Die Schule war eine Qual wie immer. Nur heute war es besonders schlimm. Mike Foster beendete seine Arbeit an den beiden wasserdichten Körben und saß steif da, während um ihn herum die anderen Kinder weiterarbeiteten. Draußen schien die kühle Nachmittagssonne auf das Stahlbetongebäude herab. In der frostigen Herbstluft funkelten die Berge grün und braun. Am Himmel kreisten trage ein paar NATS über der Stadt.
Die plumpe, bedrohliche Gestalt von Mrs. Cummings, der Lehrerin, trat leise an sein Pult. „Bist du fertig, Foster?"
„Ja, Ma'am", antwortete er eifrig. Er reichte ihr die Körbe. „Kann ich jetzt gehen?"
Kritisch begutachtete Mrs. Cummings die Körbe. „Wie weit bist du mit deinen Fallen?" wollte sie wissen.
Er stöberte in seinem Pult und holte die beiden komplizierten Kleintierfallen heraus. „Alles fertig, Mrs. Cummings. Und auch mit meinem Messer ist alles in Ordnung." Er zeigte ihr die rasiermesserscharfe Klinge seines Messers, eine glitzernde metallene Schneide, die er aus einem gebrauchten Benzinkanister gefertigt hatte. Sie nahm das Messer an sich und fuhr zweifelnd mit ihrem geübten Finger über die Klinge.
„Nicht stark genug", stellte sie fest. „Du hast sie zu sehr geschliffen. Beim erstenmal, wenn du sie benutzt, wird sie stumpf werden. Geh hinunter in das Hauptwaffenlabor und schau dir die Messer an, die sie dort haben. Dann besorge dir eine dickere Klinge und schleif sie diesmal vorsichtiger."
„Mrs. Cummings", flehte Mike Foster, „kann ich das denn nicht morgen erledigen? Bitte, lassen Sie mich doch jetzt gehen."
Die anderen Schüler in dem Klassenzimmer verfolgten
das Gespräch mit großem Interesse. Mike Foster errötete; er haßte es, aufzufallen und Aufmerksamkeit zu erregen, aber er mußte einfach fort von hier. Er konnte einfach keine Minute länger in der Schule bleiben.
Mrs. Cummings ließ sich nicht erweichen. „Morgen ist Grabetag", wies sie ihn zurecht. „Da wirst du keine Zeit haben, an deinem Messer zu arbeiten."
„Oh, doch", versicherte er eilig. „Nach dem Graben."
„Nein, das Graben ist dir immer schwergefallen." Die alte Frau betrachtete die dünnen Arme und Beine des Jungen. „Ich bin der Meinung, daß du heute noch dein Messer fertigmachst. Und morgen kannst du dann den ganzen Tag auf dem Übungsplatz verbringen."
„Was hat das Graben schon für einen Sinn?" fragte Foster verzweifelt.
„Jeder muß wissen, wie man gräbt", antwortete Mrs. Cummings geduldig. Die anderen Kinder hatten zu kichern begonnen; sie brachte sie mit einem zornigen Blick zum Schweigen. „Ihr alle wißt, wie wichtig das Graben ist. Wenn der Krieg beginnt, wird die ganze Oberfläche mit Schutt und Geröll bedeckt sein. Um zu überleben, müssen wir uns eingraben können, nicht wahr? Hat einer von euch schon einmal einen Maulwurf dabei beobachtet, wie er nach Pflanzenwurzeln grabt? Der Maulwurf weiß, daß er etwas Wertvolles unter der Erdoberfläche finden wird. Und wir müssen alle zu kleinen, braunen Maulwürfen werden. Wir müssen alle lernen, uns in den Schutt hineinzugraben und die guten Dinge herauszuholen, denn dort werden sie dann sein."
Mike Foster saß bedrückt da und hielt sein Messer umklammert, während sich Mrs. Cummings von seinem Pult entfernte und die Sitzreihe entlangging. Einige der Kinder blickten ihn spöttisch grinsend an, aber nichts durchdrang den Panzer seines Elends. Das Graben würde ihm nichts nützen. Wenn die Bomben fielen, würde er augenblicklich tot sein. All die Impfstoffe, die man ihm in die Arme und Oberschenkel und in das Hinterteil gespritzt hatte, waren völlig nutzlos. Sein Taschengeld hatte er bereits ausgegeben; nein, Mike Foster würde gar nicht lange genug leben, um bakteriologisch verseucht zu werden. Nicht, solange...
Er sprang auf und folgte Mrs. Cummings zu ihrem Pult. In gequälter Verzweiflung stieß er hervor: „Bitte, ich muß gehen. Ich muß dringend etwas erledigen."
Zornig verzog Mrs. Cummings den Mund. Aber die Angst in den Augen des Jungen hielt sie von einer heftigen Entgegnung ab. „Was ist los?" fragte sie. „Geht es dir nicht gut?"
Der Junge stand wie erstarrt da, war nicht in der Lage, ihr zu antworten. Amüsiert begann die Klasse zu flüstern und zu kichern, bis Mrs. Cummings wütend mit einem Schreibstift auf ihr Pult klopfte. „Seid still", schnappte sie. Ihre Stimme wurde dann ein wenig sanfter. „Michael, wenn du nicht richtig funktionierst, dann gehe hinunter in die Psycho-klinik. Es hat keinen Sinn, daß du zu arbeiten versuchst, wenn dein Verhalten gestört ist. Miss Groves wird gerne bereit sein, dich zu optimieren."
„Nein", sagte Foster.
„Was hast du denn dann?"
Die Klasse wurde unruhig. Mehrere Stimmen antworteten für Foster; seine Zunge war vor Beschämung und Angst wie gelähmt. „Sein Vater ist ein Anti-Z", erklärten die Stimmen. „Sie besitzen keinen Bunker, und er ist auch nicht für den Zivilschutz registriert. Sein Vater hat nicht einmal seine Gebühr für die NATS entrichtet. Sie haben einfach nichts getan."
Mrs. Cummings starrte den sprachlosen Jungen entsetzt an. „Ihr habt keinen Bunker?"
Er schüttelte den Kopf.
Ein seltsames Gefühl überkam die Frau. „Aber..." Sie hatte sagen wollen: Aber ihr werdet da oben sterben. Doch rechtzeitig besann sie sich und fragte: „Aber wohin werdet ihr dann gehen?"
„Nirgendwo hin", antworteten die boshaften Stimmen für ihn. „Alle anderen werden unten in ihren Bunkern sein, und er wird oben bleiben. Er hat nicht einmal eine Karte für den Schulbunker."
Mrs. Cummings war schockiert. Auf ihre dumpfe, pedantische Art, die ihr Lehrerinnen-Dasein prägte, hatte sie es für selbstverständlich gehalten, daß jeder Schüler einen Berechtigungsschein für die ausgeklügelten unterirdischen Schutzräume des Schulgebäudes besaß. Aber natürlich war dem nicht so. Nur die Kinder, deren Eltern dem ZS angehörten und die dazu beitrugen, die Gemeinschaft zu verteidigen, kamen in den Genuß. Und wenn Fosters Vater ein Anti-Z war...
„Er hat Angst, hier zu sitzen", bemerkten die leisen Stimmen. „Er hat Angst, daß es losgeht, wenn er hier sitzt, während sich alle anderen in der Sicherheit der Bunker aufhalten."
Langsam wanderte er durch die Straßen, die Hände tief in die Taschen vergraben, und trat nach den dunklen Stein-chen, die auf dem Bürgersteig lagen. Die Sonne begann unterzugehen. Stumpfnasige Pendlerraketen spien müde Menschen aus, die froh waren, nach einem Arbeitstag in der über hundert Kilometer weiter westlich gelegenen Fabrikregion nach Hause zu kommen. Auf den fernen Bergen blitzte etwas auf; ein Radarturm drehte sich lautlos in der Abenddämmerung. Die kreisenden NATS hatten Verstärkung bekommen. Die Dämmerstunden waren am gefährlichsten; die auf visuellem Wege arbeitenden Beobachtungsposten konnten schnelle, tieffliegende Fernlenkraketen nicht mehr erkennen. Vorausgesetzt, die Geschosse kamen.
