Der russische Soldat kämpfte sich nervös den verwüsteten Hang des Hügels hinauf und hielt sein Gewehr schußbereit. Er blickte sich um, befeuchtete seine trockenen Lippen, und sein Gesicht war ausdruckslos. Von Zeit zu Zeit hob er eine Hand und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken, schob seinen Mantelkragen zurück.
Eric wandte sich an Korporal Leone. „Wollen Sie ihn? Oder kann ich ihn haben?" Er justierte die Einstellung des Periskops, so daß die Gestalt des Russen das Blickfeld füllte, und das Fadenkreuz zerschnitt seine eckigen, dunklen Umrisse.
Leone dachte nach. Der Russe kam näher, bewegte sich schnell, rannte beinahe. „Schießen Sie nicht. Warten Sie." Leone spannte sich. „Ich glaube nicht, daß wir gebraucht werden."
Der Russe erhöhte seine Geschwindigkeit, ließ Asche und Schutthäufchen unter seinen Schritten zur Seite spritzen. Er erreichte den Hügelkamm und verharrte, keuchte, sah sich um. Der Himmel war bedeckt, von treibenden Wolken aus grauen Staubteilchen verdunkelt. Kahle Baumstämme ragten hier und da empor; der Boden war eben und öde, von Schutt übersät, und an einigen Stellen erhoben sich die Ruinen von Gebäuden wie gebleichte Schädel dem verhangenen Himmel entgegen.
Der Russe war besorgt. Er wußte, daß etwas nicht stimmte. Er stieg weiter bergab. Jetzt befand er sich nur noch wenige Meter von dem Bunker entfernt. Eric wurde unruhig. Er spielte mit seiner Pistole und blickte Leone an.
„Machen Sie sich keine Sorgen", erklärte Leone. „Er wird hier nicht eindringen. Man wird sich um ihn kümmern."
„Sind Sie sicher? Er ist verdammt weit gekommen."
„Sie befinden sich in der unmittelbaren Nähe des Bunkers. Er betritt jetzt den gefährlichen Bereich. Beruhigen Sie sich!"
Der Russe begann schneller zu laufen, schlitterte den Hügel hinunter, seine Stiefel versanken in der grauen Aschedecke, uad er versuchte, sein Gewehr hochzuhalten. Für einen Moment verharrte er dann und hob sein Fernglas an die Augen.
„Er schaut direkt zu uns hin", sagte Eric.
Der Russe kam näher. Sie konnten seine Augen sehen, die wie zwei blaue Steine waren. Sein Mund war ein wenig geöffnet. Er hatte eine Rasur bitter nötig; Stoppeln wuchsen auf seinem Kinn. An einer seiner knochigen Wangen befand sich ein Pflaster, das am Rand blau verfärbt war. Ein pilzartiger Fleck. Sein Mantel war verdreckt und feucht. Einen Handschuh hatte er verloren. Während er lief, schlug sein Munitionsgürtel hin und her.
Leone berührte Erics Arm. „Dort kommt eine."
Über den Boden huschte etwas Kleines und Metallisches, blitzte in dem trüben Sonnenlicht des Mittags. Eine Metallkugel. Sie hastete den Hügel hinauf, dem Russen entgegen, in fliegender Eile. Es war eine kleine, eine von den BabyTypen. Ihre Klauen waren ausgefahren und zwei rasiermesserscharfe Extremitäten vollführten einen Wirbel aus weißem Stahl. Der Russe hörte sie kommen. Augenblicklich fuhr er herum und feuerte. Die Kugel zerbarst in tausend Teile. Aber da tauchte schon eine zweite auf und folgte der ersten. Der Russe schoß erneut.
Eine dritte Kugel sprang am Bein des Russen hinauf, klik-kend und pfeifend hinauf zur Schulter, und die kreisenden Klingen bohrten sich in die Kehle des Russen.
Eric entspannte sich. „Nun, das war's. Gott, diese verdammten Dinger verschaffen mir eine Gänsehaut. Manchmal denke ich, daß es uns besser ging, als es sie noch nicht gab."
„Hätten wir sie nicht eingesetzt, hätten es die anderen auf jeden Fall getan." Leone wedelte mit seiner Zigarette, die sich sofort entzündete. „Ich frage mich, warum ein Russe diesen ganzen Weg allein zurückgelegt hat. Es ist niemand zu sehen, der ihn begleitet haben könnte."
Leutnant Scott kam aus dem Tunnel herausgeschlurft und betrat den Bunker. „Was ist passiert? Ich habe etwas auf dem Bildschirm gehabt."
„Ein Iwan."
„Nur einer?"
Eric drehte das Periskop. Scott betrachtete das Bild. Jetzt krochen zahllose Metallkugeln über den dahingestreckten Leichnam, dumme Metallbälle, die klickten und summten und den Russen in kleine Teile zerschnitten, die sie dann abtransportierten.
„Was für ein Haufen Klauen", murmelte Scott.
„Sie sind wie Fliegen. Es ist für sie kein Spiel mehr."
Scott schob angeekelt das Periskop zur Seite. „Wie Fliegen. Ich frage mich, warum er sich dort draußen herumgetrieben hat. Sie wissen doch, daß sich überall unsere Klauen befinden."
