Die Priester erwähnen den Krieg der Götter manchmal, hauptsächlich als eine Warnung vor Ketzerei. Wegen Enefa, sagen sie.
Wegen der Verräterin lagen Menschen und Tiere drei Tage lang hilflos und nach Luft ringend herum. Ihre Herzen schlugen immer langsamer, und ihre Bäuche blähten sich auf, als die Gedärme ihre Funktion einstellten. Pflanzen verwelkten und starben innerhalb von Stunden — riesige, fruchtbare Ebenen wurden zu grauen Wüsten. Währenddessen kochte die See, die wir heute See der Reue nennen, und aus irgendeinem Grund spalteten sich die höchsten Berge in zwei Hälften. Die Priester sagen, das war das Werk der Gottkinder, Enefas unsterblicher Nachkommen, die alle Partei ergriffen und überall auf der Welt kämpften. Ihre Väter, die Herren des Himmels, fochten ihre Kämpfe hauptsächlich dort oben aus.
Wegen Enefa, sagen die Priester. Sie sagen nicht, weil Itempas sie tötete.
Als der Krieg endlich zu Ende war, war das meiste auf der Welt tot. Was blieb, war für immer verändert. In meinem Land erzählen Jäger Legenden von Tieren, die es nicht länger gibt; Erntelieder besingen Nahrungsmittel, die schon lange niemand mehr gesehen hat. Diese ersten Arameri haben viel für die Überlebenden getan, wie die Priester immer wieder betont haben. Mithilfe der Magie der im Krieg festgenommenen Götter füllten sie die Ozeane wieder auf, versiegelten die Berge und heilten das Land. Für die Toten konnte man nichts mehr tun, und so versuchten sie wenigstens, so viele der Überlebenden wie möglich zu retten.
Für einen gewissen Preis.
Aber das erwähnen die Priester ebenfalls nicht.
Es gab nur sehr wenig zu besprechen. Angesichts der nahenden Zeremonie waren die Enefadeh mehr denn je auf meine Zusammenarbeit angewiesen. Deshalb stimmte Kurue — mit spürbarer Verärgerung — meiner Bedingung zu. Wir alle wussten, dass ich so gut wie keine Chance hatte, Dekartas Erbin zu werden. Wir alle wussten auch, dass die Enefadeh mich nur bei Laune hielten. Ich war damit zufrieden, solange ich nicht zu genau darüber nachdachte.
Einer nach dem anderen verschwand, bis ich mit Nahadoth alleine war. Kurue hatte gesagt, dass er der Einzige war, der mich in den wenigen verbleibenden Nachtstunden nach Darr und zurück bringen konnte. Stille breitete sich aus, während ich mich an den Lord der Finsternis wandte.
»Wie?«, fragte er. Er meinte die Vision seiner Niederlage.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber es ist schon einmal geschehen. Ich hatte einmal einen Traum von dem alten Elysium. Ich sah, wie Ihr es zerstört habt.« Ich schluckte, und mir war kalt. »Ich dachte, es wäre nur ein Traum, aber wenn das, was ich gerade gesehen habe, wirklich geschehen ist ...« Erinnerungen. Ich durchlebte Enefas Erinnerungen. Mein lieber Elysiumvater, ich wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.
Er kniff die Augen zusammen. Er hatte wieder dieses Gesicht — das, vor dem ich Angst hatte, weil ich nicht anders konnte, als es zu wollen. Ich fixierte meinen Blick auf einen Punkt irgendwo über seiner Schulter.
»Es ist geschehen«, sagte er langsam. »Aber Enefa war da bereits tot. Sie hat nicht gesehen, was er mir angetan hat.«
Ich wünschte, ich auch nicht. Aber bevor ich etwas sagen konnte, machte Nahadoth einen Schritt auf mich zu. Genauso schnell machte ich einen Schritt rückwärts, und er blieb stehen.
»Du hast jetzt Angst vor mir?«
»Ihr habt versucht, mir meine Seele herauszureißen.«
»Und trotzdem begehrst du mich noch.«
Ich erstarrte. Natürlich hatte er das gespürt. Ich sagte nichts, weil ich mir keine Blöße geben wollte.
Nahadoth ging an mir vorbei zum Fenster. Ich zitterte, als er vorbeiging; ein Tentakel seines Umhangs hatte sich für einen winzigen Moment liebkosend um meine Wade gewickelt. Ich fragte mich, ob er sich dessen bewusst war.
»Was genau hoffst du, in Darr zu erreichen?«, fragte er.
Ich schluckte und war froh über den Themawechsel. »Ich muss mit meiner Großmutter sprechen. Ich hatte überlegt, eine Siegelsphäre zu benutzen, aber ich verstehe nichts von diesen Dingern. Andere könnten möglicherweise unsere Unterhaltung belauschen.«
»Stimmt.«
Ich war nicht gerade erfreut darüber, dass ich recht hatte. »Dann muss ich die Fragen persönlich stellen.«
»Welche Fragen?«
»Ob das, was Ras Onchi und Scimina sagen, wahr ist und Darrs Nachbarn zum Krieg rüsten. Ich will die Meinung meiner Großmutter zu der Situation hören. Und ... ich hoffe, dass ich mehr ...« Unerklärlicherweise schämte ich mich. »... über meine Mutter herausfinde. Ob sie wie die anderen Arameri war.«
»Ich sagte dir bereits: Das war sie.« »Ihr werdet mir vergeben, Lord Nahadoth, wenn ich Euch nicht traue.«
Er drehte sich ein Stück herum, und ich konnte von der Seite sein Lächeln sehen. »Das war sie«, wiederholte er, »und du bist es auch.«
Die Worte und die Kälte in seiner Stimme, als er sie aussprach, waren wie ein Schlag ins Gesicht.
