Das Vater-Ding

„Das Essen ist fertig", rief Mrs. Walton. „Geh zu deinem Vater und sage ihm, er soll sich die Hände waschen. Und das gilt auch für dich, junger Mann." Sie trug eine dampfende Kasserole zu dem hübsch gedeckten Tisch. „Er ist bestimmt draußen in der Garage."

Charles zögerte. Er war erst acht Jahre alt, und das Problem, das ihn beschäftigte, hätte auch Erwachsene aus der Fassung gebracht. „Ich ..." begann er unsicher.

„Was ist los?" June Walton bemerkte den unbehaglichen Ton in der Stimme ihres Sohnes, und ihr mütterliches Herz pochte mit einem Mal heftiger, erfüllt von plötzlicher Besorgnis. „Ist Ted denn nicht in der Garage? Um Himmels willen, vor einer Minute noch hat er dort die Heckenschere geschärft. Er ist doch nicht hinüber zu den Andersons gegangen, oder? Ich habe ihm gesagt, daß das Essen schon praktisch auf dem Tisch steht."

„Er ist in der Garage", sagte Charles. „Aber er ... er spricht mit sich selbst."

„Er spricht mit sich selbst?" Mrs. Walton zog ihre glänzende Plastikschürze aus und hängte sie über die Türklinke. „Ted? Aber warum denn? Er spricht doch nie mit sich selbst. Geh jetzt und sage ihm, er soll hereinkommen." Sie goß kochendheißen schwarzen Kaffee in die blau-weißen chinesischen Tassen und begann Rührei auf die Teller zu füllen. „Was ist mit dir los? Geh schon und rufe ihn!"

„Ich weiß nicht, wen von den beiden ich rufen soll", stieß Charles verzweifelt hervor. „Sie sehen beide gleich aus."

June Waltons Finger lösten sich von dem Stiel der Aluminiumpfanne und das Rührei drohte zu Boden zu fallen. Rechtzeitig griff sie wieder zu. „Junger Mann", begann sie ärgerlich, aber in diesem Augenblick betrat Ted Walton die Küche, atmete tief durch, schnüffelte und rieb sich die Hän

de. „Ah", rief er fröhlich. „Rührei und Lammsteak."

„Beefsteak", murmelte June. „Ted, was hast du da draußen gemacht?"

Ted nahm auf seinem Stuhl Platz und entfaltete seine Serviette. „Ich habe die Scheren scharf wie ein Rasiermesser geschliffen. Geölt und geschärft. Besser, du faßt sie nicht an - sie könnten dir die Hand abschneiden." Er war ein gutaussehender Mann Anfang Dreißig mit dichtem blonden Haar, kräftigen Armen, geschickten Händen, einem breiten Gesicht und leuchtenden braunen Augen. „Mann, dieses Steak sieht verdammt gut aus. War ein harter Tag im Büro -du weißt ja, wie es freitags zugeht. Das Zeug stapelt sich zu wahren Bergen und wir sind nur zu fünft, um die ganzen Rechnungen auszustellen. AI McKinley behauptet, die Abteilung könnte zwanzig Prozent mehr erledigen, wenn wir unsere Frühstückspause organisieren würden; wenn wir sie so einteilen, daß sich immer jemand im Büro aufhält." Er nickte Charles zu. „Setz dich, damit wir anfangen können."

Mrs. Walton servierte die Erbsen. „Ted", sagte sie, während sie sich langsam hinsetzte, „beschäftigt dich irgend etwas?"

„Ob mich etwas beschäftigt?" Er blinzelte verwirrt. „Nein, nichts Ungewöhnliches. Alles ist wie immer. Warum?"

Unbehaglich blickte June Walton zu ihrem Son hinüber. Charles saß kerzengerade auf seinem Stuhl, und sein Gesicht war ausdruckslos und weiß wie Kalk. Er hatte sich bisher nicht gerührt, weder seine Serviette auseinandergefaltet, noch seine Milch getrunken. Spannung lag in der Luft; sie fühlte es deutlich. Charles hatte seinen Stuhl so weit wie möglich von dem seines Vaters fortgeschoben, mied jeden Kontakt mit ihm. Seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte.

„Was ist?" fragte sie und beugte sich zu ihm.

Der andere", murmelte Charles gepreßt. „Der andere ist

hereingekommen."

„Was meinst du damit, mein Schatz?" erkundigte sich June Walton laut. „Welcher andere?"