Ein größerer Roboter hatte sich zu den kleinen Kugeln gesellt. Eine lange, stumpfe Röhre mit beweglichen Stielaugen, mit denen er die Operation beaufsichtigte. Von dem Soldaten war nicht mehr viel zu sehen. Seine Überreste wurden von dem Heer der Klauen den Hang hinunterbefördert.
„Sir", begann Leone, „wenn Sie einverstanden sind, würde ich gerne hinausgehen und ihn mir anschauen."
„Warum?"
„Vielleicht hat er etwas mitgebracht."
Scott überlegte, zuckte dann die Achseln. „In Ordnung. Aber seien Sie vorsichtig."
„Ich habe meine Plakette." Leone klopfte auf das Metallband an seinem Handgelenk. „Mir wird schon nichts zustoßen."
Er nahm sein Gewehr und näherte sich vorsichtig dem Bunkerausgang, schlängelte sich zwischen den Betonblök-ken und den ineinander verwobenen stählernen Panzersperren hindurch. Oben war die Luft kalt. Er näherte sich den Überresten des Soldaten, und unter seinen Stiefeln war weiche Asche. Wind umpfiff ihn und wirbelte graue Partikel auf, blies sie ihm ins Gesicht. Er zwinkerte und schlich weiter.
Als er näher kam, zogen sich die Klauen zurück und einige erstarrten zur Unbeweglichkeit. Er berührte seine Plakette. Der Iwan hätte dafür wohl alles gegeben! Kurzwellige harte Strahlung, die von der Plakette emittiert wurde, neutralisierte die Klauen und setzte sie außer Betrieb. Selbst der große Roboter mit seinen wedelnden Stielaugen erstarrte respektvoll, als er in seine Nähe geriet.
Er beugte sich über die Reste des Soldaten. Eine Hand war fest geschlossen. Sie schien etwas zu umklammern. Leone drückte die Finger auseinander. Ein plombierter Aluminiumbehälter. Er glänzte noch immer.
Er schob ihn in die Tasche und machte sich auf den Weg zurück in den Bunker. Hinter ihm erwachten die Klauen zu neuem Leben, bewegten sich und fuhren mit ihrer Arbeit fort. Erneut bildete sich die Prozession, und die Metallkugeln glitten mit ihrer Last durch die graue Asche. Er hörte, wie ihre Gliedmaßen über den Boden scharrten. Er schauderte.
Scott musterte ihn forschend, als er den glänzenden Behälter aus der Tasche hervorzog. „Das hat er bei sich gehabt?"
„In seiner Hand." Leone schraubte den Deckel ab. „Vielleicht sollten Sie sich das einmal anschauen, Sir."
Scott nahm ihn an sich. Er schüttete den Inhalt auf seine Handfläche. Ein kleines Stück Seidenpapier, das vorsichtig zusammengefaltet war. Er setzte sich unter die Lampe und faltete es auseinander.
„Was steht drauf?" erkundigte sich Eric. Mehrere Offiziere näherten sich durch den Tunnel. Dann erschien Major Hendricks.
„Major", wandte sich Scott an ihn, „schauen Sie sich das einmal an."
Hendricks las den Zettel. „Das haben Sie gerade bekommen?"
„Ein einzelner Kurier. Vor ein paar Minuten."
„Wo ist er?" fragte Hendricks scharf.
„Die Klauen haben ihn erwischt."
Major Hendricks brummte. „Hier." Er reichte den Zettel an seine Begleiter weiter. „Ich glaube, das ist es, worauf wir gewartet haben. Sie haben wirklich sehr viel Zeit dafür gebraucht."
„Also wollen sie Verhandlungen aufnehmen", bemerkte Scott. „Werden wir darauf eingehen?"
„Das liegt nicht in unserem Ermessen." Hendricks setzte sich. „Wo steckt der Kommunikationsoffizier? Ich will mit der Mondbasis sprechen."
Leone versank ins Grübeln, während der Kommunikationsoffizier die Außenantenne vorsichtig ausfuhr und den Himmel über dem Bunker nach einem Zeichen für die Anwesenheit eines russischen Spionageflugzeugs absuchte.
„Sir", wandte sich Scott plötzlich an Hendricks, „es ist doch merkwürdig, daß sie so plötzlich damit ankommen. Wir setzen die Klauen seit fast einem Jahr ein. Und nun ganz plötzlich wollen sie verhandeln."
„Vielleicht sind die Klauen in ihre Bunker eingedrungen."
„Einer von den großen, der Typ mit den Beinen, ist letzte Woche in einen Bunker der Iwans eingesickert", berichtete Eric. „Er hat einen ganzen Zug erwischt, bevor sie ihre Luke schließen konnten."
„Woher wissen Sie das?"
„Ein Freund erzählte mir davon. Das Ding kehrte mit - mit Überresten zurück."
„Die Mondbasis, Sir", meldete der Kommunikationsoffizier.
Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines lunaren Kontrolleurs. Seine frische Uniform stand im scharfen Kontrast zu den Uniformen, die die Männer in dem Bunker trugen. Und er war glattrasiert. „Mondbasis."
„Hier ist die vorgeschobene Stellung L-Whistle. Auf der Erde. Verbinden Sie mich mit General Thompson."
Der Kontrolleur verschwand. Kurz darauf schälten sich die massigen Umrisse von General Thompson heraus. „Was gibt es, Major?"
„Unsere Klauen haben einen einzelnen russischen Kurier mit einer Botschaft erwischt. Wir wissen nicht, ob wir darauf reagieren sollen - in der Vergangenheit hat es ähnliche Tricks gegeben."