»Sie hat das auch getan«, fuhr er fort. »Sie war so alt wie du, vielleicht jünger, als sie anfing, Fragen zu stellen. Fragen über Fragen. Als Höflichkeit nicht mehr ausreichte, um von uns Antworten zu bekommen, befahl sie uns zu antworten — so wie du es getan hast. In ihrem jungen Herzen war so viel Hass. Wie bei dir.«
Ich kämpfte gegen den Drang, zu schlucken, an, weil er es bestimmt hören würde.
»Welche Art Fragen?«
»Geschichte der Arameri. Der Krieg zwischen meinen Geschwistern und mir. Viele Dinge.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ihr habt nicht gefragt?«
»Es war mir egal.«
Ich atmete einmal tief ein und zwang mich, meine schweißnassen Fäuste zu öffnen. Das war seine Art, rief ich mir ins Gedächtnis. Es gab keinen Grund für ihn, etwas über meine Mutter zu sagen, aber er wusste eben, dass es mich verunsichern würde. Man hatte mich gewarnt. Nahadoth tötete nicht gerne sofort. Er provozierte und stichelte, bis man die Kontrolle verlor, die Gefahr vergaß und sich ihm öffnete. Er brachte es so weit, dass man darum bat.
Nachdem ich eine Weile still gewesen war, drehte Nahadoth sich zu mir um. »Die Nacht ist halb vorbei. Wenn du wirklich nach Darr willst, sollte es jetzt sein.«
»Oh. Ah, ja.« Ich schluckte und sah mich im Zimmer um. Ich wollte alles sehen, nur nicht ihn. »Wie werden wir reisen?«
Als Antwort streckte Nahadoth seine Hand aus.
Ich wischte mir die Hand unnötigerweise am Rock ab und ergriff seine.
Die Schwärze, die ihn umgab, flatterte wie Flügel und füllte das Zimmer bis an die gebogene Decke. Ich schnappte nach Luft und wäre gern einen Schritt zurückgewichen, doch seine Hand war wie ein Schraubstock. Als ich in sein Gesicht sah, wurde mir schlecht: Seine Augen hatten sich verändert. Sie waren pechrabenschwarz, auch die Iris und das Weiße. Schlimmer noch, die Schatten neben seinem Körper waren so dicht geworden, dass er hinter seiner ausgestreckten Hand nicht mehr sichtbar war.
Ich starrte in den Abgrund, der er war, und konnte mich nicht dazu überwinden, näher an ihn heranzutreten.
»Wenn ich dich töten wollte«, sagte er, und seine Stimme war ebenfalls verändert — sie hallte und war gedämpft — »wäre es ohnehin zu spät.«
Wie wahr. Also schaute ich in diese furchtbaren Augen, nahm all meinen Mut zusammen und sagte: »Bitte bringt mich nach Arrebaia, in Darr. Zum Tempel von Sar-enna-nem.«
Die Schwärze von seinem Kern breitete sich rasend schnell aus und umfing mich, so dass ich keine Zeit hatte, aufzuschreien. Für einen kurzen Moment wurde es unerträglich kalt, und ich spürte einen Druck, von dem ich glaubte, dass er mich zerquetschen würde. Aber er blieb an der Schmerzgrenze, und dann verschwand auch die Kälte. Ich öffnete meine Augen, sah jedoch nichts. Ich streckte meine Hände aus — auch die, von der ich wusste, dass er sie hielt — und fühlte nichts. Ich schrie und hörte nur Stille.
Dann stand ich auf Stein, atmete Luft, die von bekannten Gerüchen erfüllt war, und fühlte die warme Luftfeuchtigkeit auf meiner Haut. Hinter mir breiteten sich die Steinstraßen und
Mauern Arrebaias aus und füllten das Plateau, auf dem wir standen. Es war später in der Nacht, als es in Elysium gewesen war. Das erkannte ich daran, dass die Straßen so gut wie leer waren. Vor mir führten steinerne Stufen aufwärts. Auf beiden Seiten wurden sie von Stehlaternen gesäumt, und oben befanden sich die Tore von Sar-enna-nem.
Ich drehte mich zu Nahadoth herum, der sich wieder in seine beinahe menschliche Form zurückverwandelt hatte.
»I-Ihr seid im Haus meiner Familie willkommen«, sagte ich. Ich zitterte immer noch wegen dieser Art und Weise zu reisen.
»Ich weiß.« Er ging die Stufen hinauf. Völlig überrascht starrte ich seinen Rücken an. Nachdem er zehn Stufen genommen hatte, kam ich wieder zu mir und trottete hinterher.