Ted fuhr zusammen. Ein seltsamer Ausdruck überschattete sein Gesicht, verschwand gleich darauf wieder; aber in dem kurzen Moment verlor Ted Waltons Gesicht alle Vertrautheit. Etwas Fremdes und Kaltes leuchtete auf, eine zuckende, sich windende Masse. Die Augen flammten auf und erloschen wieder, als ob ein absonderlicher Glanz sie erhellt hätte. Der vertraute Eindruck eines müden Mannes im besten Alter existierte nicht mehr.

Und dann kehrte er wieder zurück - oder kehrte fast zurück. Ted lächelte und begann sein Steak und die Erbsen und das Rührei hinunterzuschlingen. Er lachte, rührte in seinem Kaffee, scherzte und aß. Aber etwas war schrecklich falsch.

„Der andere", murmelte Charles mit bleichem Gesicht, zitternden Händen. Plötzlich sprang er auf und floh vom Tisch. „Hau ab!" schrie er. „Verschwinde von hier!"

„He", brummte Ted drohend. „Was ist eigentlich mit dir los?" Streng deutete er auf den Stuhl des Jungen. „Du setzt dich jetzt dorthin und ißt deinen Teller leer, junger Mann. Deine Mutter hat ja schließlich nicht zum Spaß gekocht."

Charles wirbelte herum und rannte aus der Küche, die Treppen hinauf, in sein Zimmer. June Walton keuchte und zitterte vor Bestürzung. „Was in aller Welt..."

Ted fuhr mit dem Essen fort. Sein Gesicht besaß einen grimmigen Ausdruck; seine Augen waren kalt und dunkel. „Dieser Busche", knirschte er, „wird gleich ein paar Dinge lernen müssen. Vielleicht wäre es vernünftig, wenn er und ich ein kleines privates Gespräch führen würden."

Charles duckte sich und lauschte.

Das Vater-Ding kam die Treppe hinauf, kam näher und näher. „Charles!" rief er verärgert. „Bist du dort oben?"

Er antwortete nicht. Lautlos kehrte er in sein Zimmer zurück und schloß die Tür. Sein Herz klopfte heftig. Das VaterDing hatte den Korridor erreicht; in wenigen Sekunden würde es das Zimmer betreten.

Er eilte zum Fenster. Entsetzen erfüllte ihn; es tastete bereits in dem dunklen Korridor nach der Klinke. Er öffnete das Fenster und kletterte hinaus auf das Dach. Mit einem Knurren sprang er hinunter in das Blumenbeet, das sich neben der Vordertür befand, taumelte und keuchte, kam dann auf die Füße und floh vor dem Licht, das aus dem Fenster fiel, ein Tupfer Gelb in der abendlichen Dunkelheit.

Er erreichte die Garage, die vor ihm emporragte, ein schwarzer Würfel gegen den Himmel. Atemlos suchte er in seinen Taschen nach der Stablampe, stieß dann vorsichtig die Tür auf und schlüpfte hinein.

Die Garage war leer. Das Auto war vor dem Haus geparkt. Zur Linken befand sich die Werkbank seines Vaters. Hammer und Sägen hingen an den Holzwänden. Im hinteren Teil standen der Rasenmäher, Harken, Schaufeln, Hacken. Ein Benzinkanister. Überall waren Nummernschilder angenagelt. Der Betonboden war schmutzig; ein großer Ölfleck verdreckte den Beton, wirkte in dem flackernden Licht der Taschenlampe wie ein Büschel Unkraut aus Schmiere und Schwarze.

Neben der Tür befand sich eine große Abfalltonne. Oben auf der Tonne lagen Bündel durchweichter Zeitungen und Illustrierten, halb vermodert und feucht. Ein erstickender fauliger Gestank stieg von ihnen auf, als Charles in ihnen herumzuwühlen begann. Spinnen fielen hinunter auf den Zementboden und krabbelten davon; er zermalmte sie mit dem Absatz und suchte weiter.

Was er sah, entrang ihm einen Schrei. Er ließ die Taschenlampe fallen und sprang entsetzt zurück. Dunkelheit legte sich wieder über die Garage. Er zwang sich dazu, hin zuknien, und für einen endlosen Moment tastete er in der Finsternis nach der Lampe, umgeben von Spinnen und schmierigem Abfall. Endlich entdeckte er sie, und es gelang ihm, den Strahl auf die Tonne zu lenken, auf jene Stelle, die er von den Illustriertenbündeln befreit hatte.