„Wie lautet die Botschaft?"
„Die Russen wollen, daß wir einen einzelnen Offizier im Diplomatenrang zu ihren Linien hinüberschicken. Zu einer Konferenz. Die Themen dieser Konferenz wurden nicht näher erläutert. Sie behaupten, daß Gründe" - er warf einen Blick auf das Schreiben -„daß Gründe von ernster Dringlichkeit es ratsam erscheinen lassen, ein Gesprach zwischen einem Repräsentanten der UN-Streitkrafte und ihnen zu eröffnen."
Er hob das Schreiben zum Bildschirm hinauf, damit es der General selbst sehen konnte. Thompsons Augen bewegten sich.
„Was sollen wir tun?" wollte Hendricks wissen.
„Schicken Sie einen Mann hinaus."
„Sie halten es nicht für eine Falle?"
„Vielleicht ist es eine. Aber die Angaben über ihren vorge schobenen Posten sind korrekt. Trotz des Risikos ist es einen Versuch wert."
„Ich werde einen Offizier damit beauftragen. Und Sie über die Ergebnisse unterrichten, sobald er zurückkehrt."
„In Ordnung, Major." Thompson unterbrach die Verbindung. Der Bildschirm wurde grau. Über ihnen wurde die Antenne wieder eingefahren.
Tief in Gedanken versunken rollte Hendricks den Zettel zusammen.
„Ich werde gehen", erklärte Leone.
„Sie verlangen jemand im Diplomatenrang." Hendricks kratzte sich am Kinn. „Diplomatenrang. Ich war seit Monaten nicht mehr draußen. Vielleicht wird mir ein wenig frische Luft guttun."
„Glauben Sie nicht, daß es riskant ist?"
Hendricks zog das Periskop heran und blickte forschend hinein. Die Überreste des Russen waren verschwunden. Nur eine einzige Klaue war in Sichtweite. Sie rollte sich zusammen, verschwand wie eine Krabbe in der Asche. Wie eine scheußliche Metallkrabbe...
„Das ist das einzige, was mir Sorgen macht." Hendricks massierte sein Handgelenk. „Ich weiß, daß ich sicher bin, solange ich das hier bei mir habe. Aber irgend etwas ist mit den Klauen... Ich hasse diese verdammten Dinger. Ich wünschte, wir hatten sie niemals erfunden. Etwas stimmt mit ihnen nicht. Erbarmungslose kleine... "
„Hätten wir sie nicht entwickelt, hätten es die Iwans getan."
Hendricks schob das Periskop fort. „Wie dem auch sei, sie scheinen den Krieg zu gewinnen. Ich glaube, das ist etwas Gutes."
„Das klingt so, als ob Sie genauso viel Schiß haben wie die Iwans."
Hendricks warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich glaube, ich sollte jetzt besser aufbrechen, wenn ich vor Beginn der Nacht dort sein will."
Er holte tief Atem und glitt dann hinaus auf den grauen, zerwühlten Boden. Einige Sekunden später entzündete er eine Zigarette und sah sich aufmerksam um. Die Landschaft war tot. Nichts rührte sich. Meilen entfernt konnte er nur endlose Asche- und Schlackefelder erkennen, hier und da die Ruinen von Gebäuden. Und ein paar Bäume, ohne Blätter oder Äste, nur die kahlen Stämme. Über ihm die ewig eilend im Wind dahinziehenden grauen Wolkenfetzen, die sich zwischen Erde und Sonne schoben und für einen dauernden Wechsel des ohnehin kalten Lichtes sorgten.
Major Hendricks setzte sich in Marsch. Zu seiner Rechten rannte etwas, etwas Rundes und Metallisches. Eine Klaue, die geifernd etwas verfolgte. Vielleicht ein kleines Tier, eine Ratte. Sie jagten auch Ratten. Doch dies war nur eine Nebenbeschäftigung, vielleicht Zeitvertreib.
Er erreichte den Kamm des kleinen Hügels und hob sein Fernglas. Die russischen Linien befanden sich einige Meilen vor ihm. Sie hatten dort einen Vorposten eingerichtet. Der Kurier war von dort gekommen.
Ein untersetzter Roboter mit kreisenden Armen schob sich an ihm vorbei, tastete suchend hin und her. Der Roboter setzte seinen Weg fort und verschwand hinter einigen Trümmern. Hendricks blickte ihm nach. Diesen Typ hatte er nie zuvor gesehen. Es tauchten immer mehr Typen auf, die ihm völlig neu waren, neue Varianten und Formen, die von den unterirdischen Fabriken produziert wurden.
Hendricks zertrat seine Zigarette und eilte weiter. Die Verwendung von künstlichen Wesen in der Kriegführung war ein interessantes Thema. Wann hatte man damit begonnen? Es war ein zwangsläufiger Prozeß gewesen. Nach Ausbruch des Krieges hatte die Sowjetunion große Anfangserfolge erzielt. Der Großteil Nordamerikas war von der Landkarte ausradiert worden. Natürlich hatte man sofort Vergeltung geübt. Der Himmel war voller kreisender Scheibenbomber gewesen, schon lange vor Ausbruch des Krieges; jahrelang hatten sie dort oben gewartet. Die Scheiben verwüsteten binnen Stunden ganz Rußland, nachdem es Washington erwischt hatte.
