Das Verlies

Es gibt Dinge, die ich vorher nicht wusste, dafür aber jetzt.

Wie dieses. In dem Moment, in dem Bright Itempas geboren wurde, griff der Lord der Finsternis ihn an. Sie waren so gegensätzlich, dass dies zunächst schicksalhaft und unvermeidlich erschien. Sie kämpften zahllose Ewigkeiten lang — und beide errangen dann und wann einen Sieg, nur um später wieder gestürzt zu werden. Nur allmählich begriffen beide, dass ein solcher Kampf sinnlos war. Auf der großen Skala aller Dinge gab es ein ewiges Unentschieden.

Allerdings erschufen sie währenddessen, rein zufällig, viele Dinge. Itempas fügte der formlosen Leere, die Nahadoth geboren hatte, Anziehungskraft, Bewegung, Funktion und Zeit hinzu. Von jedem großen Stern, der in dem Kreuzfeuer vernichtet wurde, nahmen die Götter Asche, um etwas Neues zu erschaffen: mehr Sterne, Planeten, glitzernde, bunte Wolken, Wunderdinge, die sich drehten und pulsierten. Allmählich nahm das Universum zwischen den beiden Gestalt an. Als sich der Staub ihrer Kämpfe setzte, stellten beide Götter fest, dass sie zufrieden waren.

Ich frage mich, wer von beiden den ersten Schritt zum Frieden machte? Ich stelle mir vor, dass es zunächst Fehlstarts gab ... gebrochene Waffenstillstände und Ähnliches. Wie lange dauerte es, bis Hass zu Toleranz wurde, dann zu Respekt und Vertrauen und schließlich zu mehr? Und als es endlich so weit war, liebten sie sich so leidenschaftlich, wie sie vorher Krieg geführt hatten? Darin liegt eine sagenhafte Romanze. Und das Faszinierendste ist gleichzeitig das, was mir am meisten Angst macht, dass sie noch nicht vorbei ist.

T’vril ging im Morgengrauen zur Arbeit. Wir tauschten ein paar Worte aus und kamen zu einer stillschweigenden Übereinkunft: die letzte Nacht war nur Trost zwischen Freunden gewesen. Es war nicht so unangenehm, wie es hätte sein können; ich spürte, dass er nichts anderes erwartet hatte. Das Leben in Elysium ermutigte nicht zu mehr.

Ich schlief noch eine Weile und lag dann wach im Bett und dachte nach.

Meine Großmutter hatte gesagt, dass die Armeen von Menchey sich bald in Bewegung setzen würden. Da nicht mehr viel Zeit war, fielen mir nur wenige Strategien ein, die Darr wirklich retten konnten. Das Beste wäre, den Angriff zu verzögern. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Ich konnte vielleicht Verbündete im Konsortium suchen. Ras Onchi sprach für die Hälfte von Hochnord; vielleicht wusste sie ... nein. Ich hatte erlebt, wie meine Eltern und der Kriegerrat von Darr Jahre damit zugebracht hatten, nach Verbündeten zu suchen. Wenn es irgendwo Freunde gab, dann hätten sie sich inzwischen zu erkennen gegeben. Es gab bestenfalls einzelne Sympathisanten wie Onchi ... willkommen, aber im Grunde nutzlos.

Also musste mir etwas anderes einfallen. Selbst ein paar Tage Aufschub wären schon genug. Wenn ich den Angriff bis nach der Nachfolgezeremonie verzögern konnte, dann würde mein Handel mit den Enefadeh greifen, und Darr hätte vier göttliche Beschützer.

Vorausgesetzt, sie gewannen ihren Kampf.

Also: Alles oder nichts. Aber riskante Gewinnchancen waren besser als gar keine, ergo würde ich alles daransetzen. Ich stand auf und ging auf die Suche nach Viraine.

