Erleichterung

In diesen Nächten, diesen Träumen, sah ich durch Tausende Augen. Bäcker, Schmiede, Gelehrte, Könige — gewöhnlich und ungewöhnlich. Ich lebte jede Nacht ihr Leben. Aber wie mit allen Träumen, erinnere ich mich nur an die ganz besonderen.

In einem sehe ich einen verdunkelten, leeren Raum. Fast keine Möbel. Ein alter Tisch. Ein schmutziges, halb zerrissenes Bündel Bettzeug in einer Ecke. Eine Murmel neben dem Bettzeug. Nein, keine Murmel; eine kleine, überwiegend blaue Kugel. Die mir zugewandte Seite besteht aus einem braun-weißen Mosaik. Ich weiß, wessen Zimmer das ist.

»Schhhh«, sagt eine neue Stimme, und plötzlich sind Leute im Zimmer. Eine zarte Gestalt liegt halb über den Schoß der anderen Gestalt drapiert, die größer ist. Und dunkler. »Schhh. Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«

»Hmm«, sagt die kleinere. Ein Kind. »Ja. Noch mehr wunderschöne Lügen, Papa, bitte.«

»Na, na. Kinder sind nicht so zynisch. Sei ein wahres Kind, oder du wirst nie so groß und stark werden wie ich.«

»Ich werde nie wie du sein, Papa. Das ist eine deiner Lieblingslügen.«

Ich sehe zerzaustes, braunes Haar. Eine graziöse Hand mit langen Fingern streichelt es. Der Vater? »Ich habe dich diese ganze lange Zeit aufwachsen sehen. Und in zehntausend Jahren, einhunderttausend Jahren ...«

»Und wird mein sonnenheller Vater seine Arme ausbreiten, wenn ich so groß geworden bin, und mich an seiner Seite willkommen heißen?« Ein Seufzen.

»Wenn er einsam genug ist, vielleicht.«

»Ich will ihn nicht!« Ruckartig bewegt sich das Kind von der streichelnden Hand weg und schaut hoch. Seine Augen spiegeln das Licht so wie die einer Nachtkreatur. »Ich werde dich nie verraten, Papa. Nie!«

»Schhhh.« Der Vater beugt sich hinab und küsst das Kind sanft auf die Stirn. »Ich weiß.«

Und das Kind wirft sich nach vorne, verbirgt das Gesicht in weicher Dunkelheit und weint. Der Vater hält es fest, schaukelt sanft und fängt an, zu singen. In seiner Stimme höre ich jede Mutter, die jemals ein Kind in den frühen Morgenstunden getröstet hat, und jeden Vater, der jemals Hoffnungen in das Ohr seines Kindes geflüstert hat. Ich verstehe den Schmerz nicht, den ich wahrnehme und der die beiden wie Ketten umfängt, aber ich spüre deutlich, dass Liebe ihre Waffe dagegen ist.

Es ist ein privater Augenblick, und ich bin ein Eindringling. Ich spreize unsichtbare Finger und lasse diesen Traum hindurch- und fortgleiten.

Ich vermisste den fehlenden Schlaf schmerzlich, als ich mich spät am nächsten Tag mühsam aufraffte, wachzuwerden. Ich saß auf der Bettkante und hatte die Knie angezogen. Durch das Fenster sah ich einen hellen, klaren Mittagshimmel und dachte Ich werde sterben.

Ich werde STERBEN.

In sieben Tagen ... nein, sechs nur noch.

Sterben.

Ich schäme mich, zuzugeben, dass diese Litanei eine ganze Weile andauerte. Der Ernst meiner Lage war mir bisher noch nicht klar geworden; der bevorstehende Tod hatte hinter der Gefahr für Darr und einer himmlischen Verschwörung zurückstehen müssen. Aber jetzt hatte ich niemanden mehr, der an meiner Seele herumzerrte, um mich abzulenken, und alles, an das ich denken konnte, war der Tod. Ich war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Ich hatte noch nie geliebt. Ich konnte noch nicht mit allen neun Formen des Messers umgehen. Ich hatte noch nie ... Götter. Ich hatte noch nie wirklich gelebt, jenseits des Vermächtnisses meiner Eltern: ennu und Arameri. Es schien nahezu unfassbar, dass ich ein Todeskandidat war — aber ich war es.

Denn selbst wenn die Arameri mich nicht töteten, machte ich mir keine Illusionen über die Enefadeh. Ich war die Scheide des Schwertes, das sie hofften, gegen Itempas zu ziehen, ihre einzige Möglichkeit, zu entkommen. Sollte die Nachfolgezeremonie verschoben werden oder ich wie durch ein Wunder erfolgreich De- kartas Erbe antreten, so war ich sicher, dass die Enefadeh mich einfach töten würden. Offensichtlich hatte ich keinen Schutz vor ihnen wie andere Arameri; zweifellos war das eine der Änderungen, die sie an meinem Siegel vorgenommen hatten. Mich zu töten wäre wahrscheinlich die leichteste Möglichkeit für sie, Ene- fas Seele so gut wie unbeschädigt zu entfernen. Si’eh würde die Notwendigkeit meines Todes betrauern, aber sonst würde das in Elysium niemand tun.