Das Vater-Ding hatte es tief unten am Boden der Tonne vergraben. Zwischen verdorrten Blättern und zerrissener Pappe, unter den verrotteten Resten der Zeitungen und Gardinen, dem Gerümpel aus der Dachkammer, das seine Mutter heruntergeschafft hatte, um es irgendwann einmal zu verbrennen... Es sah noch immer ein wenig seinem Vater ähnlich; ähnlich genug, daß er ihn erkennen konnte. Er hatte es entdeckt - und der Anblick erfüllte ihn mit würgender Übelkeit. Er klammerte sich an der Tonne fest und hielt die Augen geschlossen, bis er wieder in der Lage war, den Anblick zu ertragen. In der Tonne lagen die Überreste seines Vaters, seines wirklichen Vaters. Teile, für die das Vater-Ding keine Verwendung gefunden hatte. Teile, die es weggeworfen hatte.

Er ergriff die Harke und berührte damit die Überreste. Sie waren trocken. Sie knirschten und zerfielen unter der Berührung der Harke. Sie erinnerten an abgelegte Schlangenhäute, schuppig und knusprig, und sie raschelten bei jeder Berührung. Eine leere Hülle. Die Innereien waren verschwunden. Der wichtigste Teil. Dies war alles, was übriggeblieben war, nur die spröde, brüchige Haut, auf dem Boden der Abfalltonne zu einem kleinen Haufen zusammengeknüllt. Das war alles, was das Vater-Ding übriggelassen hatte; es hatte den Rest gegessen. Die Innereien herausgenommen - und den Platz seines Vaters eingenommen.

Ein Laut ertönte.

Er ließ die Harke fallen und huschte zur Tür. Das VaterDing kam den Weg entlang, auf die Garage zu. Seine Schuhe knirschten über den Kies; unsicher tastete es sich weiter. „Charles!" rief es zornig. „Bist du dort drinnen? Warte nur, bis ich dich in die Finger bekomme, junger Mann!"

Die korpulente, nervöse Gestalt seiner Mutter zeichnete sich gegen die hellerleuchtete Türöffnung des Hauses ab. „Ted, bitte, tu ihm nicht weh. Irgend etwas hat ihn verstört."

„Ich werde ihm nicht wehtun", erwiderte das Vater-Ding rauh; es verharrte und drehte sich um. „Ich möchte mich nur ein wenig mit ihm unterhalten. Er muß sich bessere Manieren zulegen. Einfach vom Tisch aufspringen und hinaus in die Nacht zu laufen, gar nicht davon zu reden, daß er auf dem Dach herumgeklettert ist..."

Charles schlüpfte aus der Garage; das Vater-Ding entzündete ein Streichholz, und die kleine Flamme riß Charles' Umrisse aus der Dunkelheit. Mit einem Satz sprang das Vater-Ding auf ihn zu.

Komm her!"

Charles rannte. Er kannte sich hier besser aus als das Vater-Ding; es wußte zwar eine Menge, hatte sehr viel erfahren, als es seinen Vater übernommen hatte, aber niemand konnte sich in der Umgebung besser orientieren als er. Charles erreichte den Zaun, kletterte hinüber und sprang in den Garten der Andersons, hastete an der Wäscheleine entlang, den Weg hinunter, der am Haus vorbeiführte, und dann erreichte er die Maple Street.

Er horchte, kauerte sich nieder und atmete nicht. Das Vater-Ding verfolgte ihn nicht mehr. Es war zurückgegangen. Oder es näherte sich ihm von der Seitenstraße.

Er holt tief Atem. Weiter - er mußte in Bewegung bleiben. Früher oder später würde es ihn finden. Er blickte nach rechts und links, überzeugte sich, daß ihn niemand beobachtete, und begann dann mit gleichmäßigen Bewegungen zu laufen.

„Was willst du?" fragte Tony Peretti kriegerisch. Tony war vierzehn. Er saß am Tisch in dem eichengetäfelten Eßzim mer der Perettis, und auf dem Tisch lagen verstreut Bücher und Schreibstifte, ein halbes, mit Erdnußbutter und Schinken belegtes Sandwich und eine Flasche Cola. „Du bist Walton, oder?"

Tony Peretti arbeitete nach der Schule in Johnsons Elektrogeschäft und packte dort Öfen und Kühlschränke aus. Er war groß und besaß ein offenes Gesicht, schwarze Haare, olivfarbene Haut, weiße Zähne. Schon mehrfach hatte er Charles verhauen, und nicht nur Charles, sondern jedes Kind in der Nachbarschaft.

Charles wand sich. „Sag mal, Peretti. Würdest du mir einen Gefallen tun?"

„Was willst du?" Peretti fühlte sich belästigt. „Bist du auf ein paar Ohrfeigen aus?"

Unglücklich zu Boden blickend, die Fäuste geballt, berichtete Charles mit knappen Worten, was geschehen war.

Als er geendet hatte, pfiff Peretti leise vor sich hin. „Soll das ein Witz sein?"

„Es ist die Wahrheit." Er nickte rasch. „Ich werde es dir beweisen. Komm mit und ich zeige es dir."