Sar-enna-nems Tore sind schwere, hässliche Gebilde aus Holz und Metall — sie wurden erst kürzlich dem uralten Stein hinzugefügt. Man benötigte mindestens vier Frauen, um den Mechanismus zu betätigen, der sie öffnete. Das war ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich mit den Zeiten, in denen die Tore aus Stein waren und man beinahe zwanzig Offner benötigte. Ich war unangemeldet am frühen Morgen angekommen und wusste, dass das gesamte Wachpersonal aufgebracht sein würde. Wir waren seit Jahrhunderten nicht mehr angegriffen worden, aber mein Volk war dennoch stolz darauf, wachsam zu sein.
»Kann sein, dass sie uns nicht hineinlassen«, murmelte ich und schloss zu dem Lord der Finsternis auf. Ich hatte Schwierigkeiten, mit ihm mitzuhalten — er nahm zwei Stufen auf einmal.
Nahadoth antwortete nicht und wurde auch nicht langsamer. Ich hörte das laute, widerhallende Geräusch des großen Riegels, der hochgezogen wurde, und dann öffneten sich die Tore — von alleine. Ich stöhnte, als mir klar wurde, was er getan hatte. Natürlich gab es Geschrei und Gerenne, als wir hindurchgingen und den Rasen von Sar-enna-nems Vorhof betraten. Zwei Gruppen
Wachen stürzten aus den Türen des uralten Gebäudes. Eine war die Torkompanie, bestehend aus Männern, da es sich um eine niedere Position handelte, die nur schiere Gewalt erforderte.
Die andere Kompanie war die stehende Wache, die aus Frauen und einigen wenigen Männern, die sich die Ehre verdient hatten, bestand. Man konnte sie an den weißen Tuniken unter der Rüstung erkennen. Sie wurden von einem bekannten Gesicht angeführt: Imyan, eine Frau aus meinem Somem-Stamm. Sie schrie in unserer Sprache, als sie den Vorhof erreichte, und die Kompanie teilte sich auf, um uns zu umzingeln. Schnell standen wir in einem Kreis aus Speeren und Pfeilen, die alle auf unser Herz zeigten.
Nein — ihre Waffen zeigten auf mein Herz, wie ich feststellte. Keine zielte auf Nahadoth.
Ich stellte mich vor Nahadoth, um es einfacher für sie zu machen und meine Freundschaft zu signalisieren. Einen Moment lang war es merkwürdig, in meiner eigenen Sprache zu sprechen. »Schön, dich zu sehen, Captain Imyan.«
»Ich kenne Euch nicht«, sagte sie knapp. Beinahe hätte ich gelächelt. Als Mädchen hatten wir allen möglichen Unfug zusammen angerichtet; jetzt war sie genauso dienstbeflissen wie ich.
»Du hast gelacht, als du mich das erste Mal gesehen hast«, sagte ich. »Ich wollte meine Haare länger wachsen lassen, wollte wie meine Mutter aussehen. Du sagtest, dass es aussah wie gedrehtes Baummoos.«
Imyan kniff die Augen zusammen. Ihre eigenen Haare — lang und wunderbar Darre-glatt — waren in einem ordentlich geflüchteten Knoten an ihrem Hinterkopf festgesteckt. »Was macht Ihr hier, wenn Ihr Yeine-ennu seid?«
»Du weißt, dass ich nicht länger ennu bin«, sagte ich. »Die Itempaner haben es die ganze Woche verkündet, durch Mundpropaganda und durch Magie. Sogar Hochnord dürfte das inzwischen vernommen haben.«
Imyans Pfeil schwankte zögernd und wurde dann gesenkt. Die anderen Wachen folgten ihrem Beispiel und senkten ebenfalls ihre Waffen. Imyans Blick ging zu Nahadoth, dann zurück zu mir, und zum ersten Mal war ein Hauch von Nervosität in ihrer Haltung. »Und das hier?«
»Ihr kennt mich«, sagte Nahadoth in unserer Sprache.
Niemand zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen. Darre- Wachen sind dafür zu gut ausgebildet. Aber ich sah einige unbehagliche Blicke, die in der Gruppe hin und her gingen. Naha- doths Gesicht, wie ich zu spät bemerkte, war wieder unruhig und ein wässriger Schleier, der sich im Fackellicht veränderte. So viele neue Sterbliche, die man verführen konnte.
Imyan erholte sich zuerst. »Lord Nahadoth«, sagte sie schließlich. »Willkommen zurück.«
Zurück? Ich starrte erst sie und dann Nahadoth an. Aber dann grüßte mich eine mehr als bekannte Stimme, und ich stieß den Atem aus, den ich unwillkürlich angehalten hatte.
»Ihr seid allerdings willkommen«, sagte meine Großmutter. Sie kam die kurze Treppe herunter, die in den Wohnbereich von Sar-enna-nem führte, und die Wachen bildeten eine Gasse für sie. Die Großmutter war eine überdurchschnittlich kleine, ältere Frau. Sie trug eine Schlaftunika, aber ich bemerkte, dass sie sich die Zeit genommen hatte, ihr Messer umzugürten. So klein sie auch war — leider hatte ich ihre Größe geerbt —, sie war umgeben von einer Aura der Stärke und Autorität, die beinahe greifbar war.
Sie neigte ihren Kopf vor mir, als sie näher trat. »Yeine. Ich habe dich vermisst, aber nicht so sehr, dass ich erwartet hätte, dich so bald wiederzusehen.« Sie warf Nahadoth einen Blick zu, dann mir. »Kommt.«
Das war es. Sie drehte sich um, um den Säuleneingang zu betreten, und ich ging ihr nach — das heißt, ich wollte es, aber dann sprach Nahadoth.