Er war nicht in seinem Laboratorium. Eine schlanke, junge Dienerin putzte dort. »Er ist im Verlies«, sagte sie mir. Da ich keine Ahnung hatte, was das war — oder wo —, beschrieb sie mir den Weg, und ich machte mich auf den Weg zur untersten Etage von Elysium. Und während ich ging, wunderte ich mich über den angewiderten Gesichtsausdruck der Dienerin.

Ich verließ den Aufzug inmitten von Fluren, die seltsam dämmrig wirkten. Das Leuchten der Wände war auf merkwürdige Art gedämpft und nicht so hell, wie ich es gewohnt war, irgendwie matter. Es gab keine Fenster und seltsamerweise auch keine Türen. Offensichtlich lebten selbst Diener nicht so weit unten. Meine Schritte hallten von vorne wider, als ich ging, und ich war nicht überrascht, als ich aus dem Korridor auf eine offene Fläche hinaustrat: einen riesigen, länglichen Raum, dessen Boden sich in Richtung eines seltsamen Metallgitters neigte, das mehrere Fuß Durchmesser hatte. Ich war ebenfalls nicht überrascht, Viraine in der Nähe des Gitters zu sehen. Er sah mich ruhig an, als ich eintrat. Er hatte mich wahrscheinlich schon in dem Moment gehört, als ich den Aufzug verließ.

»Lady Yeine.« Er neigte seinen Kopf, aber diesmal lächelte er nicht. »Solltet Ihr nicht im Salon sein?«

Ich war seit Tagen nicht im Salon gewesen. Die Berichte der mir unterstellten Nationen hatte ich ebenfalls nicht gelesen. Es war schwer, sich unter diesen Umständen um solche Pflichten zu kümmern. »Ich bezweifle, dass die Welt untergehen wird, weil ich nicht anwesend bin — weder jetzt noch in den nächsten sechs Tagen.«

»Verstehe. Und was führt Euch her?«

»Ich habe Euch gesucht.« Mein Blick wurde von dem Gitter im Boden angezogen. Es sah wie ein ungewöhnlich reich verziertes Abwassergitter aus und schien zu einer Art Raum unter dem Boden zu führen. Ich konnte darin ein Licht scheinen sehen, das heller war als das Umgebungslicht in dem Zimmer, in dem Viraine und ich uns befanden. Das seltsame Gefühl der Kontrastlosigkeit, der Düsternis war hier noch stärker. Das Licht strahlte Viraines Gesicht so von unten her an, dass es eigentlich die Winkel und Schatten seines Ausdrucks hätte verstärken müssen; stattdessen nahm es sie weg.

»Was ist das hier für ein Ort?«, fragte ich.

»Wir befinden uns unterhalb des Palastes. Um genau zu sein sind wir in der Stützsäule, die uns über die Stadt erhebt.«

»Die Säule ist hohl?«

»Nein. Nur dieser Ort hier oben.« Er beobachtete mich, und sein Blick versuchte etwas zu erfassen, das ich nicht ergründen konnte. »Ihr wart gestern nicht bei den Festlichkeiten.«

Ich war nicht sicher, ob diejenigen von hohem Geblüt über die Festivitäten der Diener Bescheid wussten und sie ignorierten oder ob es sich um ein Geheimnis handelte. Falls das Zweitere der Fall war, sagte ich: »Mir war nicht nach Feiern zumute.«

»Wenn Ihr teilgenommen hättet, wäre das hier weniger überraschend für Euch.« Er zeigte auf das Gitter zu seinen Füßen.

Ich blieb, wo ich war, und wurde plötzlich von Furcht durchströmt. »Wovon redet Ihr?«

Er seufzte, und plötzlich wurde mir klar, dass er selbst ebenfalls ziemlich schlechte Laune hatte. »Einer der Höhepunkte der Feuertagsfestlichkeit. Ich werde oft darum gebeten, für Unterhaltung zu sorgen. Tricks und dergleichen.«

»Tricks?« Ich runzelte die Stirn. Soviel ich wusste, war die Schreiberei viel zu mächtig und gefährlich, um sie bei Tricks aufs Spiel zu setzen.