Also lag ich auf meinem Bett, zitterte, weinte und hätte das wohl auch für den Rest des Tages getan — ein Sechstel meines Lebens —, wenn es nicht an der Tür geklopft hätte.

Das holte mich mehr oder weniger wieder auf den Boden der Tatsachen. Ich trug immer noch die Kleidung vom Tag zuvor, in der ich geschlafen hatte, mein Haar war völlig durcheinander, mein Gesicht aufgedunsen und meine Augen rot. Gebadet hatte ich auch noch nicht. Ich öffnete die Tür einen Spalt weit und sah zu meiner großen Bestürzung T’vril, der ein Tablett mit Essen in einer Hand hielt.

»Seid gegrüßt, Cousine ...« Er hielt inne, schaute noch einmal genauer hin und machte ein finsteres Gesicht. »Was zum Dämonen ist mit Euch passiert?«

»N... nichts«, murmelte ich und versuchte, die Tür zu schließen. Er schlug sie mit seiner freien Hand auf, schob mich zurück und trat ein. Ich hätte protestiert, aber die Worte blieben mir im Hals stecken, als er mich mit einem Ausdruck musterte, der meiner Großmutter zur Ehre gereicht hätte.

»Ihr lasst sie gewinnen, nicht wahr?«, fragte er.

Ich glaube, mir fiel die Kinnlade herunter. Er seufzte. »Setzt Euch.«

Ich schloss meinen Mund. »Woher wisst Ihr ...«

»Ich weiß nahezu alles, was hier passiert, Yeine. Der bevorstehende Ball zum Beispiel und was danach geschehen wird. Halbblütern sagt man das normalerweise nicht, aber ich habe meine Verbindungen.« Er nahm mich sanft bei den Schultern. »Du hast es auch herausgefunden, nehme ich an, und deshalb sitzt du hier und gehst vor die Hunde.«

Bei anderer Gelegenheit wäre ich erfreut gewesen, dass er mich endlich vertraulich mit Namen ansprach. Jetzt schüttelte ich dumpf meinen Kopf und rieb meine Schläfen, in denen sich die Ermüdungskopfschmerzen breitmachten. »T’vril, du weißt ...«

»Setz dich hin, du Närrin, bevor du ohnmächtig wirst und ich Viraine rufen muss. Du möchtest nämlich nicht, dass ich das tun muss. Seine Heilmittel sind wirkungsvoll, aber äußerst widerlich.« Er nahm meine Hand und führte mich an meinen Tisch.

»Ich bin hergekommen, weil du kein Frühstück und kein Mittagessen bestellt hattest, und ich dachte, du würdest dich wieder einmal zu Tode hungern.« Er setzte mich hin und das Tablett ab. Dann hob er ein Gericht mit einer zerteilten Frucht hoch, spießte ein Stück auf eine Gabel und fuchtelte mir so lange damit vor dem Gesicht herum, bis ich aß. »Anfangs schienst du ein vernünftiges Mädchen zu sein, als du herkamst. Die Götter wissen, dass dieser Ort einer Person den Verstand austreiben kann, aber ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell klein beigeben würdest. Warst du nicht eine Kriegerin oder so etwas? Die Gerüchte sagen, dass du dich halbnackt mit einem Speer durch die Bäume schwingst.«

Ich starrte ihn wütend an, die Beleidigung schnitt durch meine Verwirrung hindurch. »Das ist das Blödeste, das du je zu mir gesagt hast.«

»Du bist also doch noch nicht tot. Gut.« Er nahm mein Kinn zwischen seine Finger und sah mir forschend in die Augen. »Und sie haben dich noch nicht geschlagen. Verstehst du das?«

Ich riss den Kopf weg und klammerte mich an meinen Ärger. Er war besser als Verzweiflung, wenn auch genauso nutzlos. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Mein Volk ... ich bin hierhergekommen, um ihnen zu helfen, und stattdessen befinden sie sich meinetwegen in noch größerer Gefahr.«

»Ja, ich hörte davon. Du weißt, dass sowohl Relad als auch Sci- mina perfekte Lügner sind, oder? Du hast nichts getan, das das verursacht hat. Seiminas Pläne standen längst fest, bevor du überhaupt in Elysium angekommen bist. So läuft das in dieser Familie.« Er hielt einen Käsebrocken vor meinen Mund. Ich muss- te ein Stück abbeißen, kauen und hinunterschlucken, um seine Hand loszuwerden.

