? Sorgen? Der Künstler war ein Meister, dies einzufangen.
Die Ähnlichkeit zwischen ihr und meiner Mutter war auffallend. Es musste sich um meine Großmutter handeln, Dekartas tragisch verstorbene Frau. Kein Wunder, dass sie beunruhigt aussah: Sie hatte in diese Familie eingeheiratet.
Ich drehte mich um, um das ganze Zimmer auf mich wirken zu lassen. »Was warst du hier, Mutter?«, flüsterte ich. Meine Stimme durchbrach die Stille nicht. Hier, in diesem in sich geschlossenen, eingefrorenen Zeitausschnitt des Zimmers war ich nur eine Beobachterin. »Warst du die Mutter, an die ich mich erinnere, oder warst du eine Arameri?«
Dies hatte nichts mit ihrem Tod zu tun. Es war nur etwas, das ich unbedingt wissen musste.
Ich begann, die Wohnung zu durchsuchen. Das ging nur langsam vonstatten, weil ich es nicht über mich brachte, diesen Ort zu durchwühlen. Ich würde nicht nur die Bediensteten beleidigen, wenn ich das tat, sondern ich fand es auch meiner Mutter gegenüber respektlos. Sie hatte Ordnung immer geliebt.
Deshalb war die Sonne bereits untergegangen, als ich schließlich ein Kästchen in einem Fach im Kopfteil des Bettes fand. Mir war nicht einmal bewusst gewesen, dass sich dort ein Fach befand, bis ich meine Hand darauf abstützte und die Kante bemerkte. Ein Versteck? In das offene Kästchen war ein Bündel gefaltete und zusammengerollte Papiere hineingestopft. Ich streckte schon meine Hand danach aus, als ich auf einer Schriftrolle die Handschrift meines Vaters entdeckte.
Meine Hände zitterten, als ich das Kästchen aus dem Fach zog. Es hinterließ ein sauberes Viereck in der dicken Staubschicht in der Mitte des Fachs — die Diener hatten darin offensichtlich nicht saubergemacht. Vielleicht war ihnen genau wie mir nicht bewusst gewesen, dass sich das Kopfteil öffnen ließ. Ich pustete den Staub von der obersten Schicht Papiere und nahm das erste gefaltete Blatt hoch.
Ein Liebesbrief von meinem Vater an meine Mutter.
Ich zog jedes einzelne Papier heraus, begutachtete es und sortierte dann nach Datum. Es waren alles Liebesbriefe von ihm an sie und von ihr an ihn, geschrieben innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr. Ich schluckte schwer, wappnete mich geistig und begann, zu lesen.
Eine Stunde später hörte ich auf, legte mich auf das Bett und weinte mich in den Schlaf.
Als ich aufwachte, war das Zimmer dunkel.
Und ich hatte keine Angst. Ein schlechtes Zeichen.
»Du solltest nicht allein im Palast herumlaufen«, sagte der Lord der Finsternis.
Ich setzte mich auf. Er saß neben mir auf dem Bett und schaute zum Fenster. Der Mond stand hoch und war halb von einem Wolkenfetzen bedeckt; ich musste Stunden geschlafen haben. Ich rieb mein Gesicht und sagte ziemlich kühn: »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung, Lord Nahadoth.«
Sein Lächeln war meine Belohnung, obwohl er mich immer noch nicht ansah. »Respekt, ja. Aber es gibt noch mehr Gefahren in Elysium außer mir.«
»Einige Dinge sind ein Risiko wert.« Ich schaute das Bett an.
Der Stapel Briefe lag dort mit anderen Kleinigkeiten, die ich aus dem Kästchen genommen hatte: ein Tütchen mit getrockneten Blumen, eine Locke schwarzes Haar, die wohl von meinem Vater stammte, ein aufgerolltes Stück Papier, auf dem ein paar durchgestrichene Zeilen eines Gedichts in der Handschrift meiner Mutter standen, und ein winziger silberner Anhänger an einem dünnen Lederband. Ich hob den Anhänger auf und versuchte erneut erfolglos herauszubekommen, um was es sich handelte. Er sah aus wie ein roher, platt geschlagener Klumpen, länglich mit spitzen Enden. Irgendwie kam er mir bekannt vor.
»Der Stein einer Frucht«, murmelte Nahadoth. Er beobachtete mich nun von der Seite.
Ja, so sah es aus — Aprikose vielleicht oder Ginkgo. Mir fiel ein, wo ich etwas Ähnliches gesehen hatte: aus Gold, um Ras Onchis Hals. »Warum ...?«
»Die Frucht stirbt, aber sie trägt den Funken neuen Lebens in sich. Enefa hatte die Macht über Tod und Leben.«
Ich runzelte verwirrt die Stirn. Vielleicht war der silberne Obstkern das Symbol Enefas, so wie Itempas weißer Jadering. Aber warum sollte meine Mutter ein Symbol Enefas besitzen? Oder besser gesagt — warum sollte mein Vater es ihr gegeben haben?
