Lösegeld

Halt. Etwas geschah noch davor. Ich wollte die Dinge nicht so durcheinanderbringen, tut mir leid, aber es ist so schwer, zu denken. Es war an dem Morgen, nachdem ich den silbernen Aprikosenkern gefunden hatte, also vor drei Tagen. Oder nicht? Bevor ich zu Viraine ging, genau. Ich stand an dem Morgen auf und machte mich für den Salon fertig. Dann fand ich ...

... einen Diener, der auf mich wartete, als ich die Türe öffnete.

»Eine Nachricht für Euch, Lady«, sagte er und sah ungeheuer erleichtert aus. Ich wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte. Diener in Elysium klopften nur, wenn es sehr dringend war. »Ja?«

»Lord Dekarta fühlt sich nicht wohl«, sagte er. »Ihr werdet heute ohne ihn an der Konsortiumssitzung teilnehmen, wenn Ihr Euch entschließen solltet, hinzugehen.«

T’vril hatte durchblicken lassen, dass Dekartas Gesundheitszustand eine Rolle bei seiner Teilnahme an den Sitzungen spielte, obwohl es mich überraschte, das jetzt zu hören: Am Tag zuvor schien alles mit ihm in Ordnung gewesen zu sein. Außerdem überraschte es mich, dass er es für nötig hielt, mich zu informieren. Aber ich hatte den zweiten Teil durchaus gehört — eine unterschwellige Rüge dafür, dass ich am Tag vorher geschwänzt hatte. Ich unterdrückte meinen Arger und sagte: »Danke. Bitte richtet ihm meine Wünsche für eine baldige Genesung aus.«

»Ja, Lady.« Der Diener verbeugte sich und ging.

Also ging ich zu dem Vollblutportal und ließ mich zum Salon transportieren. Wie erwartet war Relad nicht anwesend. Wie befürchtet war Scimina es durchaus. Wieder einmal lächelte sie mir zu, und ich nickte nur zurück. Dann saßen wir für zwei Stunden schweigend nebeneinander.

Die Sitzung war an diesem Tag kürzer als üblich, weil es nur einen Tagesordnungspunkt gab: die Annektierung der kleinen Inselnation Irt durch ein größeres Königreich namens Uthr. Der Archerin, früherer Regent von Irt — ein untersetzter, rothaariger Mann, der mich entfernt an T’vril erinnerte —, war gekommen, um Einspruch einzulegen. Der König von Uthr, der scheinbar unbeeindruckt von dem Angriff auf seine Autorität war, hatte nur einen Stellvertreter in seinem Namen geschickt: einen Jungen, der nicht viel älter aussah als Si’eh und ebenfalls rote Haare hatte. Sowohl die Irti als auch die Uthre waren Sprösslinge der Ken. Diese Tatsache hatte allerdings nichts dazu beigetragen, eine freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen zu fördern.

Im Wesentlichen richtete sich der Einspruch des Archerin dagegen, dass Uthr keinen Antrag gestellt hatte, einen Krieg beginnen zu dürfen. Bright Itempas verabscheute das Chaos eines Krieges, deswegen wurde Derartiges von den Arameri strikt kontrolliert. Da kein Antrag vorlag, waren die Irti sich der aggressiven Absichten ihres Nachbarn nicht bewusst gewesen und hatten keine Zeit gehabt, sich zu bewaffnen. Außerdem hatten sie kein Recht, sich auf eine Weise zu verteidigen, die Todesfälle verursachen konnte. Ohne den Antrag würden alle feindlichen Soldaten, die zu Tode kamen, als Mordfälle angesehen und als solche von den Gesetzeshütern des Itempas-Ordens verfolgt und geahndet werden. Natürlich konnten die Uthre ebenfalls nicht legal töten — und das hatten sie auch nicht getan. Sie waren einfach in überwältigender Zahl in die Hauptstadt von Irt einmarschiert, hatten die Verteidiger im wahrsten Sinne des Wortes in die Knie gezwungen und den Archerin hinausgeworfen.

Die Irti hatten mein volles Mitleid, obwohl mir klar war, dass sie keine Chance hatten, mit ihrem Protest durchzukommen. Der Uthre-Junge verteidigte die Angriffslust seines Volkes ganz einfach: »Sie waren nicht stark genug, um ihr Land gegen uns zu verteidigen. Jetzt haben wir es. Es ist besser, dass ein starker Regent das Sagen hat als ein schwacher, oder nicht?«

Und das war es, worauf die ganze Angelegenheit hinauslief. Was richtig war, war nicht so wichtig wie das, was ordentlich war, und die Uthre hatten ihre Fähigkeit, die Dinge einfach und ordentlich zu machen, unter Beweis gestellt, indem sie ohne einen Tropfen Blut zu vergießen Irt übernommen hatten. So würden die Ara- meri und der Orden es sehen, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Adelskonsortium es wagen würde, zu widersprechen.

