Major Lawrence Hall beugte sich über das Binokularmikroskop und korrigierte die Feineinstellung.
„Interessant", murmelte er.
„Nicht wahr? Jetzt befinden wir uns schon drei Wochen auf diesem Planeten und haben noch immer keine gefährliche Lebensform entdeckt." Leutnant Friendly setzte sich auf die Kante des Labortisches und schob einige Reagenzglaser mit Gewebeproben zur Seite. „Was ist das überhaupt für eine sonderbare Welt? Keine Krankheitserreger, keine Läuse, keine Fliegen, keine Ratten, keine..."
„Kein Whisky und keine Bordelle." Hall richtete sich auf. „Alles in allem ein stilles Fleckchen. Und ich war überzeugt, daß diese Brühe hier so etwas in der Art unseres irdischen eberthella typhi zeigen würde. Oder so etwas wie die korkenzieherähnlichen Gebilde der marsianischen Sandfäule."
„Aber dieser ganze Planet ist völlig harmlos. Wissen Sie, ich frage mich, ob dies nicht der Garten Eden ist, den unsere Vorfahren verlassen haben."
„Sie wurden vertrieben", erinnerte Hall.
Er schlenderte zum Fenster des Labors hinüber und betrachtete das Bild, das sich ihm draußen darbot. Er mußte zugeben, daß es ein attraktiver Anblick war. Weite Wälder und Hügel, grüne Niederungen, von Blumenmeeren und Weinstöcken überwuchert; Wasserfälle und hängende Moosteppiche; Obstbäume und Seen und noch mehr Blumen. Man hatte jede Anstrengung unternommen, um die unberührte Natur des Planeten Blau nicht zu zerstören - wie er von dem ersten Scoutschiff getauft worden war, das diese Welt vor sechs Monaten entdeckt hatte.
Hall seufzte. „Wirklich ein stilles Fleckchen. Ich hätte nichts dagegen, später einmal wieder hierher zurückzukommen."
„Die Erde wirkt dagegen wie eine Wüste." Friendly zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und schob sie dann unangebrochen wieder zurück. „Wissen Sie, diese Welt hat auf mich eine absonderliche Wirkung. Ich habe das Rauchen aufgegeben. Vielleicht liegt es an dem Anblick der paradiesischen Natur. Alles wirkt so - so verdammt unberührt. So unbefleckt. Ich kann hier weder rauchen noch einen Papierfetzen einfach fortwerfen. Es ist für mich einfach unmöglich, wie die Sonntagsausflügler Abfall herumliegen zu lassen."
„Die Sonntagsausflügler werden noch früh genug auftauchen", bemerkte Hall. Er setzte sich wieder vor das Mikroskop. „Ich werde noch einige Gewebeproben untersuchen. Vielleicht stoße ich doch noch auf einen tödlich wirkenden Erreger."
„Versuchen Sie es nur." Leutnant Friendly sprang vom Tisch herunter. „Wir sehen uns später; Sie können mir ja Bescheid geben, wenn Sie Erfolg gehabt haben. In Raum Eins findet eine große Versammlung statt. Wir sind fast soweit, daß wir der E. A. Grünlicht für die erste Ladung Kolonisten geben können."
„Sonntagsausflügler!"
Friendly grinste. „Das befürchte ich auch."
Die Tür schloß sich hinter ihm, und seine Schritte verklangen draußen auf dem Gang. Hall war allein in dem Laboratorium.
Eine Weile saß er in Gedanken versunken da. Schließlich beugte er sich nach vorn und zog den Objektträger aus der Halterung des Mikroskops, suchte einen neuen heraus und hielt ihn gegen das Licht, um die Beschriftung zu lesen. Im Labor war es warm und still. Sonnenlicht fiel durch die Fenster und ergoß sich über den Boden. Draußen schwankten die Bäume leicht im Wind. Er fühlte sich ein wenig müde.
„Ja, ja, die Sonntagsausflügler", brummte er und schob den neuen Objektträger in die Halterung. „Und alle stehen bereit, über diese Welt herzufallen und die Bäume zu fällen, die Blumen herauszureißen, in die Seen zu spucken und das Gras in Brand zu setzen. Und nicht einmal der gewöhnliche Schnupfenvirus ist vorhanden, um..."
Er verstummte, seine Stimme wurde erstickt...
Erstickt, weil sich plötzlich die beiden Okulare des Mikroskops um seine Kehle geschlungen hatten und ihn zu erwürgen drohten. Hall zerrte an den Okularen, aber sie bohrten sich immer fester in seine Kehle, Stahlklauen, die so heftig zudrückten wie die Würgeschlinge einer Garotte.
Endlich gelang es ihm, das Mikroskop auf den Boden zu schleudern, und er sprang auf. Geschwind kroch das Mikroskop auf ihn zu und hüpfte an seinem Bein hinauf. Er schmetterte es mit seinem anderen Fuß davon und zog seinen Strahler.
Das Mikroskop begann zu fliehen, rollte mit den Schrauben der Grobeinstellung von ihm fort. Er feuerte. Es löste sich in einer Wolke von Metallteilchen auf.
„Guter Gott!" Zitternd setzte sich Hall und wischte den Schweiß aus seinem Gesicht. „Was zum..." Er massierte seine Kehle. „Was zum Teufel war das?"
Der Versammlungsraum war überfüllt. Fast alle Offiziere des Unternehmens Planet Blau waren anwesend. Kommandant Stella Morrison klopfte mit einem dünnen Plastikstab auf die große Kontrollkarte.
„Dieses umfangreiche ebene Gebiet ist hervorragend geeignet für die eigentliche Stadt. Es liegt nahe genug am Wasser, und das Klima ist abwechslungsreich genug, um den Siedlern genügend Gesprächsstoff liefern zu können. Umfangreiche Vorkommen von verschiedenen Mineralien befinden sich in unmittelbarer Nähe. Die Kolonisten können ihre eigenen Fabriken errichten und brauchen also nichts zu importieren. Dort drüben erstreckt sich das größte Waldgebiet des Planeten. Wenn sie vernünftig sind, werden sie es in Ruhe lassen. Aber wenn sie es vorziehen, lieber Zeitungspapier daraus zu machen, so ist das nicht unser Problem."
Sie wandte sich um und blickte die schweigend dasitzenden Männer an.
„Seien wir realistisch. Einige von Ihnen waren der Meinung, dem Emigrations-Amt die Zustimmung zu verweigern und ihn für uns selbst zu behalten und später einmal hierher zurückzukehren. Mir gefällt dieser Gedanke so sehr wie jedem anderen auch, aber das würde uns nur einen Haufen Ärger einbringen. Dies hier ist nicht unser Planet. Wir sind hier, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen. Wenn wir mit der Arbeit fertig sind, müssen wir weiter. Und wir sind fast fertig. Vergessen wir das also. Alles, was noch zu tun bleibt, besteht darin, unser Einverständnis durchzugeben und dann unsere Sachen zusammenzupacken."