Peretti stand langsam auf. „Ja, zeig es mir. Ich möchte es sehen."

Er holte sein Luftdruckgewehr aus seinem Zimmer, und die beiden Jungen gingen schweigend die dunkle Straße hinunter und näherten sich Charles' Haus. Die ganze Zeit sprach keiner von ihnen ein Wort. Peretti war tief in Gedanken versunken, wirkte ernst, und sein Gesicht war undurchdringlich. Charles war noch immer wie betäubt; in seinem Kopf herrschte eine seltsame Leere.

Sie erreichten den Gehweg, der zum Haus der Andersens führte, schlichen sich durch den Hinterhof, kletterten über den Zaun und betraten vorsichtig den Hof der Waltons. Nichts rührte sich. Alles war still. Die Vordertür des Hauses war verschlossen.

Sie äugten durch das Wohnzimmerfenster. Die Jalousie war heruntergelassen, aber durch einen schmalen Schlitz fiel ein dünner, gelber Lichtstrahl. Auf der Couch saß Mrs. Walton und strickte einen Wollpullover. Ihr Gesicht besaß einen traurigen, besorgten Ausdruck. Sie arbeitete lustlos, ohne Interesse. Ihr gegenüber saß das Vater-Ding. Es hatte es sich in dem Sessel seines Vaters bequem gemacht, die Schuhe ausgezogen, und las die Abendzeitung. Der Fernseher war eingeschaltet und spielte in der Zimmerecke vor sich hin. Eine Bierflasche stand auf der Lehne des Sessels. Das Vater-Ding saß genauso da wie sein Vater immer dagesessen hatte; es hatte sehr viel gelernt.

„Sieht aus wie dein Vater", flüsterte Peretti mißtrauisch. „Bist du sicher, daß du mich nicht auf den Arm nehmen willst?"

Charles führte ihn zur Garage und zeigte ihm die Abfalltonne. Peretti griff mit seinen langen gebräunten Armen hinein und zog die vertrockneten, knusprigen Überreste heraus. Sie breiteten sie aus, falteten sie auseinander, bis sich die Umrisse seines Vaters abzeichneten. Peretti legte die Überreste auf den Boden und schob die abgebrochenen Teile an ihren Platz. Die Überreste waren farblos. Fast durchsichtig. Ein Bernsteingelb, dünn wie Papier. Trocken und leblos.

„Das ist alles", sagte Charles. Tränen traten ihm in die Augen. „Das ist alles, was von ihm übriggeblieben ist. Das Ding hat sich die Innereien angeeignet."

Peretti war bleich geworden. Mit zitternden Händen stopfte er die Überreste zurück in die Abfalltonne. „Es stimmt also wirklich", murmelte er. „Du sagtest, du hast sie beide zusammen gesehen?"

„Sie sprachen miteinander. Sie sahen sich völlig ähnlich. Ich lief ins Haus." Charles wischte die Tränen fort und schneuzte sich; er war am Ende seiner Beherrschung an gelangt. „Es hat ihn gegessen, während ich drinnen war. Dann kam es ebenfalls ins Haus. Ich dachte zuerst, es wäre er. Aber er war es nicht. Es hat ihn getötet und die Innereien verzehrt."

Einen Moment lang war Peretti still. „Ich werde dir jetzt etwas sagen", erklärte er plötzlich. „Ich habe schon von derartigen Dingen gehört. Es ist eine schlimme Sache. Du mußt deinen Kopf gebrauchen und darfst dich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Du hast doch keine Angst, oder?"

„Nein", gelang es Charles herauszubringen.

„Als erstes müssen wir herausfinden, wie wir es töten können." Er hob sein Luftdruckgewehr. „Ich weiß nicht, ob es damit gelingt. Es muß verdammt stark sein, daß es deinen Vater überwältigen konnte. Er war ein großer Mann." Peretti dachte nach. „Laß uns von hier verschwinden. Vielleicht kommt es hierher zurück. Man sagt, daß Mörder immer so handeln."

Sie verließen die Garage. Peretti kauerte sich zusammen und äugte erneut durch das Fenster. Mrs. Walton war aufgestanden. Sie sagte irgend etwas, und es klang besorgt. Aber ihre Worte waren nicht zu verstehen. Das Vater-Ding senkte seine Zeitung. Sie stritten sich.

„Um Gottes willen!" rief das Vater-Ding. „Stell bloß nicht etwas derart Dummes an."

„Irgend etwas stimmt nicht", jammerte Mrs. Walton. „Irgend etwas Schreckliches ist geschehen. Ich will doch nur das Krankenhaus anrufen und nachfragen, ob... "

„Du wirst niemand anrufen. Ihm ist schon nichts passiert. Vermutlich spielt er irgendwo."