Am Ende war niemand überrascht, als sie es nicht taten: Der Einspruch der Irt wurde zurückgewiesen. Niemand kam auf den Gedanken, Sanktionen gegen Uthr zu verhängen. Sie würden behalten, was sie gestohlen hatten, weil es zu viel Unordnung machte, wenn man sie zwang, es zurückzugeben.

Unwillkürlich runzelte ich die Stirn, als das Ergebnis der Abstimmung vorgelesen wurde. Scimina warf mir einen Blick zu und stieß ein leises, amüsiertes Schnauben aus, das mich daran erinnerte, wo ich war. Schnell übte ich mich wieder darin, Ausdruckslosigkeit zur Schau zu stellen.

Als die Sitzung beendet war, gingen sie und ich die Stufen hinunter. Ich hielt meine Augen nach vorne gerichtet, damit ich sie nicht ansehen musste, und hielt mich Richtung Toilette, damit ich nicht mit ihr zurück nach Elysium gehen musste. Aber sie sagte: »Cousine«, und da hatte ich keine andere Wahl, als stehenzubleiben und zu sehen, was im Namen des unbekannten Dämonen sie wollte.

»Wenn du Zeit hattest, dich im Palast einzuleben, würdest du dann gerne mit mir zu Mittag essen?« Sie lächelte. »Wir könnten uns besser kennenlernen.«

»Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte ich bedächtig, »dann nicht.«

Sie lachte entzückend. »Ich sehe, was Viraine meinte, als er von dir sprach! Nun denn, wenn du nicht aus Höflichkeit kommst, dann wird die Neugier dich vielleicht treiben. Ich habe Neuigkeiten aus deiner Heimat, Cousine — und ich denke, sie werden dich sehr interessieren.« Sie drehte sich um und ging in Richtung Portal davon. »Wir treffen uns in einer Stunde.«

»Was für Nachrichten?«, rief ich hinter ihr her, aber sie blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um.

Meine Fäuste waren immer noch geballt, als ich die Toilette erreichte, und genau deshalb reagierte ich falsch, als ich Ras Onchis ansichtig wurde, die auf einem der Plüschstühle im Vorraum saß. Ich blieb stehen, und meine Hand griff automatisch nach dem Messer, das sich nicht länger an seinem angestammten Platz hinter meinem Rücken befand. Ich hatte es unter meinen Röcken an der rechten Wade befestigt, da es nicht zu den Gepflogenheiten der Arameri gehörte, in der Öffentlichkeit bewaffnet herumzulaufen.

»Habt Ihr schon gelernt, was eine Arameri wissen sollte?«, fragte sie, noch bevor ich meine Fassung wiedergewonnen hatte.

Ich zögerte, dann schob ich die Türe zu. »Noch nicht, Tantchen«, sagte ich schließlich. »Obwohl ich das wahrscheinlich auch nicht werde, da ich keine wahre Arameri bin. Vielleicht könntet Ihr es mir sagen und aufhören, in Rätseln zu sprechen.«

Sie lächelte. »Du bist so sehr Darre, ungeduldig und scharfzüngig. Dein Vater muss stolz gewesen sein.«

Ich errötete und war verwirrt, weil sich das verdächtig nach einem Kompliment anhörte. War das ihre Art, mir zu sagen, dass sie auf meiner Seite war? Sie trug Enefas Symbol am Hals ...

»Nicht so ganz«, sagte ich langsam. »Mein Vater war ein geduldiger Mann mit kühlem Kopf. Das Temperament habe ich von meiner Mutter.«

»Ah. Das muss Euch in Eurer neuen Heimat gute Dienste leisten.«

»Es leistet mir überall gute Dienste. Würdet Ihr mir jetzt bitte sagen, worum es hier geht?«

Sie seufzte, und ihr Lächeln verschwand. »Ja. Wir haben wenig Zeit. Vergebt mir, Lady.« Mit großer Anstrengung, die ihre Knie knacken ließ — ich zuckte mitfühlend zusammen —, stemmte sie sich aus dem Stuhl. Ich fragte mich, wie lange sie wohl dort gesessen hatte. Wartete sie nach jeder Sitzung auf mich? Wieder einmal bedauerte ich, dass ich am Tag zuvor ferngeblieben war.

»Fragt Ihr Euch, warum Uthr keinen Kriegsantrag gestellt hat?«, fragte sie.