»Sie war die Stärkste von uns.« Nahadoth sah wieder hinaus zum Nachthimmel, obwohl es offensichtlich war, dass seine Gedanken ganz woanders weilten. »Wenn Itempas kein Gift benutzt hätte, hätte er sie niemals sofort töten können. Aber sie vertraute ihm. Liebte ihn.«
Er senkte seinen Blick, lächelte sanft, reuevoll zu sich selbst. »Andererseits ... ich ja auch.«
Ich ließ den Anhänger beinahe fallen.
Dies ist es, was die Priester mir beibrachten.
Es waren einmal drei große Götter. Bright Itempas, Lord des Tages, war der vom Schicksal oder vom Mahlstrom oder irgendeinem unergründlichen Plan zum Regieren bestimmte. Alles war in Ordnung, bis Enefa, seine Schwester — der Emporkömmling — beschloss, dass sie an Bright Itempas Stelle regieren wollte. Sie überzeugte ihren Bruder Nahadoth, ihr zu helfen, und zusammen mit einigen ihrer Gottkinder versuchten sie einen Handstreich. Itempas, mächtiger als beide Geschwister zusammen, schlug sie vernichtend. Er tötete Enefa, bestrafte Nahadoth und die Aufständischen und begründete einen noch größeren Frieden — denn ohne seinen dunklen Bruder und seine wilde Schwester, die es zu beschwichtigen galt, hatte er die Freiheit, der gesamten Schöpfung wahres Licht und Ordnung zu bringen.
Aber ...
»G-gift?«
Nahadoth seufzte. Hinter ihm bewegte sich unruhig sein Haar, wie Vorhänge, die in der nächtlichen Brise flatterten. »Wir haben die Waffe durch unsere Tändeleien mit den Menschen selber geschaffen, obwohl uns das lange nicht klar war.«
Der Lord der Finsternis begab sich auf die Erde und suchte Unterhaltung … »Die Dämonen«, flüsterte ich.
»Die Menschen machten aus diesem Wort ein Schimpfwort. Die Dämonen waren einst so schön und vollkommen wie unsere gottgeborenen Kinder — aber sterblich. Als sie in unsere Körper gesteckt wurden, lehrte ihr Blut unser Fleisch, wie man stirbt. Es war das einzige Gift, das uns etwas anhaben konnte.«
Aber die Geliebte des Lords der Finsternis konnte ihm nicht vergeben … »Ihr habt sie zur Strecke gebracht.«
»Sie hätten sich sonst mit Sterblichen vermischt und den Makel an ihre Nachkommen weitergereicht, bis die gesamte menschliche Rasse für uns tödlich gewesen wäre. Es schien damals eine weise Entscheidung zu sein. Aber Itempas ließ eine am Leben, in einem Versteck.«
Seine eigenen Kinder ermorden ... Ich schauderte. Also war die Geschichte der Priester wahr. Und trotzdem konnte ich die Scham in Nahadoth spüren, den fortwährenden Schmerz. Das bedeutete, dass auch die Version meiner Großmutter stimmte.
»Also benutzte Lord Itempas dieses ... Gift, um Enefa zu beruhigen, als sie ihn angriff.«
»Sie griff ihn nicht an.«
Übelkeit. Die Welt kippte im Inneren meines Kopfes um. »Dann ... Warum ... ?«
Er senkte den Blick. Sein Haar fiel nach vorne und verdeckte sein Gesicht, und ich wurde drei Nächte zurückversetzt, zu unserem ersten Treffen. Das Lächeln, das seine Lippen jetzt zeigten, war voller Bitterkeit.
»Sie stritten«, sagte er, »meinetwegen.«
Für einen kurzen Moment veränderte sich etwas in mir. Ich sah Nahadoth an und sah in ihm nicht das mächtige, unberechenbare, tödliche Wesen, das er war.
Ich wollte ihn. Wollte ihn anlocken. Ihn kontrollieren. Ich sah mich selbst nackt auf grünem Gras, meine Arme und Beine umschlangen Nahadoth, der auf mir erbebte — gefangen und hilflos in meiner Fleischeslust. Er war mein. Ich sah mir zu, wie ich sein mitternachtschwarzes Haar liebkoste, dann, wie ich hochschaute, damit er mir in die Augen sah, und wie ich aus selbstgefälliger, besitzergreifender Befriedigung lächelte.
Ich wies das Bild und das Gefühl von mir, sobald sie mir in den Sinn gekommen waren. Aber beides war eine weitere Warnung.