„Liegt der Laborbericht über die bakteriologische Unbedenklichkeit schon vor?" fragte Wood, der stellvertretende Kommandant.
„Natürlich haben wir dieses Problem mit besonderer Sorgfalt behandelt. Aber nach den bisher vorliegenden Informationen gibt es keine Hinweise auf gefährliche Erreger. Ich glaube, wir können uns ruhigen Gewissens mit dem E. A. in Verbindung setzen. Man wird dann ein Schiff losschik-ken, uns abholen und die ersten Siedler hier absetzen. Es gibt keinen Grund..." Sie brach ab.
Stimmengemurmel erfüllte den Raum. Köpfe drehten sich der Tür zu.
Kommandant Morrison runzelte die Stirn. „Major Hall, darf ich Sie daran erinnern, daß es verboten ist, während einer Konferenz hier einzutreten!"
Hall taumelte und hielt sich an dem Türgriff fest. Wie ab wesend sah er sich in dem Konferenzraum um. Schließlich richteten sich seine glasigen Augen auf Leutnant Friendly, der drüben auf der anderen Seite des Raumes saß.
„Kommen Sie her", sagte er heiser.
„Ich?" Friendly rutschte tiefer in seinen Sessel.
„Major, was hat das zu bedeuten?" Wood, der Stellvertretende Kommandant, funkelte ihn verärgert an. „Sind Sie betrunken oder..." Er entdeckte in Halls Hand den Strahler. „Stimmt irgend etwas nicht, Major?"
Beunruhigt erhob sich Leutnant Friendly, näherte sich Hall und legte seine Hand auf Halls Schulter. „Was ist los? Was haben Sie?"
„Kommen Sie mit ins Labor."
„Haben Sie etwas entdeckt?" Der Leutnant musterte forschend Halls erstarrtes Gesicht. „Was ist geschehen?"
„Kommen Sie." Hall ging den Korridor hinunter, und Fri-endly folgte ihm. Dann stieß Hall die Labortür auf und bewegte sich zögernd in den Raum hinein.
„Was ist geschehen?" wiederholte Friendly.
„Mein Mikroskop."
„Ihr Mikroskop? Was ist damit?" Friendly betrat nach ihm das Labor. „Es ist nirgends zu sehen."
„Es ist weg."
„Weg? Wo ist es denn?"
„Ich habe es zerstrahlt."
„Sie haben es zerstrahlt?" Friendly starrte sein Gegenüber an. „Ich verstehe nicht. Warum haben Sie das getan?"
Halls Lippen bewegten sich, doch kein Laut drang aus seinem Mund.
„Ist mit Ihnen alles in Ordnung?" fragte Friendly besorgt. Dann bückte er sich und zog eine schwarze Plastikschachtel aus einem Regal unter dem Tisch. „Sagen Sie, ist das ein Witz?"
Er nahm Halls Mikroskop aus der Schachtel. „Was mein ten Sie damit, als Sie sagten, Sie hätten es zerstrahlt? Hier ist es doch, da, wo es hingehört. Aber nun verraten Sie mir endlich, was das ganze bedeuten sollte. Haben Sie etwas auf dem Objektträger entdeckt? Eine neue Bakterienkultur? Tödlich? Giftig?"
Hall näherte sich langsam dem Mikroskop. Tatsächlich, es war sein Gerät. Dort befand sich auch der Kratzer, knapp oberhalb der Feineinstellung. Und eine der beiden Halterungen für die Objektträger war leicht verbogen. Er strich mit dem Finger darüber.
Vor fünf Minuten hatte dieses Mikroskop versucht, ihn zu töten. Und er wußte, daß er es restlos zerstrahlt hatte.
„Vielleicht sollten Sie sich einem Psychotest unterziehen", schlug Friendly mitfühlend vor. „Sie sehen aus, als hätten Sie einen Schock erlitten. Wenn es nicht etwas schlimmeres ist."
„Vielleicht haben Sie recht", murmelte Hall.
Der Psychotest-Roboter summte, während er die Informationen verarbeitete und auswertete. Schließlich wechselten seine farbigen Kontrolldioden von rot zu grün. „Nun?" fragte Hall.
„Schwerwiegende Störung. Instabilitätsindex hat den Faktor Zehn überschritten."
„Das liegt über der Gefahrenmarke?"
„Ja. Faktor Acht bedeutet Gefahr. Zehn ist ungewöhnlich, vor allem bei einer Person mit Ihrem Psychogramm. Normalerweise stehen Sie bei Vier."
Hall nickte müde. „Ich weiß."
„Wenn Sie mir mehr Daten geben könnten... "
Hall schob das Kinn vor. „Ich kann dir nicht mehr sagen."
„Es ist verboten, während eines Psychotests Informationen zu unterschlagen", erklärte die Maschine unduldsam. „Wenn Sie es doch tun, verfälschen Sie das Ergebnis mei
ner Untersuchung."
Hall erhob sich. „Ich kann dir nicht mehr sagen. Hast du herausfinden können, ob mein seelisches Gleichgewicht gestört ist?"
„Es gibt Hinweise auf erhebliche psychische Störfaktoren. Aber was sie bedeuten oder woher sie rühren, kann ich nicht sagen."
„Danke." Hall schaltete den Tester aus. Er kehrte in sein Quartier zurück. Sein Kopf schwirrte. Begann er den Verstand zu verlieren? Aber er hatte mit seinem Strahler auf etwas geschossen, das wirklich existierte. Ein wenig später hatte er die Atmosphäre im Labor überprüft und in der Luft schwebende Metallpartikel entdeckt, vor allem dort, wo er auf das Mikroskop gefeuert hatte.
Aber wie war so etwas überhaupt möglich? Ein Mikroskop, das zum Leben erwachte und versuchte, ihn zu töten!
Jedenfalls hatte Friendly es aus der Schachtel geholt, und es war völlig unbeschädigt gewesen. Aber wie war es zurück in die Schachtel gekommen?
Er streifte seine Uniform ab und trat unter die Dusche. Während er das warme Wasser über seinen Körper laufen ließ, sann er weiter nach. Der Psychotest-Roboter hatte herausgefunden, daß er einen schweren Schock erlitten hatte, aber dies konnte mehr das Ergebnis als die Ursache seines Erlebnisses sein. Er hatte Friendly davon erzählen wollen, es dann aber doch nicht getan. Wie konnte er von jemand erwarten, daß er eine derartige Geschichte glauben würde?
Er drehte das Wasser ab und griff nach einem der Handtücher auf dem Ständer.
Das Handtuch wickelte sich um sein Handgelenk und zog ihn zur Wand. Rauher Stoff legte sich über seinen Mund und Nase. Wild kämpfte er dagegen an, zerrte und riß an dem Knebel. Auf einmal ließ das Handtuch los. Er stürzte, rutschte über den Boden und prallte mit dem Kopf gegen die Wand. Sterne tanzten vor seinen Augen, dann das Violett übermächtigen Schmerzes.