»Vermutlich, weil sie es nicht mussten«, sagte ich und fragte mich, was die Frage für einen Sinn hatte. »Es ist beinahe unmöglich, einen solchen Antrag bewilligt zu bekommen. Die Arameri haben seit hundert Jahren oder länger keinen Krieg mehr erlaubt. Also haben die Uthre darauf gesetzt, dass sie Irt ohne Blutvergießen erobern können, und zum Glück waren sie erfolgreich.«

»Ja.« Ras zog eine Grimasse. »Ich könnte mir vorstellen, dass es noch mehr von diesen Annektierungen geben wird, jetzt, da die Uthre es der Welt vorgemacht haben. ›Frieden über alles; dies ist der Weg des Zeitalters der Helligkeit.‹«

Ich staunte über die Bitterkeit in ihrem Tonfall. Wenn ein Priester sie gehört hätte, wäre sie wegen Ketzerei verhaftet worden.

Wenn irgendein anderer Arameri sie gehört hätte ... ich schauderte, als ich mir ihre dürre Gestalt vorstellte, die auf den Pier hinausging und Zhakkarns Speer im Rücken hatte.

»Vorsicht, Tante«, sagte ich leise. »Ihr werdet nicht bis ins hohe Alter leben, wenn Ihr solche Dinge laut aussprecht.«

Ras lachte leise. »Wohl wahr. Ich werde vorsichtiger sein.«

Sie wurde wieder sachlich. »Aber bedenkt dies, Lady Nicht- Arameri: Vielleicht haben die Uthre keinen Antrag eingereicht, weil sie wussten, dass ein anderer Antrag bereits bewilligt wurde — der klammheimlich zwischen die anderen Erlasse geschoben wurde, die das Konsortium in den letzten Monaten genehmigt hat.«

Ich erstarrte und runzelte die Stirn. »Ein anderer Antrag?«

Sie nickte. »Wie Ihr bereits sagtet, derlei Anträge haben seit Jahrhunderten keine Zustimmung mehr gefunden, und so würden zwei Anträge kurz hintereinander bestimmt nicht genehmigt werden. Und vielleicht wussten die Uthre sogar, dass der andere Antrag bessere Aussichten hatte, genehmigt zu werden, da er den Absichten von jemandem mit großer Macht sehr entgegenkam. Einige Kriege sind schließlich nutzlos ohne Todesfälle.«

Ich starrte sie an, viel zu verblüfft, um meine Verwirrung oder meinen Schock zu verbergen. Ein genehmigter Kriegsantrag hätte das Gesprächsthema des gesamten Adels sein müssen. Es hätte Wochen gedauert, bis das Konsortium ihn durchdiskutiert — geschweige denn genehmigt — hätte. Wie konnte jemand einen Antrag durchbekommen, ohne dass die halbe Welt davon hörte?

»Wer?«, fragte ich. Aber in mir keimte bereits ein Verdacht auf.

»Niemand kennt den Befürworter des Antrags, Lady, und niemand weiß, um welche Länder es sich handelt, egal, ob als Eindringling oder als Ziel. Uthr grenzt im Osten an Tema. Uthr ist klein — jetzt größer —, aber die herrschende Familie und die Te- manische Triadice sind durch Heirat und Freundschaft seit Generationen verbunden.«

Und Tema, wurde mir jetzt klar — und mich fröstelte —, war eine der Nationen, die Scimina verpflichtet waren.

Also hatte Scimina den Antrag befürwortet. Und sie hatte seine Genehmigung geheim gehalten, obwohl das wahrscheinlich ein Meisterstück an politischen Winkelzügen erfordert hatte. Aber das warf zwei äußerst wichtige Fragen auf: Warum hatte sie es getan? Und welches Königreich würde dem Angriff demnächst zum Opfer fallen?

Relads Warnung. Wenn du jemanden oder etwas liebst, sei vorsichtig.

Meine Kehle und meine Hände wurden trocken. Ich wollte jetzt ganz dringend zu Scimina gehen.

»Vielen Dank dafür«, sagte ich zu Ras. Meine Stimme war höher als sonst. Meine Gedanken rasten und waren bereits woanders. »Ich werde das Beste aus der Information machen.«

Sie nickte, humpelte hinaus und tätschelte im Vorbeigehen meinen Arm. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich vergaß, mich zu verabschieden, aber dann riss ich mich zusammen und drehte mich um, gerade als sie die Tür öffnete.

»Was ist es, das eine Arameri wissen sollte, Tante?«, fragte ich. Seit unserem ersten Treffen hatte ich mich das gefragt.