Er kam an einer Nachrichtenmaschine vorbei, die ihm aufgeregt etwas zubrüllte. Krieg, Tod, fantastische neue Waffen im In- und Ausland. Er zog die Schultern hoch und ging weiter, entlang der kleinen Betonkasten, die als Häuser dienten und alle vollkommen gleich aussahen, und deren robuste, verstärkte Bauweise ihren Bewohnern Schutz bei einem Angriff bieten sollte. Vor ihm erhellten strahlende Leuchtreklamen die zunehmende Dämmerung; das Geschäftsviertel, brausender Verkehr und hastende Menschen.
Einen halben Häuserblock von dem grellen Neonmeer entfernt blieb er stehen. Rechts von ihm lag ein öffentlicher Bunker, ein dunkler, tunnelartiger Eingang, in dem ein automatisches Drehkreuz schwach glitzerte. Der Einlaß kostete fünfzig Cents. Wenn er hier auf der Straße war und fünfzig Cents besaß, war alles in Ordnung. Schon oft hatte er sich während der Probealarme in den öffentlichen Bunkern aufgehalten. Aber an anderen Tagen, schrecklichen, alptraumhaften Tagen, die er nie vergessen konnte, da hatte er diese fünfzig Cents nicht besessen. Erstarrt und grauenerfüllt hatte er dagestanden, während die Menschen aufgeregt an ihm vorbeidrängten, und das schrille Jaulen der Sirenen war allgegenwärtig gewesen.
Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, bis er das am hellsten erleuchtete Straßenstück erreicht hatte, die großen, glänzenden Schaufenster von General Electronics, zwei Blocks lang, von allen Seiten beleuchtet, ein gewaltiger Quader aus Licht und Farbenpracht. Er verharrte und betrachtete zum millionstenmal all die wundervollen Dinge, die Ausstellungsstücke, die ihn immer mit hypnotischer Kraft anzogen, wenn er daran vorbeikam.
In der Mitte der weitläufigen Ausstellungshalle befand sich ein einziges Objekt. Ein komplizierter, pulsierender Block aus Maschinerien und Versorgungseinrichtungen, Verstrebungen und dicken Mauern und luftdichten Schleusen. Alle
Scheinwerfer waren darauf gerichtet; riesige Plakate machten auf die zahllosen Vorteile des Bunkers aufmerksam - als hätte irgend jemand daran zweifeln können.
DER NEUE 1972 BOMBEN - UND STRAHLUNGSSICHERE UNTERGRUNDBUNKER IST EINGETROFFEN! ÜBERZEUGEN SIE SICH VON DEN VIELEN VERBESSERUNGEN:
* automatischer Schleusenlift - funktionssicher, eigene Energieversorgung, Superversiegelung
* Dreifach-Verschalung - widersteht garantiert einer Belastung von 5 g, ohne sich zu verformen
* A-Energie versorgtes Heiz- und Kühlsystem - wartungsfreies Luftreinigungssystem
* drei Dekontaminationsstufen für Nahrungsmittel und Wasser
* vier Hygienephasen bei Strahlenverbrennungen
* komplette antibiotische Rezirkulationsanlage
* bequeme Ratenzahlung möglich
Lange Zeit starrte er den Bunker an. Hauptsächlich handelte es sich dabei um einen großen Tank mit einem Stutzen an dem einen Ende, dem Liftschacht, und einem Notausgang am anderen Ende. Der Bunker war vollkommen unabhängig von der Umgebung; eine Miniaturwelt, die Licht, Wärme, Luft, Wasser, Medikamente und fast unerschöpfliche Nahrungsmittelvorräte enthielt. Die volle Ausstattung umfaßte Video- und Tonbänder, Unterhaltungsstoff, Betten, Stühle, Fernseher, alles, was zu einem oberirdischen Heim gehörte. Tatsächlich war es auch ein Heim, das unter der Erde lag. Nichts fehlte, was vielleicht irgendwann einmal gebraucht werden würde. In dem Bunker war eine Familie sicher, konnte sich sogar wohlfühlen, und das auch während der schwersten H-Bombenangriffe oder bei bakteriolo
gischer Verseuchung.
Er kostete zwanzigtausend Dollar.
Während er stumm das massive Ausstellungsstück anstarrte, trat einer der Verkäufer hinaus auf den dunklen Bürgersteig und wandte sich in Richtung Cafeteria. „He, Kleiner", sagte er automatisch, als er an Mike Foster vorbeikam. „Nicht übel, was?"
„Darf ich nur einmal in den Bunker hinein?"
Der Verkäufer hielt an, als er den Jungen erkannte. „Du bist dieser Bursche", sagte er bedächtig, „dieser verdammte Bursche, der uns immer damit belästigt."
„Ich möchte nur einmal hinein. Nur für ein paar Minuten. Ich werde nichts beschädigen - das verspreche ich. Ich werde nicht einmal irgend etwas anfassen."
Der Verkäufer war jung und blond und gutaussehend, gerade erst Anfang Zwanzig. Er zögerte, war unsicher, wie er reagieren sollte. Dieser Junge war eine richtige Nervensäge. Aber er besaß eine Familie, und das bedeutete möglicherweise einen Geschäftsabschluß. Der Verkauf verlief nur stockend; es war Ende September, und um diese Zeit war das Geschäft immer rückläufig. Es hatte also wenig Sinn, dem Jungen zu sagen, er solle verschwinden und seine Nachrichtenbänder verhökern; aber andererseits widersprach es natürlich allen vernünftigen Geschäftsgepflogenheiten, irgendwelche Blagen zwischen den Ausstellungsstücken herumkriechen zu lassen. Sie stahlen einem die Zeit; sie beschädigten die Waren; und sie klauten Kleinigkeiten, wenn niemand aufpaßte.
„Tut mir leid", wehrte der Verkäufer ab. „Sieh mal, am besten schickst du deinen alten Herrn zu uns. Hat er schon unsere Neuheiten gesehen?"
„Ja", sagte Mike Foster gespreßt.
„Warum greift er dann nicht zu?" Der Verkäufer wies mit einer großartigen Geste auf das gewaltige, glitzernde Aus stellungsstück. „Wir machen ihm für seinen alten Bunker ein gutes Angebot, wenn er sich noch in gutem Zustand befindet und es wert ist. Was für ein Modell hat er denn im Augenblick?"
„Wir haben keinen Bunker", erwiderte Mike Foster.
Der Verkäufer blinzelte. „Wie war das?"
„Mein Vater sagt, es ist Geldverschwendung. Er sagt, daß den Leuten Angst eingejagt wird, um sie dazu zu bringen, Dinge zu kaufen, die sie gar nicht brauchen. Er sagt..."
„Dein Vater ist ein Anti-Z?"
„Ja", gab Mike Foster unglücklich zu.
Der Verkäufer stieß zischend den Atem aus. „In Ordnung, Junge. Schade, daß wir nicht ins Geschäft kommen. Du kannst nichts dafür." Er zögerte. „Was zum Teufel ist nur mit ihm los? Beteiligt er sich denn zumindest an den N ATS?"
„Nein."
Der Verkäufer fluchte lautlos. Ein Parasit, der sich durchschmarotzte, der sicher war, weil der Rest der Gemeinschaft dreißig Prozent des Einkommens dafür aufbrachte, um das Zivilschutzsystem leistungsfähig zu halten. Es gab immer ein paar von diesen Subjekten, in jeder Stadt. „Und was sagt deine Mutter dazu?" erkundigte sich der Verkäufer. „Ist sie damit einverstanden?"