»Tricks. Die Art, die prinzipiell einen menschlichen Freiwilligem benötigen.« Er lächelte mir verhalten zu, als mir die Kinnlade herunterfiel. »Die von hohem Geblüt sind so schwer zu unterhalten, müsst Ihr wissen — Ihr seid natürlich eine Ausnahme. Der Rest ...« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn man sein Leben lang allen möglichen Marotten nachgehen kann, hängt die Messlatte für Unterhaltung sehr hoch. Oder tief.«

Aus dem Gitter zu seinen Füßen und dem Raum dahinter hörte ich ein hohles, angestrengtes Stöhnen, das mir beide Seelen gefrieren ließ.

»Was im Namen der Götter habt Ihr getan?«, flüsterte ich.

»Die Götter haben nichts damit zu tun.« Er seufzte und starrte in die Grube. »Warum habt Ihr mich gesucht?«

Ich zwang meinen Blick und meine Gedanken fort von dem Gitter. »Ich ... Ich muss wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, jemandem von Elysium aus eine Nachricht zu schicken. Vertraulich.«

Der Blick, mit dem er mich ansah, wäre unter normalen Umständen vernichtend gewesen. Aber ich merkte, dass seine übliche sarkastische Einstellung durch das, was sich in dem Verlies befand, gelitten hatte. »Ihr wisst schon, dass es zu meinen Routinepflichten gehört, dergleichen Nachrichten auszuspionieren?«

Ich neigte meinen Kopf. »So etwas habe ich mir gedacht. Deshalb frage ich Euch. Wenn es eine Möglichkeit gibt, das zu tun, dann kennt Ihr sie.« Ich schluckte und verfluchte mich dann innerlich dafür, meine Nervosität zu zeigen. »Ich bin bereit, Euch für Eure Bemühungen zu entschädigen.«

In dem seltsam düsteren Licht wurde sogar Viraines Überraschung gedämpft. »So, so.« Ein müdes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Lady Yeine, vielleicht seid Ihr doch eine wahre Arameri.«

»Ich tue, was nötig ist«, sagte ich geradeheraus. »Und Ihr wisst so gut wie ich, dass ich nicht mehr viel Zeit für Spitzfindigkeiten habe.«

Daraufhin verschwand sein Lächeln. »Ich weiß.«

»Dann helft mir.«

»Welche Nachricht wollt Ihr an wen senden?«

»Wenn ich wollte, dass der halbe Palast davon weiß, dann würde ich nicht fragen, wie man sie auf vertrauliche Art verschicken kann.«

»Ich frage deshalb, weil es nur eine Möglichkeit gibt, eine solche Nachricht zu verschicken: durch mich, Lady.«

Ich hielt unangenehm überrascht inne. Wenn ich es mir recht überlegte, leuchtete das sogar ein. Ich wusste nicht genau, wie die Nachrichtenkristalle funktionierten, aber wie alle auf den Siegeln basierende Magie, imitierte ihre Funktion nur etwas, das ein fähiger Schreiber ebenfalls konnte.

Aber ich mochte Viraine nicht. Die Gründe dafür verstand ich selber noch nicht ganz. Ich hatte die Bitterkeit in seinen Augen gesehen und die Verachtung in seiner Stimme gehört, wenn er von Dekarta oder anderen von hohem Geblüt sprach. Wie die Enefadeh war er eine Waffe und wahrscheinlich ebenso ein Sklave. Aber ich fühlte mich in seiner Gegenwart unbehaglich. Ich vermute, das liegt daran, dass er sich scheinbar niemandem verpflichtet fühlte — er ergriff keine Partei außer seiner eigenen. Das bedeutete, ich konnte mich darauf verlassen, dass er meine Geheimniss bewahrte, vorausgesetzt, es lohnte sich für ihn. Doch was wäre, wenn er einen größeren Nutzen daraus ziehen konnte, meine Geheimnisse an Dekarta weiterzugeben? Oder noch schlimmer — an Re- lad und Scimina? Männern, die jedem zu Diensten waren, konnte niemand trauen.