Sie hielt an und warf einen Blick zurück zu mir. »Wie man grausam ist«, sagte sie sehr leise. »Wie man Leben wie Währung ausgibt und den Tod selbst als Waffe benutzt.« Sie senkte ihren Blick. »Eure Mutter hat mir das einmal gesagt. Ich habe es niemals vergessen.«

Ich starrte sie an; mein Mund war staubtrocken.

Ras Onchi verbeugte sich respektvoll vor mir. »Ich werde beten«, sagte sie, »dass Ihr das niemals selbst herausfinden werdet.«

Zurück nach Elysium.

Ich hatte meine Fassung weitestgehend wiedergefunden, als ich auf die Suche nach Seiminas Wohnung ging. Ihr Quartier war nicht weit von meinem entfernt, da alle Vollblut-Arameri in Elysium auf der obersten Etage des Palastes untergebracht sind. Sie war noch einen Schritt weiter gegangen und hatte einen der größten Türme Elysiums zu ihrem Domizil erkoren, was bedeutete, dass die Aufzüge mir nicht weiterhalfen. Mit der Hilfe eines vorübereilenden Dieners fand ich die mit Teppich ausgelegten Stufen, die hinauf in den Turm führten. Die Treppe war nicht sehr hoch — vielleicht drei Stockwerke —, aber meine Oberschenkel brannten, als ich die Plattform erreichte, und ich fragte mich, warum sie sich diesen Wohnort ausgesucht hatte. Hochblütige, die gut in Form waren, hatten sicherlich keine Probleme, und die Bediensteten mussten sich fügen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand, der so kränklich war wie, sagen wir, Dekarta, den Aufstieg überstehen würde. Vielleicht war gerade das der Sinn der Sache.

Als ich klopfte, sprang die Tür auf. Drinnen fand ich mich in einem gewölbten Korridor wieder. Er wurde auf beiden Seiten gesäumt von Statuensockeln, Fenstern und Vasen, in denen sich eine Art Blume befand. Ich erkannte keine der Statuen: hübsche junge Männer und Frauen, die sich nackt in künstlerischen Posen präsentierten. Der Korridor mündete in ein kreisförmiges Zimmer, das mit Kissen und niedrigen Tischen möbliert war — aber es gab keine Stühle. Seiminas Gäste sollten offensichtlich stehen oder auf dem Boden sitzen.

In der Mitte des runden Raumes stand ein Sofa auf einem Podest. Ich fragte mich, ob es Seiminas Absicht war, dass das Zimmer wie ein Thronsaal wirkte.

Scimina war nicht anwesend. Allerdings sah ich einen weiteren Flur, der anscheinend in die Privatgemächer der Wohnung führte. Da ich annahm, dass sie mich warten lassen wollte, seufzte ich, ließ mich nieder und sah mich um. Dann bemerkte ich den Mann.

Er saß mit dem Rücken an eins der breiten Fenster gelehnt.

Seine Haltung war eher unverschämt als lässig. Er hatte ein Bein angezogen, und sein Kopf hing träge zur Seite. Es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass er nackt war, da er sehr langes Haar hatte, das über die Schulter herunterhing und den Großteil seines Körpers bedeckte. Nach einem weiteren Moment wurde mir eiskalt, als ich begriff, dass ich Nahadoth vor mir hatte.

Zumindest dachte ich, dass er es war. Sein Gesicht war wie immer wunderschön, aber merkwürdig, und mir wurde klar, dass es zum ersten Mal bewegungslos war — einfach ein Gesicht, feste Gesichtszüge und nicht das sich ständig verändernde Mischmasch, das ich sonst sah. Seine Augen waren braun und nicht die endlosen, schwarzen Tiefen, die ich in Erinnerung hatte. Seine Haut war blass, aber es war eine menschliche Blässe, wie die der Amn und nicht wie der Glanz des Mond- oder Sternenlichts. Er beobachtete mich träge und bewegte sich nur, um mit den Augen zu blinzeln. Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Lippen, die für meinen Geschmack etwas zu dünn waren.

»Hallo«, sagte er. »Lange nicht gesehen.«

Ich hatte ihn in der Nacht zuvor gesehen.

»Guten Morgen, Lord Nahadoth«, sagte ich und versteckte meine Unsicherheit hinter Höflichkeit. »Geht es Euch ... gut?«

Er bewegte sich etwas — gerade genug, dass ich das silberne Halsband um seinen Hals sehen konnte und die Kette, die davon herabhing. Plötzlich verstand ich. Am Tage bin ich ein Mensch, hatte Nahadoth gesagt. Keine Macht außer Itempas konnte den Lord der Finsternis bei Nacht an die Kette legen, aber am Tage war er schwach. Und ... anders. Ich sah forschend in sein Gesicht, aber ich sah nichts von dem Wahnsinn, der dort an meinem ersten Abend in Elysium zu sehen gewesen war. An seiner Stelle sah ich Berechnung.