„Sie sagt..." Mike Foster verstummte. „Darf ich denn nicht nur für einen Augenblick hineingehen? Ich werde wirklich nichts beschädigen. Nur einmal möchte ich hinein."
„Wie sollten wir je etwas verkaufen, wenn wir Kinder darin herumlaufen lassen? Wir denken nicht daran, diesen Bunker als Vorführmodell preisreduziert abzugeben - damit sind wir schon zu oft auf die Nase gefallen." Die Neugier des Verkäufers wuchs. „Wie wird man überhaupt zu einem Anti-Z? Hat er schon immer so gedacht, oder hat er irgendwann schlechte Erfahrungen gesammelt?"
„Er sagt, daß sie den Menschen soviel Autos und Wasch maschinen und Fernsehgeräte verkauft haben, wie sie brauchen. Er sagt, NATS und Bombenbunker sind zu nichts nütze, deshalb gibt es dabei keine Bedarfsdeckung. Er sagt, die Fabriken können weiter Waffen und Gasmasken produzieren, soviel sie wollen, und solange die Menschen Angst haben, werden sie auch in Zukunft dafür bezahlen, weil sie glauben, daß sie sterben werden, wenn sie es nicht tun, und selbst wenn jemand keine Lust mehr hat, in jedem Jahr Geld für ein neues Auto auszugeben, wird er doch nie damit aufhören, Bunker zum Schutz seiner Kinder zu kaufen."
„Und du glaubst das?" fragte der Verkäufer.
„Ich wünschte, wir hatten einen Bunker", gestand Mike Foster. „Wenn wir einen Bunker wie den dort hatten, dann würde ich jede Nacht hinuntergehen und darin schlafen. Er wäre immer da, wenn wir ihn brauchten."
„Vielleicht gibt es gar keinen Krieg", bemerkte der Verkäufer. Er spürte die Verzweiflung und die Furcht des Jungen, und er lächelte ihn beruhigend an. „Mach dir doch nicht dauernd Sorgen. Vielleicht hast du dir nur zuviel Videofilme angesehen - geh doch zur Abwechslung einmal nach draußen und spiele mit anderen Kindern."
„Draußen ist niemand sicher", sagte Mike Foster. „Man muß sich schon unter der Erde aufhalten. Und ich habe keinen Platz, an den ich hinkönnte."
„Schick doch deinen alten Herrn einmal vorbei", schlug der Verkauf er unbehaglich vor. „Vielleicht können wir ihn überreden. Es gibt da sehr viele verschiedene Teilzahlungsmöglichkeiten. Sag ihm, er soll nach Bill O'Neill fragen. Okay?"
Mike Foster ging davon, die dunkle nächtliche Straße hinunter. Er wußte, daß er schon längst zu Hause sein sollte, aber seine Füße bewegten sich nur schleppend, und sein Körper war schwer und erschöpft. Seine Müdigkeit ließ ihn sich an das erinnern, was der Gymnastiklehrer am Vortag während der Übungen zu ihm gesagt hatte. Sie trainierten gerade das Luftanhalten und mußten die Lunge mit Sauerstoff füllen und dann laufen. Er hatte sich dabei nicht gerade hervorgetan; die anderen rannten noch immer mit rotem Gesicht, wenn er stehenblieb, den Atem ausstieß und krampfhaft nach Luft schnappend dastand.
„Foster", sagte der Lehrer wütend, „du bist tot. Weißt du das eigentlich? Wenn das jetzt ein Gasangriff gewesen wäre..." Bekümmert schüttelte er den Kopf. „Geh dort hinüber und übe für dich allein weiter. Du mußt es besser können, wenn du überleben willst."
Und er wollte überleben, doch ohne Bunker...
Als er die Veranda des Hauses betrat, sah er, daß im Wohnzimmer noch alle Lampen brannten. Er konnte die Stimme seines Vaters hören, und - leiser - die seiner Mutter, die sich in der Küche aufhielt. Er schloß die Tür und zog den Mantel aus.
„Bist du das?" fragte sein Vater. Bob Foster saß ausgestreckt in seinem Lehnstuhl, und in seinem Schoß lagen ein Haufen Tonbänder und Geschäftspapiere aus seinem kleinen Möbelladen. „Wo bist du gewesen? Das Essen steht seit einer halben Stunde auf dem Tisch." Er hatte die Jacke ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt. Seine Arme waren bleich und dünn, aber muskulös. Er war müde; seine Augen waren schattenumrandet, und das Haar begann bereits schütter zu werden. Nervös schichtete er die Bänder von einem Stoß auf den anderen um.
„Es tut mir leid", erklärte Mike Foster.
Sein Vater warf einen Blick auf die Taschenuhr; er war vermutlich der einzige Mann, der noch immer eine Uhr trug. „Geh dir die Hände waschen. Was hast du denn gemacht?" Er musterte seinen Sohn. „Du siehst merkwürdig aus. Geht es dir gut?"
„Ich war in der Stadt", sagte Mike Foster.
„Was wolltest du denn da?"
„Mir die Bunker anschauen."
Wortlos griff sein Vater nach einer Handvoll Berichte und stopfte sie in eine Mappe. Seine dünnen Lippen preßten sich zusammen; tiefe Linien gruben sich in seine Stirn. Er schnaubte wutentbrannt, als einige Bänder nach allen Seiten davonrollten; ungeschickt bückte er sich, um sie aufzuheben. Mike Foster machte keine Anstalten, ihm zu helfen. Er ging zum Wandschrank hinüber und hängte seinen Mantel an den Haken. Als er sich umdrehte, schob seine Mutter bereits den gedeckten Abendtisch in das Eßzimmer.
Sie aßen schweigend, konzentrierten sich auf ihre Teller und blickten nicht einmal auf. Schließlich sagte sein Vater: „Was hast du denn gesehen? Wohl dieselben alten Hüte, oder?"
„Sie haben das neue 72er Modell ausgestellt", antwortete Mike Foster.
„Es ist auch nicht anders als das 71er." Sein Vater warf wütend die Gabel auf den Tisch, der sie auffing und absorbierte. „Ein paar neue Kleinigkeiten und ein bißchen mehr Chrom. Das ist alles." Plötzlich starrte er seinen Sohn herausfordernd an. „Das stimmt doch, oder?"
Mike Foster spielte bedrückt mit dem Hühnerfrikassee. „Die neuen besitzen einen absolut funktionssicheren Lift. Man kann nicht mehr mitten im Schacht steckenbleiben. Man muß nur einsteigen, und alles geht von da an vollautomatisch."
„Nächstes Jahr wird es einen geben, der dich aufhebt und nach unten trägt. Und sobald ihn die Leute gekauft haben, ist er auch schon wieder veraltet. Das haben sie im Sinn -sie wollen, daß man immer kauft und kauft. Sie bringen die neuen Modelle so schnell sie können auf den Markt. Wir haben noch nicht 1972, sondern noch immer 1971. Warum ist dieses Ding jetzt schon im Angebot? Können die denn nicht warten?"
Mike Foster antwortete nicht. All das hatte er schon tausendmal gehört. Niemals gab es etwas Neues, nur neue Chromverzierungen und ähnliche Kinkerlitzchen; trotzdem mußten die bisherigen Modelle irgendwie doch veralten. Die Argumente seines Vaters waren laut, ungeduldig, fast hysterisch, aber sie ergaben keinen Sinn. „Dann kaufen wir uns eben ein altes Modell", stieß er hervor. „Mir ist es egal, mir ist jeder recht. Selbst ein schon längere Zeit gebrauchter Bunker."
„Nein, du willst den neuen. Einen, der glänzt und glitzert, um die Nachbarn zu beeindrucken. Einen Haufen Skalen und Knöpfe und Apparate. Wieviel verlangen sie denn dafür?"
„Zwanzigtausend Dollar."