»Wenn das ...« Er schob mir noch mehr von der Frucht entgegen, aber ich schlug die Gabel beiseite, und die Frucht flog irgendwo in Richtung meiner Bücherschränke davon. »Wenn das wahr ist, dann weißt du, dass es nichts gibt, das ich tun kann! Darrs Feinde bereiten sich auf einen Angriff vor. Mein Land ist schwach; wir können uns nicht einmal gegen eine Armee verteidigen, geschweige denn die vielen, die sich gegen uns stellen!«

Er nickte ernst und hielt ein neues Stück der Frucht für mich hoch. »Das hört sich nach Relad an. Scimina ist normalerweise subtiler. Aber offen gesagt: Es könnten beide sein. Dekarta hat ihnen nicht viel Zeit zum Arbeiten gelassen, und unter Druck werden beide ungeschickt.«

Die Frucht schmeckte salzig in meinem Mund. »Dann sag mir ...« Ich blinzelte und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Was soll ich tun, T’vril? Du sagst, dass ich sie gewinnen lasse, aber was kann ich denn sonst tun?«

T’vril stellte den Teller ab, beugte sich vor und nahm meine Hände. Plötzlich erkannte ich, dass seine Augen grün waren, wenn auch etwas dunkler als meine. Bisher hatte ich derTatsache, dass wir verwandt waren, nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die meisten Arameri erschienen mir kaum wie Menschen, geschweige denn wie Familie.

»Kämpfen«, sagte er, und seine Stimme war tief und entschlossen. Seine Hände griffen meine so fest, dass es schmerzte. »Du kämpfst auf jede erdenkliche Art und Weise.«

Vielleicht war es die Stärke seines Griffs oder das Drängen in seiner Stimme, aber plötzlich wurde mir etwas klar. »Du möchtest selber Erbe sein, nicht wahr?«

Er blinzelte überrascht, und dann huschte ein betrübtes Lächeln über sein Gesicht. »Nein«, sagte er. »Nicht unbedingt. Niemand würde unter diesen Umständen Erbe sein wollen. Darum beneide ich dich nicht. Aber ...« Er sah weg in Richtung Fenster, und ich erkannte sie in seinen Augen: eine schreckliche Frustration, die wohl schon das ganze Leben lang in ihm schwelte. Das unausgesprochene Wissen, dass er genauso intelligent war wie Relad oder Scimina, genauso stark, dass er Privilegierung ebenso verdiente und auch ebenso in der Lage war, Anführer zu sein.

Und wenn man ihm je die Chance bot, würde er darum kämpfen, sie zu behalten. Sie zu nutzen. Er würde sogar dann kämpfen, wenn er keine Chance auf einen Sieg hätte. Es nicht zu tun hieße zuzugeben, dass das dumme, willkürliche Einsetzen des Vollblut- Status etwas mit Logik zu tun hatte und dass die Amn wirklich den anderen Rassen überlegen waren. Dass er es verdiente, nicht mehr als ein Diener zu sein.

So wie ich es verdiente, nicht mehr als eine Spielfigur zu sein. Ich stutzte.

T’vril bemerkte es. »Schon besser.« Er drückte mir die Schale mit der Frucht in die Hände und stand auf. »Iss auf und zieh dich an. Ich will dir etwas zeigen.«

Ich hatte nicht gewusst, dass Feiertag war. Feuertag — irgendeine Amnfeier, von der ich gehört, der ich aber keine Beachtung geschenkt hatte. Als T’vril mich aus meinem Zimmer führte, hörte ich Gelächter und Senmite-Musik, die durch die Flure klang. Ich hatte die Musik dieses Kontinents noch nie gemocht. Sie war seltsam, arhythmisch und voll unheimlicher Mollklänge. Wahrscheinlich konnten nur Leute mit sehr exquisitem Geschmack sie verstehen oder genießen.

Ich seufzte, weil ich dachte, wir würden in diese Richtung gehen. Aber T’vril warf einen grimmigen Blick dorthin und schüttelte den Kopf. »Nein. Diesen Feierlichkeiten willst du nicht beiwohnen, Cousine.«

»Warum nicht?«

»Die Party ist für die von hohem Geblüt. Du wärst sicherlich willkommen, und als Halbblut könnte ich wahrscheinlich auch hingehen, aber ich schlage vor, dass du gesellschaftlichen Ereignissen unserer Vollblut-Verwandten fernbleibst, wenn du Spaß haben möchtest. Sie haben ... seltsame Vorstellungen darüber, was Spaß bedeutet.« Sein grimmiger Gesichtsausdruck warnte mich davor, weitere Fragen zu stellen. »Hier entlang.«

Er führte mich in die entgegengesetzte Richtung, einige Etagen tiefer, und nahm dann Kurs auf das Herz des Palastes. In den Fluren herrschte geschäftiges Treiben, obwohl ich nur Bedienstete sah, als wir dort entlanggingen. Sie alle huschten so schnell vorbei, dass sie kaum Zeit hatten, T’vril einen Gruß zuzunicken. Ich bezweifle, dass sie mich überhaupt bemerkten.

»Wohin gehen die alle?«, fragte ich.

T’vril sah erheitert aus. »Zur Arbeit. Ich habe alle auf wechselnde, kurze Schichten gesetzt, und sie haben wahrscheinlich alle bis zur letzten Sekunde gewartet, bevor sie gingen. Sie wollten den Spaß nicht versäumen.«

»Spaß?«

»Mmm-hmm.« Wir umrundeten eine Kurve, und ich sah eine breite, durchsichtige Türfront vor uns. »Da sind wir. Der Zentralhof. Nun, da du gut Freund mit Si’eh bist, glaube ich, dass die Magie für dich funktionieren wird. Wenn nicht, und falls ich verschwinde, geh einfach zur Halle zurück und warte. Ich komme dann wieder raus, um dich zu holen.«

»Was?« Langsam wurde es zur Gewohnheit, dass ich mir dumm vorkam.