Er grinste, während er mich bei meinen Überlegungen beobachtete. »Natürlich könntet Ihr auch Si’eh bitten, die Nachricht für Euch zu überbringen. Oder Nahadoth. Ich bin sicher, dass er das tun würde, wenn man ihn entsprechend motiviert.«

»Ich bin sicher, das würde er«, antwortete ich kalt ...

Die Sprache der Darre kennt ein Wort für die Anziehungskraft, die Gefahr ausübt: esui. Krieger werfen sich wegen esui in hoffnungslose Kämpfe und sterben mit einem Lachen auf den Lippen. Esui zieht ebenfalls Frauen zu Geliebten, die schlecht für sie sind — Männer, die schlechte Väter wären, Frauen des Feindes. Das Senmiten-Wort, das dem am nächsten kommt, ist Lust, wenn man die Abweichungen Mordlust und Lebenslust mit in Betracht zieht. Trotzdem schließen sie die vielschichtige Bedeutung von esui noch nicht hinreichend ein. Es ist Herrlichkeit, es ist Torheit. Es ist alles, das nicht sinnvoll, nicht vernünftig und keinesfalls sicher ist — aber ohne esui hat das Leben keinen Sinn.

Ich glaube, dass esui mich zu Nahadoth hinzieht. Vielleicht ist es das auch, was ihn zu mir hinzieht.

Aber ich schweife ab.

»... aber dann wäre es ein Leichtes für einen anderen von hohem Geblüt, die Herausgabe der Nachricht zu befehlen.«

»Glaubt Ihr wirklich, dass ich mich auf Eure Intrigen einlassen würde? Nachdem ich schon seit zwei Jahrzehnten zwischen Re- lad und Scimina lebe?« Viraine rollte mit den Augen. »Mir ist es doch egal, wer von Euch Dekartas Nachfolger wird.«

»Das nächste Familienoberhaupt könnte Euer Leben einfacher machen. Oder schwerer.« Ich sagte das in neutralem Ton und überließ es ihm, ob er eine Drohung oder ein Versprechen hörte. »Ich würde meinen, dass die ganze Welt ein Interesse daran hat, wer auf dem Steinthron endet.«

»Sogar Dekarta unterliegt einer höheren Macht«, erklärte Viraine. Während ich mich fragte, was in Gottes Namen das im Zusammenhang mit unserer Diskussion zu bedeuten hatte, schaute er in das Loch hinter dem Metallgitter, und das Licht spiegelte sich in seinen Augen. Dann veränderte sich sein Ausdruck, so dass ich sofort wachsam wurde. »Kommt«, sagte er. Er zeigte auf das Gitter. »Schaut.«

Ich runzelte die Stirn. »Warum?«

»Ich möchte etwas wissen.«

»Was?«

Er sagte nichts und wartete. Schließlich seufzte ich und ging zu dem Rand des Gitters.

Zuerst sah ich nichts. Dann ertönte wieder ein hohles Stöhnen, und etwas schlurfte in Sichtweite. Es bedurfte meiner ganzen Kraft, nicht wegzurennen und mich zu übergeben.

Man nehme ein menschliches Wesen. Man verdrehe die Extremitäten und zerre an ihnen wie an Lehm. Dann füge man neue hinzu, die Gott weiß welchen Sinn erfüllen sollen. Man hole einige seiner Innereien aus dem Körper und erhalte sie weiterhin funktionstüchtig. Man versiegele den Mund und ... Elysiumva- ter. Gott aller Götter.

Und das Schlimmste war: Ich konnte immer noch die Intelligenz und das Bewusstsein in den verzerrten Augen sehen. Sie hatte ihm nicht einmal die Flucht in den Wahnsinn erlaubt.

Ich konnte meine Reaktion nicht völlig verbergen. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf meiner Stirn und meiner Oberlippe, als ich aufsah und Viraines forschendem Blick begegnete.