Sein Vater stieß die Luft aus. „Einfach so, hm?"
„Sie bieten auch bequeme Ratenzahlung an."
„Klar. Dann kannst du das Ding für den Rest deines Lebens abzahlen. Zinsen, Bearbeitungsgebühren... und wie lange läuft eigentlich die Garantie?"
„Drei Monate."
„Was geschieht, wenn er zusammenbricht? Vielleicht hört er dann auf zu sterilisieren und entseuchen. Er wird vermutlich nach Ablauf der drei Monate auseinanderfallen."
Mike Foster schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist groß und robust."
Sein Vater lief rot an. Er war ein kleiner Mann, dünn und leicht und schmächtig. Er mußte plötzlich an sein Leben voller verlorener Kämpfe zurückdenken, daran, wie er sich mühsam hochgearbeitet und sorgfältig alles zusammengehalten hatte, seine Arbeitsstelle, sein Geld, sein Möbelgeschäft, wie er vom Buchhalter zum Geschäftsführer und schließlich zum Besitzer aufgestiegen war. „Sie flößen uns Furcht ein, damit die Geschäfte weiter wie geschmiert laufen", schrie er verzweifelt seine Frau und seinen Sohn an.
„Sie wollen nur eine weitere Depression vermeiden."
„Bob", mahnte ihn seine Frau leise, „hör auf damit. Ich kann das nicht mehr länger ertragen."
Bob Foster blinzelte. „Wovon sprichst du überhaupt?" knurrte er. „Ich bin müde. Diese gottverdammten Steuern. Ein kleiner Laden hat heutzutage praktisch keine Überlebenschancen mehr, die großen Konzerne raffen alles an sich. Dagegen sollte es ein Gesetz geben." Seine Stimme wurde leiser. „Ich glaube, ich habe keinen Hunger mehr." Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ich werde mich auf die Couch legen und ein Nickerchen machen."
Das verhärmte Gesicht seiner Frau glühte vor Zorn. „Du mußt endlich einen Bunker kaufen! Ich kann es nicht mehr ertragen, wie man über uns redet. Alle Nachbarn und Geschäftsleute, alle, die uns kennen. Ich kann nirgendwo mehr hingehen und nichts mehr tun, ohne etwas davon zu hören. Seit dem Tag, an dem sie diese Fahne hißten. Anti-Z. Der letzte in der Stadt. Diese Dinger, die über uns kreisen, diese Nationalen Sicherheitsflieger, und jeder außer uns zahlt dafür."
„Nein", erklärte Bob Foster. „Ich werde mir keinen kaufen."
„Warum nicht?"
„Weil", erwiderte er einfach, „weil ich mir keinen leisten kann."
Stille trat ein.
„Du hast alles in dieses Geschäft gesteckt", sagte Ruth schließlich. „Und trotzdem geht es zugrunde. Du bist wie eine Beutelratte, du stopfst alles in dieses miese kleine Loch hinein. Niemand hat mehr Interesse an Holzmöbeln. Du bist ein Fossil - ein Unikum." Sie schlug auf den Tisch, der wie ein aufgeschrecktes Tier zu hüpfen begann und die leeren Teller zusammenschob. Dann huschte er furiengleich aus dem Zimmer und in die Küche, und die Teller klapperten in seinem Spültank, während er davonstob.
Bob Foster seufzte müde. „Hören wir auf zu streiten. Ich bin im Wohnzimmer. Laß mich ein wenig schlafen, nur eine Stunde. Vielleicht können wir später noch einmal darüber reden."
„Immer erst später", bemerkte Ruth bitter.
Ihr Mann verschwand im Wohnzimmer, eine schmächtige, nach vorn gebeugte Gestalt, mit zerzausten, grauen Haaren und hochgezogenen Schultern, so daß sie wie gebrochene Flügel wirkten.
Mike erhob sich. „Ich mach mich jetzt an die Hausaufgaben", erklärte er und folgte seinem Vater, und auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck.
Im Wohnzimmer war es still; das Videogerät war ausgeschaltet und das Lampenlicht gedämpft. Ruth befand sich in der Küche und programmierte den Herd für die Mahlzeiten des nächsten Monats. Bob Foster lag ausgestreckt auf der Couch, hatte die Schuhe ausgezogen und ein Kissen unter seinen Kopf geschoben. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit. Mike zögerte für einen Moment und sagte dann: „Darf ich dich etwas fragen?"
Sein Vater grunzte und richtete sich auf, öffnete die Augen. „Was?"
Mike nahm Platz und sah ihn an. „Erzähl mir noch einmal, wie du dem Präsidenten einen Ratschlag erteilt hast."
Sein Vater setzte sich hin. „Ich habe dem Präsidenten keinen Rat gegeben. Ich habe nur mit ihm gesprochen."
„Erzähl mir davon."
„Ich habe dir das schon millionenmal erzählt. Immer wieder, schon als du noch ein Baby warst. Du warst dabei." Seine Stimme wurde weicher, als er sich daran erinnerte. „Du warst damals noch ein richtiger Knirps - wir mußten dich tragen."
„Wie hat er ausgesehen?"
„Nun", begann sein Vater, in eine Routine abgleitend, die er im Lauf der Jahre erworben hatte, „er sah fast so aus wie im Fernsehen. Nur etwas kleiner."
„Warum war er hier?" fragte Mike eifrig, obwohl er jede Einzelheit kannte. Der Präsident war sein Held, der Mann, den er auf der ganzen Welt am meisten bewunderte. „Warum hat er sich auf den weiten Weg bis in unsere Stadt gemacht?"
„Er war auf einer Rundreise." Bitterkeit schlich sich in die Stimme seines Vaters. „Er kam ganz zufällig vorbei."
„Was war das für eine Reise?"
„Er hat Städte im ganzen Land besucht." Die Bitterkeit nahm zu. „Wollte nachschauen, wie wir zurechtkommen. Wollte sich überzeugen, ob wir genug NATS und Bombenbunker und Impfdosen und Gasmasken und Radarsysteme gekauft haben, um einen Angriff abwehren zu können. Die General Electronics Company hatte damals gerade damit begonnen, ihre großen Ausstellungsräume und Modelle einzurichten und vorzuführen - alles blitzend und funkelnd und teuer. Die ersten Verteidigungsausrüstungen für den Privatgebrauch." Er preßte die Lippen zusammen. „Alles war per bequemer Ratenzahlung erhältlich. Anzeigen, Plakate, Scheinwerfer, und gratis dazu Gardenien und Geschirr für die Damen."
Mike Foster atmete schwer. „Das war auch der Tag, an dem wir die Zivilschutzfahne erhielten", sagte er sehnsüchtig. „Das war der Tag, an dem er uns die Fahne gegeben hat. Und man hat sie am Flaggenmast im Stadtzentrum aufgezogen, und alle Leute waren anwesend und schrien und jubelten."
„Du erinnerst dich daran?"
„Ich... ich glaube schon. Ich erinnere mich an die Leute und an den Lärm. Und es war heiß. Es war Juni, oder?"
„Der 10. Juni 1965. Ein richtig großes Ereignis. Nur die wenigsten Städte besaßen die große, grüne Fahne. Die Leute kauften noch immer Autos und Fernsehgeräte. Sie hatten noch nicht entdeckt, daß diese Zeit vorüber war. Fernsehgeräte und Autos haben einen Zweck - aber man kann nur eine bestimmte Anzahl von ihnen bauen und verkaufen."
„Er hat dir die Fahne gegeben, nicht wahr?"