»Mir geht es sehr gut«, sagte er. Er berührte mit seiner Zunge seine Lippen, was mich an eine Schlange erinnerte, die die Luft prüft. »Den Nachmittag mit Scimina zu verbringen ist normalerweise sehr erfreulich. Obwohl mir so schnell langweilig wird.« Er hielt für die Länge eines Atemzugs inne. »Abwechslung hilft.«

Es gab keinen Zweifel daran, was er meinte — nicht, solange seine Augen mir die Kleider vom Leibe rissen, während ich dastand. Ich glaube, er wollte, dass seine Worte mich verunsicherten, aber stattdessen verhalfen sie mir seltsamerweise zu klaren Gedanken.

»Warum legt sie Euch an die Kette?«, fragte ich. »Um Euch an Eure Schwäche zu erinnern?«

Seine Augenbrauen hoben sich ein wenig. Er sah nicht wirklich überrascht aus, es war nur ein kurzes Aufflackern von Interesse. »Stört dich das?«

»Nein.« Er wusste, dass ich log, wie ich sofort an der Schärfe in seinem Blick merkte.

Er lehnte sich vor, und die Kette machte ein kaum hörbares Geräusch, wie entfernte Glöckchen. Seine Augen waren menschlich und hungrig und so unwahrscheinlich grausam. Sie entblößten mich erneut, aber diesmal nicht auf sexuelle Art. »Du liebst ihn nicht«, sagte er nachdenklich. »Du bist nicht so dumm. Aber du willst ihn.«

Das gefiel mir nicht, aber ich hatte nicht die Absicht, das zuzugeben. Dieser Nahadoth hatte etwas von einem Tyrannen, und in deren Gegenwart zeigte man keine Schwäche.

Während ich noch über meine Antwort nachdachte, wurde sein Lächeln breiter.

»Du kannst mich haben«, sagte er.

Für den Bruchteil einer Sekunde war ich besorgt, dass der Gedanke mich in Versuchung führen konnte. Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen — ich fühlte mich nur abgestoßen. »Danke, aber nein danke.«

Er senkte seine Augen in einer Parodie höflicher Verlegenheit. »Verstehe. Ich bin nur die menschliche Hülle, und du willst mehr.

Das nehme ich dir nicht übel. Aber ...« Und an dieser Stelle warf er mir durch seine Wimpern einen Blick zu. Von wegen Tyrann — in seinem Gesicht stand das pure und reine Böse. Da war die sadistische Schadenfreude, die sich an meinem Entsetzen am ersten Abend geweidet hatte. Diesmal war sie aber noch bestürzender, weil sie diesmal einem klaren Verstand entsprang. Diese Version von Nahadoth untermauerte die warnenden Geschichten der Priester und die Furcht der Kinder vor der Dunkelheit.

Und es gefiel mir gar nicht, mit ihm allein in einem Zimmer zu sein. Ganz und gar nicht.

»Dir ist klar«, sagte er affektiert, »dass du ihn nie haben kannst? So nicht. Dein Geist und dein Fleisch sind schwach und sterblich und würden von dem Ansturm seiner Macht zerschmettert werden. Von dir würde nicht einmal genug übrig bleiben, um es nach Darr zurückzuschicken.«

Ich verschränkte die Arme und starrte demonstrativ in den Flur hinter Seiminas Sofathron. Wenn sie mich noch länger warten ließ, würde ich einfach gehen.

»Ich dagegen ...« Plötzlich stand er auf und durchquerte das Zimmer, bis er mir entschieden zu nahe kam. Ich erschrak und verlor meine gleichgültige Haltung, während ich versuchte, ihm die Stirn zu bieten und gleichzeitig rückwärts zu stolpern. Ich war nicht schnell genug, und er packte mich an den Armen. Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, wie groß er war. Er war wesentlich größer als ich und hatte kräftige Muskeln. In seiner Nachtgestalt war mir sein Körper nicht aufgefallen — jetzt war er mir sehr, sehr bewusst und auch die Gefahr, die er darstellte.

Er stellte das unter Beweis, indem er mich herumwirbelte und mich von hinten wieder festnagelte. Ich wehrte mich, aber seine Finger schlössen sich um meine Arme, bis ich aufschrie und mir vor Schmerz die Tränen in die Augen stiegen. Als ich aufhörte zu zappeln, wurde sein Griff lockerer.

»Ich kann dir einen Vorgeschmack auf ihn geben«, flüsterte er mir ins Ohr. Sein Atem fühlte sich heiß an meinem Hals an, und ich bekam am ganzen Körper Gänsehaut.