Hall saß in einer warmen Wasserlache und blickte hinüber zu der Handtuchstange. Das Handtuch bewegte sich nicht mehr, und es unterschied sich in Nichts von den anderen, die dort hingen. Drei Handtücher, dicht nebeneinander, alle identisch, alle bewegungslos. Hatte er das nur geträumt?
Unsicher kam er wieder auf die Beine und rieb sich den Kopf. Er hielt sich so fern wie möglich von der Handtuchstange, als er die Dusche verließ und in seine Kabine huschte. Mit äußerster Vorsicht zog er ein neues Handtuch aus dem Schrank. Es wirkte völlig normal. Er trocknete sich ab und begann sich anzuziehen.
Sein Gürtel schnürte sich um seine Hüfte und versuchte, ihn zu zerquetschen. Es war ein stabiler Gürtel - er besaß breite Metallverstärkungen, an denen sein Strahlerhalfter und andere Dinge befestigt wurden. Schweigend wälzte sich Hall mit dem Gürtel am Boden, kämpfte verbissen. Der Gürtel war wie eine wütende metallene Schlange, und er peitschte mit wilden Schlägen nach dem Mann. Unter Aufbietung all seiner Kräfte gelang es Hall, seinen Strahler zu erreichen.
Unvermittelt ließ der Gürtel los. Er zerstrahlte ihn und ließ sich dann in einen Sessel fallen, schnappte keuchend nach Luft.
Die Lehnen des Sessels schlossen sich um ihn. Aber diesmal war sein Strahler schneller. Er mußte sechs Feuerstöße abgeben, bevor der Sessel sich auflöste und er in Sicherheit war.
Halb angekleidet stand er in der Mitte des Zimmers, und seine Brust hob und senkte sich angestrengt.
„Das ist unmöglich", flüsterte er. „Ich muß den Verstand verloren haben."
Schließlich zog er Hose und Stiefel an und trat auf den leeren Korridor. Er ging zum Lift und fuhr hinauf zur obersten Etage des Gebäudes.
Kommandant Morrison blickte von ihrem Schreibtisch auf, als Hall durch den Robotkontrollschirm trat. Ein Klingeln ertönte.
„Sie sind bewaffnet", sagte der Kommandant vorwurfsvoll.
Hall starrte den Strahler in seiner Hand an. Dann legte er ihn auf den Schreibtisch. „Tut mir leid."
„Was wollen Sie? Was ist mit Ihnen los? Ich habe den Bericht der Testmaschine hier vorliegen. Der Bericht besagt, daß während der letzten vierundzwanzig Stunden Ihr Instabilitätsindex auf Zehn gestiegen ist." Sie musterte ihn forschend. „Wir beide kennen uns schon sehr lange, Lawrence. Was ist nur los mit Ihnen?"
Hall holte tief Atem. „Stella, heute morgen hat mein Mikroskop versucht, mich zu erwürgen."
Ihre blauen Augen weiteten sich. „Was?"
„Und dann, als ich mich nach der Dusche abtrocknen wollte, versuchte mich eines der Handtücher zu ersticken. Ich konnte mich befreien, aber als ich mich anzog, da hat mein Gürtel..." Er verstummte. Stella Morrison war aufgesprungen.
„Wache!" rief sie.
„Warten Sie, Stella." Hall ging auf sie zu. „Hören Sie doch. Dies ist eine ernste Sache. Ich bin nicht verrückt. Viermal haben irgendwelche Gegenstände versucht, mich umzubringen. Gewöhnliche Dinge, die plötzlich zu einer tödlichen Bedrohung wurden. Vielleicht ist es das, wonach wir bis jetzt vergeblich gesucht haben. Vielleicht ist..."
„Ihr Mikroskop hat versucht, Sie zu töten?"
„Es wurde lebendig. Seine beiden Okulare legten sich um meine Kehle."
Lange Zeit herrschte Schweigen. „Hat es außer Ihnen
noch jemand bemerkt?"
„Nein."
„Was haben Sie getan?"
„Ich habe es zerstrahlt."
„Irgendwelche Überreste?"
„Nein", gab Hall zögernd zu. „Tatsache ist, daß das Mikroskop wieder völlig in Ordnung zu sein scheint. Genau wie zuvor. Es befand sich in seiner Schachtel."
„Ich verstehe." Kommandant Morrison nickte den beiden Wachen zu, die auf ihren Ruf hin eingetreten waren. „Bringen Sie Major Hall nach unten zu Captain Taylor und sperren Sie ihn ein, bis wir eine Möglichkeit haben, ihn zurück zur Erde zu bringen, um ihn dort untersuchen zu lassen."
Schweigend sah sie zu, als die beiden Wachen Halls Arme mit magnetischen Klammern fesselten.
„Tut mir leid, Major", erklärte sie. „Solange Sie für Ihre Geschichte keine Beweise vorlegen können, müssen wir annehmen, daß Sie unter psychotischen Halluzinationen leiden. Und der Planet ist noch nicht so gut erforscht, daß wir es uns erlauben können, einen Psychotiker frei herumlaufen zu lassen. Sie könnten eine Menger Ärger anrichten."
Die Wachen zerrten ihn zur Tür. Hall ließ sich ohne Widerstand abführen. In seinem Kopf dröhnte es, und seine Gedanken summten. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht hatte er wirklich den Verstand verloren.
Sie erreichten Captain Taylors Büro. Einer der Wachen betätigte die Türglocke.
„Wer ist da?" erkundigte sich die Robottür schrill.
„Kommandant Morrison hat Befehl gegeben, diesen Mann der Aufsicht des Captains zu unterstellen."
Eine zögernde Pause folgte, dann: „Der Captain ist beschäftigt."
„Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit."
In der Robottür klickten Relais, während sie nach einer
Entscheidung suchte. „Der Kommandant hat Sie geschickt?"
„Ja. Öffne jetzt."
„Bitte treten Sie ein", erklärte der Roboter schließlich. Er entriegelte das Schloß und gab den Weg frei.
Die Wache drückte die Tür auf. Und blieb stehen.
Auf dem Boden lag Captain Taylor, und sein Gesicht war blau, seine Augen traten hervor. Nur Kopf und Füße waren sichtbar. Ein rot-weiß gestreifter Teppichläufer hatte sich um ihn gewickelt und zog sich mehr und mehr zusammen.
Hall ließ sich auf die Knie fallen und zerrte an dem Teppich. „Schnell!" brüllte er. „Ziehen Sie ihn weg!"
Die drei Männer zogen zusammen. Der Teppich leistete Widerstand.
„Hilfe", krächzte Taylor kaum hörbar.
„Wir versuchen es ja!" Sie zerrten angestrengt an dem Läufer. Schließlich hatten Sie Erfolg. Der Teppich flatterte hastig auf die geöffnete Tür zu. Eine der Wachen zerstrahlte ihn.
