Mutter

T’vril sagte mir, dass Elysium manchmal Leute auffrisst. Schließlich wurde es von den Enefadeh gebaut, und ein Zuhause zu haben, das von wütenden Göttern erbaut wurde, birgt einige Risiken. In Neumondnächten, wenn die Sterne sich hinter Wolken verstecken, hören die Steinmauern auf zu leuchten. Bright Itempas hat dann keine Macht. Die Dunkelheit bleibt nie lange — höchstens ein paar Stunden —, aber während sie andauert, bleiben die meisten Arameri in ihren Zimmern und sprechen leise. Wenn sie durch Elysiums Flure gehen müssen, bewegen sie sich schnell und verstohlen und achten genau darauf, wo sie ihre Füße hinsetzen. Weil, das muss man wissen, die Böden sich vollkommen zufällig öffnen und die Unachtsamen verschlingen. Suchtrupps begeben sich in die ungenutzten Räume, die sich darunter befinden, aber die Leichen werden nie gefunden. Ich weiß jetzt, dass das wahr ist. Aber noch wichtiger ist — ich weiß\ wo die Verschwundenen gehlieben sind.

»Bitte erzählt mir von meiner Mutter«, sagte ich zu Viraine.

Er sah von dem Apparat, an dem er arbeitete, auf. Dieser sah aus wie eine spinnenartige Masse aus zusammengefügtem Metall und Leder, und ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wozu er dienen sollte. »T’vril hat mir erzählt, dass er Euch letzte Nacht zu ihrem Zimmer geschickt hat«, sagte er und rutschte auf seinem Hocker herum, um mich anzusehen. Sein Ausdruck war nachdenklich. »Wonach sucht Ihr?«

Ich merkte mir:T’vril war nicht absolut vertrauenswürdig. Aber das überraschte mich nicht; T’vril hatte zweifellos seine eigenen Kämpfe zu bestehen. »Die Wahrheit.«

»Ihr glaubt Dekarta nicht?«

»Würdet Ihr das tun?«

Er kicherte. »Ihr habt auch keinen Grund, mir zu glauben.«

»Ich habe keinen Grund, irgendjemandem in diesem ganzen, stinkenden Amn-Fuchsbau zu glauben. Aber da ich nicht fortgehen kann, habe ich keine andere Wahl, als durch den Dreck zu kriechen.«

»O weh. Ihr hört Euch fast genauso an wie sie.« Zu meiner Überraschung schien er über meine Unverschämtheit erfreut. Er begann tatsächlich zu lächeln, wenn auch mit einem Hauch Herablassung. »Zu plump allerdings. Zu geradeheraus. Kinneths Beleidigungen waren so subtil, dass man erst Stunden später bemerkte, wenn sie einen als Dreck bezeichnet hatte.«

»Meine Mutter hat nie jemanden beleidigt, es sei denn, sie hatte einen guten Grund. Was habt Ihr gesagt, um sie zu provozieren?«

Er zögerte nur einen Herzschlag lang, aber ich bemerkte befriedigt, dass sein Lächeln verschwand.

»Was wollt Ihr wissen?«, fragte er.

»Warum ließ Dekarta meine Mutter umbringen?«

»Die einzige Person, die diese Frage beantworten könnte, ist Dekarta. Habt Ihr die Absicht, mit ihm zu sprechen?«

Irgendwann sicherlich. Aber er war nicht der Einzige, der eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten konnte. »Warum kam sie in jener letzten Nacht hierher? Der Nacht, in der Dekarta endgültig klar wurde, dass sie nicht zurückkehren wird?«

Die Überraschung hatte ich in Viraines Gesicht erwartet. Was ich nicht erwartet hatte, war die kalte Wut, die ihr auf dem Fuße folgte.

»Mit wem habt Ihr gesprochen? Den Bediensteten? Si’eh?«

Manchmal kann die Wahrheit einen Gegner aus dem Gleichgewicht bringen.

»Nahadoth.«

Er zuckte zurück, dann kniff er die Augen zusammen. »Ich verstehe. Er wird Euch töten. Es ist seine Lieblingsbeschäftigung, mit den Arameri zu spielen, die töricht genug sind, ihn zähmen zu wollen.«

»Scimin...«

»Hat nicht die Absicht ihn zu zähmen. Je abscheulicher er wird, desto glücklicher ist sie. Wie ich höre, hat er die letzte Närrin, die sich in ihn verliebt hat, quer über den Innenhof verteilt.«

Ich erinnerte mich an Nahadoths Lippen an meiner Kehle und versuchte, einen Schauer zu unterdrücken, aber es gelang mir nur zum Teil. Ich hatte mir nicht ausgemalt, dass der Tod die Folge sein könnte, wenn man einem Gott beiwohnte, aber es überraschte mich nicht. Die Stärke eines sterblichen Mannes hatte Grenzen. Er verausgabte sich und schlief. Er konnte ein guter Liebhaber sein, aber selbst seine besten Fähigkeiten beruhten nur auf Vermutungen — denn für jede Liebkosung, mit der er eine Frau in den siebten Himmel hob, konnte er zehn ausprobieren, mit denen er sie zurück auf die Erde holte.