»Sonnenaufgang ist in diesem Teil der Welt früher«, sagte er. »Ihr habt eine Stunde.«
Ich drehte mich herum und war aus vielfältigen Gründen überrascht. »Ihr begleitet uns nicht?«
»Nein.« Und er ging davon, hinüber zur Seite des Vorhofs. Die Wachen machten ihm den Weg so eifrig frei, dass es unter anderen Umständen amüsant gewesen wäre.
Ich beobachtete ihn noch einen Moment, dann folgte ich meiner Großmutter.
Da fällt mir noch ein anderes Märchen aus meiner Kindheit ein.
Man sagt, dass der Lord der Finsternis nicht weinen kann. Niemand kennt den Grund dafür, aber die Mächte des Mahlstroms haben ihrem dunkelsten Kind viele Gaben verliehen, nur nicht die Fähigkeit, zu weinen.
Bright Itempas kann es. Die Legenden sagen, dass seine Tränen der Regen sind, der manchmal fällt, wenn die Sonne noch scheint. Ich habe diese Legende niemals geglaubt, weil es bedeuten würde, dass Itempas ziemlich oft weint.
Enefa von der Erde konnte weinen. Ihre Tränen sind der gelbe, brennende Regen, der nach einem Vulkanausbruch fällt. Er fällt immer noch, dieser Regen. Er vernichtet Ernten und vergiftet Wasser. Aber er bedeutet nichts mehr.
Der Lord der Finsternis Nahadoth war der Erstgeborene der Drei. Bevor die anderen auftauchten, hatte er unzählbare Ewigkeiten als das einzige, existierende Lebewesen verbracht. Vielleicht erklärte das seine Unfähigkeit. Vielleicht werden Tränen bei so viel Einsamkeit irgendwann nutzlos.
Sar-enna-nem war einst ein Tempel. Sein Haupteingang ist eine riesige, gewölbte Halle. Sie wird gestützt von Säulen, die in einem Stück aus der Erde geschlagen wurden. Mein Volk hatte sie errichtet, lange bevor wir Amn-Erfindungen wie Schreiberei oder Uhrwerke kannten. Wir hatten damals unsere eigenen Techniken. Und die Orte, die wir zu Ehren der Götter bauten, waren großartig.
Nach dem Krieg der Götter taten meine Ahnen, was zu tun war. Sar-enna-nems Zwielicht- und Mondfenster — die einst für ihre Schönheit berühmt waren — wurden zugemauert. Weiter südlich wurde ein neuer Tempel gebaut. Er war allein Itempas gewidmet und nicht durch die Verehrung, die man einst seinen Geschwistern entgegengebracht hatte, befleckt. Dort befindet sich das heutige religiöse Zentrum der Stadt. Sar-enna-nem wurde umstrukturiert zu einem Regierungsgebäude. Von dort stammten die Erlasse des Kriegerrates, die ich als mm früher durchgesetzt hatte. Jegliche Heiligkeit war längst vergangen.
Die Halle war leer, wie es um diese späte Stunde zu erwarten war. Meine Großmutter führte mich zu dem erhöhten Sockel auf dem am Tage der Kriegerrat auf einem Kreis aus dicken Teppichen saß. Sie setzte sich hin, und ich ließ mich ihr gegenüber nieder.
»Hast du versagt?«, fragte sie.
»Noch nicht«, antwortete ich. »Aber es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Erkläre es mir«, sagte sie, und das tat ich. Ich gebe zu, dass ich den Bericht ein wenig angepasst habe. Ich erzählte ihr nicht von den Stunden, die ich weinend im Zimmer meiner Mutter verschwendet hatte. Ich erwähnte meine gefährlichen Gedanken in Bezug auf Nahadoth nicht. Und ich erwähnte schon gar nicht meine beiden Seelen.
Als ich fertig war, seufzte sie, was das einzige Zeichen ihrer Besorgnis war. »Kinneth glaubte immer, dass Dekartas Liebe zu ihr dich schützen würde. Ich kann nicht sagen, dass ich sie jemals mochte, aber im Laufe der Jahre lernte ich, ihrem Urteil zu vertrauen. Wie konnte sie so falsch liegen?« »Ich bin nicht sicher, dass das der Fall war«, sagte ich leise. Ich dachte an Nahadoths Worte über Dekarta und den Mord an meiner Mutter: »Du denkst, dass er es war?«
Ich hatte seither mit Dekarta gesprochen. Ich hatte seine Augen gesehen, während er von meiner Mutter sprach. Konnte ein Mann wie er jemanden ermorden, den er so sehr liebte?
»Was hat Mutter dir erzählt, Beba?«, fragte ich. »Warum sie die Arameri verlassen hatte?«
Meine Großmutter runzelte die Stirn, verdutzt über meine plötzliche Abkehr von Förmlichkeiten. Wir hatten uns nie sehr nahegestanden, sie und ich. Sie war zu alt, um ennu zu werden, als ihre Mutter starb, und keins ihrer Kinder war ein Mädchen. Obwohl mein Vater es gegen alle Widrigkeiten geschafft hatte, ihr Nachfolger zu werden — er war einer von drei männlichen ennu in unserer Geschichte —, war ich so etwas wie die Tochter, die sie nie gehabt hatte. Ich, die Halb-Amn-Verkörperung des größten Fehlers ihres Sohnes. Ich hatte es schon vor Jahren aufgegeben, ihre Liebe erringen zu wollen.