»Der Mahlstrom, der uns zeugte, war langsam«, sagte Nahadoth. Wenn er mein plötzliches Unbehagen spürte, so ließ er es sich nicht anmerken. »Ich war der Erstgeborene, dann kam Itempas. Für unzählbare Ewigkeiten waren wir alleine im Universum — zuerst Feinde, dann Geliebte. Er mochte es so.«
Ich versuchte, nicht an die Geschichten der Priester zu denken. Versuchte, mich nicht zu fragen, ob Nahadoth auch log — obwohl in seinen Worten Wahrhaftigkeit mitschwang, wie mir beinahe instinktiv bewusst wurde. Die Drei waren mehr als nur Geschwister, sie waren Naturgewalten, gegensätzlich, aber untrennbar miteinander verbunden. Ich, ein Einzelkind und Sterbliche, die noch nie einen Geliebten gehabt hatte, konnte nicht einmal ansatzweise ihre Beziehung verstehen. Aber ich fühlte mich verpflichtet, es zu versuchen.
»Als Enefa kam ... Lord Itempas sah sie als einen Eindringling?«
»Ja. Obwohl ... bevor sie kam, fühlten wir uns unvollständig. Wir waren geschaffen worden, um zu dritt zu sein, nicht zu zweit. Itempas störte auch das.«
Dann warf Nahadoth mir einen Seitenblick zu. Im Schatten meines Körpers, für einen kurzen Moment, wurde durch die unsichere Bewegung sein Gesicht zu einer einzigen Vollkommenheit der Linien und Konturen, die mich atemlos machte. Ich hatte noch nie so etwas Schönes gesehen. Sofort begriff ich, warum Itempas Enefa umbrachte, um ihn zu bekommen.
»Amüsiert es dich, zu hören, dass wir genauso egoistisch und stolz sein können wie die Menschen?« In Nahadoths Stimme war eine gewisse Schärfe zu hören, die ich kaum bemerkte. Ich konnte mich nicht von seinem Gesicht losreißen. »Wir haben euch nach unserem Vorbild erschaffen, denk daran. All unsere Fehler sind eure.«
»Nein«, sagte ich. »D-das Einzige, das mich überrascht, sind ... die Lügen, die man mir aufgetischt hat.«
»Ich hätte gedacht, dass die Darre die Wahrheit besser bewahren würden.« Er beugte sich zu mir herüber, langsam und unaufdringlich.
In seinen Augen war etwas Raubtierhaftes, und ich war verzückt und deshalb leichte Beute. »Nicht jede Rasse der Menschen verehrt schließlich aus freien Stücken Itempas. Ich hätte gedacht, dass zumindest ihre ennu die alten Sitten noch kennt.«
Das hätte ich auch gedacht. Ich umklammerte mit meiner Hand den silbernen Obstkern und fühlte mich benommen. Ich wusste, dass mein Volk einst Ketzer gewesen waren. Deshalb nannten die Amn Rassen wie die meine Dunkelrassen: Wir akzeptierten Bright nur, um uns zu retten, als die Arameri uns mit Vernichtung bedrohten. Was Nahadoth aber andeutete — dass einige meines Volkes den wahren Grund für den Krieg der Götter gekannt hatten und ihn vor mir geheimgehalten hatten — nein. Das konnte und wollte ich nicht glauben.
Man hatte immer hinter meinem Rücken über mich geflüstert. An mir gezweifelt. Meine Amn-Haare, meine Amn-Augen. Meine Amn-Mutter, die mir ihre Arameri-Sitten eingeimpft hatte. Ich hatte so sehr um die Anerkennung meines Volkes gekämpft. Ich dachte, ich hätte Erfolg gehabt.
»Nein«, flüsterte ich. »Meine Großmutter würde es mir gesagt haben ...«
Oder?
»Dich umgeben so viele Geheimnisse«, flüsterte der Lord der Finsternis. »So viele Lügen, so viele Schleier. Soll ich sie für dich wegreißen?« Seine Hand berührte meine Hüfte. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Seine Nase streifte meine, sein Atem kitzelte meine Lippen. »Du willst mich.«
Ich zitterte bereits, sonst hätte ich jetzt damit angefangen. »N- nein.«
»So viele Lügen.« Mit dem letzten Wort schob er seine Zunge heraus und strich damit über meine Lippen. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich; ich konnte nicht verhindern, dass ich wimmerte. Ich sah mich wieder auf dem grünen Gras, unter ihm, von ihm festgenagelt. Ich sah mich auf einem Bett — auf genau dem Bett, auf dem ich saß. Ich sah ihn, wie er mich auf dem Bett meiner Mutter nahm, mit wildem Gesicht und brutalen Bewegungen, aber ich besaß ihn nicht und hatte auch keine Kontrolle über ihn. Wie hatte ich es je wagen können, mir vorzustellen, dass das der Fall sein könnte?