„Nun, er überreichte sie uns Geschäftsleuten. Die Industrie- und Handelskammer hatte alles arrangiert. Ein Wettstreit zwischen den Städten, um zu erfahren, wer am schnellsten am meisten kaufen kann. Um etwas für unsere Stadt und gleichzeitig etwas für das Geschäft zu tun. Natürlich stellten sie es so dar, daß man besser auf die Gasmasken und Bombenbunker achtgibt, wenn man sie selbst kauft. Als ob wir jemals Telefonzellen oder Bürgersteige beschädigt hätten. Oder Autobahnen, nur weil der Staat sie bezahlte. Oder die Streitkräfte. Hat es nicht immer eine Armee gegeben? Hat die Regierung nicht immer für die Verteidigung der Bevölkerung gesorgt? Ich schätze, die Verteidigung kostete zuviel. Ich schätze, sie haben einen Haufen Geld gespart und dadurch das nationale Budget ausgeglichen."
„Erzähl mir, was er gesagt hat", flüsterte Mike Foster.
Sein Vater stopfte die Pfeife und setzte sie mit zittrigen Fingern in Brand. „Er sagte Hier ist eure Fahne, Freunde. Ihr habt gute Arbeit geleistet." Bob Foster hustete, als beißender Pfeifenrauch aufstieg. „Er hatte ein rotes Gesicht, war sonnengebräunt und völlig leger. Schwitzte und grinste. Wußte, wie er sich verkaufen mußte. Außerdem kannte er viele der Leute beim Vornamen. Erzählte einen guten Witz."
Die Augen des Jungen hatten sich vor Ehrfurcht geweitet. „Er hat den ganzen weiten Weg zurückgelegt, und du hast mit ihm gesprochen."
„Ja", nickte sein Vater. „Ich habe mit ihm gesprochen. Alle kreischten und jubelten. Die Fahne wurde gerade gehißt, die große, grüne Zivilschutzfahne."
„Du hast gesagt..."
„Ich sagte zu ihm Ist das alles, was Sie mitgebracht haben? Ein Fetzen grünes Tuch?" Bob Foster zog verdrossen an seiner Pfeife. „An diesem Tag wurde ich zum Anti-Z. Aber zu dieser Zeit wußte ich davon noch nichts. Ich wußte nur, daß wir mit einem Mal auf uns alleingestellt waren, sieht man von dem grünen Tuchfetzen ab.
Wir hätten ein Land sein sollen, eine ganze Nation, einhundertsiebzig Millionen Menschen, die zusammenarbeiteten, um sich zu verteidigen. Aber statt dessen waren wir ein Haufen abgeschlossener kleiner Städte, kleiner Festungen. Genau wie im Mittelalter. Jede Stadt stellte ihre eigene Armee auf..."
„Wird der Präsident noch einmal wiederkommen?" fragte Mike.
„Das glaube ich nicht. Er war.... nun, er war auf der Durchreise."
„Wenn er noch einmal wiederkommt", flüsterte Mike gespannt, ohne es wirklich zu hoffen, „können wir dann zu ihm gehen? Können wir ihn dann sehen?"
Bob Foster setzte sich ächzend zurecht. Seine knochigen Arme waren bloß und weiß, und sein hageres Gesicht war von Müdigkeit zerfurcht. Und von Resignation. „Wie teuer war dieses verdammte Ding, das du gesehen hast?" fragte er heiser. „Dieser Bombenbunker?"
Mikes Herzschlag setzte aus. „Zwanzigtausend Dollar."
„Heute ist Dienstag. Ich werde mit dir und deiner Mutter nächsten Samstag in die Stadt gehen." Bob Foster klopfte seine glosende, halb erloschene Pfeife aus. „Ich werde es eben mit dieser bequemen Ratenzahlung versuchen. Die herbstliche Einkaufszeit beginnt bald. Da läuft das Geschäft meistens gut - die Leute kaufen Holzmöbel als Weihnachts geschenke." Abrupt erhob er sich von der Couch. „Nun, ist das ein Angebot?"
Mike konnte nicht antworten, nur stumm nicken.
„Schön", erklärte sein Vater mit verzweifelter Fröhlichkeit. „Von nun an brauchst du wenigstens nicht mehr hinunter in die Stadt zu gehen und dir die Nase an den Schaufenstern plattdrücken."
Der Bunker wurde - gegen zusätzliche zweihundert Dollar
- von einem flinken Trupp Techniker installiert, die braune Kittel mit der auf dem Rücken eingestickten Aufschrift GENERAL ELECTRONICS trugen. Der Hinterhof wurde rasch wieder in Ordnung gebracht, Erde und Sträucher an ihren alten Platz befördert, der Boden geglättet, und die Rechnung schob man respektvoll unter die Haustür durch. Der polternde, nun leere Lieferwagen rumpelte die Straße hinunter, und in der Nachbarschaft trat wieder Frieden ein.
Mike Foster stand mit seiner Mutter und einer kleinen Schar bewundernder Nachbarn auf der zum Hinterhof liegenden Veranda des Hauses. „Nun", sagte Mrs. Carlyle schließlich, „nun haben Sie also auch einen Bunker. Den besten, den es gibt."
„So ist es", stimmte Ruth Foster zu. Sie war ein wenig verlegen wegen der vielen Menschen in ihrer Nähe; es war schon lange her, seit sie zum letztenmal mit so vielen Leuten zusammengetroffen war. Ihre hagere Gestalt strahlte grimmige Befriedigung, fast Ablehnung aus. „Das macht schon einen Unterschied", erklärte sie schroff.
„Ja", bestätigte Mr. Douglas, der weiter unten an der Straße wohnte. „Jetzt besitzen Sie wenigstens einen Zufluchtsort." Er hatte das umfangreiche Instruktionsbuch zur Hand genommen, das die Techniker zurückgelassen hatten. „Hier steht, Sie können sich im Bunker ein ganzes Jahr lang aufhalten. Zwölf Monate können Sie unten leben, ohne auch nur ein einziges Mal an die Oberfläche zu kommen." Bewundernd schüttelte er den Kopf. „Ich habe ein altes 69er Modell. Reicht gerade für sechs Monate. Ich denke, wir könnten vielleicht... "
„Er ist noch immer gut genug für uns", schnitt ihm seine Frau das Wort ab, aber in ihrer Stimme lag ein sehnsuchtsvoller Unterton. „Dürfen wir hinuntergehen und uns alles anschauen, Ruth? Es ist doch alles angeschlossen, oder?"
Mike stieß einen erstickten Laut aus und sprang mit einem Satz nach vorn. Seine Mutter lächelte verständnisvoll. „Zuerst muß er hinunter. Er soll es sich als erster ansehen -wissen Sie, im Grunde haben wir den Bunker für ihn angeschafft."
Die Männer und Frauen standen mit verschränkten Armen im kalten Septemberwind und sahen dem Jungen nach, der den Einstieg zum Bunker erreichte und davor stehenblieb.
Vorsichtig, als hätte er Angst, etwas zu berühren, betrat er den Bunker. Die Öffnung war weit größer als er; sie war konstruiert, einen erwachsenen Mann aufzunehmen. Sobald sein Gewicht auf dem Kabinenboden ruhte, setzte sich der Lift in Bewegung. Mit einem fauchenden Sssss stürzte die Kabine durch den finsteren Schacht in den eigentlichen Bunkerraum. Die Kabine erbebte heftig, als die Stoßdämpfer den Aufprall abfingen, und der Junge stolperte hinaus. Der Lift schoß wieder hinauf zur Oberfläche und versiegelte gleichzeitig den unterirdischen Schutzraum; ein unüberwindbarer Korken aus Stahl und Plastik in dem engen Schacht.
Um ihn herum flammten automatisch die Lampen auf. Der Bunker war leer, noch nicht eingerichtet; man hatte die Nahrungsvorräte und die anderen Ausrüstungsgegenstände noch nicht nach unten gebracht. Es roch nach Lack und Maschinenöl; unter seinen Füßen brummten dumpf die Generatoren. Seine Gegenwart schaltete die Reinigungs - und
Entseuchungssysteme ein; an den kahlen Betonwanden erwachten Meßgerate und Skalen zu plötzlichem Leben.