»Nun?«, fragte ich. Ich musste schlucken, bevor ich sprechen konnte. »Ist Eure Neugier befriedigt?«

Die Art, wie er mich anschaute, hätte mich auch gestört, wenn wir nicht über dem gequälten, verstümmelten Beweis seiner Macht gestanden hätten. In seinen Augen war eine Art Lust zu sehen, die nichts mit Sex zu tun hatte, aber alles mit ... womit? Ich konnte es nicht erraten, aber es erinnerte mich unangenehm an die menschliche Gestalt von Nahadoth. Er ließ meine Finger genauso nach dem Messer verlangen.

»Ja«, sagte er leise. Er lächelte nicht, aber ich konnte ein triumphierendes Glitzern in seinen Augen sehen. »Ich wollte wissen, ob Ihr überhaupt eine Chance habt, bevor ich Euch helfe.«

»Und Euer Urteil lautet ... ?« Aber ich wusste es bereits.

Er zeigte in die Grube. »Kinneth hätte das Ding ansehen können, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hätte das sogar selber tun können und sich daran erfreut ...«

»Ihr lügt!«

»... oder zumindest hätte sie überzeugend so getan, als ob es ihr Freude bereitet. Der Unterschied wäre egal gewesen. Sie hatte das Zeug, Dekarta zu schlagen. Ihr habt es nicht.«

»Vielleicht nicht«, fuhr ich ihn an. »Aber wenigstens habe ich noch eine Seele. Was habt Ihr im Austausch für Eure bekommen?«

Zu meiner Überraschung schien Viraine seine Schadenfreude zu vergehen. Er sah hinunter in die Grube. Das düstere Licht ließ seine Augen farblos und älter als die Dekartas erscheinen.

»Nicht genug«, sagte er und ging weg. Er ging an mir vorbei in den Flur und zum Aufzug.

Ich folgte ihm nicht. Stattdessen ging ich zur gegenüberliegenden Wand des Raums, setzte mich, lehnte mich an und wartete. Nach einer gefühlten Ewigkeit des düsteren Schweigens — das nur von den leisen Leidenslauten der armen Seele in der Grube hin und wieder durchbrochen wurde — spürte ich, wie eine bekannte Erschütterung durch den Palast lief. Ich wartete eine Weile und zählte die Minuten, bis ich sicher war, dass das Licht des Sonnenuntergangs am Abendhimmel verblasst war. Dann stand ich auf und ging zum Flur. Dem Verlies hatte ich meinen Rücken zugekehrt. Das düstere Licht warf meinen Schatten in einer dünnen, schwachen Line auf den Boden. Ich stellte sieher, dass mein Gesicht sich in dem Schatten befand, bevor ich sprach. »Nahadoth.«

Die Wände verdunkelten sich, bevor ich mich umdrehte. Aber der Raum war durch das Licht aus dem Verlies heller, als er hätte sein sollen. Aus irgendeinem Grund hatte seine Finsternis keine Wirkung darauf.

Er beobachtete mich, mit unergründlichem Ausdruck, und sein Gesicht war in dem farblosen Licht noch perfekter, als es menschenmöglich war.

»Hier«, sagte ich und ging an ihm vorbei zum Verlies. Der Gefangene darin sah zu mir auf, als ob er meine Absicht spürte. Diesmal machte es mir nichts aus, ihn anzusehen, als ich in die Grube zeigte.

»Heil ihn«, sagte ich.

Ich erwartete eine wütende Reaktion. Oder Belustigung oder Triumph. Eigentlich gab es keine Möglichkeit, die Reaktion des Lords der Finsternis auf meinen ersten Befehl vorherzusehen. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, war das, was er sagte.