Er benutzte mich, und ich war hilflos, schrie auf vor Schmerzen und Lust. Ich gehörte ihm, und er verschlang mich, genoss es, wie er meine Vernunft in Stücke riss und sie als triefende Stücke hinunterschluckte. Er würde mich vernichten, und ich würde jede Minute davon lieben.
»O Götter ...« Die Ironie meines Stoßseufzers blieb mir verborgen. Ich streckte meine Hände hoch und vergrub sie in seiner schwarzen Aura, um ihn wegzuschieben. Ich fühlte kalte Nachtluft und dachte, meine Hände würden einfach hindurchgehen und nichts berühren. Stattdessen stieß ich auf solides Fleisch, einen warmen Körper, Kleidung. Ich klammerte mich an der Kleidung fest, um mich an die Wirklichkeit und die Gefahr zu erinnern. Es war so schwer, ihn nicht näher heranzuziehen. »Bitte nicht. Bitte, o Götter, bitte nicht.«
Er war immer noch über mir. Sein Mund streifte immer noch meinen, so dass ich sein Lächeln spüren konnte. »Ist das ein Befehl?«
Ich zitterte vor Angst, Begierde und Anstrengung. Letztere zahlte sich schließlich aus, als ich es schaffte, meinen Kopf von seinem wegzudrehen. Sein kühler Atem kitzelte meinen Hals, und ich spürte ihn am ganzen Körper, wie eine innige Liebkosung. Ich hatte noch nie einen Mann so begehrt, nie in meinem ganzen Leben. Ich hatte noch nie solche Angst gehabt.
»Bitte«, sagte ich erneut.
Er küsste mich ganz sanft auf meinen Hals. Ich versuchte, nicht zu stöhnen, und versagte kläglich. Ich sehnte mich nach ihm. Aber dann seufzte er, erhob sich und ging hinüber zum Fenster. Die schwarzen Tentakel seiner Macht berührten mich noch etwas länger; ich war fast in seiner Dunkelheit vergraben gewesen. Aber als er sich wegbewegte, ließen seine Tentakeln mich frei — widerwillig, wie es schien — und zogen sich in die übliche Rastlosigkeit seiner Aura zurück.
Ich schlang meine Arme um mich und fragte mich, ob ich jemals aufhören würde, zu zittern.
»Deine Mutter war eine echte Arameri«, sagte Nahadoth.
Das zu hören holte mich so schockartig aus meiner Sehnsucht wie ein Schlag ins Gesicht.
»Sie war alles, was Dekarta wollte, und sogar noch mehr«, fuhr er fort.
»Ihre Ziele waren nie dieselben, aber sie war in allen anderen Belangen ihrem Vater mehr als ebenbürtig. Er liebt sie immer noch.«
Ich schluckte. Meine Beine waren zittrig, deshalb stand ich nicht, richtete mich jedoch aus der zusammengekrümmten Haltung, die ich. unwillkürlich eingenommen hatte, auf. »Aber warum hat er sie dann getötet?«
»Du denkst, dass er es war?«
Ich öffnete meinen Mund, um eine Erklärung zu verlangen. Noch bevor ich das tun konnte, wandte er sich zu mir um. Im Lichtschein, der durch das Fenster fiel, war sein Körper eine Silhouette, bis auf seine Augen. Ich konnte sie genau sehen, schwarz wie Onyx und mit dem Glanz von überirdischem Wissen und Boshaftigkeit.
»Nein, kleine Spielfigur«, sagte der Lord der Finsternis. »Kleines Werkzeug. Keine Geheimnisse mehr, nicht ohne ein Bündnis. Das dient deiner Sicherheit genauso wie unserer. Soll ich dir die Bedingungen nennen?« Irgendwie wusste ich, dass er lächelte. »Ja, ich denke, das sollte ich. Wir wollen dein Leben, süße Yeine. Biete es uns an, und du wirst alle Antworten bekommen, die du willst — und zusätzlich noch die Chance auf Rache. Das ist es doch, was du wirklich willst, oder nicht?« Ein leises, grausames Kichern. »Du bist mehr Arameri, als Dekarta sieht.«
Ich begann erneut zu zittern, diesmal aber nicht aus Angst.
Wie zuvor verschwand er. Sein Bild war schon fort, lange bevor seine Präsenz folgte. Als ich ihn nicht länger spüren konnte, räumte ich die Sachen meiner Mutter fort und richtete das Zimmer so her, dass niemand meine Anwesenheit bemerken würde. Ich wollte den silbernen Obstkern behalten, aber mir fiel kein Ort ein, an dem er sicherer war als in dem Fach, in dem er jahrzehntelang unentdeckt gelegen hatte. Also ließ ich ihn und die Briefe in ihrem Versteck.
Als ich endlich fertig war, ging ich zurück in mein Zimmer. Ich musste all meine Willenskraft zusammennehmen, um nicht zu rennen.