»Sie sprach nicht sehr viel davon«, sagte Beba langsam. »Sie sagte, dass sie meinen Sohn liebte.«
»Das kann dir unmöglich gereicht haben«, sagte ich leise.
Ihr Blick würde härter. »Dein Vater hatte unmissverständlich klargemacht, dass es reichen musste.«
Und dann verstand ich: Sie hatte meiner Mutter nie geglaubt. »Was glaubst du, was der Grund dafür war?«
»Deine Mutter war voller Wut. Sie wollte jemanden verletzen, und mit meinem Sohn zusammenzusein half ihr, das zu erreichen.«
»Jemand in Elysium?«
»Ich weiß es nicht. Warum interessiert dich das, Yeine? Das Jetzt ist wichtig, nicht die Vergangenheit von vor zwanzig Jahren.«
»Ich glaube, dass das, was damals geschehen ist, sich auf heute auswirkt«, sagte ich und überraschte mich damit selber — aber es war die Wahrheit, wie ich endlich begriff. Vielleicht hatte ich das die ganze Zeit gespürt. Und mit diesem Eröffnungszug bereitete ich meinen Angriff vor. »Nahadoth war schon einmal hier, wie ich sehe.«
Das Gesicht meiner Großmutter behielt sein übliches, strenges Stirnrunzeln bei. »Lord Nahadoth, Yeine. Wir sind keine Amn, wir respektieren unsere Erschaffer.«
»Die Wachen haben geübt, wie sie sich ihm zu nähern haben. Schade, dass ich nicht dabei sein durfte; ich hätte die Übung gebrauchen können, bevor ich nach Elysium ging. Wann war er das letzte Mal hier, Beba?«
»Bevor du geboren wurdest. Er kam einmal, um Kinneth zu besuchen. Yeine, das ist nicht ...«
»War es, nachdem Vater sich von dem Wandelnden Tod erholt hatte?«, fragte ich. Ich sprach leise, obwohl das Blut in meinen Ohren rauschte. Ich wollte mich zu ihr hinüberbeugen und sie schütteln, aber ich riss mich zusammen. »War das die Nacht, in der sie mir das angetan haben?«
Bebas Stirnrunzeln intensivierte sich; aus der anfänglichen Verwirrung wurde Sorge. »Antun ... Ar? Wovon redest du? Du warst zu dem Zeitpunkt noch gar nicht geboren; Kinneth war gerade erst schwanger. Was hast ...«
Und dann brach sie ab. Ich sah, wie die Gedanken in ihrem Kopf rasten, und dann weiteten sich ihre Augen, und sie starrte mich an. Ich sprach mit diesen Gedanken, um das Wissen, das ich dahinter spürte, herauszukitzeln.
»Mutter versuchte mich zu töten, nachdem ich geboren war.« Ich wusste jetzt, warum, aber da gab es noch mehr zu wissen, etwas, das ich noch nicht aufgedeckt hatte. Ich konnte es fühlen. »Sie haben sie ein paar Monate nicht mit mir alleine gelassen, erinnerst du dich?«
»Ja«, flüsterte sie.
»Ich weiß, dass sie mich liebte«, sagte ich. »Und ich weiß, dass Frauen manchmal im Kindbett durchdrehen. Was immer der Grund dafür war, dass sie damals Angst vor mir hatte ...« Fast erstickte ich an der Verschleierung dieser Tatsachen. Ich war noch nie eine gute Lügnerin gewesen. »... es verschwand, und sie war danach eine gute Mutter. Aber du musst dich doch gefragt haben, Beba, warum sie solche Angst vor mir hatte. Und mein Vater muss sich gefragt haben ...«
Ich brach ab, als mich schlagartig die Erkenntnis traf. Das war eine Wahrheit, die ich nicht in Betracht gezogen hatte ...
»Niemand fragte sich.«
Ich schrak zusammen und wirbelte herum. Nahadoth stand fünfzig Fuß entfernt im Eingang von Sar-enna-nem, dessen dreieckige Form ihn einrahmte. Durch das Mondlicht hinter ihm erschien er wie eine Silhouette, aber wie immer konnte ich seine Augen sehen.
»Ich tötete alle, die mich in der Nacht mit Kinneth gesehen hatten«, sagte er. Wir hörten ihn beide so deutlich, als ob er direkt neben uns gestanden hätte. »Ich tötete ihre Zofe, das Kind, das uns Wein servierte, und den Mann, der bei deinem Vater saß, als er sich von der Übelkeit erholte. Ich tötete drei Wachen, die versuchten, die Befehle dieser alten Frau zu belauschen.« Er nickte in Bebas Richtung, und sie versteifte sich. »Danach wagte es keiner mehr, sich deinetwegen irgendetwas zu fragen.«
Also habt Ihr Euch entschlossen, zu reden?, hätte ich ihn gerne gefragt, aber dann tat meine Großmutter etwas so Unerwartetes, so Unglaubliches, so Dummes, dass mir die Worte im Hals stecken blieben. Sie sprang auf die Füße, stellte sich vor mich und zog ihr Messer.