Doch dies hatte Washington auch nicht mehr geholfen.
Die Regierungen des Amerikanischen Blocks waren schon im ersten Jahr zur Mondbasis geflohen. Etwas anderes war ihnen nicht übriggeblieben. Europa war verschwunden, ein Schlackenhaufen voller Unkraut, das auf der Asche und den Knochen wuchs. Der Großteil Nordamerikas war verseucht; nichts konnte mehr angebaut werden, niemand konnte dort leben. Einige Millionen Menschen hatten in Kanada und unten in Südamerika überlebt. Aber während des zweiten Jahres begannen sowjetische Fallschirmspringer vom Himmel zu fallen, zunächst nur einige, dann immer mehr. Sie trugen die ersten wirklich effektiven Anti-Strahlen-Ausrüstungen; was von Amerika verblieben war, wurde hinauf zum Mond geschafft.
Alles, bis auf die Truppen. Die restlichen Truppen hielten aus, so gut sie konnten, ein paar tausend hier, ein Zug dort. Niemand wußte genau, wo sie sich befanden; sie lagerten, wo es möglich war, zogen während der Nacht weiter, versteckten sich in den Ruinen, in Abwasserkanälen, Kellern, bei Ratten und Schlangen. Es schien, als hätte die Sowjetunion den Krieg gewonnen. Bis auf eine Handvoll Raketen, die täglich vom Mond abgeschossen wurden, gab es kaum noch Waffen, die gegen sie eingesetzt werden konnten. Sie kamen und gingen, wie es ihnen beliebte. Der Krieg war, allen praktischen Erwägungen nach, zu Ende. Nichts Wirksames stellte sich ihnen entgegen.
Und dann erschienen die ersten Klauen. Und über Nacht veränderte sich der Charakter des Krieges.
Am Anfang waren die Klauen unbeholfen. Langsam. Die Iwans zerstörten sie fast so schnell, wie sie aus ihren unterirdischen Tunnels herauskrochen. Aber dann wurden sie besser, schneller und schlauer. Sie wurden in Fabriken erbaut, die auf der Erde zurückgeblieben waren. Fabriken, die tief unter der Erdoberfläche lagen, hinter den sowjetischen Linien. Fabriken, die einst Atomraketen produziert hatten und die fast vergessen gewesen waren.
Die Klauen wurden schneller und sie wurden größer. Neue Typen tauchten auf, einige mit Fühlern, einige, die fliegen konnten. Es gab springende Arten und zahllose andere Varianten. Die besten Techniker auf dem Mond arbeiteten an ihrer Entwicklung, machten sie immer komplizierter, immer flexibler. Sie wurden perfekt; und die Iwans bekamen einen Haufen Ärger mit ihnen. Einige der kleinen Klauen lernten sich zu verstecken, sich in die Asche hineinzugraben und lauernd dazuliegen.
Und dann begannen sie, in die russischen Bunker einzudringen, hineinzugleiten, wenn die Luken geöffnet wurden, um zu lüften oder um einen Blick nach draußen zu werfen. Eine Klaue im Innern eines Bunkers genügte, eine wirbelnde Kugel aus Klingen und Metall - mehr war nicht nötig. Und wenn eine hineingelangte, folgten andere. Mit solch einer Waffe würde der Krieg nicht mehr lange dauern.
Vielleicht war er bereits vorbei.
Vielleicht war er auf dem Weg, um diese Neuigkeit zu erfahren. Vielleicht hatte das Politbüro entschieden, in den sauren Apfel zu beißen. Schlimm, daß es so lange gedauert hatte. Sechs Jahre. Eine lange Zeit für einen Krieg dieser Art, wenn man bedachte, wie er geführt worden war. Die automatischen Vergeltungsscheiben, die sich auf ganz Rußland hinunterschraubten, Hunderte und Tausende an der Zahl. Die Bakterienkristalle. Die ferngelenkten Raketen, die durch die Luft pfiffen. Die Kettenbomben. Und jetzt das, die Roboter, die Klauen...
Die Klauen waren nicht wie andere Waffen. Sie lebten, betrachtete man es von einem praktischen Standpunkt aus, ob die Regierungen es nun eingestehen wollten oder nicht. Sie waren keine Maschinen. Sie waren lebende Wesen, die kreisten und krochen und plötzlich aus der grauen Asche emporsprangen und sich auf einen Menschen warfen, an ihm hinaufkletterten und nach seiner Kehle griffen. Und dafür waren sie auch erschaffen worden. Das war ihre Aufgabe.
Sie erfüllten ihre Aufgabe ausgezeichnet. Vor allem später, als die Neuentwicklungen auftauchten. Jetzt konnten sie sich selbst reparieren. Sie waren ihr eigener Herr. Strahlungsplaketten beschützten die UN-Truppen, aber wenn ein Mann seine Plakette verlor, war er Freiwild für die Klauen, gleichgültig, welche Uniform er trug. Tief unter der Erdoberfläche bauten automatische Maschinen sie zusammen. Menschliche Wesen wagten sich dort nicht hinein. Es war zu riskant; niemand wollte in ihrer Nähe sein. Sie waren sich selbst überlassen. Und sie schienen ausgezeichnet zu funktionieren. Die neuen Entwicklungen waren schneller, komplexer. Effizienter. Offenbar hatten sie den Krieg gewonnen.