»Du wirst schon sehen.« Er stieß die Türen auf.

Die Szene dahinter war fast schon idyllisch — sie wäre es gewesen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich mich in einem Palast befinde, der eine halbe Meile über der Erde schwebt. Wir schauten in eine Art riesiges Atrium, das sich im Zentrum des Palastes befand. Entlang einem Kopfsteinpflasterweg standen reihenweise winzige Hütten. Ich stellte überrascht fest, dass diese Hütten nicht wie der Rest des Palastes aus diesem perlmuttartigen Material bestanden, sondern aus Steinen, Holz und Ziegeln. Der Baustil der Hütten unterschied sich ebenfalls deutlich von dem des Palastes — die ersten scharfen Winkel und geraden Linien, die ich zu Gesicht bekam. Auch untereinander war er unterschiedlich. Viele der Bauarten waren mir fremd: Token, Mekatish und andere — sogar eins mit einem auffällig goldenen Dachfirst, das Irtin gewesen sein mochte. Ich schaute hoch und erkannte, dass der Zentralhof sich in einem riesigen Zylinder im Inneren des Palastes befand. Direkt über ihm war vollkommen klarer, blauer Himmel.

Aber der ganze Ort war still und bewegungslos. Ich sah niemanden in oder bei den Hütten; und nicht einmal ein Windchen rührte sich.

T’vril nahm meine Hand und zog mich über die Schwelle — und ich schnappte nach Luft, als das Schweigen brach. Schlagartig waren viele Menschen unterwegs und überall um uns herum. Sie lachten, rannten umher und verliehen ihrer Freude mit einer Kakophonie Ausdruck, die mich nicht so erschreckt hätte, wäre sie nicht aus dem Nichts gekommen. Musik war auch zu hören, die schöner war, als die von Senmite, die ich aber auch nicht gewohnt war. Sie ertönte in der Nähe, irgendwo inmitten der Hütten. Ich erkannte eine Flöte und eine Trommel und ein Gewirr von Sprachen — die einzige, die ich erkannte, war Kenti — bevor mich jemand am Arm packte und mich herumdrehte.

»Shaz, da bist du ja! Ich dachte ...« Der Amn, der meine Hand genommen hatte, erschrak, als er mein Gesicht sah, und wurde dann noch blasser. »Oh, Dämonen.«

»Schon gut«, sagte ich schnell. »Das war nur ein Versehen.« Von hinten konnte man mich für Tema, Narshes oder die Hälfte der nordischen Rassen halten - und es war mir nicht entgangen, dass er mich mit einem Jungennamen gerufen hatte. Das war aber offensichtlich nicht der Grund für sein Entsetzen. Sein Blick war auf den Vollblutkreis auf meiner Stirn geheftet.

»Schon gut, Ter.« T’vril trat an meine Seite und legte eine Hand auf meine Schulter. »Das ist die Neue.«

Erleichterung brachte wieder Farbe in das Gesicht des Mannes. »Sorry, Miss«, sagte er und nickte mir eine Begrüßung zu. »Ich ... nun ja.« Er lächelte verlegen. »Ihr wisst ja.«

Ich beschwichtigte ihn erneut, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, dass ich wirklich Bescheid wusste. Danach ging der Mann davon und ließ T’vril und mich alleine — sofern man inmitten einer solchen Menschenmasse allein sein konnte. Ich konnte sehen, dass alle Anwesenden die Markierungen des niederen Geblüts trugen — sie waren alle Bedienstete. Auf dem ausladenden Platz des Zentralhofs waren fast tausend Menschen oder mehr. T’vril hielt sie so geschickt im Hintergrund, dass mir nicht klar gewesen war, wie viele Diener es in Elysium gab. Allerdings hätte ich mir wohl denken können, dass es von ihnen mehr gab als solche von hohem Geblüt.

»Mach Ter keinen Vorwurf«, sagte T’vril. »Heute ist einer der wenigen Tage, an dem wir uns von Rangordnungen frei machen können. Er war nicht darauf vorbereitet.« Er nickte in Richtung meiner Stirn.

»Was ist das hier, T’vril? Wo haben diese Leute ...?«

»Ein kleiner Gefallen der Enefadeh.« Er zeigte auf den Eingang, durch den wir gerade gekommen waren, und nach oben. In der Luft des Zentralhofs lag ein schwacher, gläserner Schimmer, den ich vorher nicht bemerkt hatte. Wir standen in einer durchsichtigen Blase aus — irgendetwas. Magie, was immer es war.