»Was habt Ihr Yeine angetan?«, schrie sie. Ich hatte sie noch nie in meinem Leben so wütend gesehen. »Zu welcher Gemeinheit haben die Arameri Euch angestiftet? Sie gehört mir, sie gehört zu uns, Ihr hattet kein Recht!«
Nahadoth lachte, und die Wut, die in diesem Geräusch lag, traf mich wie ein Peitschenhieb und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Hatte ich gedacht, er sei nur ein verbitterter Sklave, eine bemitleidenswerte Kreatur, die von Trauer geschüttelt wurde? Ich war eine Närrin.
»Du denkst, dass dieser Tempel euch beschützt?«, zischte er. Erst dann wurde mir klar, dass er noch nicht über die Schwelle getreten war. »Hast du vergessen, dass dein Volk mich hier auch einst angebetet hat?«
Er betrat Sar-enna-nem.
Die Teppiche unter meinen Knien verschwanden. Der Boden, der aus Holzbohlen bestanden hatte, löste sich auf. Darunter kam ein Mosaik aus polierten Halbedelsteinfliesen zum Vorschein; Steine jeder Farbe, die durch Goldvierecke unterbrochen wurden. Ich schnappte nach Luft, als die Säulen erzitterten und die Ziegel sich ins Nichts auflösten. Dann plötzlich konnte ich die Drei Fenster sehen — nicht nur die Sonne, sondern Mond und Zwielicht ebenfalls. Mir war nie klar gewesen, dass man sie alle gleichzeitig betrachten sollte. Wir hatten so viel verloren. Um uns herum standen die Statuen von Wesen, die so vollkommen, so fremdartig und so vertraut waren, dass ich für all die verlorenen Brüder und Schwestern Si’ehs weinen wollte; für Enefas treue Kinder, die wie Hunde abgeschlachtet worden waren, als sie versuchten, den Mord an ihrer Mutter zu rächen.Ich verstehe. Ich verstehe Euch alle, und ich verstehe so viel...
Und dann erlosch das Fackellicht, und die Luft knisterte. Ich drehte mich herum und sah, dass auch Nahadoth sich verändert hatte. Die Dunkelheit der Nacht erfüllte jetzt die Seite von Sar- enna-nem, aber nicht, wie an meinem ersten Abend in Elysium. Hier hatten ihm die Überreste uralter Ergebenheit neuen Auftrieb gegeben, und er zeigte mir alles, was er einst gewesen war: der Erste unter den Göttern, die Ausgeburt der süßen Träume und der Albträume, alles Schöne und Schreckliche. Durch einen Hurrikanwirbel von schwarzblauem Unlicht erhaschte ich einen Blick auf mondweiße Haut und Augen wie weit entfernte Sterne. Dann verzerrten sie sich in etwas so Unerwartetes, dass mein Gehirn sich einen Moment lang weigerte, das zu interpretieren. Aber das Relief in der Bibliothek hatte mich gewarnt, oder nicht? Das Gesicht einer Frau schaute mich aus der Dunkelheit heraus an, stolz und mächtig und so atemberaubend, dass ich sie genauso begehrte wie ihn, und es erschien überhaupt nicht seltsam, dass ich das tat. Dann veränderte sich das Gesicht wieder und wurde zu etwas, das entfernt an einen Menschen erinnerte, etwas mit Tentakeln, mit Zähnen und so hässlich, dass ich schrie. Dann war da nur noch Dunkelheit, wo sich eigentlich sein Gesicht befinden sollte, und das war noch beängstigender als alles andere.
Er machte wieder einen Schritt vorwärts. Ich spürte es: Eine unmögliche, unsichtbare Weite bewegte sich mit ihm. Ich hörte die Mauern von Sar-enna-nem stöhnen, weil sie zu dünn waren, um einer solchen Macht standzuhalten. Ich hörte, wie Donner im Himmel über Darr grollte. Der Boden unter meinen Füßen erzitterte. Weiße Zähne, die scharf waren wie die der Wölfe, gleißten mitten in der Dunkelheit. Dann wusste ich, dass ich handeln musste, oder der Lord der Finsternis würde meine Großmutter vor meinen Augen töten.
Vor meinen ...
... Vor meinen Augen liegt sie, ausgestreckt, nackt und blutig
das ist kein Fleisch, sondern alles, was du verstehen kannst ...
... aber es bedeutet dasselbe wie Fleisch — sie ist tot und vergewaltigt, ihre vollkommene Form wurde auf Weisen zerrissen, die nicht möglich sein sollten,
nicht sein sollten, und wer hat das getan? Wer hätte was hatte es zu bedeuten, dass er mich geliebt hatte, bevor er das Messer ins Ziel stieß?
und dann kommt die Erkenntnis: Verrat. Ich kannte seine Wut, aber ich hatte mir nie vorstellen können ... nicht in meinen kühnsten Träumen ... ich hatte ihre Ängste nicht beachtet. Ich dachte, ich würde ihn kennen. Ich nehme ihren Körper zu mir und versuche, die gesamte Schöpfung dazu zu bewegen, sie wieder lebendig zu machen. Wir wurden nicht für den Tod erschaffen. Aber nichts ändert sich, nichts ändert sich, da war eine Hölle, die ich vor langer Zeit geschaffen hatte, weil ich mir nichts Schrecklicheres vorstellen konnte, und jetzt bin ich hier.