Nahadoth würde mich in den siebten Himmel heben und mich dort behalten. Er würde mich immer tiefer in die kalte, luftlose Dunkelheit seines wahren Herrschaftsbereichs ziehen. Und wenn ich dort erstickte, wenn mein Fleisch zerplatzte oder meine Seele zerbrach ... na ja. Viraine hatte recht — das wäre allein meine Schuld. Ich lächelte Viraine reuevoll zu und zeigte ihm meine sehr echte Angst. »Ja, Nahadoth wird mich wahrscheinlich töten — wenn Ihr Arameri ihm nicht zuvorkommt. Wenn Euch das beunruhigt, gibt es noch die Möglichkeit, dass Ihr mir helft, indem Ihr meine Fragen beantwortet.«

Viraine schwieg lange, seine Gedanken waren hinter der Maske seines Gesichts unergründlich. Schließlich überraschte er mich erneut, stand von seinem Arbeitstisch auf und ging zu einem der riesigen Fenster. Von diesem aus konnte er die ganze Stadt und die Berge dahinter sehen.

»Ich kann nicht sagen, dass ich mich gut an jene Nacht erinnere«, sagte er. »Das ist zwanzig Jahre her. Ich war gerade erst frisch von der Schreiberakademie hierher versetzt worden.«

»Bitte erzählt mir alles, an das Ihr Euch erinnert«, sagte ich.

Schreiber lernen als Kinder verschiedene Sprachen der Sterblichen, bevor sie damit beginnen, die Sprache der Götter zu erlernen. Das hilft ihnen, die Flexibilität der Sprache und auch des Geistes zu verstehen, da es in einigen Sprachen Begriffe gibt, die in anderen nicht einmal annähernd umgesetzt werden können. So funktioniert auch die Sprache der Götter, sie erlaubt die Begriffsbildung des Unmöglichen. Und deshalb kann man den besten Schreibern nicht trauen.

»In der Nacht regnete es. Ich erinnere mich daran, weil Elysium nicht oft von Regen berührt wird; die schwersten Wolken regnen meistens schon früh ab. Aber Kinneth wurde auf dem kurzen Weg von ihrer Kutsche zum Eingang völlig durchnässt. Sie zog eine Wasserspur durch jeden Flur, den sie entlangging.«

Was bedeutete, dass er sie beobachtet hatte, als sie vorbeiging. Entweder hatte er in einem Seitenflur gelauert, als sie vorbeiging, oder er war ihr gefolgt, als das Wasser noch nicht getrocknet war.

Hatte Si’eh nicht gesagt, dass Dekarta die Flure in jener Nacht hatte räumen lassen? Viraine musste den Befehl missachtet haben.

»Jeder wusste, warum sie gekommen war, oder zumindest dachten sie das. Niemand hatte erwartet, dass die Ehe halten würde. Es schien unfassbar, dass eine so starke Frau, eine Frau, die zum Regieren erzogen worden war, alles für nichts aufgeben würde.« Durch die Reflexion des Glases sah Viraine mich an. »Nichts für ungut.«

Für einen Arameri war das geradezu höflich. »Schon gut.«

Er lächelte dünn. »Aber es war für ihn, wisst Ihr. Der Grund, warum sie in der Nacht herkam. Ihr Mann, Euer Vater; sie war nicht gekommen, um ihre Position zurückzuverlangen, sie kam, weil er vom Wandelnden Tod befallen war und sie wollte, dass Dekarta ihn rettet.«

Ich starrte ihn an und fühlte mich, als ob ich eine Ohrfeige bekommen hätte.