Hall rannte zum Bildsprecher und wählte mit zittrigen Fingern die Nummer von Kommandant Morrison.
Ihr Gesicht erschien auf dem Monitor.
„Schauen Sie!" keuchte er.
Sie blickte an ihm vorbei und starrte Taylor an, der auf dem Boden lag, die beiden Wachen, die neben ihm knieten und ihre Strahler noch immer schußbereit hielten.
„Was... was ist geschehen?"
„Ein Teppich hat ihn angegriffen." Hall lächelte humorlos. „Nun, wer ist hier verrückt?"
„Ich werde noch einige Wachen nach unten schicken." Sie blinzelte verwirrt. „Sofort. Aber wie..."
„Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre Strahler bereithalten. Und geben Sie besser noch Großalarm für alle."
Hall legte vier Gegenstände auf Kommandant Morrisons
Schreibtisch: Ein Mikroskop, ein Handtuch, einen Metallgürtel und einen kleinen rot und weiß gestreiften Teppichläufer.
Nervös wich sie zurück. „Major, sind Sie sicher...?"
„Jetzt sind sie nicht mehr gefährlich. Das ist das seltsame an der ganzen Angelegenheit. Dieses Handtuch. Vor ein paar Stunden hat es versucht, mich umzubringen. Ich habe mich nur dadurch retten können, indem ich es zerstrahlt habe. Aber hier liegt es vor uns, als ob nichts geschehen wäre. Sieht aus wie immer. Harmlos."
Captain Taylor befingerte den rot-weiß gestreiften Läufer. „Es ist mein Teppich. Ich habe ihn von der Erde mitgebracht. Meine Frau hat ihn mir geschenkt. Ich... ich hätte niemals angenommen, daß er mich angreifen würde."
Sie blickten einander an.
„Wir haben auch den Teppich zerstrahlt", bemerkte Hall.
Stille trat ein.
„Aber was hat mich dann überfallen?" fragte Captain Taylor. „Wenn es nicht der Teppich war?"
„Es sah aus wie dieser Läufer", sagte Hall langsam. „Und was mich angegriffen hat, das sah aus wie dieses Handtuch."
Kommandant Morrison hielt das Handtuch ins Licht. „Es ist nur ein gewöhnliches Handtuch! Es kann Sie unmöglich bedroht haben."
„Natürlich nicht", stimmte Hall zu. „Wir haben diese Gegenstände allen Tests unterzogen, die nur vorstellbar sind. Sie sind genau das, was sie zu sein scheinen; alles ist unverändert. Völlig harmlose anorganische Gegenstände. Es ist unmöglich, daß eines dieser Objekte zum Leben erwacht ist und uns zu töten versuchte."
„Aber etwas hat es versucht", beharrte Taylor. „Etwas hat mich angegriffen. Und wenn es nicht der Teppich war, was war es dann?"
Leutnant Dodds wühlte in der Schublade und suchte seine Handschuhe. Er war in Eile. Die ganze Einheit war zu einer außerplanmäßigen Besprechung befohlen worden.
„Wo habe ich sie nur...?" murmelte er. „Zum Teufel, was ist das?"
Vor ihm auf dem Bett lagen zwei Paar völlig identischer Handschuhe nebeneinander.
Dodds runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. Wie war das möglich? Er besaß nur ein Paar. Das andere mußte jemand anders gehören. Gestern abend war Bob Wesley bei ihm gewesen, und sie hatten Karten gespielt. Vielleicht hatte er seine Handschuhe vergessen.
Erneut blitzte der Bildsprecher auf. „An alle Einheiten. An alle Einheiten. Kommen Sie bitte in den Versammlungsraum."
„Schon gut!" brummte Dodds mürrisch. Er griff nach einem Paar Handschuhe und zog sie an.
Kaum hatte er sie übergestreift, zwangen die Handschuhe seine Hände hinunter zu seiner Hüfte. Gegen seinen Willen schlossen sich seine Finger um den Griff des Strahlers und zogen ihn aus dem Halfter.
„Ich will verdammt sein!" entfuhr es Dodds. Die Handschuhe richteten den Strahler auf seine Brust.
Die Finger krümmten sich. Ein Fauchen ertönte. Dodds halbe Brust löste sich auf. Was von ihm übrigblieb, sackte langsam zu Boden, und noch immer stand sein Mund weit offen vor Erstaunen.
Korporal Tenner eilte über das Gelände auf das Hauptgebäude zu, sobald er das Heulen der Alarmsirenen vernommen hatte.
Am Eingang des Gebäudes hielt er an, um seine metallverstärkten Stiefel auszuziehen. Dann runzelte er die Stirn.
Vor der Tür befanden sich zwei Sicherheitsmatten und nicht nur eine, wie es üblich war.
Nun, es spielte keine Rolle. Es waren schließlich genau die gleichen. Er trat auf eine der Matten und wartete. Die Mattenoberfläche schickte einen Hochfrequenzstrom durch seine Füße und Beine, der alle Sporen oder Samen abtöten würde, die sich vielleicht im Gelände an ihn geheftet haben mochten.
Dann betrat er das Haus.
Einen Moment später erreichte Leutnant Fulton atemlos die Tür. Er legte hastig seine Stiefel ab und stellte sich auf eine der Matten.
Die Matte faltete sich über seinen Füßen zusammen.
„He", schrie Fulton. „Laß mich los!"
Er versuchte seine Füße zu befreien, aber die Matte ließ ihn nicht los. Fulton bekam Angst. Er zog seine Waffe, wagte aber nicht, auf seine eigenen Füße zu schießen.
„Hilfe!" brüllte er.
Zwei Soldaten stürzten hinzu. „Was ist los, Leutnant?"
„Reißen Sie dieses verdammte Ding weg."
Die Soldaten begannen zu lachen.
„Das ist kein Scherz", stieß Fulton hervor, und plötzlich wurde er kalkweiß im Gesicht. „Es bricht mir die Füße! Es..."
Er begann zu schreien. Die Soldaten zerrten wie wild an der Matte. Fulton stürzte, rollte und wand sich, und er schrie noch immer. Schließlich gelang es den Soldaten, einen Zipfel der Matte loszubekommen.
Foltons Füße waren verschwunden. Nur ein paar Knochenstümpfe waren übriggeblieben, und auch sie waren bereits halb aufgelöst.
„Jetzt wissen wir also", sagte Hall grimmig, „daß es sich um eine organische Lebensform handelt."
Kommandant Morrison wandte sich an Korporal Tenner.
„Sie haben zwei Matten gesehen, als Sie ins Haus kamen?"
„Ja, Kommandant. Zwei Matten. Ich stellte mich auf... auf eine davon. Und trat dann ein."
„Sie haben Glück gehabt, Korporal Tenner. Sie haben die richtige benutzt."