Dann kamen andere, unsere Kinder, und alle reagieren mit ähnlichem Schrecken
in den Augen eines Kindes, ist die Mutter eine Göttin aber ich kann ihre Trauer durch den schwarzen Nebel meiner eigenen nicht sehen. Ich lege ihren Körper hin, aber meine Hände sind mit ihrem Blut bedeckt, unserem Blut, Schwester Geliebte Schülerin Lehrerin Freundin anderes Ich; und als ich meinen Kopf hebe, um meine Wut hinauszuschreien, werden eine Million Sterne schwarz und sterben. Niemand kann sie sehen, aber es sind meine Tränen.
Ich blinzelte.
Sar-enna-nem war wie vorher, schattig und ruhig. Seine Schönheit war wieder versteckt unter Ziegeln, dem staubigen Holz und alten Teppichen. Ich stand vor meiner Großmutter, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, dass ich aufgestanden war oder mich bewegt hatte. Nahadoth hatte seine menschliche Maske wieder aufgesetzt, seine Aura war geschrumpft auf ihr normales, stilles Wabern, und er starrte mich wieder einmal an.
Ich bedeckte meine Augen mit einer Hand. »Ich halte das nicht mehr lange aus.«
»Y-Yeine?« Meine Großmutter. Sie legte eine Hand auf meine Schulter. Ich bemerkte es kaum.
»Es geschieht, nicht wahr?« Ich sah zu Nahadoth hoch. »Was ihr erwartet habt. Ihre Seele verschlingt meine.«
»Nein«, sagte Nahadoth sehr leise. »Ich weiß nicht, was das ist.«
Ich starrte ihn an und konnte mich nicht beherrschen. Schock, Angst und Wut der vergangenen paar Tage kochten hoch, und ich brach in schallendes Gelächter aus. Ich lachte so laut, dass es von der hohen Decke Sar-enna-nems widerhallte und so lange, dass meine Großmutter mich besorgt anschaute und sich zweifellos fragte, ob ich den Verstand verloren hatte. Wahrscheinlich hatte ich das auch, weil mein Gelächter zu einem Kreischen wurde, und mein Frohsinn entzündete sich als weiß glühende Wut.
»Wie kannst du es nicht wissen?«, kreischte ich Nahadoth an. Ich war wieder in das persönlich-vertraulichere Senmite verfallen. »Du bist ein Gott! Wie kannst du es nicht wissen?«
Seine Ruhe fachte meine Wut nur noch mehr an. »Ich habe Unsicherheit in dieses Universum eingebaut, und Enefa flocht sie in jedes lebende Wesen ein. Es wird immer Geheimnisse geben, die selbst wir Götter nicht verstehen ...«
Ich sprang auf ihn los. In der endlosen Sekunde, die meine irrsinnige Wut anhielt, sah ich, dass sein Blick sich auf meine an- kommene Faust richtete und seine Augen sich in so etwas wie Erstaunen weiteten. Er hatte genug Zeit, um abzublocken oder dem Schlag auszuweichen. Dass er es nicht tat, war eine vollkommene Überraschung.
Das Klatschen hallte so laut wider wie das Keuchen meiner Großmutter.
In der darauffolgenden Stille fühlte ich mich leer. Die Wut war verflogen. Der Schock hatte noch nicht eingesetzt. Ich senkte meine Hand. Meine Fingerknöchel brannten.
Nahadoths Kopf war durch den Schlag herumgedreht worden. Er hob eine Hand an seine blutende Lippe und seufzte.
»Ich muss noch mehr daran arbeiten, in deiner Gegenwart nicht die Beherrschung zu verlieren«, sagte er. »Du hast eine denkwürdige Art, mich dafür zu züchtigen.«
Er hob seinen Blick, und plötzlich wusste ich, dass er sich an den Moment erinnerte, in dem ich ihn erstochen hatte. Ich habe so lange auf dich gewartet, hatte er damals gesagt. Diesmal, anstatt mich zu küssen, streckte er die Hand aus und berührte meine Lippen mit seinen Fingern. Ich fühlte warme Nässe und leckte reflexartig, worauf ich kalte Haut und das metallische Salz von Blut schmeckte.
Er lächelte und sein Ausdruck war beinahe wohlwollend. »Gefällt dir der Geschmack?«
Nicht der deines Blutes, nein.
Aber dein Finger, das war etwas anderes.
»Yeine«, sagte meine Großmutter erneut und unterbrach die Szene. Ich atmete tief ein, rief meine sieben Sinne zusammen und wandte mich wieder an sie.
»Verbünden sich die angrenzenden Königreiche?«, fragte ich. »Bereiten sie sich auf einen Krieg vor?«
Sie schluckte, bevor sie nickte. »Wir haben die formelle Ankündigung diese Woche erhalten, aber es gab schon Vorzeichen. Unsere Händler und Diplomaten wurden vor fast zwei Monaten aus Menchey ausgewiesen. Sie sagen, dass der alte Gemd ein Einberufungsgesetz verabschiedet hat, um die Reihen seiner Armee aufzufüllen und dass er das Training für den Rest verschärft hat. Der Rat denkt, dass er in einer Woche losmarschieren wird, vielleicht früher.«
Vor zwei Monaten. Ich war erst kurz davor nach Elysium gerufen worden. Scimina hatte meine Absicht in dem Moment erahnt, in dem Dekarta mich gerufen hatte.