»Niemand mit einem Zeichen höher als Viertelblut sieht etwas, selbst wenn er durch die Barriere geht«, sagte T’vril. »Für mich hat man eine Ausnahme gemacht. Und wie du bemerkt hast, können wir auch andere mitbringen, wenn wir möchten. Das bedeutet, wir können feiern, ohne dass die von hohem Geblüt hierherkommen, um unsere ›putzigen Gesindelbräuche‹ zu beäugen, als ob wir Tiere im Zoo wären.«

Endlich verstand ich und lächelte. Das war wahrscheinlich einer der vielen kleinen Aufstände, die die Bediensteten von niederem Geblüt klammheimlich gegen ihre hochwohlgeborenen Verwandten anzettelten. Wenn ich noch länger in Elysium blieb, würde ich wahrscheinlich noch andere erleben ...

Aber natürlich würde ich nicht lange genug leben.

Dieser Gedanke ernüchterte mich sofort, trotz der Musik und der Fröhlichkeit, die mich umgab. T’vril grinste mich an und ließ meine Hand los. »Nun, jetzt bist du hier. Hab für eine Weile Spaß, hmm?« Und fast genau in dem Moment, als er mich losließ, packte ihn eine Frau und zog ihn in die Menge. Ich sah sein rotes Haar noch einmal aufblitzen, dann war er fort.

Ich stand da, wo er mich verlassen hatte, und fühlte mich seltsam leer. Die Bediensteten feierten um mich herum, aber ich gehörte nicht dazu. Außerdem konnte ich mich inmitten dieses Lärms und des Chaos nicht entspannen, egal, wie fröhlich es war. Niemand war Darre. Niemandem stand eine Exekution bevor. Niemand hatte man die Seele eines Gottes, die alles befleckte, was sie dachten oder fühlten, in den Körper gestopft.

Trotzdem hatte T’vril mich in dem Versuch, mich aufzuheitern, hierher gebracht. Es wäre ungehörig, sofort wieder zu gehen. Also sah ich mich nach einer ruhigen Ecke um, wo ich mich abseits hinsetzen konnte. Dann sah ich ein bekanntes Gesicht — wenigstens schien es zunächst ein bekanntes Gesicht zu sein. Ein junger Mann beobachtete mich. Er stand auf der Treppe einer Hütte und lächelte, als ob er mich kannte. Er war ein bisschen älter als ich, hatte ein hübsches Gesicht und war schlank. Er sah aus wie ein Tema, aber seine Augen waren so gar nicht Tema und ein schwaches Grün ...

Ich schnappte nach Luft und ging zu ihm hinüber. »Si’eh?«

Er grinste. »Schön, dass du rausgekommen bist.«

»Du bist ...« Ich gaffte noch eine Weile mit offenem Mund, dann schloss ich ihn in die Arme. Ich hatte die ganze Zeit ge- wusst, dass Nahadoth nicht der einzige Enefadeh war, der seine Form verändern konnte. »Also ist das deine Idee?« Ich zeigte auf die Barriere, die ich jetzt wie eine Kuppel über uns stehen sah.

Er zuckte mit den Schultern. »T’vrils Leute tun uns das ganze Jahr hindurch Gefallen. Es ist nur angebracht, dass wir ihnen etwas zurückgeben. Wir Sklaven müssen zusammenhalten.«

In seiner Stimme war eine Bitterkeit, die ich vorher noch nicht darin gehört hatte. Im Vergleich zu meiner eigenen Stimmung war sie seltsam tröstend, also setzte ich mich auf die Treppe neben seine Beine. Zusammen beobachteten wir schweigend eine Zeit lang die Feierlichkeiten. Nach einer Weile spürte ich, wie seine Hand mein Haar berührte und streichelte, und das tröstete mich noch mehr. Egal in welcher Form, er war immer noch Si’eh.

»Sie wachsen und verändern sich so schnell«, sagte er leise und blickte auf eine Gruppe Tänzer in der Nähe der Musiker. »Manchmal hasse ich sie dafür.«

Ich sah überrascht zu ihm auf. Das war eine seltsame Stimmung für ihn. »Ihr Götter habt uns doch so erschaffen, oder nicht?«

Er sah mich an, und fiir einen irritierenden, schmerzhaften Moment sah ich Verwirrung auf seinem Gesicht. Enefa. Er hatte gesprochen, als ob ich Enefa sei.

Dann ging die Verwirrung vorüber, und er lächelte mich traurig an. »Tut mir leid«, sagte er.

Als ich die Traurigkeit in seinem Gesicht sah, konnte ich keine Bitterkeit fühlen. »Ich muss wohl wie sie aussehen.«

»Das ist es nicht.« Er seufzte. »Es ist nur, dass manchmal ... nun, es scheint, als ob sie erst gestern gestorben wäre.«

Der Krieg der Götter hatte vor mehr als zweitausend Jahren stattgefunden, nach den Berechnungen der meisten Schreiber. Ich wandte mich von Si’eh ab und seufzte ebenfalls. Die Kluft zwischen uns war so tief.

»Du bist nicht wie sie«, sagte er. »Zumindest nicht völlig.«

Ich wollte nicht von Enefa reden, aber ich sagte nichts. Ich zog meine Knie an und legte mein Kinn darauf. Si’eh fuhr fort, meine Haare zu streicheln und tätschelte mich wie eine Katze.