»Das kann ich nicht.«

Ich schaute ihn finster an; er starrte unbewegt in das Verlies. »Wie meinst du das?«

»Dekarta hat den Befehl gegeben, welcher das hier verursacht hat.«

Und wegen des Hauptsiegels konnte ich Befehle, die Dekarta gegeben hatte, nicht rückgängig machen. Ich schloss meine Augen und betete kurz um Vergebung zu ... nun ja. Dem Gott, der gerade zuhören wollte.

»Nun gut«, sagte ich, und meine Stimme klang sehr klein in dem offenen Raum. Ich atmete tief ein. »Töte ihn.«

»Das kann ich auch nicht.«

Das erschütterte mich zutiefst. »Warum, beim Mahlstrom, nicht?«

Nahadoth lächelte. Da lag etwas Seltsames in dem Lächeln, etwas, das mich noch mehr als sonst verunsicherte, aber ich konnte mir nicht erlauben, darüber nachzugrübeln. »Die Nachfolge wird in vier Tagen stattfinden«, sagte er. »Jemand muss den Stein der Erde in das Gemach schicken, in dem das Ritual stattfindet. So will es die Tradition.«

»Was? Ich verstehe nicht ...«

Nahadoth zeigte in die Grube. Nicht auf die schlurfende, jammernde Kreatur dort, sondern knapp daneben. Ich folgte seinem Fingerzeig und sah etwas, das ich vorher nicht bemerkt hatte. Der Boden des Verlieses leuchtete in diesem seltsamen grauen Licht, das sich so von dem der Palastwände unterschied. An dem Punkt, auf den Nahadoth zeigte, schien sich das Licht zu konzentrieren. Es war dort nicht heller, sondern einfach nur noch mehr grau. Ich starrte es an und glaubte, dass ich einen etwas dunkleren Schatten in dem durchsichtigen Material des Palastes eingebettet sah.

Die ganze Zeit war er genau vor meiner Nase gewesen. Der Stein der Erde.

»Elysium existiert, um seine Macht einzudämmen und zu kanalisieren, aber hier in seiner Nähe gibt es immer ein wenig Verlust.« Nahadoths Finger bewegte sich etwas. »Diese Macht hält ihn am Leben.«

Mein Mund war trocken. »Und ... und was hast du damit gemeint ... den Stein zu dem Ritualgemach zu schicken?«

Diesmal zeigte er nach oben. Ich sah, dass die Decke des Zimmers, in dem sich das Verlies befand, eine enge Öffnung in der Mitte hatte, wie einen kleinen Schornstein. Der enge Tunnel ging so weit das Auge reichte nach oben.

»Keine Magie kann den Stein direkt beeinflussen. Kein lebendes Fleisch kann in seine Nähe kommen, ohne die schlimmen Auswirkungen erdulden zu müssen. Also muss selbst für so eine einfache Aufgabe, wie den Stein von hier zu dem Gemach dort oben zu bringen, eins von Enefas Kindern sein Leben lassen, um ihn dorthin zu wünschen.«

Endlich begriff ich. O Götter, das war abscheulich. Der Tod wäre für den Unbekannten in der Grube die Erlösung, aber der Stein verhinderte ihn irgendwie. Um aus dem verzerrten, gequälten Gefängnis seines Fleisches befreit zu werden, würde der Mann an seiner eigenen Hinrichtung mitwirken müssen.

»Wer ist er?«, fragte ich. Unten war es dem Mann endlich gelungen, sich hinzusetzen, obwohl es offensichtlich unbequem für ihn war. Ich hörte, wie er leise weinte.

»Nur ein weiterer Narr, der dabei erwischt wurde, wie er einen abgesetzten Gott angebetet hat. Dieser hier ist ein entfernter Arameri-Verwandter — sie haben ein paar übrig gelassen, um frisches Blut in den Clan zu bringen —, und so war er gleich zweifach dem Untergang geweiht.«

»E-er könnte ...« Ich konnte nicht denken. Abscheulich. »Er könnte den Stein wegschicken. Ihn in einen Vulkan wünschen, oder in eine gefrorene Einöde.«

»Dann würde man nur einen von uns schicken, der ihn zurückholt. Aber er wird Dekarta keine Schwierigkeiten bereiten. Wenn er den Stein nicht vernünftig entsendet, wird seine Geliebte sein Schicksal teilen.«

In der Grube stieß der Mann ein besonders lautes Stöhnen aus — es kam einem Heulen so nahe, wie der verzerrte Mund es zuließ. Tränen füllten meine Augen, und das graue Licht verschwamm.