Major Hendricks setzte eine zweite Zigarette in Brand. Die Landschaft deprimierte ihn. Nichts als Asche und Ruinen. Er schien allein zu sein, das einzige lebende Wesen auf der ganzen Welt. Rechts von ihm ragten die Ruinen einer Stadt empor, ein paar Mauern und Schlackehaufen. Er schleuderte das erloschene Streichholz davon und beschleunigte seine Schritte. Plötzlich hielt er inne, riß sein Gewehr hoch, und sein Körper spannte sich. Einen Augenblick schien es, als ob...
Hinter den Überresten eines zerstörten Gebäudes schob sich eine Gestalt hervor, die langsam auf ihn zuging, sich ihm zögernd näherte.
Hendricks blinzelte. „Halt!"
Der Junge blieb stehen. Hendricks senkte sein Gewehr. Der Junge stand schweigend da und sah ihn an. Er war klein, noch nicht sehr alt. Vielleicht acht. Aber es war schwer zu sagen. Die meisten der Kinder, die überlebt hatten, waren zurückgeblieben. Er trug einen zerschlissenen blauen Pullover, der dreckverklebt war, und kurze Hosen. Sein Haar war lang und verfilzt. Braunes Haar. Es hing ihm ins Gesicht und über die Ohren. Er hielt irgend etwas in den Armen.
„Was ist das, was du da hast?" fragte Hendricks scharf.
Der Junge zeigte es ihm. Es war ein Plüschtier, ein Bär. Ein Teddybär. Die Augen des Jungen waren groß, aber ohne Leben.
Hendricks entspannte sich. „Ich will ihn nicht. Behalt ihn."
Der Junge preßte den Bär wieder an sich.
„Wo lebst du?" fragte Hendricks.
„Dort drinnen."
„In den Ruinen?"
„Ja."
„Unter der Erde?"
„Ja."
„Wieviele Menschen leben dort?"
„Wie... wieviele?"
„Wieviele von deiner Sorte. Wie groß ist eure Siedlung?"
Der Junge antwortete nicht.
Hendricks runzelte die Stirn. „Du bist wohl allein, wie?"
Der Junge nickte.
„Wie hältst du dich am Leben?"
„Es gibt dort Nahrung."
„Was für Nahrung?"
„Verschiedene."
Hendricks musterte ihn genau. „Wie alt bist du?"
„Dreizehn."
Das war unmöglich. Oder stimmte es doch? Der Junge war dürr, zurückgeblieben. Und vermutlich steril. Strahleneinwirkung, die ganzen Jahre hindurch. Kein Wunder, daß er so klein war. Seine Arme und Beine wirkten wie Pfeifenreiniger, knotig und dünn. Hendricks berührte den Arm des Jungen. Die Haut war trocken und rauh; Strahlenhaut. Er beugte sich nach unten und blickte dem Jungen ins Gesicht. Es war völlig ausdruckslos. Und besaß große Augen, groß und dunkel.
„Bist du blind?" wollte Hendricks wissen.
„Nein. Ich kann sehen."
„Wie bist du den Klauen entkommen?"
„Den Klauen?"
„Den runden Dingern. Die laufen und graben."
„Ich verstehe nicht."
Vielleicht gab es keine Klauen in dieser Gegend. Eine Anzahl Gebiete waren frei von ihnen. Sie sammelten sich meistens in der Nahe der Bunker, dort, wo sich Menschen befanden. Die Klauen waren in der Lage, Wärme zu registrieren, die Wärme lebender Wesen.
„Du bist glücklich." Hendricks richtete sich auf. „Nicht wahr? Wohin gehst du jetzt? Zurück - dorthin zurück?"
„Kann ich mit Ihnen kommen?"
„Mit mir?" Hendricks verschränkte die Arme. „Ich habe einen weiten Weg vor mir. Viele Meilen. Ich muß mich beeilen." Er blickte auf seine Uhr. „Ich muß vor Anbruch der Nacht dort eintreffen."
„Ich möchte mitkommen."
Hendricks stöberte in seinem Rucksack. „Es ist es nicht wert. Hier." Er holte die Konserven hervor, die er mitgenommen hatte. „Du nimmst das hier und gehst zurück. Okay?"
Der Junge sagte nichts.
„Ich werde wiederkommen. In etwa einem Tag. Wenn du hier bist, wenn ich zurückkomme, nehme ich dich mit. In Ordnung?"
„Ich möchte jetzt mit Ihnen gehen."
„Es ist ein weiter Weg."
„Ich kann laufen."
Hendricks war unbehaglich zumute. Zwei Menschen gaben ein zu gutes Ziel ab. Und der Junge würde ihn aufhalten. Aber vielleicht würde er nicht hierher zurückkehren können. Und wenn der Junge wirklich ganz allein war...
„Okay. Komm mit."
Der Junge glitt an seine Seite. Hendricks setzte sich in Bewegung. Der Junge ging still neben ihm her und umklammerte seinen Teddybär.
„Wie heißt du?" fragte Hendricks nach einer Weile.
„David Edward Derring."
„David? Was - was geschah mit deiner Mutter und deinem Vater?"
„Sie starben."
„Wodurch?"
„Durch die Explosion."
„Wie lange ist das her?"
„Sechs Jahre."
Hendricks wurde langsamer. „Seit sechs Jahren bist du allein?"