»Sie war auch so reserviert wie du, aber das ist die einzige Ähnlichkeit. Sie war ... kühler als du. Sie wurde nicht so schnell ärgerlich — obwohl sie ein ähnliches Temperament hatte wie du. Es war großartig, wenn sie die Beherrschung verlor. Wir haben alles versucht, sie nicht zu verärgern.«

»Du hörst dich an, als ob du Angst vor ihr hattest.«

»Natürlich. Wie hätten wir keine haben können?«

Ich stutzte verwirrt. »Sie war deine Mutter.«

Si’eh zögerte, und ich bemerkte darin ein Echo meiner eigenen Gedanken über die Kluft zwischen uns. »Das ist ... schwierig zu erklären.«

Ich hasste diese Kluft. Ich wollte sie überwinden, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob das überhaupt möglich war. Also sagte ich: »Versuch es.«

Seine Hand hielt auf meinem Haar inne, und dann kicherte er mit warmer Stimme. »Ich bin froh, dass du nicht einer von meinen Anhängern bist. Du würdest mich mit deinem Ansinnen in den Wahnsinn treiben.«

»Würdest du überhaupt meinen Gebeten Gehör schenken?« Ich konnte nicht anders, als bei dem Gedanken zu lächeln.

»Oh, natürlich. Aber ich würde dir vielleicht einen Salamander ins Bett schmuggeln, um es dir heimzuzahlen.«

Ich lachte, was mich überraschte. Das war das erste Mal an dem Tag, dass ich mich wie ein Mensch fühlte. Wie jedes Gelächter hielt es nicht lange an, aber ich fühlte mich danach besser. Impulsiv rückte ich seitwärts an seine Beine heran, lehnte mich dagegen und legte meinen Kopf auf seine Knie. Seine Hand blieb die ganze Zeit auf meinem Haar.

»Ich brauchte keine Muttermilch, als ich geboren wurde.« Si’eh sprach langsam, aber diesmal spürte ich keine Lüge. Ich glaube, es war nur schwer für ihn, die richtigen Worte zu finden. »Es gab keinen Grund, mich vor Gefahren zu beschützen oder mir Gutenachtlieder zu singen. Ich konnte die Lieder zwischen den Sternen hören, und ich war gefährlicher für die Welten, die ich besuchte, als sie es je für mich hätten sein können. Und trotzdem — verglichen mit den Drei war ich schwach. Ich war in vielen Dingen wie sie, aber offensichtlich unterlegen. Naha war derjenige, der sie davon überzeugte, mich am Leben zu lassen und zu sehen, was aus mir werden würde.«

Ich stutzte. »Sie wollte ... dich töten?«

»Ja.« Er kicherte über mein Entsetzen. »Sie hat dauernd etwas getötet, Yeine. Sie war Tod genauso wie Leben, das Zwielicht mit dem Sonnenaufgang. Jeder vergisst das.«

Ich drehte mich um und starrte ihn an, woraufhin er seine Hand von meinem Haar zurückzog. In dieser Geste lag etwas Bedauerndes und Zögerliches, das eines Gottes nicht würdig war, und das ärgerte mich plötzlich. Es war in jedem seiner Worte. Egal, wie unverständlich Beziehungen zwischen Göttern sein mögen, er war ein Kind gewesen und Enefa seine Mutter — und er hatte sie mit der Hingabe eines jeden Kindes geliebt. Trotzdem hätte sie ihn beinahe getötet, wie ein Züchter ein untaugliches Fohlen erlegt.

Oder wie eine Mutter einen gefährlichen Säugling erstickt ...

Nein. Das war etwas anderes gewesen.

»So langsam kann ich diese Enefa nicht mehr leiden«, sagte ich.

Si’eh schrak überrascht auf, starrte mich eine ganze Weile an und fing dann an zu lachen. Es war ein ansteckendes, sinnloses Gelächter; Humor, der aus Qual geboren wurde. Ich lächelte ebenfalls.

»Danke«, sagte Si’eh und gluckste immer noch. »Ich hasse es, diese Form anzunehmen. Dann werde ich immer so rührselig.«

»Sei wieder ein Kind.« Ich mochte ihn so lieber.

»Geht nicht.« Er zeigte auf die Barriere. »Das zehrt zu sehr an meinen Kräften.«

»Ah.« Ich fragte mich plötzlich, Welcher sein Urzustand sein mochte: das Kind? Oder dieser weltenmüde Erwachsene, der immer dann ans Licht kam, wenn er nicht aufpasste? Oder noch etwas völlig anderes? Aber das erschien mir zu privat und vielleicht zu schmerzhaft, um danach zu fragen, also tat ich es nicht.

»Was wirst du tun?«, fragte Si’eh.

Ich legte meinen Kopf wieder auf seine Knie und sagte nichts.