»Sie hatte ihn sogar mitgebracht. Einer der Bediensteten im Vorhof spähte in die Kutsche und sah ihn darin, schweißgebadet und fiebernd, wahrscheinlich im dritten Stadium. Allein die Reise musste ihn körperlich beansprucht und die Krankheit beschleunigt haben. Sie setzte alles auf Dekartas Hilfe.«

Ich schluckte. Ich wusste, dass mein Vater irgendwann am Tod erkrankt war. Ich wusste, dass meine Mutter auf dem Höhepunkt ihrer Macht aus Elysium geflohen war, verbannt für das Verbrechen, unter ihrem Niveau zu lieben. Aber dass die beiden Vorgänge zusammenhingen ... »Offenbar hatte sie Erfolg.«

»Nein. Als sie ging, um nach Darr zurückzukehren, war sie zornig. Dekarta war so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt hatte; ich dachte, es würde Tote geben. Aber er ordnete lediglich an, dass man Kinneth aus den Familienpapieren streichen sollte, nicht nur als seine Erbin — das war bereits geschehen —, sondern auch als Arameri. Er befahl mir, ihr Blutsiegel zu verbrennen, was auch aus der Entfernung möglich ist, und ich tat es. Er machte sogar eine öffentliche Mitteilung. Die ganze Gesellschaft sprach davon — das erste Mal, dass ein Vollblut-Arameri verstoßen wurde seit, oh, Jahrhunderten.«

Ich schüttelte langsam den Kopf. »Und mein Vater?«

»Soweit ich es sagen kann, war er immer noch krank, als sie uns verließ.«

Aber mein Vater hatte den Wandelnden Tod überlebt. Ein Überleben war nicht ausgeschlossen, obgleich sehr selten, besonders dann, wenn jemand bereits das dritte Stadium erreicht hatte.

Vielleicht hatte Dekarta seine Meinung geändert? Auf seine Anordnung hin wären die Palastärzte der Kutsche nachgeritten, hätten sie eingeholt und zurückgebracht. Dekarta hätte sogar die Enefadeh dazu ...

Moment.

Moment.

»Deshalb kam sie her«, sagte Viraine. Er wandte sich vom Fenster ab und schaute mich ernüchtert an. »Seinetwegen. Es gibt keine große Verschwörung und auch kein Geheimnis — jeder Diener, der lange genug hier ist, hätte Euch das erzählen können. Also warum wart Ihr so darauf erpicht, es zu erfahren, dass Ihr mich gefragt habt?«

»Weil ich dachte, dass Ihr mir mehr sagen würdet als ein Diener«, antwortete ich. Ich hatte Schwierigkeiten, meiner Stimme einen gleichmäßigen Klang zu verleihen, damit er nicht hinter meinen Verdacht kam. »Sofern ich Euch entsprechend motivieren konnte.«

»Habt Ihr mich deswegen provoziert?« Er schüttelte seinen Kopf und seufzte. »Nun ja. Gut zu wissen, dass Ihr wenigstens ein paar Eigenschaften der Arameri geerbt habt.«

»Die scheinen hier nützlich zu sein.«

Er neigte sarkastisch seinen Kopf. »Sonst noch etwas?«

Ich brannte darauf, noch mehr zu erfahren, aber nicht von ihm. Trotzdem würde es mir nicht gut zu Gesicht stehen, einen eiligen Eindruck zu machen.

»Stimmt Ihr Dekarta zu?«, fragte ich, um die Unterhaltung in Gang zu halten. »Dass meine Mutter diesen Ketzer härter behandelt hätte?«

»O ja.« Ich blinzelte überrascht, und er lächelte. »Kinneth war wie Dekarta, eine der wenigen Arameri, die unsere Rolle als Auserwählte von Itempas ernst genommen hat. Sie brachte Ungläubigen den Tod. Sie brachte jedem den Tod, der den Frieden bedrohte — oder ihre Macht.« Er schüttelte seinen Kopf, und sein Lächeln war wehmütig. »Ihr denkt, dass Scimina böse ist? Sci- mina hat keinen Weitblick, keine Vorstellungskraft. Eure Mutter war die leibhaftige Zielgerichtetheit.«

Er hatte wieder seinen Spaß, als er das Unbehagen sah, das wie ein Siegel auf meinem Gesicht stand. Es mag ja sein, dass ich jung genug war, um sie durch die verehrenden Augen der Kindheit zu sehen, aber so, wie man meine Mutter seit meiner Ankunft in Elysium beschrieben hatte, passte das nicht zu meinen Erinrierungen. Ich erinnerte mich an eine sanfte, warme Frau mit trockenem Humor. Sie konnte unbarmherzig sein, das schon — aber das stand der Gemahlin eines Herrschers auch zu, besonders, wenn man die Umstände in Darr zu dem Zeitpunkt berücksichtigt. Aber zu hören, dass sie auf einer Stufe mit Scimina stand und von Dekarta gelobt wurde ... das war nicht die Frau, die mich aufgezogen hatte. Das war eine andere Frau mit dem Namen meiner Mutter und ihrem Hintergrund, aber einer völlig anderen Seele.

Viraine spezialisierte sich auf die Magien der Seele. Habt Ihr etwas mit meiner Mutter gemacht?, wollte ich fragen. Aber die Erklärung wäre viel, viel zu einfach gewesen.