„Nein. Eine Zeitlang waren andere Menschen bei mir. Sie gingen fort."
„Und seitdem bist du allein?"
„Ja."
Hendricks blickte auf ihn hinunter. Der Junge war seltsam, sprach sehr wenig. War verschlossen. Aber so waren sie, die Kinder, die überlebt hatten. Still. Stoisch. Ein merkwürdiger Fatalismus hatte sie befallen. Nichts überraschte sie. Sie akzeptierten alles, was ihnen zustieß. Es gab keinen normalen, keinen natürlichen Lauf der Dinge mehr, ob nun seelisch oder körperlich, dem sie folgen konnten. Sitten, Gewohnheiten, all die bestimmenden Kräfte, durch die ein Kind lernte, waren verschwunden; nur rohe Erfahrungen waren geblieben.
„Gehe ich zu schnell?" fragte Hendricks.
„Nein."
„Wie kam es, daß du mich gesehen hast?"
„Ich habe gewartet."
„Gewartet?" Hendricks war verwirrt. „Worauf hast du gewartet?"
„Ich wollte Dinge fangen."
„Was für Dinge?"
„Dinge, die man essen kann."
„Oh." Hendricks preßte grimmig die Lippen aufeinander. Ein dreizehnjähriger Junge, der von Ratten und Mäusen und halbverdorbenen Konserven lebte. In einem Loch unter den Ruinen der Stadt. Umgeben von radioaktiven Pfützen und Klauen, und über ihm am Himmel huschten russische Fallminen entlang.
„Wohin gehen wir?" fragte David.
„Zu den russischen Linien."
„Russen?"
„Der Feind. Wir haben mit ihnen diesen Krieg geführt."
Der Junge nickte. Sein Gesicht war noch immer ausdruckslos.
„Ich bin Amerikaner", erklärte Hendricks.
Er erhielt keine Antwort. Sie marschierten weiter, Hendricks voraus, David hinter ihm, der seinen schmutzigen Bären an die Brust drückte.
Gegen vier Uhr nachmittags legten sie eine Pause ein, um etwas zu essen. Hendricks machte in einer Vertiefung zwischen einigen Betonplatten ein Feuer. Er zupfte das Unkraut heraus und häufte Holzstückchen auf. Die russischen Linien waren nicht mehr weit von ihnen entfernt. Sie befanden sich in einem Gebiet, das einst ein langgestrecktes Tal gewesen war, Hektar voller Obstbaume und Weinstöcke. Nichts davon war übriggeblieben, nur die wenigen schwarzen Baumstümpfe und die Berge, die sich weit vor ihnen am Horizont erstreckten. Und die Wolken aus hochgewirbelter Asche, die in den Windböen dahintrieben und sich auf das Unkraut und die Überreste der Gebäude legten, auf verstreut stehende einsame Mauerfragmente, und nach und nach das unter sich begruben, was einst eine Stadt gewesen war.
Hendricks bereitete Kaffee zu und erwärmte das gekochte Hammelfleisch, reichte Brot dazu. „Hier." Er gab David das Brot und ein Stück Hammelfleisch. David kauerte sich dicht am Feuer nieder, und seine Knie waren knotig und bleich. Er untersuchte das Essen und gab es dann kopfschüttelnd zurück.
„Nein."
„Nein? Möchtest du denn nichts essen?"
Hendricks zuckte die Achseln. Vielleicht war der Junge ein Mutant und an eine spezielle Nahrung gewöhnt. Es spielte keine Rolle. Wenn er hungrig wurde, würde er schon etwas zu essen finden. Der Junge war seltsam. Aber die Welt hatte sehr viele seltsame Veränderungen erlebt. Das Leben war nicht mehr so wie früher. Und es würde nie mehr so wie früher sein. Die menschliche Rasse würde dies akzeptieren müssen.
„Wie du willst", sagte Hendricks. Er verzehrte das Brot und das Hammelfleisch und spülte es mit Kaffee hinunter. Er aß langsam und fand die Mahlzeit schwer verdaulich. Als er fertig war, erhob er sich wieder und trat das Feuer aus.
David stand langsam auf und beobachtete ihn mit seinen jungen, alten Augen.
„Wir gehen weiter", verkündete Hendricks.
„In Ordnung."
Hendricks schritt aus und hielt das Gewehr in den Armen. Sie waren den Stellungen jetzt sehr nah; er war angespannt, auf alles vorbereitet. Die Russen erwarteten vermutlich einen Kurier, eine Antwort auf ihren eigenen Boten, aber sie waren verschlagen. Es bestand noch immer die Möglichkeit, daß es eine Falle war. Er beobachtete die Umgebung. Nichts als Schlacke und Asche, ein paar Anhebungen, kahle Bäume, Betonmauern. Aber irgendwo dort vor ihm befand sich der vorderste Bunker der russischen Stellungen, der Vorposten. Unterirdisch, tief eingegraben, sichtbar nur durch das Periskop, einige Gewehrläufe. Vielleicht noch eine Antenne.
„Werden wir bald dort sein?" fragte David.
„Ja. Bist du müde?"
"Nein."
„Warum fragst du dann?"
David antwortete nicht. Er stapfte vorsichtig hinter ihm her und bahnte sich seinen Weg durch die Asche. Seine Beine und Schuhe waren grau vom Staub. Streifen zerteilten sein verkniffenes Gesicht, graue Staublinien, die sich wie Bäche über die helle Blässe seiner Haut zogen. Sein Gesicht war völlig farblos. Typisch für die neuen Kinder, die in Kellern und Kanälen und unterirdischen Verstecken aufwuchsen.