„Wir müssen von nun an sehr vorsichtig sein", erklärte Hall. „Und wir müssen nach Duplikaten Ausschau halten. Offenbar imitiert es, was es auch sein mag, alle Gegenstände, die es findet. Wie ein Chamäleon. Eine Art Tarnung."
„Zwei", murmelte Stella Morrison und betrachtete die beiden Blumenvasen, die vor ihr auf dem Tisch standen. „Es wird schwierig werden. Zwei Handtücher, zwei Vasen, zwei Stühle. Es gibt viele Dinge, die völlig gleich aussehen und doch ganz harmlos sein können. Alle außer einem."
„Das ist das Problem. Ich habe nichts Ungewöhnliches im Labor festgestellt. Schließlich ist ein zweites Mikroskop nicht verdächtig. Es paßt dazu."
Kommandant Morrison löste sich von den identischen Blumenvasen. „Was ist damit? Vielleicht ist eine von ihnen -nun, was auch immer es ist."
„Viele Dinge sind doppelt vorhanden. Es gibt sie nur paarweise. Zwei Stiefel zum Beispiel. Oder Kleidungsstücke wie Strümpfe. Oder Einrichtungsgegenstände. Ich habe in meinem Zimmer den zusätzlichen Sessel nicht einmal bemerkt. Er paßte zur Möblierung. Wir können niemals völlig sicher sein. Und irgendwann..."
Der Bildsprecher leuchtete auf. Das Gesicht des Stellvertretenden Kommandanten wurde sichtbar. „Stella", sagte Wood, „ein neuer Unglücksfall."
„Wer ist es diesmal?"
„Ein Offizier. Völlig aufgelöst. Nur noch ein paar Knöpfe und sein Strahler sind übriggeblieben. Es handelt sich dabei um Leutnant Dodds."
„Das macht insgesamt drei", bemerkte Kommandant Mor
rison.
„Wenn es organischer Natur ist, dann muß es einen Weg geben, es zu vernichten", brummte Hall. „Wir haben bereits ein paar zerstrahlt und sie damit offensichtlich getötet. Sie sind also verwundbar! Aber wir wissen nicht, wieviele es noch von ihnen gibt. Wir haben fünf oder sechs von ihnen zerstört. Aber vielleicht ist es eine ins Unendliche teilbare Substanz. Eine Art Protoplasma."
„Und inzwischen...?"
„Inzwischen sind wir diesem Wesen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Oder diesen Wesen. Nun, damit haben wir also unsere tödliche Lebensform gefunden. Das erklärt, warum uns alles andere so harmlos erschien. Nichts kann mit derartigen Geschöpfen konkurrieren. Natürlich gibt es auch auf der Erde Lebensformen, die durch Mimikry überleben. Insekten. Pflanzen. Und dann noch die Bohrschnecken von der Venus. Aber es gibt nichts, was ähnlich weit entwik-kelt ist."
„Dennoch können wir es - oder sie - zerstören. Sie sagten es doch selbst. Und das bedeutet, daß wir eine Chance haben."
„Wenn wir diese Wesen finden." Hall blickte sich in dem Zimmer um. Neben der Tür hingen zwei Regenmäntel an der Wand. Waren dort soeben auch schon zwei gewesen?
Müde rieb er über seine Stirn. „Wir müssen versuchen, ob wir irgendein Gift oder irgendeine ätzende Substanz finden, etwas, das den Feind vollkommen abtötet. Wir können nicht einfach dasitzen und darauf warten, daß ein neuer Angriff erfolgt. Am besten wäre ein Spray. Auf diese Weise sind wir auch mit den Bohrschnecken fertiggeworden."
Kommandant Morrison starrte an ihm vorbei, stand steif da.
Er drehte sich um und folgte ihrer Blickrichtung. „Was ist los?"
„Da hinten in der Ecke stehen zum erstenmal zwei Aktenordner. Vorher war nur einer da - so glaube ich zumindest." Sie schüttelte verwirrt den Kopf. „Aber wie können wir sicher sein? Diese ganze Angelegenheit wächst mir allmählich über den Kopf."
„Was Sie brauchen, das ist ein anständiger kräftiger Schluck."
Ihr Gesicht erhellte sich. „Das ist eine gute Idee. Aber..."
„Aber was?"
„Ich möchte lieber nichts anrühren. Woher weiß ich denn..." Sie tastete nach dem Strahler an ihrer Hüfte. „Wissen Sie, ich möchte das Ding auf alles richten, was ich sehe... "
„Panikreaktion. Aber ich befürchte, daß wir einer nach dem anderen daran glauben müssen."
Captain Unger empfing den Notruf über den Ohrempfänger. Er brach sofort seine Arbeit ab, griff nach den Proben, die er gesammelt hatte, und eilte zurück zum Fahrzeug.
Der Rückweg war kürzer, als er sich erinnern konnte. Er hielt inne, war verwirrt. Dort stand es, das glänzende kleine, kegelförmige Fahrzeug, dessen Reifen tief in den weichen Boden eingesunken waren; die Tür stand offen.
Unger eilte darauf zu, sorgsam bedacht, seine Proben nicht zu verlieren. Er öffnete den Laderaum und verstaute seine Beute. Dann ging er nach vorn und glitt hinter das Steuer.
Er drehte den Anlasser. Aber der Motor sprang nicht an. Das war äußerst merkwürdig. Während er es noch einmal versuchte, machte er eine verblüffende Entdeckung.
Knappe hundert Meter von ihm entfernt, unter den Bäumen, stand ein zweiter Wagen, und er sah genauso aus wie jener, in dem er saß. Und dies war auch die Stelle, von der er meinte, dort das Fahrzeug abgestellt zu haben. Es mußte sich noch jemand anders in der Nähe befinden und Proben einsammeln, und diesem Jemand gehörte dieser Wagen hier.
Unger wollte wieder aussteigen.
Die Wagentür wölbte sich ihm entgegen. Der Sitz faltete sich um seinen Kopf. Das Schaltbrett wurde durchsichtig und schleimig. Er keuchte - er war am Ersticken. Er schlug um sich, wollte der Falle entkommen, wehrte sich verzweifelt. Überall um ihn war es plötzlich feucht, eine blubbernde, glitschige Nässe, die so warm und weich war wie lebendes Fleisch.
„Arg." Sein Kopf war nun bedeckt. Sein Körper war in der schleimigen Masse versunken. Der ganze Wagen verwandelte sich in dickflüssigen Brei. Er versuchte, seine Hände freizubekommen, aber es gelang ihm nicht.
Und dann kamen die Schmerzen. Sein Körper begann sich aufzulösen. Und schließlich wußte er, was das für eine Flüssigkeit war.
Säure. Magensäure. Er befand sich in einem Magen.
„Nicht herschauen!" rief Gail Thomas.
„Warum nicht?" Korporal Hendricks schwamm auf sie zu und grinste. „Warum soll ich nicht schauen?"