»Ihr solltet wissen, dass Ihr Eure Zeit verschwendet«, sagte Viraine. Er sprach leise, und sein Lächeln war während meines langen Schweigens verschwunden. »Eure Mutter ist tot. Ihr seid noch am Leben. Ihr solltet mehr Zeit darauf verwenden, dass das auch so bleibt, und weniger Zeit damit, Euch zu ihr zu gesellen.«

War es das, was ich tat?

»Guten Tag, Schreiber Viraine«, sagte ich und ging.

Danach verlor ich die Orientierung — im übertragenen und im wörtlichen Sinne.

Eigentlich ist es schwer, sich in Elysium zu verlaufen. Sicher, die Flure sehen alle gleich aus. Die Aufzüge sind auch manchmal verwirrt und bringen ihre Passagiere dorthin, wo sie am liebsten ·wären, anstatt dorthin, wo sie hin wollten. Man sagte mir, dass dies gerade für Kuriere mit Liebeskummer ein Problem ist. Dennoch sind die Hallen normalerweise voller Diener, die jedem, der ein Vollblutzeichen trägt, nur zu gerne weiterhelfen.

Ich bat nicht um Hilfe. Ich wusste, dass das dumm war, aber ein Teil von mir wollte keine Richtung. Viraines Worte hatten mich tief getroffen, und während ich durch die Flure ging, versorgte ich gedanklich meine Wunden.

Es stimmte, dass ich den Erbschaftswettbewerb vernachlässigt hatte, um mehr über meine Mutter zu erfahren. Die Wahrheit zu erfahren würde die Toten nicht wieder zum Leben erwecken, aber es konnte meinen Tod bedeuten. Vielleicht hatte Viraine recht, und mein Verhalten zeigte eine gewisse Tendenz zum Selbstmord. Seit dem Tod meiner Mutter hatte sich noch nicht einmal eine Jahreszeitenwende vollzogen. In Darr hätte ich genug Zeit und meine Familie an meiner Seite gehabt, um richtig trauern zu können, aber die Einladung meines Großvaters hatte das verkürzt. Hier in Elysium versteckte ich meine Trauer — was nicht hieß, dass ich sie weniger empfand.

In diesem Gemütszustand blieb ich stehen und fand mich an der Palastbibliothek wieder.

T’vril hatte sie mir an meinem ersten Tag in Elysium gezeigt. Unter normalen Umständen wäre ich zutiefst beeindruckt gewesen; die Bibliothek erstreckte sich über eine Fläche, die größer war als der Tempel von Sar-enna-nem in meinem Land. Die Bibliothek Elysiums enthielt mehr Bücher, Schriftrollen, Tafeln und Sphären, als ich in meinem ganzen Leben zusammengenommen gesehen hatte. Aber seit meiner Ankunft in Elysium benötigte ich ein ganz eigenartiges Wissen, und sogar die geballte Lehre des Königreichs der Hunderttausend konnte mir da nicht weiterhelfen.

Dennoch ... aus irgendeinem Grund fühlte ich mich jetzt von dem Ort angezogen.

Ich ging durch die Eingangshalle der Bibliothek, und nur das leise Echo meiner Schritte empfing mich. Die Zimmerdecke war dreimal mannshoch und wurde von riesigen runden Säulen und einem Labyrinth aus Bücherschränken, die vom Boden bis zur Decke reichten, gestützt. Sowohl die Schränke als auch die Säulen waren voll unzähliger Regalbretter mit Büchern und Schriftrollen, einige konnte man nur mit Leitern, die ich an jeder Ecke sah, erreichen. Hier und da befanden sich Tische und Stühle, an denen man sich niederlassen und stundenlang lesen konnte.

Trotzdem schien sonst niemand hier zu sein, was mich überraschte. Waren die Arameri so an Luxus gewöhnt, dass sie sogar diesen Schatzfundus für selbstverständlich hielten? Ich blieb stehen und betrachtete eine Mauer aus Büchern, die so dick waren wie mein Kopf, und dann erkannte ich, dass ich keins davon lesen konnte. Senmite — die Sprache der Amn — war seit dem Aufstieg der Arameri die Amtssprache. Die meisten Völker durften trotzdem immer noch ihre eigenen Sprachen sprechen, solange sie auch Senmite lernten. Das hier sah wie Teman aus. Ich schaute mir die nächste Wand an: Kenti. Irgendwo hier drin war wahrscheinlich auch ein Schrank mit Darren, aber ich hatte keine Ahnung, wo ich suchen sollte.

»Habt Ihr Euch verlaufen?«

Ich fuhr erschrocken zusammen, drehte mich um und sah eine kleine, gedrungene alte Amn-Frau, die nicht weit von mir entfernt um die Krümmung einer Säule spähte. Ich hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Ihr mürrischer Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass sie wohl ebenfalls angenommen hatte, allein in der Bibliothek zu sein.