Es leuchtete auch ein, dass sie Menchey als Basis für ihr Handeln erwählt hatte. Menchey war Darrs größter und mächtigster Nachbar und einst unser erbittertster Feind gewesen. Seit dem Krieg der Götter lebten wir zwar in Frieden mit den Mench- eyev, allerdings nur, weil die Arameri nicht willens gewesen waren, einem Land die Erlaubnis zu geben, das andere zu vernichten. Aber Ras Onchi hatte mich ja gewarnt, dass die Dinge sich verändert hatten.
Natürlich hatten sie einen offiziellen Kriegsantrag gestellt. Sie wollten das Recht, unser Blut zu vergießen.
»Ich gehe davon aus, dass wir seitdem ebenfalls begonnen haben, unsere Truppen zusammenzurufen«, sagte ich. Es stand mir nicht länger zu, Befehle zu geben, ich konnte nur Vorschläge machen.
Meine Großmutter seufzte. »So gut es ging. Unsere Schatzkammer ist so leer, dass wir es uns kaum leisten können, sie zu ernähren, geschweige denn, sie zu trainieren und auszurüsten. Niemand will uns Geldmittel leihen. Wir haben sogar nach Freiwilligen gesucht — jede Frau mit einem Pferd und eigenen Waffen. Männer ebenfalls, wenn sie noch nicht Väter sind.«
Wenn der Rat wirklich schon Männer zu rekrutieren versuchte, dann stand es schlimm. Sie waren traditionell unsere letzte Verteidigungsreihe, ihre körperliche Stärke wurde allein dafür genutzt, unsere Häuser und Kinder zu beschützen. Das bedeutete, der Rat hatte beschlossen, dass unsere einzige Verteidigung darin bestand, den Feind zu schlagen. Punkt. Alles andere würde das Ende der Darre bedeuten.
»Ich werde euch geben, was ich kann«, sagte ich. »Dekarta beobachtet alles, was ich tue, aber ich bin jetzt auch reich und ...«
»Nein.« Beba berührte wieder meine Schulter. Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass sie mich ohne Grund berührt hatte. Aber andererseits hatte ich sie auch noch nie aufspringen sehen, um mich vor Gefahr zu beschützen. Es schmerzte mich, dass ich jung sterben würde, ohne sie wirklich kennengelernt zu haben.
»Achte auf dich selbst«, sagte sie. »Darr ist nicht deine Angelegenheit — nicht mehr.«
Ich schaute sie finster an. »Es wird immer ...«
»Du hast selbst gesagt, dass sie uns benutzen werden, um dir wehzutun. Schau, was passiert ist, nur weil du versucht hast, Handelsbeziehungen wiederherzustellen.«
Ich öffnete meinen Mund, um einzuwenden, dass dies einfach ihre Ausrede war, aber bevor ich das tun konnte, drehte Nahadoth seinen Kopf plötzlich gen Osten.
»Die Sonne kommt«, sagte er. Jenseits des Eintrittsbogens von Sar-enna-nem war der Himmel blass; die Nacht war schnell verflogen.
Leise fluchend sagte ich: »Ich werde tun, was ich kann.« Dann trat ich, einem Impuls folgend, vor, schlang meine Arme um sie und hielt sie fest. Das hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie gewagt. Sie machte sich überrascht einen Moment steif, aber dann seufzte sie und legte die Hände auf meinen Rücken.
»So sehr wie dein Vater«, flüsterte sie. Dann schob sie mich sanft von sich.
Nahadoths Arm legte sich um mich — überraschend sanft —, und ich fand mich mit meinem Rücken gegen die menschliche Festigkeit seines Körpers innerhalb seiner Schatten gepresst. Dann war der Körper verschwunden, genau wie Sar-enna-nem, und alles war wieder kalt und dunkel.
Ich tauchte in meinem Zimmer in Elysium wieder auf, mit dem Gesicht zum Fenster. Der Himmel hier war noch überwiegend schwarz, obwohl am Horizont ein Hauch von Helligkeit zu sehen war. Ich war — zu meiner Überraschung und gleichzeitig Erleichterung — alleine. Es war ein sehr langer, sehr schwerer Tag gewesen.
Ohne mich auszuziehen, legte ich mich hin — aber der Schlaf stellte sich nicht sofort ein. Ich lag eine Weile dort, genoss die Stille und ließ meinen Geist ausruhen. Wie Blasen im Wasser stiegen dabei zwei Dinge an die Oberfläche meiner Gedanken.
Meine Mutter hatte ihren Handel mit den Enefadeh bereut. Sie hatte mich an sie verkauft, aber nicht ohne Bedenken. Ich fand es auf eine perverse Art beruhigend, dass sie versucht hatte, mich nach der Geburt zu töten. Das passte zu ihr, eher ihr eigenes Fleisch und Blut zu zerstören, als es verderben zu lassen. Vielleicht hatte sie sich entschieden, mich gemäß ihren Bedingungen zu akzeptieren ... später, als der Freudentaumel über das neue Mutterglück ihre Gefühle nicht mehr verzerrte. Als sie mir in die Augen sehen konnte und feststellte, dass eine der Seelen darin meine war. Der andere Gedanke war einfach, aber viel weniger tröstend: Hatte mein Vater es gewusst?