„Weil ich jetzt das Wasser verlasse."
Die Sonne beschien den See. Das Licht funkelte und tanzte über die Wellen. Ringsum erhoben sich riesige, moosbedeckte Bäume, gewaltige stumme Säulen, die zwischen den blühenden Büschen und Blumen emporragten. Im Wald herrschte Stille. Bis auf das Plätschern der Wellen war kein Laut zu hören. Sie waren sehr weit von dem Forschungslager entfernt.
Gail kletterte ans Ufer und schüttelte die Wassertropfen ab, strich ihr Haar aus den Augen.
„Wann darf ich denn wieder schauen?" fragte Hendricks
und schwamm mit geschlossenen Augen im Kreis.
„Gleich." Gail verschwand zwischen den Bäumen und erreichte die Stelle, wo sie ihre Uniform abgelegt hatte. Sie fühlte das warme Sonnenlicht auf ihren nackten Schultern und Armen brennen, und sie setzte sich ins Gras und griff nach ihrer Bluse und der Hose.
Sie säuberte ihre Bluse von Laub und Borkenstückchen und begann sie anzuziehen.
Unten im See wartete Korporal Hendricks ungeduldig, schwamm immer noch im Kreis. Zeit verstrich. Kein Laut war zu hören. Er öffnete die Augen. Von Gail war nichts zu sehen.
„Gail?" rief er.
Es war sehr still.
„Gail!"
Keine Antwort.
Rasch schwamm Korporal Hendricks ans Ufer. Er stieg aus dem Wasser, und mit einem Satz war er bei seiner Uniform, die er säuberlich am Seeufer zusammengefaltet hatte. Er packte seinen Strahler.
„Gail!"
Die Bäume schwiegen. Kein Laut ertönte. Er stand da, blickte sich um, runzelte die Stirn. Allmählich stieg eisige Furcht in ihm auf, und selbst die warmen Sonnenstrahlen spürte er nicht mehr.
„Gail! Gail!!!“
Und noch immer herrschte Stille.
Kommandant Morrison war besorgt. „Wir müssen etwas unternehmen", erklärte sie. „Wir dürfen nicht länger zögern. Zehn Todesfälle bei dreißig Zusammenstößen. Ein Drittel ist ein zu hoher Prozentsatz."
Hall sah von seiner Arbeit auf. „Jedenfalls wissen wir jetzt, mit was wir es zu tun haben. Es ist eine Art Protoplasma mit fast unbegrenzter Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit." Er hob die Sprühflasche. „Ich schätze, das wird uns eine Vorstellung davon verschaffen, wieviel inzwischen hier eingedrungen sind."
„Was ist das?"
„Eine gasförmige Mischung aus Arsen und Wasserstoff."
„Und was wollen Sie damit anfangen?"
Hall befestigte seinen Helm. Seine Stimme drang nun aus Morrisons Ohrempfänger. „Ich werde es im Labor versprühen. Ich vermute, daß sich hier mehr von diesen Biestern aufhalten als anderswo in der Station."
„Warum ausgerechnet hier?"
„Alle Proben und Musterexemplare wurden zunächst hierher geschafft, und hier machte sich auch das erste von ihnen bemerkbar. Ich schätze, sie wurden zusammen mit den Proben eingeschleppt, oder sogar in Gestalt der Proben, und dann verteilten sie sich über das ganze Gebäude."
Kommandant Morrison schloß nun ebenfalls ihren Helm. Die vier Soldaten folgten ihrem Beispiel. „Arsenwasserstoff ist auch für menschliche Wesen schädlich, nicht wahr?"
Hall nickte. „Wir müssen vorsichtig sein. Wir können es zwar hier bei einem begrenzten Test einsetzen, aber das ist auch schon alles."
Er regulierte die Sauerstoffzufuhr an seinem Helm.
„Was bezwecken Sie mit diesem Test?" wollte sie wissen.
„Wenn wir überhaupt ein Ergebnis erzielen, dann bekommen wir zumindest einen Anhaltspunkt, in welchem Umfang sie bis jetzt eingedrungen sind. Dann wissen wir genau, wie groß das Problem ist. Die Lage ist vielleicht ernster, als wir im Augenblick vermuten."
„Was meinen Sie damit?" fragte sie und schaltete ihre Sauerstoffversorgung höher.
„Auf dem Planeten Blau sind ungefähr hundert Menschen eingesetzt. Wie es im Moment aussieht, ist die schlimmste
Alternative die, daß es uns nacheinander alle erwischt. Aber das sagt noch nicht viel. Gruppen von dieser Größe gehen jeden Tag die Woche verloren. Das ist ein Risiko, das jeder eingehen muß, der als erster auf einem fremden Planeten landet. Letzten Endes ist das relativ unwichtig."
„Unwichtig im Vergleich zu...?"
„Wenn sie tatsächlich unbegrenzt teilbar sind, dann müssen wir es uns gründlich überlegen, ob wir diesen Planeten überhaupt noch verlassen dürfen. Es wäre vielleicht besser, hierzubleiben und einen Mann nach dem anderen zu verlieren, als eventuell das Wagnis einzugehen, sie möglicherweise im Sonnensystem einzuschleppen."
Sie blickte ihn an. „Ist es das, was Sie herausfinden wollen
- ob sie wirklich unbegrenzt teilbar sind?"
„Ich möchte erfahren, womit wir es zu tun haben. Vielleicht gibt es nur ein paar wenige von ihnen. Oder vielleicht sind sie überall." Er machte eine Handbewegung, die das ganze Laboratorium einschloß. „Möglicherweise ist die Hälfte aller Gegenstände in diesem Raum nicht das, wofür wir sie halten... Es wäre schlimm, wenn sie uns angreifen würden. Und noch schlimmer wäre es, wenn sie es nicht tun würden."
„Schlimmer?" Stella Morrison war verwirrt.
„Ihre Mimikry ist perfekt. Zumindest bei anorganischen Objekten. Ich habe durch eins von diesen Geschöpfen durchgesehen, Stella, als es mein Mikroskop imitierte. Es vergrößerte, reflektierte, ließ sich scharf einstellen, unterschied sich nicht von einem gewöhnlichen Mikroskop. Das ist eine Art von Mimikry, die alles übertrifft, an das wir jemals zu denken gewagt haben. Die Nachahmung erstreckt sich sogar auf die einzelnen Elemente, aus denen das imitierte Objekt besteht, begnügt sich nicht nur mit der oberflächlichen Erscheinung."
„Sie meinen also, daß eines von ihnen mit uns zurück zur
Erde gelangen könnte? In der Gestalt eines Kleidungsstücks oder als Teil der Laboreinrichtung?" Sie schauderte.