Er setzte sich auf den Boden, zog die Knie an, und sein Gesicht war ernst, seine Augen geweitet. Außer den Lauten des Generators war es völlig still; die über ihm liegende Welt schien nicht mehr zu existieren. Er befand sich in einem kleinen, isolierten Kosmos; alles, was er brauchte, stand ihm hier zur Verfügung - oder würde ihm bald zur Verfügung stehen: Nahrung, Wasser, Luft, Dinge, mit denen er sich beschäftigen konnte. Alles andere war überflüssig. Er brauchte nur die Hand auszustrecken - und schon besaß er alles, was benötigt wurde. Er konnte hier ewig bleiben, die ganze Zeit, ohne sich zu rühren. In vollkommener Sicherheit. Ohne etwas zu vermissen, ohne Furcht, und der Generator summte unter ihm, die leeren, schmucklosen Wände umhüllten ihn von allen Seiten, sanfte Wärme verbreitend, vollkommene Freundlichkeit ausstrahlend, wie ein lebender Behälter.
Plötzlich schrie er, stieß einen lauten, jubilierenden Schrei aus, der über die Wände tanzte und von ihnen zurückgeworfen wurde. Das Echo betäubte ihn. Fest schloß er die Augen und ballte die Fäuste. Glückseligkeit erfüllte ihn. Er schrie erneut - und ließ das Dröhnen des Widerhalls über sich zusammenschlagen, seine eigene Stimme, die von den Wänden verstärkt wurde, die nah und grell und unvorstellbar mächtig klang.
Die Kinder in der Schule wußten schon Bescheid, noch bevor er am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat. Sie begrüßten ihn, als er auftauchte, grinsten und stießen einander verstohlen an. „Stimmt es, daß deine Leute das neue General Electronics Modell S-72 gekauft haben?" fragte Earl Peters.
„Das stimmt", erwiderte Mike. Sein Herz war von ruhiger
Selbstsicherheit erfüllt, die er nie zuvor empfunden hatte. „Kommt doch vorbei", sagte er so gelassen, wie es ihm möglich war. „Ich werde ihn euch zeigen."
Er ging weiter, voller Genugtuung über ihre neidischen Gesichter.
„Nun, Mike", sagte Mrs. Cummings, als er nach Unterrichtsschluß den Klassenraum verlassen wollte. „Wie fühlst du dich denn so?"
Er blieb vor ihrem Pult stehen, schüchtern und voll stillem Stolz. „Hervorragend", erklärte er.
„Zahlt dein Vater jetzt auch seine Gebühren für die NATS?"
„Ja."
„Und du hast auch eine Berechtigungskarte für unseren Schulbunker?"
Glücklich zeigte er ihr das kleine blaue Plastikarmband um sein Handgelenk. „Er hat heute für alles einen Scheck an die Stadtverwaltung geschickt. Er sagte ,Wenn ich schon so weit gegangen bin, dann kann ich auch noch den Rest des Weges zurücklegen'."
„Nun hast du endlich alles, was jeder andere auch hat." Die ältliche Frau schenkte ihm ein Lächeln. „Ich freue mich darüber. Jetzt bist du ein Pro-Z, obwohl es diesen Ausdruck an sich nicht gibt. Du bist einfach wie... wie jeder andere."
Am nächsten Tag kreischen die Nachrichtenmaschinen die Neuigkeit hinaus. Die ersten Informationen über die neuen Bohrkugeln.
Bob Foster stand in der Mitte des Wohnzimmers, die Nachrichtenbänder in seinen Händen, und sein schmales Gesicht war vor Wut und Verzweiflung gerötet. „Gottverdammt, das ist eine Verschwörung!" Seine Stimme erhob sich in fassungslosem Zorn. „Wir haben gerade das Ding gekauft und jetzt schau dir das an. Schau es dir an!" Er warf seiner Frau das Band zu. „Siehst du? Ich habe es dir pro-phezeiht!"
„Ja, ich habe es gesehen", sagte Ruth empört. „Ich befürchte, du denkst wirklich, daß sich die ganze Welt nur um dich dreht. Ständig werden neue Waffen entwickelt, Bob. Letzte Woche waren es diese Getreidetod-Sporen. Diese Woche sind es eben Bohrkugeln. Du kannst doch nicht erwarten, daß jeder Fortschritt aufhört, nur weil du endlich vernünftig geworden bist und dir einen Bunker zugelegt hast, oder?"
Der Mann und die Frau sahen einander an. „Was, zum Teufel, sollen wir jetzt bloß tun?" fragte Bob Foster leise.
Ruth ging zurück in die Küche. „Ich habe gehört, daß man dabei ist, einen Adapter zu entwickeln."
„Adapter? Was meinst du damit?"
„Damit die Leute keine neuen Bunker kaufen müssen. Im Video lief soeben ein Werbespot. Man ist dabei, eine Art Metallgitter auf den Markt zu bringen, aber zuvor muß die Regierung es noch prüfen. Man breitet es auf dem Boden aus und es hält die Bohrkugeln ab. Das Gitter gibt eine Strahlung von sich und sorgt dafür, daß sie bereits an der Oberfläche explodieren, so daß sie sich nicht bis hinunter in die Bunker graben können."
„Wie teuer?"
„Das haben sie nicht gesagt."
Mike Foster saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa und hörte zu. Er hatte die Neuigkeit bereits in der Schule erfahren. Sie hatten gerade ihre Prüfung in Beerenidentifikation ablegen sollen, wobei sie versiegelte Muster von wildwachsenden Beeren nach genießbar und giftig sortieren mußten, als die Glocke läutete und sie zu einer Zusammenkunft rief. Der Direktor teilte ihnen die Neuigkeiten über die Bohrkugeln mit und hielt gleichzeitig einen Routinevortrag über die Notfallmaßnahmen, die bei dem Auftreten einer
neuen Typhusvariante zu beachten waren.
Seine Eltern stritten sich noch immer. „Wir müssen uns eines dieser Gitter anschaffen", sagte Ruth Foster ernst. „Andernfalls ist es völlig gleichgültig, ob wir nun einen Bunker haben oder nicht. Die Bohrkugeln sind speziell dafür entwik-kelt, in die Erde einzudringen und nach Wärmequellen zu suchen. Sobald die Russen die Produktion aufgenommen haben... "
„Ich werde es kaufen", erklärte Bob Foster. „Ich werde ein Anti-Bohrkugel-Gitter kaufen oder was sie sonst anzubieten haben. Ich werde alles kaufen, was sie auf den Markt werfen. Ich werde überhaupt nie mehr aufhören zu kaufen."
„So schlimm ist es nun wieder auch nicht."
„Weißt du, in dieser Branche haben sie den Verkäufern von Autos und Fernsehgeräten wirklich etwas voraus. Solche Dinge müssen wir einfach kaufen. Es handelt sich nicht um irgendeinen Luxusgegenstand, irgend etwas Großes und Glitzerndes, mit dem man die Nachbarn beeindrucken will und was man im Grunde nicht vermißt, wenn man es nicht hat. Wenn wir diese Bunker und die anderen Sachen nicht kaufen, werden wir sterben. Es hieß immer, die beste Methode, den Leuten etwas zu verkaufen, sei, die Leute unsicher zu machen. Bring sie dazu, daß sie sich unbehaglich fühlen - sag ihnen, daß sie schlecht riechen oder komisch aussehen. Aber dagegen ist der Verkauf von Deodorants und Haarspray ein Witz. Man kann dagegen nicht ankommen. Wenn du nicht kaufst, dann wirst du sterben. Der perfekte Werbeslogan. Kaufen oder sterben - die beste Masche. Entweder du hast einen glänzenden neuen H-Bombenbunker von General Electronic in deinem Hinterhof oder du wirst abgeschlachtet."