»Ich könnte dich den ganzen Tag reiten ...«

»Lasst mich sofort los.« Ich quetschte den Befehl durch meine Zähne und betete, dass er Wirkung zeigen würde.

Seine Hände gaben mich frei, aber er ging nicht weg. Stattdessen entwand ich mich ihm und hasste mich dafür, als ich mich umdrehte und sein Lächeln sah. Es war kalt, dieses Lächeln, was die ganze Situation noch schlimmer machte. Er wollte mich — das war deutlich genug —, aber Sex war das Wenigste. Meine Angst und mein Abscheu erfreuten ihn, genau wie mein Schmerz, als er meine Arme quetschte.

Das Schlimmste aber war, dass er den Moment genoss, in dem mir klar wurde, dass er nicht gelogen hatte. Ich hatte vergessen, dass die Nacht nicht nur die Zeit der Verführer, sondern auch die der Vergewaltiger war — nicht nur Leidenschaft, sondern auch Gewalt. Diese Kreatur war mein Vorgeschmack auf den Lord der Finsternis. Bright Itempas möge mir helfen, wenn ich jemals wahnsinnig genug wäre, mehr zu wollen.

»Naha.« Seiminas Stimme ließ mich zusammenschrecken und herumfahren. Sie stand neben dem Sofa, eine Hand auf der Hüfte und lächelte mich an. Wie lange hatte sie da schon gestanden und zugesehen? »Du bist unverschämt zu meinem Gast. Tut mir leid, Cousine, ich hätte seine Leine kürzen sollen.«

Ich fühlte alles, aber keine Dankbarkeit. »Ich habe nicht die Geduld für solche Spielchen, Scimina«, fuhr ich sie an. Ich war zu wütend und, ja, verängstigt, um taktvoll zu sein. »Sag mir, was du willst, und lassen wir es dabei bewenden.«

Scimina zog eine Augenbraue hoch, olfensichtlich amüsiert von meiner Unhöflichkeit. Sie lächelte zu Nahadoth — nein, Naha, entschied ich. Der Gottesname passte nicht zu dieser Kreatur. Er stellte sich neben sie und wandte mir den Rücken zu. Sie fuhr mit den Fingerknöcheln einer Hand über seinen Arm und lächelte. »Hat er dein Herz dazu gebracht, schneller zu schlagen? Unser Naha hat diese Wirkung manchmal auf Unerfahrene. Du kannst ihn dir übrigens gerne ausleihen. Wie du gesehen hast, ist er auf jeden Fall aufregend.«

Ich beachtete das nicht — aber mir entging nicht der Blick, mit dem Naha sie jetzt, da sie ihn nicht sehen konnte, anschaute. Sie war eine Närrin, ihn in ihr Bett zu lassen.

Und ich war eine Närrin, hier herumzustehen. »Guten Tag, Scimina.«

»Ich dachte, dich würde ein Gerücht, das ich gehört habe, interessieren«, sagte Scimina hinter meinem Rücken. »Es betrifft deine Heimat.«

Ich hielt inne und hörte plötzlich Ras Onchis Warnung in meinen Gedanken.

»Deine Beförderung hat deinem Land neue Feinde verschafft, Cousine. Einige Nachbarn von Darr finden dich noch bedrohlicher als Relad oder mich. Ich denke, das ist verständlich — wir wurden hier hineingeboren und haben keine veralteten ethnischen Bindungen.«

Ich drehte mich langsam herum. »Du bist Amn.«

»Aber die Überlegenheit der Amn wird weltweit akzeptiert, wir bieten keine Überraschungen. Du allerdings stammst von einer Rasse ab, die immer aus Barbaren bestanden hat, egal, wie hübsch wir euch angezogen haben.«

Ich konnte sie nicht direkt nach dem Kriegsantrag fragen. Aber vielleicht ... »Was willst du damit sagen? Dass jemand Darr angreifen würde, nur weil ich von den Arameri vereinnahmt wurde?«

»Nein. Ich will damit sagen, dass jemand Darr angreifen würde, weil du immer noch wie eine Darre denkst, obwohl du jetzt Zugriff auf die Macht der Arameri hast.«

Mein Befehl an die mir unterstellten Nationen. Also das war die Entschuldigung, die sie benutzen wollte. Ich hatte sie dazu gezwungen, den Handel mit Darr wieder aufzunehmen. Natürlich würde man das als Vetternwirtschaft ansehen — und sie hatten vollkommen recht. Hätte ich meinem Volk mit meiner neuen Macht und meinem neuen Reichtum nicht helfen sollen? Was für eine Frau wäre ich, wenn ich nur an mich selbst denken würde?