»Schhh«, sagte Nahadoth. Ich sah ihn überrascht an, aber er starrte immer noch in die Grube. »Schhh. Es dauert nicht mehr lange. Tut mir leid.«

Als Nahadoth meine Verwirrung bemerkte, lächelte er wieder dieses seltsame Lächeln, das ich nicht zu deuten wusste und auch nicht deuten wollte. Das war allerdings meine eigene Blindheit. Ich dachte immer wieder, dass ich ihn kennen würde.

»Ich höre ihre Gebete immer«, sagte der Lord der Finsternis, »auch, wenn ich nicht darauf antworten darf.«

Wir standen am Fuße des Piers und blickten hinunter auf die Stadt, die eine halbe Meile unter uns lag.

»Ich muss jemanden bedrohen«, sagte ich.

Ich hatte seit dem Verlies nicht mehr gesprochen. Nahadoth hatte mich zum Pier begleitet — ich schlenderte dahin, er folgte mir. Die Diener und alle von hohem Geblüt hatten einen großen Bogen um uns gemacht. Er sagte nichts, obwohl ich spürte, dass er dort neben mir stand.

»Den Minister der Mencheyev, einen Mann namens Gemd, der wahrscheinlich das Bündnis gegen Darr anführt. Ihn.«

»Für eine Drohung musst du die Macht haben, Schaden zuzufügen«, sagte Nahadoth.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wurde von den Arameri adoptiert. Gemd unterstellt bereits, dass ich eine solche Macht habe.«

»Außerhalb von Elysium endet dein Recht, uns Befehle zu geben. Dekarta wird dir nie die Erlaubnis geben, einer Nation, die ihn nicht beleidigt hat, Schaden zuzufügen.«

Ich sagte nichts.

Nahadoth warf mir einen belustigten Blick zu. »Aha. Aber ein Bluff wird diesen Mann nicht lange aufhalten.«

»Das muss er auch nicht.« Ich stieß mich von dem Geländer ab und wandte mich ihm zu. »Er muss ihn nur für die nächsten vier Tage aufhalten. Und ich kann über deine Macht außerhalb von Elysium verfügen ... wenn du mich lässt. Wirst du das tun?«

Nahadoth stellte sich auch aufrecht hin. Zu meiner Überraschung hob er eine Hand zu meinem Gesicht. Er legte sie an meine Wange und zog mit seinem Daumen die untere Rundung meiner Lippen nach. Ich werde nicht lügen: Das rief bei mir gefährliche Gedanken hervor.

»Du hast mir heute Nacht befohlen, zu töten«, sagte er.

Ich schluckte. »Aus Gnade.«

»Ja.« Da war wieder dieser verstörende, fremde Ausdruck in seinen Augen, und endlich konnte ich ihn benennen: Verstehen. Ein beinahe menschliches Mitleid, als ob er für einen kurzen Moment dachte und fühlte wie einer von uns.

»Du wirst nie Enefa sein«, sagte er. »Aber du hast etwas von ihrer Stärke. Sei nicht beleidigt wegen des Vergleichs, kleine Spielfigur.« Ich schrak zusammen und fragte mich erneut, ob er Gedanken lesen konnte. »Ich stelle ihn nicht leichtfertig an.«

Dann trat Nahadoth zurück. Er breitete seine Arme weit aus, zeigte die schwarze Leere seines Körpers und wartete.

Ich trat in ihn hinein und wurde von Finsternis umfangen. Vielleicht bildete ich mir das ein, aber es schien diesmal wärmer zu sein.

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