„Hör auf, so zu reden!" schnappte Ruth.
Bob Foster setzte sich auf den Küchentisch. „In Ordnung. Ich höre ja schon auf. Ich werde alles mitmachen."
„Also wirst du ein Gitter kaufen? Ich schätze, daß sie Weihnachten auf dem Markt sind."
„Oh, natürlich", nickte Foster. „Sie werden Weihnachten erhältlich sein." Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Ich werde mir eines von diesen verdammten Dingern zu Weihnachten kaufen - so wie jeder andere auch."
Die GEC-Strahlgitter-Adapter waren eine Sensation.
Mike Foster spazierte langsam die menschenüberlaufene Straße entlang, und allmählich begann sich die Dämmerung über den Dezembertag zu senken. Adapter glitzerten jetzt in jedem Schaufenster. Alle Formen und Größen, für jede Art von Bunker. In allen Preisklassen, für jedes Scheckheft passend. Die zahllosen Menschen waren fröhlich und aufgeregt, und es herrschte das typische Weihnachtsgedränge, durch das sich die Menschen gutmütig wühlten, mit Paketen beladen und in dicke Wintermäntel gehüllt. Die Luft war weiß von den wirbelnden Schneeflocken. Autos schoben sich durch die verstopften Straßen. Überall glühten Straßenlampen und Neonreklamen und riesige, hell erleuchtete Schaufenster.
Sein Zuhause war dunkel und still. Seine Eltern waren noch nicht heimgekehrt. Beide arbeiteten noch im Laden; das Geschäft lief schlecht, und seine Mutter hatte aufgrund der finanziellen Not die Stelle eines der Verkäufer einnehmen müssen. Mike hob seine Hand zu dem Kode-Öffner, und die Vordertür gab den Weg frei. Die automatische Heizung hatte das Haus warm und wohnlich gehalten. Er zog seinen Mantel aus und legte die Schulbücher fort.
Er blieb nicht lange im Haus. Sein Herz klopfte vor Aufregung, während er sich der Hintertür näherte und auf die Veranda trat.
Er zwang sich dazu, anzuhalten, sich umzudrehen und ins Haus zurückzukehren. Es war besser, wenn er die Dinge nicht übereilte. Er hatte jeden Moment genau geplant, vom ersten Augenblick an, da er den niedrigen Schachtabschluß fest und massiv gegen den Abendhimmel aufragen sah. Er hatte eine wahre Kunst daraus gemacht; keine Bewegung war überflüssig. Er hatte den ganzen Vorgang entwickelt und solange geprobt, bis daraus ein herrliches Erlebnis wurde. Zuerst das überwältigende Vorgefühl, wenn der Schachtstutzen sichtbar wurde. Dann das bis ins Mark spürbare Zischen der Luft, mit dem der Lift hinunter in den eigentlichen Schutzraum schoß.
Und die Pracht des Bunkers selbst.
Jeden Nachmittag, sobald er zu Hause war, war er hinuntergegangen, tief unter die Oberfläche, umhüllt und beschützt von der stählernen Stille, so wie am ersten Tage. Nun war die Kammer eingerichtet, nicht mehr leer. Versehen mit zahllosen Konserven, Betten, Büchern, Video- und Tonbändern, Bildern an den Wänden, weichen Stoffen und hellen Farben, selbst mit Blumenvasen. Der Bunker war sein Zufluchtsort, wo er sich zusammenrollen konnte und alles in der Nähe hatte, was er benötigte.
Um das Vergnügen solange wie möglich vorab auszukosten, eilte er durch das Haus und wühlte noch eine Weile in seiner Tonband-Sammlung. Er würde bis zum Abendessen unten im Bunker sitzen und sich Wind in the Willows anhören. Seine Eltern wußten, wo sie ihn suchen mußten; er hielt sich immer dort unten auf. Zwei Stunden ununterbrochener Glückseligkeit, allein mit sich selbst im Bunker. Und wenn er mit dem Abendessen fertig war, dann würde er wieder nach unten hasten und dort solange bleiben, bis es Zeit zum Schlafen wurde. Irgendwann spät in der Nacht, wenn seine Eltern fest schliefen, stand er oft leise auf und ging nach draußen, zu dem Bunkerstutzen, hinunter in die stille Tiefe. Um dort bis zum Morgen zu bleiben.
Er fand das gesuchte Tonband und lief durch das Haus hinaus auf die Veranda und in den Hinterhof. Der Himmel war von einem düsteren Grau, durchsetzt mit häßlichen schwarzen Wolkenfetzen. Die Lichter der Stadt blitzten hier und da auf. Im Hof war es kalt und feindlich. Unsicher ging er die Stufen hinunter - und erstarrte.
Vor ihm gähnte ein riesiges Loch. Ein klaffendes Maul, bedrohlich und zahnlos, gegen den Nachthimmel aufgesperrt. Sonst gab es nichts. Der Bunker war fort.
Endlose Zeit stand er da, hielt das Band mit einer Hand umklammert, während er sich mit der anderen am Verandageländer festhielt. Es wurde nun völlig finster, und das gewaltige Loch verschwand in der Dunkelheit. Die ganze Welt zerbrach in Stille und völlige Düsternis. Matt leuchteten dann einige Sterne; in den nahegelegenen Häusern flammten ein paar Lampen auf, und ihr Schein war kalt und schwach. Der Junge sah nichts. Er stand bewegungslos da, sein Körper zu Stein erstarrt, und er blickte noch immer in Richtung der großen Grube, wo sich der Bunker befunden hatte.
Plötzlich stand sein Vater neben ihm. „Wie lange bist du schon hier?" fragte sein Vater. „Wie lange, Mike? Antworte mir!"
Mühsam rang Mike seine Betäubung nieder. „Du bist heute früher gekommen", murmelte er.
„Ich bin absichtlich früher aus dem Geschäft fortgegangen. Ich wollte hier sein, wenn du... nach Hause kommst."
„Er ist fort."
„Ja." Die Stimme seines Vaters war kalt, ausdruckslos. „Der Bunker ist fort. Es tut mir leid, Mike. Ich habe sie angerufen und ihnen gesagt, sie sollen ihn zurücknehmen."
„Warum?"
„Ich konnte ihn mir nicht mehr leisten. Dieses Weihnachten kauft jeder nur die Gitter. Ich konnte damit nicht konkurrieren. Sie waren verdammt anständig. Sie haben mir die
Hälfte der Anzahlung zurückerstattet." Seine Stimme erhielt einen ironischen Unterton. „Ich wußte, wenn ich die Sache vor Weihnachten mit ihnen abmachte, würde ich billiger davonkommen. Jetzt können sie den Bunker noch immer loswerden."
Mike sagte nichts.
„Versuch doch zu verstehen", fuhr sein Vater barsch fort. „Ich mußte alles Kapital, das ich zusammenkratzen konnte, in das Geschäft stecken. Es muß weiterlaufen. Entweder mußte ich den Bunker oder das Geschäft aufgeben. Und wenn ich das Geschäft aufgegeben hätte..."
„Dann hätten wir gar nichts mehr."
Sein Vater ergriff ihn am Arm. „Dann hätten wir auch den Bunker aufgeben müssen." Seine dünnen, kräftigen Finger gruben sich schmerzhaft in Mikes Arm. „Du bist fast schon erwachsen - du bist alt genug, um das zu verstehen. Später werden wir uns einen neuen anschaffen, vielleicht nicht den größten, teuersten, aber einen, der auch seinen Zweck erfüllen wird. Es war ein Fehler, Mike. Ich konnte ihn mir nicht mehr leisten, vor allem jetzt nicht mehr, wo ich mir auch noch dieses gottverdammte Gitter hätte besorgen müssen. Trotzdem werde ich weiter meine Gebühren für die NATS entrichten. Und auch für deine Schulbunkerkarte. Ich lasse das weiterlaufen. Es geht mir nicht mehr ums Prinzip", schloß er verzweifelt. „Ich konnte nicht anders handeln. Verstehst du das, Mike? Ich mußte es tun.“
Mike riß sich los.