Eine Arameri-Frau, flüsterte eine leise, gemeine Stimme in meinem Hinterkopf.

Naha war hinter Scimina getreten und umarmte sie, das Bild eines Verliebten. Scimina streichelte geistesabwesend seine Arme, und er musterte ihren Hinterkopf mit mordlüsternen Blicken.

»Fühl dich nicht schlecht, Cousine«, sagte Scimina. »Im Grunde wäre es egal gewesen, was du tust. Einige Leute hätten dich auf jeden Fall gehasst, weil du nicht in ihr Bild einer Herrscherin passt. Schade, dass nur deine Augen Ähnlichkeit mit Kinneth haben.« Sie schloss ihre Augen und lehnte sich rücklings gegen Naha. Sie war ein Bild der Zufriedenheit. »Die Tatsache, dass du wirklich Darre bist, ist auch nicht hilfreich. Du hast ihre Kriegereinführung durchlaufen, nicht wahr? Da deine Mutter keine Darre war, wer hat für dich gebürgt?«

»Meine Großmutter«, antwortete ich leise. Es überraschte mich nicht, dass Scimina die Sitten der Darre kannte. Jeder konnte sich das Wissen aus Büchern aneignen.

Scimina seufzte und warf Naha einen Blick zu. Ich war überrascht, weil er seinen Ausdruck nicht änderte und noch mehr überrascht, als sie über den blanken Hass in seinen Augen lächelte.

»Weißt du, was in der Darre-Zeremonie passiert?«, fragte sie ihn. »Sie waren einmal ganz beachtliche Krieger — und matriarchalisch. Wir zwangen sie, damit aufzuhören, ihre Nachbarn zu erobern und ihre Männer wie Vieh zu behandeln, aber wie die meisten dieser Dunkelrassen, klammerten sie sich im Geheimen an ihre Traditionen.«

»Ich weiß, was sie einmal gemacht haben«, sagte Naha. »Sie fingen einen Jungen von einem verfeindeten Stamm, beschnitten ihn, päppelten ihn wieder auf und benutzten ihn dann für ihr Vergnügen.«

Mein Gesicht blieb ausdruckslos. Scimina lachte darüber, hob eine Locke von Nahas Haar zu ihren Lippen und beobachtete mich.

»Die Dinge haben sich geändert«, sagte sie. »Jetzt dürfen die Darre keine Jungs mehr entführen und verstümmeln. Jetzt überlebt ein Mädchen einen Monat allein im Wald und kommt dann nach Hause, um von einem Mann entjungfert zu werden, den ihr Bürge ausgewählt hat. Immer noch barbarisch und etwas, das wir unterbinden, wenn wir davon hören, aber es geschieht — besonders unter den Frauen der höheren Schicht. Und dann ist da noch der Teil, von dem sie dachten, dass sie ihn vor uns geheim gehalten haben: Das Mädchen muss ihn entweder im offenen Kampf besiegen und somit die Begegnung kontrollieren oder ihm unterliegen und dadurch lernen, was es heißt, sich einem Feind zu unterwerfen.«

»Das würde mir gefallen«, flüsterte Naha. Scimina lachte wieder und schlug ihn spielerisch auf den Arm.

»Das war klar. Sei jetzt still.« Ihr Blick glitt seitwärts zu mir. »Das Ritual ist im Prinzip das gleiche, oder nicht? Aber es hat sich so viel verändert. Jetzt haben Darre-Männer nicht mehr länger Angst vor Frauen — oder Respekt.«

Es war eine Feststellung, keine Frage, und ich war klug genug, nicht zu antworten.

»Wirklich, wenn man so darüber nachdenkt, war das frühere Ritual das zivilisiertere. Es brachte dem jungen Krieger nicht nur bei, wie man überlebte, sondern auch, seinen Feind zu respektieren und wie man ihn pflegt. Viele Mädchen haben später ihre Gefangenen geheiratet, nicht wahr? Also lernten sie sogar, zu lieben. Das heutige Ritual ... nun, was genau lernt man dadurch? Das ist die große Frage.«

Es lehrte mich, alles Notwendige zu tun, um das, was ich will, auch zu bekommen, du mieses Dreckstück.

Ich antwortete nicht, und nach einer Weile seufzte Scimina.

»Nun«, sagte sie, »an den Grenzen zu Darr werden neue Bündnisse gebildet, die der vermeintlich neuen Stärke Darrs die Stirn bieten sollen. Da Darr in Wirklichkeit aber keine neue Stärke hat, bedeutet das, dass die ganze Region instabil wird. Schwer zu sagen, was unter diesen Umständen geschehen wird.«

Meine Finger sehnten sich nach einem scharfen Stein. »Ist das eine Drohung?«

»Bitte, Cousine. Ich gebe lediglich Informationen weiter. Wir Arameri müssen aufeinander achtgeben.«

»Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen.« Ich drehte mich um und wollte gehen, bevor ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Diesmal war es Nahas Stimme, die mich anhielt.