Si’eh seufzte. »Wenn ich wüsste, wie ich dir helfen könnte, würde ich es tun. Das weißt du doch, oder?«

Die Worte gaben mir mehr Wärme, als ich erwartet hatte. Ich lächelte ihn an. »Ja. Ich weiß, obwohl ich nicht behaupten kann, dass ich es verstehe. Ich bin nur eine Sterbliche wie all die anderen, Si’eh.«

»Nicht wie all die anderen.«

»Doch.« Ich sah ihn an. »Egal, wie ... anders ich sein mag ...« Ich wollte es nicht laut aussprechen. Es stand zwar niemand nah genug, um uns zu belauschen, aber es schien dumm, ein Risiko einzugehen. »Du hast es selbst gesagt. Selbst wenn ich einhundert Jahre alt würde, mein Leben wäre immer noch nur ein Lidschlag im Vergleich zu eurem. Ich sollte nichts für euch sein, genau wie die anderen.« Ich nickte in Richtung der Menschenmenge.

Er lachte leise, die Bitterkeit war wieder da. »O Yeine. Du verstehst es wirklich nicht. Wenn die Sterblichen uns wirklich nichts bedeuteten, wäre unser Leben so viel einfacher. Und deins auch.«

Dazu konnte ich nichts sagen. Also schwieg ich. Er schwieg ebenfalls, und um uns herum feierte die Dienerschaft weiter.

Als ich endlich den Zentralhof verließ, war es fast Mitternacht. Die Party war immer noch in vollem Gange, aber T’vril ging mit mir zusammen und brachte mich zu meinem Quartier zurück. Er hatte etwas getrunken, obwohl es nicht so viel war wie bei einigen anderen, die ich gesehen hatte. »Im Gegensatz zu denen muss ich morgen früh einen klaren Kopf haben«, sagte er, als ich ihn darauf hinwies.

Wir hielten vor meiner Wohnungstür an. »Danke«, sagte ich und meinte es auch so.

»Du hattest keinen Spaß«, sagte er. »Ich habe es gesehen: Du hast den ganzen Abend nicht getanzt. Hast du wenigstens ein Glas Wein getrunken?«

»Nein. Aber es hat geholfen.« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Ich will nicht bestreiten, dass ein Teil von mir die ganze Zeit gedacht hat ›Ich verschwende ein Sechstel meines Lebens‹.« Ich lächelte, und T’vril zog eine Grimasse. »Aber diese Zeit, umgeben von so viel Lebensfreude zu verbringen ... ich fühle mich besser dadurch.«

In seinen Augen war so viel Mitleid. Ich fragte mich wieder einmal, warum er mir half. Ich nahm an, dass er sich wie eine Art Leidensgenosse von mir fühlte, mich vielleicht sogar mochte. Es war rührend, das zu glauben; vielleicht streckte ich deshalb meine Hand aus und legte sie an seine Wange. Er blinzelte überrascht, entzog sich aber nicht. Das freute mich, und so gab ich einem Impuls nach.

»Ich bin in deinen Augen wahrscheinlich nicht hübsch«, sagte ich ins Blaue hinein. Seine Wange unter meinen Fingern fühlte sich leicht kratzig an, und mir fiel ein, dass die Männer der Inselvölker sich gerne Bärte stehen ließen. Ich fand die Idee exotisch und faszinierend.

Ein halbes Dutzend Gedanken huschten innerhalb eines Atemzuges überT’vrils Gesicht, dann lächelte er langsam. »Nun ja, das

Gleiche gilt auch umgekehrt«, sagte er. »Ich habe die Paradepferde, die ihr Darre Männer nennt, gesehen.«

Ich kicherte und war plötzlich nervös. »Und wir sind natürlich verwandt ...«

»Das hier ist Elysium, Cousine.« Erstaunlich, wie das als Erklärung für alles diente.

Ich öffnete die Tür zu meiner Wohnung, nahm seine Hand und zog ihn hinein.

Er war seltsam sanft — oder vielleicht erschien es mir nur seltsam, weil ich wenig Erfahrung hatte, mit der ich ihn hätte vergleichen können. Ich war überrascht, als ich herausfand, dass er unter seiner Kleidung noch blasser war und dass seine Schultern mit schwachen Flecken bedeckt waren, die denen eines Leoparden ähnelten. Nur waren diese kleiner und zufällig verteilt. Er fühlte sich an mich gedrückt normal an, schlank und stark, und ich mochte die Töne, die er von sich gab. Er versuchte, mir Lust zu bereiten, aber ich war zu verkrampft. Mir waren meine Einsamkeit und meine Angst zu sehr bewusst, also gab es keine Sturmwinde für mich. Es machte mir nicht so viel aus.

Ich war nicht daran gewöhnt, jemanden in meinem Bett zu haben, und so schlief ich danach unruhig. In den frühen Morgenstunden schließlich stand ich auf und ging ins Badezimmer. Ich hoffte, dass ein Bad mir helfen würde, einzuschlafen. Ich ließ Wasser in die Badewanne und ins Waschbecken laufen und spritzte es mir ins Gesicht. Dann starrte ich mich im Spiegel an. Es gab neue Anstrengungsfalten um meine Augen herum, die mich älter aussehen ließen. Ich berührte meinen Mund und verspürte Melancholie, als ich an das Mädchen dachte, das ich nur ein paar Monate vorher gewesen war. Sie war nicht unschuldig gewesen — das kann sich kein Anführer eines Volkes erlauben — aber sie war mehr oder weniger glücklich gewesen. Wann war das letzte Mal gewesen, dass ich mich glücklich gefühlt hatte?