»Ich ...« Mir wurde klar, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich war ohne bestimmte Absicht hierhergekommen. Um Zeit zu gewinnen, sagte ich: »Gibt es hier ein Regal mit Darren? Oder wo sind die Senmite-Bücher?«

Wortlos zeigte die alte Frau auf etwas hinter mir. Ich drehte mich um und sah drei Regale voller Darren-Bücher. »Senmite fängt um die Ecke an.«

Ich kam mir sehr dumm vor, nickte zum Dank und sah mir das Darren-Regal an. Einige Minuten lang starrte ich die Bücher an, bevor mir klar wurde, dass die eine Hälfte Poesie und die andere Hälfte eine Sammlung von Märchen war, die ich mein ganzes Leben lang gehört hatte. Nichts Sinnvolles.

»Sucht Ihr etwas Bestimmtes?« Die Frau stand jetzt direkt neben mir. Ich schrak zusammen, weil ich nicht gehört hatte, dass sie sich bewegt hatte.

Durch ihre Frage merkte ich plötzlich, dass es wirklich etwas gab, das ich in der Bücherei in Erfahrung bringen konnte. »Informationen über den Krieg der Götter«, sagte ich.

»Religiöse Texte sind in der Kapelle, nicht hier.« Jetzt sah die Frau noch mürrischer aus. Vielleicht war sie die Bibliothekarin, wenn ja, hatte ich sie wohl beleidigt. Die Bibliothek hatte offensichtlich ohnehin zu wenig Publikumsverkehr, da musste man sie nicht noch mit einem anderen Ort verwechseln.

»Ich möchte keine religiösen Texte«, sagte ich schnell, in der Hoffnung, sie wieder zu beruhigen. »Ich möchte ... historische

Zeugnisse. Aufzeichnungen über Todesfälle. Journale, Briefe, Auslegungen von Schreibern ... alles, was zu der Zeit geschrieben wurde.«

Die Frau kniff ihre Augen zusammen und sah mich an. Außer ihr hatte ich noch keinen Erwachsenen in Elysium gesehen, der kleiner war als ich, was mich sicherlich getröstet hätte, wäre da nicht der feindselige Ausdruck auf ihrem Gesicht gewesen. Ich staunte über diese Feindseligkeit, weil sie dieselbe einfache weiße Uniform trug wie die meisten der Bediensteten. Eigentlich reichte sonst der Anblick des Vollblutzeichens auf meiner Stirn, um sie bis zur Unterwürfigkeit höflich werden zu lassen.

»Es gibt solche Dinge«, sagte sie. »Aber alle vollständigen Berichte über den Krieg sind von den Priestern massiv zensiert worden. Möglicherweise gibt es einige unberührte Quellen in privaten Sammlungen — man sagt, dass Lord Dekarta die wertvollsten in seinem Domizil verwahrt.«

Ich hätte es wissen müssen. »Ich würde gerne alles sehen, was Ihr habt.« Nahadoth hatte mich neugierig gemacht. Alles, was ich wusste, hatte ich von den Priestern erfahren. Vielleicht konnte ich aus den Lügen etwas Wahrheit herausholen, wenn ich die Berichte selber las.

Die alte Frau schürzte nachdenklich ihre Lippen und machte eine knappe Geste, dass ich ihr folgen sollte. »Hier entlang.«

Ich folgte ihr durch die gewundenen Gänge, und mein Staunen wuchs, als mir klar wurde, wie groß dieser Ort wirklich war. »Diese Bibliothek muss das gesamte Wissen der Welt enthalten.«

Meine verdrießliche Begleiterin schnaubte. »Nicht mehr als aus einigen Flecken der Menschheit über einige Jahrtausende hinweg. Und das auch noch ausgesucht und sortiert, zurechtgestutzt und verdreht, bis es den Machthabern in den Kram passte.«

»Selbst in verunreinigtem Wissen liegt noch Wahrheit, wenn man genau liest.«

»Nur wenn man weiß, dass das Wissen verunreinigt ist.« Die Frau ging um eine weitere Ecke und blieb stehen. Wir hatten eine Art Nexus in der Mitte des Labyrinths erreicht. Vor uns standen einige Bücherschränke, die wie eine gigantische sechsseitige Säule angeordnet worden waren. Jeder Schrank war gute fünf Fuß breit und so hoch und stabil, dass er die Zimmerdecke, die etwa zwanzig Fuß über uns war, stützte. Dieser Aufbau hatte etwas von einem jahrhundertealten Baumstamm. »Hier ist das, was Ihr sucht.«

Ich machte einen Schritt auf die Säule zu und blieb dann plötzlich unsicher stehen. Als ich mich umdrehte, merkte ich, dass die alte Frau mich mit lauerndem Blick beobachtete, was mich beunruhigte. Ihre Augen hatten die Farbe von minderwertigem Zinn.