Hendricks verlangsamte seine Geschwindigkeit. Er hob sein Fernglas und studierte das vor ihnen liegende Gebiet. Befanden sie sich dort, irgendwo dort vor ihnen, und warteten schon auf sie? Beobachteten sie, genau auf die Art, wie seine Leute den russischen Kurier beobachtet hatten? Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Vielleicht entsicherten sie soeben ihre Gewehre und bereiteten sich auf den Schuß vor, genauso, wie sich seine Männer vorbereitet, zum Töten fertiggemacht hatten.
Hendricks blieb stehen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Verdammt." Ihm war unbehaglich zumute. Aber man würde ihn doch gewiß erwarten. Dies war eine völlig andere Situation.
Er schlurfte durch die Asche und hielt sein Gewehr mit beiden Händen umklammert. David folgte ihm. Hendricks blickte sich um und preßte die Lippen zusammen. Jede Sekunde konnte es passieren. Eine Explosion aus weißem Licht, ein Feuerblitz, der zielbewußt aus dem Innern eines tiefen Betonbunkers auf sie geschleudert wurde.
Er hob einen Arm und beschrieb damit einen Kreis.
Nichts rührte sich. Rechts von ihm zog sich ein langer Erdwall dahin, bedeckt mit toten Baumstämmen. Einige wilde Weinstöcke waren neben den Bäumen in die Höhe geschossen, die letzten Überbleibsel der Weinberge. Und das allgegenwärtige dunkle Unkraut. Hendricks musterte den Erdwall. Lauerte dort irgend jemand? Dies war ein hervorragender Ort für einen Beobachtungsposten. Vorsichtig näherte er sich dem Wall, während David ihm leise folgte. Hätte er hier das Kommando, er hätte dort oben einen Posten aufgestellt, um nach Truppen Ausschau zu halten, die vielleicht versuchen mochten, in das Kommandogebiet einzusickern. Natürlich, wenn dieses Gebiet unter seinem Befehl stände, dann wären auch hier die Klauen und würde vollen Schutz garantieren.
Er verharrte, die Beine gespreizt, die Hand am Gewehrabzug.
„Sind wir da?" fragte David.
„Fast."
„Warum haben wir angehalten?"
„Ich will kein Risiko eingehen." Hendricks rückte langsam vor. Nun lag der Wall direkt neben ihm, zog sich rechts von ihm dahin. Überragte ihn. Sein unbehagliches Gefühl wurde stärker. Wenn sich dort oben ein Iwan befand, hatte er keine Chance. Wieder winkte er. Sie mußten eigentlich jemand in der UN-Uniform erwarten, als Antwort auf die Nachrichtenkapsel. Andernfalls war die ganze Sache eine Falle.
„Bleib bei mir", wandte er sich an David. „Bleib nicht hinter mir zurück."
„Bei Ihnen?"
„Komm zu mir! Wir müssen zusammenbleiben. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Komm schon."
„Mit mir ist alles in Ordnung." David blieb hinter ihm, in seinem Rücken, ein paar Schritte entfernt, und er umklammerte noch immer seinen Teddybär.
„Mach, was du willst." Hendricks hob wieder das Fernglas, fühlte mit einem Mal Erregung. Für einen Augenblick - hatte sich da nicht etwas bewegt? Sorgfältig suchte er den Wall ab. Alles war still. Tot. Dort oben gab es nichts Lebendiges, nur Baumstümpfe und Asche. Vielleicht einige Ratten. Die großen schwarzen Ratten, die die Klauen überlebt hatten. Mutanten - die sich ihre eigenen Bunker aus Speichel und Asche bauten. Eine Art Mörtel. Anpassung. Er bewegte sich nun weiter.
Eine hochgewachsene Gestalt erschien über ihm auf dem Erdwall, und ihr Mantel flackerte im Wind. Graugrün. Ein Russe. Hinter ihm erschien ein zweiter Soldat, ein weiterer Russe. Beide hoben ihre Waffen und zielten.
Hendricks fror. Er öffnete den Mund. Die Soldaten knieten, zielten schräg den Hang hinunter. Eine dritte Gestalt war zu ihnen gestoßen, eine kleinere Gestalt in Graugrün. Eine Frau. Sie stand hinter den beiden Männern.
Hendricks gewann seine Stimme zurück. „Halt!" Er winkte ihnen freundlich zu. „Ich bin..."
Die beiden Russen schossen. Hinter Hendricks ertönte der gedämpfte Knall einer Explosion. Hitzewellen leckten nach ihm, und er warf sich zu Boden. Asche wehte ihm ins Gesicht, brannte in den Augen und in der Nase. Würgend kam er auf die Knie. Alles war eine Falle. Er war am Ende.
Er war gekommen, um getötet zu werden, wie ein Mastochse. Die Soldaten und die Frau kletterten die Böschung hinunter, näherten sich ihm, rutschten über die weiche Asche. Hendricks war wie betäubt. In seinem Kopf pochte Schmerz. Unbeholfen riß er sein Gewehr hoch und zielte. Es wog tausend Tonnen; er konnte es nur mit Mühe halten. Seine Nase und die Wangen brannten. Die Luft roch nach Explosion, ein bitterer, ätzender Gestank.