„Wir gehen davon aus, daß es sich um eine Art Protoplasma handelt. Eine derartige Wandlungsfähigkeit erfordert eine einfache ursprüngliche Gestalt - und das setzt eine ungeschlechtliche Vermehrung durch Zellteilung voraus. Wenn dem wirklich so ist, dann sind ihrer Fortpflanzungsfähigkeit keine Grenzen gesetzt. Ihre Fähigkeit, ihre Opfer völlig aufzulösen, erinnert mich an unsere einzelligen Protozoen."
„Halten Sie sie für intelligent?"
„Ich weiß es nicht. Ich hoffe zumindest, daß das nicht zutrifft." Hall hob die Sprühflasche. „Auf jeden Fall sollte uns dieser Test Aufschluß über ihre Verbreitung geben. Und, bis zu einem gewissen Grad, meine Vermutung bestätigen, daß sie einfach genug aufgebaut sind, um sich durch Zellteilung fortzupflanzen - die schlimmste Möglichkeit, von unserem Standpunkt aus gesehen.
Also beginnen wir", schloß Hall.
Er umklammerte die Sprühflasche, drückte den Abzug und schwenkte den Schlauch langsam im Labor umher. Stella Morrison und die vier Wachen standen schweigend hinter ihm. Nichts geschah. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster und funkelten auf den Reagenzgläsern und Apparaturen.
Nach einer Weile löste er den Finger vom Abzug.
„Ich habe nichts bemerkt", erklärte Kommandant Morrison. „Sind Sie sicher, daß das etwas nützt?"
„Arsenwasserstoff ist farblos. Aber öffnen Sie um Himmels willen nicht Ihren Helm. Das könnte fatale Folgen haben. Und bewegen Sie sich nicht."
Sie warteten.
Eine Zeitlang geschah nichts. Dann...
„Großer Gott!" stieß Kommandant Morrison hervor.
An der gegenüberliegenden Seite des Labors begann plötzlich ein Karteikasten zu wanken. Er wallte auf, brodelte und sackte in sich zusammen, bis er seine Form völlig verloren hatte. Die homogene gallertartige Masse klatschte auf einen Tisch, floß hinunter auf den Boden, brodelte und bäumte sich auf.
„Dort drüben!"
Ein Bunsenbrenner zerschmolz und bildete eine zuckende Pfütze. Im ganzen Raum begannen sich Gegenstande zu bewegen. Eine große Glasretorte sackte in sich zusammen und zerrann zu einem Klumpen. Ein Ständer mit Reagenzgläsern, ein Regal mit Chemikalien...
„Vorsicht!" schrie Hall und sprang zurück.
Ein dicker Glaskolben fiel mit einem schmatzenden Geräusch vor ihm auf den Boden. Es war eine einzige riesige Zelle. Undeutlich konnte er den Zellkern erkennen, die Membrane, die Vakuolen in dem Zellplasma.
Pipetten, Zangen, ein Mörser, alles zerschmolz. Die Hälfte aller Gegenstände im Labor erwachte zum Leben. Sie hatten fast alles imitiert, was es zu imitieren gab. Jedes Mikroskop besaß einen Doppelgänger. Jede Röhre und jeder Behälter und jede Flasche und jeder Flakon...
Einer der Soldaten hatte seinen Strahler gezogen. Hall schlug ihm die Waffe aus der Hand. „Nicht schießen! Arsenwasserstoff ist feuergefährlich. Kommen Sie, verlassen wir das Labor. Wir haben erfahren, was wir wissen wollten."
Rasch öffneten sie die Labortür und traten auf den Korridor. Hall schlug die Tür hinter sich zu und verriegelte sie sorgfältig.
„Es ist also schlimm", bemerkte Kommandant Morrison.
„Ja, wir haben praktisch keine Chance. Die Chemikalie hat sie nur ihre Form verlieren lassen; vermutlich dürfte eine hohe Konzentration sie abtöten. Aber wir besitzen nicht genug von dem Zeug. Und selbst wenn wir den ganzen Pla neten damit überfluten könnten, dürften wir nicht einmal unsere Strahler einsetzen."
„Angenommen, wir würden den Planeten verlassen?"
„Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, sie vielleicht im Sonnensystem einzuschleppen."
„Wenn wir hierbleiben, werden wir absorbiert, aufgelöst, einer nach dem anderen", protestierte Morrison.
„Wir könnten uns Arsen liefern lassen. Oder ein anderes Gift, das sie zerstört. Aber es würde auch gleichzeitig alle anderen Lebensformen auf dieser Welt abtöten. Es würde nicht mehr viel davon übrig bleiben."
„Dann werden wir eben den ganzen Planeten verwüsten. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, verbrennen wir seine Oberfläche. Selbst wenn am Ende nur noch eine tote Welt zurückbleibt."
Sie blickten einander an.
„Ich werde mich mit der Systemkontrolle in Verbindung setzen", erklärte Kommandant Morrison. „Ich werde dafür sorgen, daß unsere Einheit von hier abgeholt wird - zumindest alle, die davon übrig sind. Dieses arme Mädchen unten am See..." Sie fröstelte. „Wenn sich hier niemand mehr aufhält, dann werden wir uns den vielversprechendsten Weg überlegen, um diesen Planeten zu säubern."
„Sie wollen also das Risiko eingehen, sie möglicherweise auch auf der Erde einzuschleppen?"
„Können Sie uns imitieren? Können Sie Lebewesen nachahmen? Höhere Lebensformen?"
Hall zögerte. „Offenbar nicht. Sie scheinen auf anorganische Objekte beschränkt zu sein."
Kommandant Morrison lächelte grimmig. „Dann werden wir eben ohne jegliche Ausrüstungsgegenstände zurückkehren."
„Aber unsere Kleidung! Sie können Gürtel, Handschuhe, Stiefel imitieren... "
„Wir werden unsere Kleider nicht mitnehmen. Wir kehren ohne alles zurück. Und ich meine wirklich ohne alles."
Hall schürzte die Lippen. „Ich verstehe." Er dachte nach. „Es könnte funktionieren. Aber können Sie auch die Leute überreden, all... all ihren Besitz hier zurückzulassen? Alles, was ihnen gehört?"
„Wenn es um ihr Leben geht, dann kann ich es ihnen befehlen."
„Dann ist das vielleicht die einzige Chance, die wir haben."
Der nächste Raumkreuzer, der groß genug war, um alle überlebenden Mitglieder der Einheit aufnehmen zu können, war nur zwei Stunden Flugzeit entfernt und bewegte sich derzeit Richtung Erde.
Kommandant Morrison blickte von dem Funkgerät auf. „Sie wollen wissen, welche Schwierigkeiten wir hier haben."
„Lassen Sie mich mit ihnen reden." Hall setzte sich vor den Bildschirm. Die goldbetreßte Uniform eines Kreuzerkommandanten flimmerte auf dem Monitor. „Hier spricht Major Lawrence Hall von der Forschungsabteilung dieser Einheit."
„Captain Daniel Davis. Sie haben Probleme, Major?"
Hall schürzte die Lippen. „Ich würde gern erst an Bord Ihres Schiffes Auskunft darüber geben, wenn Sie einverstanden sind."