»Entschuldigt«, sagte ich, von einem Instinkt angetrieben. »Hier gibt es sehr viel. Was schlagt Ihr vor, womit ich anfangen soll?«

Sie schaute finster und sagte: »Woher soll ich das wissen?« Dann drehte sie sich um und verschwand zwischen den Stapeln, bevor ich mich von dem Schock über diese offen zur Schau gestellte Unhöflichkeit erholen konnte.

Ich hatte allerdings andere Sorgen als eine übellaunige Bibliothekarin, und so wandte ich meine Aufmerksamkeit der Säule zu. Ich wählte zufällig ein Regal aus, überflog die Buchrücken nach Titeln, die interessant klangen, und begann meine Jagd.

Zwei Stunden später — ich hatte mich auf den Boden des Verbindungsraums gesetzt und Bücher sowie etliche Schriftrollen um mich herum ausgebreitet — ergriff mich Verzweiflung. Stöhnend warf ich mich mitten in den Büchern nach hinten und lag ausgebreitet auf ihnen. Wenn die Bibliothekarin mich so gesehen hätte, wäre sie mit Sicherheit böse geworden. Aufgrund der Kommentare der alten Frau hatte ich gedacht, dass der Krieg der Götter so gut wie nicht erwähnt werden würde, aber das Gegenteil war der Fall. Es gab vollständige Augenzeugenberichte des Kriegs. Es gab Berichte über andere Berichte und kritische Analysen über diese Berichte. Es gab so viele Informationen, dass ich Monate gebraucht hätte, um alles zu lesen, selbst wenn ich ab sofort ohne Pause weitergelesen hätte.

So sehr ich es auch versuchte, ich konnte die Wahrheit nicht aus dem, was ich gelesen hatte, herausfiltern. Alle Berichte bezogen sich auf dieselben Vorkommnisse: die Schwächung der Welt, in der alle Lebewesen von Wäldern bis hin zu starken, jungen Männern krank geworden waren und starben. Der Dreitagessturm. Die Zerschlagung der Sonne und ihre Erneuerung. Am dritten Tage hatten die Himmel geschwiegen, und Itempas war erschienen, um die neue Weltordnung zu verkünden.

Was fehlte, waren die Ereignisse vor diesem Krieg. Ich konnte sehen, dass die Priester fleißig gewesen waren, denn ich fand nichts, das die Beziehung der Götter vor dem Krieg beschrieb. Es wurde nichts erwähnt über die Bräuche oder den Glauben aus der Zeit vor den Dreien. Die wenigen Texte, die diese Thematik ansatzweise streiften, stellten nur fest, was Bright Itempas den ersten Arameri gesagt hatte: Enefa war Unruhestifterin und Verbrecherin, Nahadoth ihr willfähriger Mitverschwörer, Lord Itempas der Held, der erst betrogen wurde und dann triumphierte. Und ich hatte noch mehr Zeit verschwendet.

Ich rieb meine müden Augen und überlegte, ob ich es am nächsten Tag noch einmal versuchen oder einfach aufgeben sollte. Aber als ich meine Kraft zusammennahm, um aufzustehen, fiel mein Blick auf etwas an der Decke. Aus diesem Blickwinkel konnte ich sehen, wo zwei der Bücherschränke aufeinandertrafen, um die Säule zu bilden. Aber sie grenzten nur bedingt aneinander, dazwischen war eine Lücke von vielleicht sechs Zoll. Verwirrt setzte ich mich auf und betrachtete die Säule genauer. Sie sah aus wie immer — zusammengesetzt aus riesigen, schwer beladenen Bücherschränken, die Rücken an Rücken beinahe kreisförmig lückenlos angeordnet waren.

Ein weiteres Geheimnis von Elysium? Ich stand auf.

Der Trick war erstaunlich einfach, nachdem ich erst einmal genauer hingeschaut hatte. Die Bücherschränke bestanden aus schwerem, dunklem Holz, das von Natur aus schwarz war. Im Nachhinein schätzte ich, dass es aus Darr stammte, denn wir waren einmal dafür berühmt gewesen. Durch die Lücken konnte ich die Rückwand der anderen Bücherschränke sehen, ebenfalls aus Schwarzholz. Da die Ränder der Lücken schwarz waren und die Rückseiten der Schränke ebenfalls, wurden die Lücken nahezu unsichtbar, sogar wenn man nur ein paar Schritte entfernt war. Aber wenn man wusste, dass die Lücken dort waren ...