»Hast du gewonnen?«, fragte er. »Bei deiner Kriegereinführung? Hast du deinen Gegner geschlagen, oder hat er dich vor der Zuschauermenge vergewaltigt?«

Mir war klar, dass ich nicht antworten sollte. Wirklich. Aber ich tat es trotzdem.

»Ich gewann«, sagte ich, »mehr schlecht als recht.« »Oh?«

Wenn ich meine Augen schloss, konnte ich es sehen. Sechs Jahre waren seit jener Nacht vergangen, aber die Gerüche des Feuers, der alten Felle, des Blutes und meines eigenen Gestanks nach einem Monat in der Wildnis waren immer noch lebhaft in meinem Gedächtnis.

»Die meisten Bürgen wählen einen Mann, der ein schlechter Krieger ist«, sagte ich leise. »Damit es für das Mädchen, das gerade der Kindheit entwachsen ist, leicht ist, ihn zu schlagen. Aber ich sollte ennu werden, und man zweifelte an mir, weil ich halb Amn war. Halb Arameri. Also wählte meine Großmutter den stärksten unserer männlichen Krieger.«

Ich hatte nicht erwartet, zu gewinnen. Ausdauer wäre genug gewesen, um als Krieger anerkannt zu werden — insofern hatte Scimina recht, dass sich vieles für uns geändert hatte. Aber Ausdauer reichte nicht aus, um ennu zu werden. Niemand würde mir gehorchen, wenn ich es zuließ, dass irgendein Mann mich in der Öffentlichkeit benutzte und dann noch in der ganzen Stadt damit angab. Ich musste gewinnen.

»Er besiegte dich«, sagte Naha. Er ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen, gierig nach meinem Schmerz.

Ich sah ihn an, und er kniff die Augen zusammen. Ich fragte mich, was er in dem Moment in meinem Blick sah.

»Ich bot ihnen eine gute Vorstellung«, sagte ich. »Genug, um die Anforderungen des Rituals zu erfüllen. Dann stach ich ihm mit einem Steinmesser, das ich in meinem Ärmel versteckt hatte, in den Kopf.«

Der Rat war deswegen ziemlich aufgebracht, besonders als klar wurde, dass ich nicht schwanger war. Schlimm genug, dass ich einen Mann getötet hatte — aber auch noch seinen Samen und die Stärke, die er zukünftigen Darre-Töchtern hätte geben können, zu verlieren? Eine Zeit lang machte der Sieg alles schlimmer für mich. Sie ist keine wahre Darre; wurde geflüstert. In ihr ist zu viel Tod.

Ich hatte ihn wirklich nicht töten wollen. Aber schlussendlich waren wir Krieger, und diejenigen, die meinen Aramerischen Tötungsinstinkt zu schätzen wussten, waren in der Überzahl. Zwei Jahre später wurde ich ennu.

Seiminas Gesichtsausdruck war nachdenklich und abwägend.

Naha allerdings war ernüchtert, und seine Augen zeigten ein dunkles Gefühl, das ich nicht näher definieren konnte. Wenn ich es in einem Wort beschreiben müsste, würde ich Bitterkeit sagen. Aber das war nicht weiter überraschend, nicht wahr? Ich war nicht so viel Darre wie angenommen, aber dafür umso mehr Arameri. Das war etwas, das ich an mir immer gehasst hatte.

»Er hat begonnen, dir nur noch ein Gesicht zu zeigen, nicht wahr?«, fragte Naha. Ich wusste sofort, wer »er« war. »So fängt es an. Seine Stimme wird tiefer, seine Lippen voller und seine Augen ändern ihre Form. Bald wird er wie etwas aus deinen süßesten Träumen aussehen, genau die richtigen Dinge sagen und die richtigen Stellen berühren.« Er drückte sein Gesicht in Seiminas Haare, als ob er Trost suchte. »Dann dauert es nicht mehr lange.«

Ich ging, getrieben von Angst und Schuldgefühlen sowie dem schleichenden, abscheulichen Gefühl, dass egal, wie viel Arameri ich war, es mir nicht helfen würde, hier zu überleben. Ich war lange nicht genug Arameri. Deshalb war ich zu Yiraine gegangen, das hatte mich zur Bibliothek und zum Geheimnis meiner beiden Seelen geführt und das war der Grund, warum ich hierhin gelangt war, tot.

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