„So lange ist er nie draußen gewesen. Und er war nie ungehorsam. Als er hinauslief, war er furchtbar verstört - und hatte Angst vor dir! Und ich nehme es ihm nicht einmal übel." Ihre Stimme zitterte vor Elend. „Was ist nur mit dir los? Du benimmst dich so seltsam." Sie verließ das Zimmer und betrat den Korridor. „Ich werde einige unserer Nachbarn anrufen."

Das Vater-Ding blickte ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann geschah etwas Entsetzliches. Charles keuchte; selbst Peretti hielt den Atem an.

„Schau dir das an", krächzte Charles. „Was..."

„Donnerwetter", sagte Peretti, und seine dunklen Augen waren weit aufgerissen.

Sobald Mrs. Walton den Raum verlassen hatte, sackte das Vater-Ding in seinem Sessel zusammen. Es erschlaffte. Der Mund klaffte auf. Die Augen wurden leer. Der Kopf fiel nach vorn, wie der einer alten beschädigten Puppe.

Peretti entfernte sich vom Fenster. „Das ist es", flüsterte er. „Das also ist das ganze Geheimnis."

„Was meinst du?" fragte Charles. Er war entsetzt und verwirrt. „Es sieht aus wie jemand, der alle Kraft verloren hat."

„Genau." Peretti nickte langsam, grimmig und an allen Gliedern zitternd. „Es wird von außerhalb kontrolliert."

Angst erfaßte Charles. „Du meinst, von ganz außerhalb, aus dem Weltraum?"

Peretti schüttelte angewidert den Kopf. „Außerhalb des Hauses! Vom Garten aus. Du weißt, wie man am besten nach etwas sucht?"

„Nicht besonders gut." Charles mühte sich, seine Gedanken zu sammlen. „Aber ich kenne jemand, der das perfekt beherrscht." Verzweifelt versuchte er sich an den Namen zu erinnern. „Bobby Daniels."

„Das ist dieser kleine schwarze Bursche, nicht wahr? Und er hat Ahnung davon?"

„Er ist der Beste."

„In Ordnung", erklärte Peretti. „Gehen wir zu ihm. Wir müssen dieses Ding finden, das sich irgendwo hier versteckt hat. Das es dort drinnen kontrolliert und am Leben erhält... "

„Es ist irgendwo in der Nähe der Garage", sagte Peretti zu dem kleinen, schmalgesichtigen schwarzen Jungen, der neben ihnen in der Dunkelheit hockte. „Als es ihn erwischte, befand er sich in der Garage. Also schau dort nach."

„In der Garage?" fragte Daniels.

In der Nähe der Garage. Walton hat bereits in der Garage nachgesehen. Du schaust dich draußen um. In der Umgebung."

Neben der Garage befand sich ein kleines Blumenbeet, und zwischen Garage und der Rückseite des Hauses erhob sich ein Bambusgestrüpp vor einem Haufen aus vermoderndem Unrat. Der Mond war aufgegangen; sein kaltes, fahles Licht sickerte vom Himmel und schuf verschwommene Schattengebilde. „Wenn wir es nicht bald entdecken", bemerkte Daniels, „muß ich wieder nach Hause. Ich darf nicht mehr viel länger draußen bleiben." Er war nicht älter als Charles. Vielleicht neun.

„In Ordnung", nickte Peretti. „Dann schau dich um."

Die drei Jungen trennten sich und begannen sorgfältig den Boden zu untersuchen. Daniels arbeitete mit unglaublicher Schnelligkeit; sein schmaler kleiner Körper bewegte sich wie ein Blitz hin und her, während er zwischen den Blumen herumwühlte, Steine hochhob, unter die Veranda äugte, Pflanzen zur Seite bog, seine kunstfertigen Hände über Blätter und Stengel gleiten ließ und die Kompost- und Unkrauthäufchen umgrub. Kein Quadratzentimeter blieb verschont.

Nach kurzer Zeit hielt Peretti inne. „Ich werde Wache schieben. Vielleicht befinden wir uns in Gefahr. Vielleicht kommt das Vater-Ding heraus und versucht uns aufzuhalten." Er postierte sich mit seinem Luftdruckgewehr vor der Hintertreppe, während Charles und Bobby Daniels weitersuchten. Charles arbeitete langsam. Er war müde und seine Glieder fühlten sich kalt und taub an. Alles erschien ihm mit einem Mal unglaublich; das Vater-Ding und das, was seinem eigenen Vater zugestoßen war, seinem wirklichen Vater. Aber das Entsetzen trieb ihn an; vielleicht konnte dies auch seiner Mutter zustoßen, oder ihm. Jedem anderen. Vielleicht der ganzen Welt.