Plötzlich war ich böse auf T’vril. Lust hätte mich wenigstens entspannt und vielleicht meine Stimmung aus ihren düsteren Bahnen gerissen. Gleichzeitig war es mir unangenehm, so enttäuscht zu sein, weil ich T’vril mochte. Es war ebenso mein Fehler wie seiner.

Aber auf dem Fuße folgte ungewollt ein noch viel verstörender Gedanke — einer, gegen den ich für lange Sekunden angekämpft hatte und der zwischen krankhafter Faszination der verbotenen Erregung und abergläubischer Angst gefangen war.

Ich wusste, warum ich bei T’vril keine Befriedigung erfahren hatte.

Flüstere niemals seinen Namen in der Finsternis

Nein. Das war Unvernunft. Nein, nein, nein.

es sei denn, du willst, dass er antwortet.

In mir war ein furchtbarer, irrsinniger Leichtsinn. Er wirbelte herum und krachte in meinem Kopf, ein Durcheinander aus Gedankenfetzen. Ich konnte sehen, wie er sich manifestierte, als ich in den Spiegel starrte; meine Augen starrten zurück, viel zu weit, die Pupillen zu groß. Ich leckte meine Lippen, und für einen Moment waren es nicht meine. Sie gehörten einer anderen Frau, die viel tapferer und dümmer war als ich.

Das Badezimmer war wegen der leuchtenden Wände nicht dunkel, aber Finsternis kommt in vielfältiger Form. Ich schloss meine Augen und sprach mit der Finsternis hinter meinen Lidern.

»Nahadoth«, sagte ich.

Meine Lippen bewegten sich kaum. Ich hatte dem Wort gerade genug Atem geschenkt, dass es hörbar wurde, nicht mehr. Ich hörte mich nicht einmal selbst über das laufende Wasser und das Hämmern meines Herzens hinweg. Aber ich wartete. Zwei Atemzüge. Drei.

Nichts geschah.

Für einen kurzen Moment verspürte ich eine völlig absurde Enttäuschung. Ihr folgten erst Erleichterung und dann Wut auf mich selber. Was zum Mahlstrom war bloß los mit mir? Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nichts so Dummes getan. Ich war wohl dabei, meinen Verstand zu verlieren.

Ich wandte mich von dem Spiegel ab — und dann wurden die leuchtenden Wände dunkel.

»Was ...«, fing ich an, und dann legte sich ein Mund über meinen.

Selbst wenn die Logik mir nicht gesagt hätte, wer es war, der Kuss hätte es getan. Er schmeckte nach nichts, sondern war nur feucht und stark. Eine hungrige, bewegliche Zunge glitt wie eine Schlange um meine. Sein Mund war kälter, als der von T’vril es gewesen war. Aber als Reaktion durchströmte mich eine andere Form der Hitze, und als Hände begannen, meinen Körper zu erforschen, konnte ich nicht anders, als mich ihnen entgegenzustrecken. Ich atmete schneller, als der Mund meinen schließlich freigab und sich an meinem Hals herunterbewegte.

Ich wusste, ich hätte ihn aufhalten sollen. Ich wusste, dass er so am liebsten tötete. Aber als unsichtbare Seile mich hochhoben und gegen die Wand drückten und Finger zwischen meine Schenkel glitten, um eine sanfte Musik zu spielen, wurde das Denken unmöglich. Dieser Mund, sein Mund war überall. Er musste ein Dutzend davon haben. Jedes Mal, wenn ich stöhnte oder aufschrie, küsste er mich und trank das Geräusch wie Wein. Wenn ich mich zusammenreißen konnte, drückte er sein Gesicht in mein Haar, und sein Atem ging schnell und leicht in meinem Ohr. Ich versuchte, meine Arme auszustrecken und ihn zu umarmen, aber irgendetwas hielt meine Arme an meiner Seite fest. Dann taten seine Finger etwas anderes, und ich schrie, schrie aus Leibeskräften — nur hatte er bereits meinen Mund wieder bedeckt, und es gab kein Geräusch, kein Licht, keine Bewegung — er hatte alles verschlungen. Es gab nichts außer Lust, und sie schien Ewigkeiten anzudauern. Wenn er mich auf der Stelle getötet hätte, wäre ich glücklich gestorben.

Dann war es weg.

Ich öffnete meine Augen.

Ich saß zusammengesunken auf dem Badezimmerboden. Meine Beine waren schwach und wackelig. Die Wände leuchteten wieder. Dampfendes Wasser füllte die Badewanne neben mir bis zum Rand; die Hähne waren zugedreht. Ich war allein.

Ich stand auf, badete und ging wieder zu Bett. T’vril murmelte etwas im Schlaf und warf einen Arm über mich. Ich rollte mich an ihn gekuschelt zusammen und erzählte mir für den Rest der Nacht, dass ich vor Angst immer noch zitterte und aus keinem anderen Grund.

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