Ich spähte durch die nächste Lücke und sah eine weitläufige Fläche mit weißem Fußboden, eingezäunt von den Schränken. Hatte jemand versucht, diesen Ort zu verbergen? Das ergab keinen Sinn; der Trick war so simpel, dass jemand — wahrscheinlich viele Jemands — das Innere der Säule schon früher hatte finden müssen. Das ließ vermuten, dass man nicht verdecken, sondern ablenken wollte. Gelegentliche Besucher oder jemand, der nur vorübereilte, sollte das, was sich innerhalb der Säule befand, nicht sehen. Nur diejenigen, die die optische Täuschung kannten oder die lange genug nach Informationen suchten, würden es sehen.

Ich hörte wieder die Worte der alten Frau. Wenn man weiß, dass das Wissen verunreinigt ist ... Ja. Offensichtlich, wenn man wusste, dass es etwas zu finden gab.

Die Lücke war eng. Dieses eine Mal war ich dankbar, dass ich eine Knabenfigur hatte, weil ich mich deshalb einfacher zwischen den Regalen durchquetschen konnte. Aber dann stolperte ich und fiel beinahe hin. Als ich erst einmal innerhalb der Säule war, sah ich, was sie wirklich verbarg.

Und dann hörte ich eine Stimme, nur, es war keine Stimme, und er fragte: »Liebst du mich?«

Und ich sagte: »Komm, und ich werde es dir zeigen«, und breitete meine Arme aus. Er kam zu mir und zog mich hart an sich, und ich sah das Messer in seiner Hand nicht. Nein, nein, da war kein Messer; wir brauchten solche Dinge nicht. Nein, da war ein Messer, später, und der Geschmack von Blut war klar und seltsam in meinem Mund, als ich aufsah und seinen furchtbaren, furchtbaren Blick sah ...

Aber was hatte es zu bedeuten, dass er mich vorher geliebt hatte?

Ich stolperte rückwärts gegen die Wand und konnte kaum atmen oder denken wegen der aufflammenden Angst, der unerklärlichen Übelkeit und dem unwiderstehlichen Drang, meinen Kopf mit meinen Händen zu umklammern und zu schreien.

Die letzte Warnung, ja. Ich bin normalerweise nicht so schwer von Begriff, aber man muss das verstehen. Es war einfach ein bisschen zu viel für mich.

»Braucht Ihr Hilfe?«

Mein Geist warf sich mit der Wucht eines ertrinkenden Opfers auf die Stimme der alten Bibliothekarin. Ich muss schon einen erbärmlichen Anblick geboten haben, als ich zu ihr herumwirbelte. Ich schwankte, mein Mund stand weit offen, meine Hände waren ausgestreckt und zu Krallen verformt.

Die alte Frau, die von einer der Schranklücken eingerahmt wurde, sah mich teilnahmslos an.

Mit einiger Anstrengung schloss ich meinen Mund und senkte meine Hände. Dann richtete ich mich aus der grotesken Hocke, in die ich zusammengesunken war, auf. Innerlich zitterte ich immer noch, aber ein Hauch meiner Würde kehrte zu mir zurück.

»Ich ... ich, nein«, brachte ich nach einer Weile heraus. »Nein. Mir ... geht es gut.«

Sie sagte nichts und beobachtete mich weiter. Ich wollte ihr sagen, sie solle fortgehen, aber mein Blick wurde von dem Ding, das mich so sehr geschockt hatte, wieder angezogen.

Von der Rückseite eines Bücherschranks, starrte der Herr des Lichts und der Ordnung mich an. Er war nur ein Kunstwerk — ein Relief im Amn-Stil. Die Konturen waren in eine weiße Marmorfliese gemeißelt und mit Blattgold ausgelegt worden. Trotzdem war es dem Künstler gelungen, Itempas sehr detailliert in Lebensgröße einzufangen. Er hatte die elegante Haltung eines Kriegers, sein Körper war breit und hatte starke Muskeln, seine Hände ruhten auf dem Griff eines riesigen, geraden Schwertes. Sein Gesicht war von ernster Vollkommenheit, und seine Augen hefteten sich wie Lichtkegel auf mich. Ich hatte Darstellungen von ihm in den Büchern der Priester gesehen, aber nicht so. Dort war er dünner, feingliedriger, wie ein Amn. Er wurde immer lächelnd gezeichnet und niemals mit einem so kalten Ausdruck.