„Ich habe es gefunden!" rief Daniels mit seiner dünnen, hohen Stimme. „Kommt schnell her!"

Peretti hob sein Gewehr und kam vorsichtig näher. Charles hastete zu Daniels hinüber; er richtete den flackernden gelben Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf die Stelle, wo der schwarze Junge stand.

Der Junge hatte eine Betonplatte zur Seite gerückt. Das Licht glitzerte auf einem metallenen Körper, der in der feuchten, modrigen Erde eingebettet war. Ein dünnes, viel-gliedriges Etwas mit endlos langen, geknickten Beinen wühlte sich wie rasend in den Boden. Es war wie eine Ameise gepanzert; ein rotbrauner Käfer, der sich rasch ihren Blicken entzog. Das Gewirr der Beine grub und kratzte den Dreck zur Seite. Plötzlich gab der Boden unter dem Ding nach. Der bösartig wirkende Schwanz peitschte wild hin und her, während es hinein in den Tunnel kroch, den es geschaffen hatte.

Peretti lief in die Garage und holte die Harke heraus, klemmte damit den Schwanz des Käfers ein. „Schnell! Erschießt es mit dem Luftgewehr!"

Daniels ergriff das Gewehr und legte an. Der erste Schuß trennte den Schwanz vom Körper des Käfers. Der Käfer zuckte und wand sich, der Schwanz zitterte und einige Beine brachen ab. Es war ungefähr dreißig Zentimeter lang, ähnelte einem großen Tausendfüßler. Verzweifelt kämpfte es, um in seinen Bau zu flüchten.

„Schieß noch einmal", befahl Peretti.

Daniels hantierte an dem Gewehr. Der Käfer krümmte sich und zischte. Sein Kopf zuckte hin und her; er drehte sich und biß nach der Harke, die ihn festhielt. Seine bösartigen Augen glühten haßerfüllt. Sekundenlang zerrte er vergeblich an der Harke; dann, abrupt, überraschend, peitschte er in irrwitziger Raserei den Boden, so saß sie furchterfüllt zurückwichen.

Irgend etwas blitzte in Charles Gehirn auf. Ein lautes Summen, metallisch und scharf, wie von einer Milliarde Metalldrähte, die gleichzeitig zu tanzen und zu vibrieren begannen. Gewalttätig hielt ihn die unbekannte Kraft in ihrem Griff; das dröhnende metallische Summen betäubte und verwirrte ihn. Er rappelte sich mühsam auf und wich zurück; die beiden anderen Jungen folgten mit bleichen Gesichtern und zitternden Gliedern seinem Beispiel.

„Wenn wir es nicht mit dem Gewehr töten können", keuchte Peretti, „müssen wir es ertränken. Oder verbrennen. Oder sein Gehirn durchbohren." Verbissen kämpfte er, um die Harke festzuhalten und den Käfer gegen den Boden zu pressen.

„Ich besitze eine Büchse Formaldehyd", flüsterte Daniels. Nervös hantierte er an dem Luftdruckgewehr. „Wie funktioniert das Ding? Ich weiß nicht..."

Charles nahm ihm das Gewehr ab. „Ich werde es töten." Er kniete nieder, zielte und legte den Finger um den Abzug. Der Käfer wand sich, kämpfte verzweifelt. Sein Kraftfeld dröhnte in seinen Ohren, aber er ließ das Gewehr nicht los. Sein Finger krümmte sich...

„Das genügt, Charles", sagte das Vater-Ding. Kräftige Finger griffen nach ihm, umklammerten schmerzhaft seine Handgelenke. Das Gewehr fiel zu Boden, als er sich verbissen wehrte. Das Vater-Ding bewegte sich auf Peretti zu. Der Junge machte einen Satz zur Seite und der Käfer, vom Druck der Harke befreit, schlüpfte triumphierend in seinen Tunnel hinein.

„Ich werde dir eine Tracht Prügel verpassen, Charles", brummte das Vater-Ding. „Was ist nur in dich gefahren? Deine arme Mutter ist schon ganz krank vor Sorge."

Es war die ganze Zeit über in ihrer Nähe gewesen, hatte sich in dem Schatten verborgen, in der Dunkelheit gekauert und sie beobachtet. Seine ruhige, gefühllose Stimme, eine schreckliche Parodie auf die seines Vaters, war dicht an seinem Ohr, während es ihn unerbittlich in Richtung Garage zerrte. Sein kalter Atem strich ihm über das Gesicht, verbreitete einen frostigen, süßlichen Geruch, wie faulende Erde. Seine Kräfte waren ungeheuerlich; es gab nichts, das Charles dagegen unternehmen konnte.