„Wo willst du hin?" Sein Vater eilte ihm nach. „Komm zurück!" Ungeschickt griff er nach seinem Sohn, aber in der Finsternis stolperte er und stürzte. Sterne flimmerten vor seinen Augen, als er mit den Kopf gegen die Hauskante fiel; mühsam, nach einem Halt tastend, kam er wieder auf die Beine.
Als er wieder deutlich sehen konnte, war der Hof leer.
Sein Sohn war fort.
„Mike!" schrie er. „Wo bist du?"
Er erhielt keine Antwort. Der Nachtwind blies ihm Schneegestöber ins Gesicht, und die Luft war dünn und frostig. Wind und Dunkelheit umhüllte ihn, sonst war alles leer.
Bill O'Neill warf der Wanduhr einen müden Blick zu. Es war neun Uhr dreißig; endlich konnte er die Türen schließen und das weitläufige, glitzernde Geschäft verlassen, die drängelnden, murmelnden Käuferscharen nach draußen scheuchen und selber auch heimgehen.
„Gott sei Dank", seufzte er, als er der letzten alten Dame, die mit Päckchen und Geschenken beladen war, die Tür aufhielt. Er legte den Kode-Riegel vor und zog die Jalousie herunter. „Was für ein Gedränge. Niemals zuvor habe ich so viele Menschen auf einem Haufen gesehen."
„Alles erledigt", rief ihm AI Conners von der Registrierkasse zu. „Ich werde die Einnahmen zählen - du kannst deinen Rundgang machen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist und wir auch jeden hinausbefördert haben."
O'Neill strich sein blondes Haar zurück und lockerte seine Krawatte. Genüßlich setzte er eine Zigarette in Brand, wobei er sich erst für eine Weile in einem bequemen Sessel niederließ. Erst dann ging er durch das Geschäft, schaltete die Lampen und die großen GEC-Ausstellungsstücke und Zubehörteile aus. Schließlich erreichte er den großen Bombenbunker, der sich im Zentrum des Ausstellungsraums erhob.
Er stieg die Leiter zum Schachteingang hinauf und betrat den Lift. Die Kabine fiel mit einem Ssssss nach unten, und einen Augenblick später befand er sich in dem höhlenähnlichen Inneren des Bunkers.
In einer Ecke hatte sich Mike Foster zusammengekauert, die Knie bis an sein Kinn angezogen, die knochigen Arme um die Fußknöchel geschlungen. Er hielt das Gesicht gesenkt; nur sein zerzaustes braunes Haar war zu sehen. Er bewegte sich nicht, als der Verkäufer verwirrt auf ihn zutrat.
„Jesus!" stieß O'Neill hervor. „Da ist schon wieder dieser Bursche!"
Mike sagte nichts. Er zog die Beine noch fester an und versteckte seinen Kopf so tief wie möglich.
„Was, zum Teufel, treibst du hier unten?" fragte O'Neill überrascht und wütend. Seine Empörung wuchs. „Ich dachte, deine Leute hätten sich eines von diesen Dingern zugelegt." Dann fiel es ihm wieder ein. „Oh, stimmt ja. Wir mußten ihn ja wieder zurücknehmen."
AI Conners kam mit dem Lift herunter. „Was machst du da so lange? Komm, gehen wir nach oben und..." Er entdeckte Mike und verstummte für einen Moment. „Was treibt der denn hier? Wirf ihn raus und komm endlich."
„Komm schon, Junge", sagte O'Neill freundlich. „Es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen."
Mike rührte sich nicht.
Die beiden Männer sahen sich an. „Ich schätze, wir müssen ihn wohl hinaustragen", erklärte Conners grimmig. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn über eine Dekontaminationsmaschine. „Also los. Bringen wir es hinter uns."
Sie mußten sich beide anstrengen. Der Junge wehrte sich verzweifelt, schweigend, kratzte und trat und schlug um sich, biß und spuckte die ganze Zeit. Halb zerrten und halb trugen sie ihn zur Liftkabine und hielten ihn dort lange genug fest, daß sich der Mechanismus einschaltete. O'Neill fuhr mit ihm hinauf; Conners folgte ihm gleich danach. Grimmig, unnachgiebig schoben sie den Jungen zum Ausgang, warfen ihn hinaus und legten hinter ihm den Riegel vor.
„Puh", keuchte Conners und stützte sich auf den Kassentisch.
Sein Ärmel war zerrissen, und seine Wange war zerkratzt und wund. Seine Brille war verrutscht, sein Haar zerwühlt, und er war völlig erschöpft. „Meinst du, daß wir die Bullen anrufen sollen? Mit dem Burschen stimmt doch etwas nicht."
O'Neill stand neben der Tür, schnappte nach Luft und äugte hinaus in die Dunkelheit. Er konnte den Jungen auf dem Bürgersteig sitzen sehen. „Er ist noch immer dort draußen", murmelte er. Menschen drängten sich an dem Jungen vorbei, bis schließlich einer von ihnen anhielt und ihn hochzog. Der Junge riß sich loß und verschwand dann in der Nacht. Die große Gestalt hob ihre Pakete wieder auf, zögerte noch einen Moment und ging dann weiter. O'Neill wandte sich ab. „Was für eine verfluchte Angelegenheit." Mit dem Taschentuch wischte er sich über das Gesicht. „Er hat sich wie ein Verrückter gewehrt."
„Was war denn nur mit ihm los? Er hat überhaupt nichts gesagt, nicht ein verdammtes Wort."
„Weihnachten ist eine scheußliche Zeit, um jemand etwas wegzunehmen", bemerkte O'Neill. Noch ein wenig zittrig griff er nach seinem Mantel. „Es ist wirklich schlimm. Ich wünschte, sie hatten ihn behalten können."
Conners zuckte die Achseln. „Kein Geld, keine Ware."
„Warum, zum Teufel, können wir ihnen nicht etwas entgegenkommen? Vielleicht..." O'Neill suchte nach den richtigen Worten. „Vielleicht könnte man an derartige Leute die Bunker zum Discountpreis verkaufen."
Conners starrte ihn verärgert an. „Zum Discountpreis? Dann verlangt doch jeder Rabatt. Es wäre nicht fair - und wie lange könnten wir uns dann in dem Geschäft halten? Wie lange würde es dauern, bis uns GEC dazwischenfunkt?"
„Ich befürchte, nicht sehr lange", gab O'Neill bedrückt zu.
„Also benutz deinen Verstand." Conners lachte grell. „Was du brauchst, das ist ein tüchtiger Schluck. Komm mit ins
Hinterzimmer - ich habe dort in einer Schublade noch eine halbe Flasche Haig and Haig versteckt. Ein paar Schlucke davon werden dich aufwärmen, bevor du dich auf den Heimweg machst. Genau das ist es, was dir fehlt."
Mike Foster wanderte ziellos durch die dunklen Straßen, schob sich durch die Menschenmassen, die von ihren Einkäufen kamen und nach Hause eilten. Er sah nichts; oft wurde er angerempelt, aber er bemerkte es nicht einmal. Lichter, lachende Menschen, das Getröte von Autohupen und die blinkenden Signale der Verkehrsampeln. Er war wie betäubt, und sein Kopf war leer, tot. Er ging mechanisch weiter, ohne sich dessen bewußt zu sein, ohne etwas zu fühlen.
Rechts von ihm blinkte und glühte eine grelle Neonreklame durch die Schatten der Nacht. Eine riesige Inschrift, hell und farbenfroh.
FRIEDE AUF ERDEN GLÜCK FÜR DIE MENSCHEN
ÖFFENTLICHER BUNKER EINTRITT 50 CENT