Ich schob meine Hände hinter mich, um mich hochzudrücken — und spürte noch mehr Marmor unter meinen Fingern. Diesmal war der Schock nicht ganz so groß, als ich mich umdrehte. Teilweise hatte ich das, was ich sah, schon erwartet: Obsidian- intarsien mit einer Unzahl winziger, sternähnlicher Diamanten, die eine schlanke, sinnliche Gestalt bildeten. Ihre Hände waren von den Seiten aus nach vorne geworfen und verloren sich beinahe in dem ausgebreiteten Umhang aus Haar und Macht. Ich konnte das — frohlockende? schreiende? — Gesicht der Gestalt nicht sehen, da es aufwärts gerichtet war und von dem offenen, heulenden Mund beherrscht wurde. Aber ich wusste trotzdem, wer er war.

Außer ... ich runzelte verwirrt die Stirn und streckte meine Hand aus, um das zu berühren, was wie ein Wirbel aus Tuch oder die Rundung einer Brust aussah.

»Itempas zwang ihn in eine einzige Form«, sagte die Alte mit sehr leiser Stimme. »Als er frei war, war er alles Schöne und Schreckliche zugleich.« Ich hatte noch nie eine treffendere Beschreibung gehört.

Aber es gab noch eine dritte Fliese zu meiner Rechten. Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Hatte sie von dem Moment an gesehen, als ich zwischen den Regalen durchgeschlüpft war. Ich hatte vermieden, sie anzusehen. Die Gründe dafür hatten nichts mit meiner Vernunft zu tun, sondern nur mit dem, was ich tief drinnen in dem unvernünftigen Kern meiner Instinkte vermutete.

Ich drehte mich um und zwang mich, die dritte Fliese anzusehen, während die alte Frau mich beobachtete.

Verglichen mit ihren Brüdern war Enefas Bildnis sittsam. Unspektakulär. Im Profil saß sie auf grauem Marmor, gekleidet in ein einfaches Unterhemd, und ihr Gesicht war dem Boden zugewandt. Die Feinheiten fielen erst dann auf, wenn man näher hinsah. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Sphäre — ein Gegenstand, den man sofort erkannte, wenn man Si’ehs Sonnensystemmodell gesehen hatte. Und jetzt verstand ich auch, warum er seine Sammlung so sehr schätzte. Ihre Haltung war gespannt und voller Energie, eher kauernd als sitzend. Obwohl ihr Gesicht nach unten gerichtet war, blickten ihre Augen nach oben und den Betrachter seitlich an. Irgendetwas an ihrem Blick war ... nicht verführerisch. Dafür war er zu offen. Auch nicht skeptisch. Aber ... abschätzend. Ja. Sie sah mich an, durch mich hindurch und wägte alles, was sie sah, ab.

Ich streckte meine zitternde Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren. Es war runder als meins, hübscher, aber die Linien waren dieselben, die ich auch im Spiegel sah. Das Haar war länger, aber die Locken passten. Der Künstler hatte ihre Iris mit blassgrüner Jade ausgelegt. Wenn die Haut jetzt noch braun anstatt marmor- farben gewesen wäre ... Ich schluckte und zitterte noch mehr.

»Wir wollten es dir noch nicht sagen«, sagte die alte Frau.

Sie war direkt hinter mir, obwohl sie eigentlich zu dick war, um sich durch die Lücke zu quetschen. Als Mensch wäre sie es gewesen. »Es war reiner Zufall, dass du dich entschlossen hast, jetzt zur Bibliothek zu kommen. Ich hätte vielleicht eine Möglichkeit finden können , um dich in eine andere Richtung zu lenken, aber ...« Ich hörte mehr, dass sie die Schultern zuckte, als dass ich es sah. »Du hättest es ohnehin früher oder später herausgefunden.«

Ich sank zu Boden und kauerte vor der Itempas-Wand, als ob Er mich schützen würde. Mir war durch und durch kalt, meine Gedanken schrien und wirbelten wild durcheinander. Diese erste, wesentliche Verbindung herzustellen hatte meine Fähigkeit, noch weitere herzustellen, zerstört.

So fühlt sich Wahnsinn an, wurde mir klar.

»Werdet Ihr mich töten?«, flüsterte ich der alten Frau zu. Sie trug kein Zeichen auf ihrer Stirn. Das war mir entgangen — für mich war die Abwesenheit der Zeichen immer noch normaler als ihr Vorhandensein. Es hätte mir auffallen müssen. Sie hatte eine andere Figur in meinem Traum, aber ich wusste jetzt, wer sie war: Kurue die Weise, Anführerin der Enefadeh.

»Warum sollte ich das tun? Wir haben viel zu viel darin investiert, dich zu erschaffen.« Eine Hand fiel auf meine Schulter herab, und ich zuckte zusammen. »Aber du nützt uns nichts, wenn du wahnsinnig bist.«

Ich war nicht überrascht, als mich Dunkelheit umfing. Ich entspannte mich und ließ sie dankbar zu.

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