„Hör auf, dich zu wehren", sagte es ruhig. „Komm schon, komm in die Garage. Es ist zu deinem Besten. Du kannst mir vertrauen, Charles."

„Hast du ihn gefunden?" rief seine Mutter.

„Ja, ich habe ihn gefunden."

„Was hast du mit ihm vor?"

„Ich werde ihm eine kleine Abreibung verpassen." Das Vater-Ding stieß die Garagentür auf. „In der Garage." In dem Zwielicht verzerrte ein leises Lachein, humorlos und völlig ohne Gefühl, seine Lippen. „Geh du nur zurück ins Wohnzimmer, June. Ich kümmere mich schon darum. Der Bursche hat eine Abreibung verdient. Aber du bist ja immer dagegen gewesen."

Zögernd schloß sich die Hintertür. Als das Licht erlosch, bückte sich Peretti und griff nach dem Luftgewehr. Unvermittelt blieb das Vater-Ding stehen.

„Geh nach Hause, Junge", knurrte es.

Unschlüssig stand Peretti da, hielt das Luftgewehr fest umklammert.

„Verschwinde schon", befahl das Vater-Ding. „Laß dieses Spielzeug fallen und verschwinde." Langsam bewegte es sich auf Peretti zu, hielt Charles mit der einen Hand fest, griff mit der anderen nach Peretti. „In der Stadt sind Luftge wehre verboten, Bursche. Weiß dein Vater überhaupt, daß du so ein Ding hast? Es gibt da eine städtische Verordnung. Ich schätze, du gibst es mir jetzt besser, bevor..."

Peretti schoß und traf es in das Auge.

Das Vater-Ding knurrte und schlug eine Hand vor das zerstörte Auge. Abrupt sprang es auf Peretti zu. Peretti eilte den Weg hinunter und versuchte das Gewehr zu laden. Das Vater-Ding erreichte ihn. Seine kraftigen Hände entrissen Peretti das Gewehr. Stumm zerschmetterte das Vater-Ding das Gewehr an der Hauswand.

Charles riß sich los und lief wie betäubt davon. Wo konnte er sich verstecken? Es befand sich zwischen ihm und dem Haus. Schon kam es auf ihn zu, eine schwarze Gestalt, die vorischtig heranschlich, in die Dunkelheit äugte und nach ihm suchte. Charles wich zurück. Wenn er sich doch nur igendwo verstecken könnte...

Der Bambus.

Rasch kroch er in das Gewirr des Bambusgestrüpps. Die Schäfte waren groß und alt. Sie schlossen sich hinter ihm mit einem leisen Rascheln. Das Vater-Ding wühlte in seinen Taschen; es entzündete ein Streichholz und setzte damit die ganze Packung in Brand. „Charles", sagte es. „Ich weiß, daß du dich hier irgendwo befindest. Es ist sinnlos, daß du dich versteckst. Du machst alles nur noch schlimmer."

Sein Herz hämmerte. Charles kroch durch den Bambus, über faulenden Müll und Schmutz. Unkraut, Abfalle, Papier, Schachteln, alte Kleider, Bretter, Konservenbüchsen, Flaschen. Spinnen und Eidechsen krabbelten vor ihm davon. Der Bambus raschelte im Nachtwind. Insekten summten über den Unrat.

Und da war noch etwas.

Eine Gestalt, eine stille, reglose Gestalt, die aus dem Abfallhaufen wuchs, wie manche Pilze. Ein weißer Leib, eine breiige Masse, die feucht im Mondlicht glitzerte. Das Gebil de war von einem Gewebe überzogen, ähnelte einem schimmeligen Kokon. Es besaß schwach ausgebildete Arme und Beine. Einen rudimentären, halb herausgeformten Kopf. Noch waren die Gesichtszüge nicht zu erkennen. Aber er wußte bereits, um was es sich dabei handelte.

Es war ein Mutter-Ding. Es wuchs hier in dem Unrat und der Feuchtigkeit, zwischen der Garage und dem Haus. Hinter dem Bambusgestrüpp.

Es war fast fertig. Noch ein paar Tage, und es würde ausgewachsen sein. Noch war es eine Larve, weiß und weich und breiig. Aber die Sonne würde es trocknen und wärmen. Die Haut härten. Es bräunen und kräftigen. Es würde aus dem Kokon schlüpfen, und dann, eines Tages, wenn sich seine Mutter in der Nähe der Garage befand...