„Warum nicht jetzt?"
„Captain, Sie werden uns so oder so für verrückt halten. Wir werden alles ausführlich besprechen, wenn wir an Bord sind." Er zögerte. „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß wir Ihr Schiff nackt betreten werden."
Der Captain wölbte die Augenbrauen. „Nackt?"
„So ist es."
„Ich verstehe." Aber offensichtlich verstand er nicht.
„Wann werden Sie hier eintreffen?"
„Ich würde sagen, in etwa zwei Stunden."
„Es ist jetzt 13 Uhr nach unserer Zeit. Wir können Sie also um 15 Uhr erwarten?"
„Ungefähr, ja", bestätigte der Captain.
„Wir werden warten. Sorgen Sie dafür, daß keiner Ihrer Leute das Schiff verläßt. Öffnen Sie für uns eine Schleuse. Wir gehen ohne einen einzigen Gegenstand an Bord. Sobald wir im Schiff sind, starten Sie sofort."
„Stella Morrison beugte sich über den Monitor. „Captain -wäre es möglich... daß Ihre Leute...?"
„Wir werden vollautomatisch landen", beruhigte er sie. „Keiner von meinen Männern wird an Deck sein. Niemand wird Sie sehen."
„Danke", murmelte sie.
„Das ist doch selbstverständlich." Captain Davis salutierte. „Wir sehen uns dann in zwei Stunden, Kommandant."
„Die Leute sollen sich draußen auf der Wiese versammeln", ordnete Kommandant Morrison an. „Die Kleidung wird bereits hier abgelegt, um zu verhindern, daß irgendwelche Dinge mit nach draußen gelangen und Kontakt mit dem Schiff bekommen."
Hall blickte ihr ins Gesicht. „Wenn wir so unser Leben retten können, ist es das doch wert, oder?"
Leutnant Friendly biß sich auf die Lippen. „Ich werde es auf keinen Fall tun. Ich bleibe hier."
„Sie kommen mit."
„Aber, Major..."
Hall sah auf seine Uhr. „Es ist jetzt 14 Uhr 50. Das Schiff kann jede Minute eintreffen. Ziehen Sie Ihre Uniform aus und gehen Sie nach draußen zum Landeplatz."
„Kann ich denn wirklich nichts mitnehmen?"
„Nichts. Nicht einmal Ihren Strahler... Man wird uns an Bord neue Kleidung aushändigen. Kommen Sie! Ihr Leben hängt davon ab. Außerdem ergeht es allen so."
Friendly zerrte unentschlossen an seinem Hemd. „Nun, ich schätze, ich benehme mich reichlich albern."
Der Bildsprecher summte. Eine Robotstimme erklärte schrill: „Bitte verlassen Sie sofort das Gebäude! Bitte verlassen Sie sofort das Gebäude und begeben Sie sich zum Landeplatz! Bitte verlassen Sie sofort das Gebäude! Bitte..."
„So früh?" Hall rannte zum Fenster und hob die Metalljalousie ein wenig an. „Ich habe nichts von der Landung gehört."
Mitten auf dem Landeplatz lag ein schlanker grauer Raumkreuzer. Seine Hülle war von Meteoreinschlägen zerbeult und zerschrammt. Bewegungslos lag er da. Kein Zeichen von Leben war um ihn zu entdecken.
Eine Gruppe nackter Leute bewegte sich bereits zögernd über den Platz auf den Kreuzer zu, der in dem hellen Sonnenlicht glitzerte.
„Dort ist er." Hall streifte sein Hemd ab. „Gehen wir!"
„Warten Sie auf mich!"
„Aber dann schnell." Hall hatte sich bereits ausgezogen. Die beiden Männer eilten hinaus auf den Korridor. Unbekleidete Soldaten hasteten an ihnen vorbei. Sie stürmten durch die Korridore und näherten sich rasch dem Ausgang, sprangen die Stufen hinunter, hinaus auf den Landeplatz. Aus allen Gebäuden der Forschungseinheit drangen nackte Männer und Frauen und gingen schweigend auf das Schiff zu.
„Was für ein Anblick", erklang dann eine Stimme. „Solange wir leben, wird uns das anhängen."
„Aber zumindest werden wir leben", bemerkte jemand anders.
„Lawrence!"
Hall wollte sich umdrehen.
„Bitte, schauen Sie sich nicht um. Gehen Sie weiter. Ich bin dicht hinter Ihnen."
„Was für ein Gefühl ist es denn, Stella?" fragte Hall.
„Ich finde es reichlich ungewöhnlich."
„Aber es ist die Sache wert?"
„Ich glaube schon."
„Was meinen Sie, wird uns jemand glauben?"
„Ich habe da meine Zweifel", erwiderte sie. „Ich bin mir selbst nicht mehr sicher."
„Jedenfalls werden wir lebend davonkommen."
„Ich hoffe es."
Hall blickte zu der Rampe hinauf, die sich aus der geöffneten Schleuse zu ihnen hinunterschob. Die ersten Männer begannen bereits die schräge Metallplatte emporzusteigen, schoben sich durch die runde Schleuse und verschwanden im Schiff.
„Lawrence... "
Ein seltsamer Unterton schwang in ihrer Stimme mit. „Lawrence, ich..."
„Ja?"
„Ich habe Angst."
„Angst!" Er blieb stehen. „Warum?"
„Ich weiß es nicht", stammelte sie.
Von allen Seiten drängten jetzt die Mitglieder des Forschungsteams heran. „Denken Sie nicht mehr daran. Versuchen Sie die Angst zu überwinden." Er setzte einen Fuß auf die Rampe. „Auf geht's."
„Ich möchte zurück!" Panik entstellte ihre Stimme. „Ich..."
Hall lachte. „Dazu ist es jetzt zu spät, Stella." Er stieg die Rampe hinauf, hielt sich an dem Geländer fest. Er war eingekeilt in einen Menschenknäuel, der nach oben drängte und sie mittrug. Sie erreichten die Schleuse. „Jetzt haben wir's geschafft."
Sein Vordermann verschwand in der Öffnung.
Hall ging hinter ihm her, hinein in das dunkle Innere des Schiffes, in die stille Finsternis, die vor ihm lag. Stella Morri
son folgte ihm.
Um genau 15 Uhr landete Captain Davis sein Schiff im Zentrum des Landeplatzes. Relais ließen die Schleuse mit einem lauten Krachen aufgleiten. Davis und die anderen Offiziere des Schiffes warteten im Kontrollraum, saßen unruhig vor den Schaltpulten.
„Nun", sagte Captain Davis nach einer Weile, „Wo stecken sie?"
Nervosität machte sich unter den Offizieren breit. „Vielleicht ist etwas schiefgegangen?"
„Vielleicht war das Ganze nur ein verdammter Witz?"
Sie warteten und warteten.
Aber niemand kam.