Hinter dem Mutter-Ding befand sich eine andere weiche, bleiche Larve, die vermutlich der Käfer gelegt hatte. Klein. Bildete sich gerade heraus. Er konnte die Stelle sehen, von der sich das Vater-Ding gelöst hatte, wo es herangewachsen war. Hier war es groß geworden. Und in der Garage hatte sein Vater es getroffen.

Charles entfernte sich benommen von diesem Ort, kroch über die verrottenden Bretter, den Unrat und den Müll, vorbei an den breiigen, pilzähnlichen Larven. Müde streckte er die Hände aus, um nach dem Zaun zu greifen - und fuhr zurück.

Noch eine Larve. Bisher hatte er sie noch nicht gesehen. Sie war nicht weiß. Sie hatte sich bereits dunkel verfärbt. Das Gewebe, die breiige Feuchtigkeit, die weiche Struktur waren verschwunden. Sie war ausgewachsen. Und sie bewegte sich ein wenig, hob schwach die Arme.

Das Charles-Ding.

Das Bambus teilte sich und die Hand des Vater-Dings legte sich fest um das Handgelenk des Jungen. „Du bleibst hier", sagte es. „Dies ist genau dein Platz. Bewege dich nicht." Mit seiner anderen Hand zerrte es an den Überresten des Kokons, der das Charles-Ding umhüllte. „Ich werde ihm heraushelfen - es ist noch ein wenig schwach."

Der letzte Faden aus feuchtem Grau glitt ab, und das Charles-Ding torkelte heraus. Es tappte unsicher daher, während das Vater-Ding ihm den Weg zu Charles bahnte.

„Hierher", grunzte das Vater-Ding. „Ich halte ihn für dich fest. Wenn du gegessen hast, wirst du dich kräftiger fühlen."

Der Mund des Charles-Dings öffnete und schloß sich. Gierig griff es nach Charles. Der Junge wehrte sich heftig, aber die große Hand des Vater-Dings hielt ihn am Boden fest.

„Hör auf damit, junger Mann", befahl das Vater-Ding. „Es wird für dich sehr viel leichter sein, wenn du... "

Es kreischte und begann zu zucken. Es ließ Charles los und taumelte zurück. Sein Körper krümmte sich wie rasend. Es prallte gegen die Garage, an allen Gliedern zitternd, und eine Zeitlang bebte und wand es sich in tödlicher Agonie. Es wimmerte, ächzte, versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Allmählich verstummte es. Das Charles-Ding sank zu einem stillen Haufen zusammen. Stumpfsinnig lag es zwischen dem Bambus und dem verfaulenden Müll, mit schlaffem Körper, leerem, ausdruckslosem Gesicht.

Endlich rührte sich auch das Vater-Ding nicht mehr. Nur noch das leise Rascheln des Bambus im Nacht wind war zu hören.

Unbeholfen richtete sich Charles auf, trat hinaus auf den zementierten Weg, der von der Garage zur Straße führte. Er stieß auf Peretti und Daniels, die mit aufgerissenen Augen dastanden. „Geh nicht näher heran", befahl Daniels scharf. „Noch ist es nicht tot. Es dauert noch eine Weile."

„Was habt ihr getan?" murmelte Charles.

Daniels stellte den Petroleumkanister mit einem erleichterten Ächzen auf den Boden. „Wir haben das hier in der Garage gefunden. Unten in Virginia setzten wir gegen die

Moskitos immer Petroleum ein."

„Daniels hat das Petroleum in den Bau des Käfers geschüttet", erklärte Peretti, und seine Furcht war noch immer gegenwärtig. „Es war seine Idee."

Daniels trat vorsichtig gegen den verdrehten Körper des Vater-Dings. „Es ist tot. Starb sofort, als der Käfer verendete."

„Ich glaube, daß auch die anderen tot sind", bemerkte Peretti. Er schob den Bambus zur Seite, um die Larven zu untersuchen, die hier und da aus dem Abfall wuchsen. Das Charles-Ding bewegte sich nicht, als Peretti es mit einem Stock an der Brust berührte. „Das hier ist tot."

„Wir sollten besser sichergehen", erklärte Charles grimmig. Er hob den schweren Petroleumkamster hoch und schleppte ihn zum Bambusgestrüpp. „Es hat ein paar Streichhölzer auf den Boden geworfen. Suchst du sie, Peretti?"

Sie sahen sich an.

„Klar", sagte Peretti leise.

„Wir holen den Schlauch und schließen ihn an", sagte Charles, damit sich das Feuer nicht ausbreitet."

„Fangen wir an", nickte Peretti ungeduldig. Schon setzte er sich in Bewegung. Charles folgte ihm rasch, und gemeinsam begannen sie in der mondbeschienenen Nacht nach den Streichhölzern zu suchen.

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