„Schießen Sie nicht", rief der erste Russe in holprigem, akzentbeladenem Englisch.
Die drei kamen auf ihn zu und umringten ihn. „Nehmen Sie die Waffe 'runter, Yankie", befahl der andere.
Hendricks war benommen. Alles war so schnell gegangen. Man hatte ihn gefangen. Und sie hatten den Jungen ausgelöscht. Er drehte den Kopf. David war verschwunden. Was von ihm übriggeblieben war, lag verstreut am Boden.
Die drei Russen betrachteten ihn voller Neugier. Hendricks saß da, wischte das Blut von seiner Nase und wühlte in den Ascheflocken. Er schüttelte den Kopf, versuchte klar zu denken. „Warum haben Sie das getan?" murmelte er undeutlich. „Dieser Junge... "
„Warum?" Einer der Soldaten zerrte ihn unsanft vorwärts. „Schauen Sie. Beeilen Sie sich. Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren, Yankie!"
Hendricks sah es sich an. Und keuchte.
„Sehen Sie jetzt? Verstehen Sie jetzt?"
Aus Davids Überresten rollte ein Metallrädchen hervor. Relais, blinkendes Metall. Röhren, Drähte. Einer der Russen trat gegen den Haufen und weitere Einzelteile fielen heraus und rollten davon, Rädchen und Federn und Drähte. Ein Plastikteil, halb verkohlt. Hendricks bückte sich zitternd. Er entdeckte den Vorderkopf und sah das eingebaute Gehirn, Drähte und Relais, dünne Röhren und Schaltungen, Tausende von winzigen Teilen...
„Ein Roboter", sagte der Soldat, der ihn am Arm festhielt. „Wir haben beobachtet, wie er sich an Sie gehängt hat."
„An mich gehängt?"
„Das ist ihre Art. Sie hängen sich an einem an. Bis zum Bunker. So gelangen sie hinein."
Hendricks blinzelte betäubt. „Aber..."
„Kommen Sie." Sie führten ihn zum Erdwall. „Wir können hier nicht bleiben. Es ist unsicheres Gelände. Es muß hier in der Nähe Hunderte von ihnen geben."
Die drei schoben ihn den Hang hinauf, und sie rutschten und stolperten durch die Asche. Die Frau erreichte den Kamm und blieb dort wartend stehen.
„Der Vorposten", murmelte Hendricks. „Ich bin gekommen, um mit der Sowjetregierung zu verhandeln..."
„Es gibt keinen Vorposten mehr. Sie sind eingedrungen. Wir werden es Ihnen erklären." Sie erreichten den Kamm des Walls. „Wir allein haben überlebt. Wir drei. Der Rest hielt sich unten im Bunker auf."
„Hier. Hier hinunter." Die Frau hob einen Deckel, der ein graues Einstiegloch verbarg, das tief in den Boden führte. „Hinein."
Hendricks kletterte nach unten. Die beiden Soldaten und die Frau folgten ihm, hangelten sich an der Leiter hinunter. Die Frau schloß über ihnen die Luke und verriegelte sie sorgfältig.
„Gut, daß wir Sie gesehen haben", bemerkte einer der beiden Soldaten. „Der Roboter hätte sich fast mit Erfolg an Sie angehängt."
„Geben Sie mir eine von Ihren Zigaretten", bat die Frau. „Ich habe seit Wochen keine amerikanischen Zigaretten mehr geraucht."
Hendricks warf ihr die Packung zu. Sie nahm eine Zigarette heraus und reichte die Packung an die beiden Soldaten weiter. In einer Ecke des kleinen Raumes glühte flackernd eine Lampe. Die Decke war niedrig, der Raum eng. Die vier saßen um einen kleinen Holztisch. Einige schmutzige Töpfe waren an einer Wand aufgestapelt. Hinter einem vermoderten Vorhang lag ein zweiter Raum. Hendricks entdeckte den Zipfel eines Mantels, einige Decken, Kleidung hing an einem Haken.
„Wir waren hier", erklärte der Soldat, der neben ihm saß. Er nahm seinen Helm ab und strich sein blondes Haar zurück. „Ich bin Korporal Rudi Maxer. Pole. Seit zwei Jahren in der sowjetischen Armee." Er streckte ihm die Hand entgegen.
Hendricks zögerte und schlug dann ein. „Major Joseph Hendricks."
„Klaus Epstein." Der andere Soldat schüttelte ihm ebenfalls die Hand. Er war ein kleiner dunkler Mann mit strähnigem Haar. Epstein zupfte nervös an seinem Ohr. „Ostdeutscher. Gott allein weiß seit wie vielen Jahren bei der Roten Armee. Ich kann mich nicht mehr so recht erinnern. Wir drei waren hier, Rudi und ich, zusammen mit Tasso." Er deutete auf die Frau. „Deshalb sind wir entkommen. Alle anderen befanden sich unten im Bunker."
„Und - sie gelangten hinein?"
Epstein setzte eine Zigarette in Brand. „Zunächst nur einer von ihnen. Der Typ, der sich an Sie gehängt hat. Dann ließ er die anderen hinein."
Hendricks wurde aufmerksam. „Der Typ? Gibt es denn noch andere Typen?"
„Der kleine Junge. David. David, der seinen Teddybär festhält. Das ist die Dritte Variante. Die wirksamste."
„Wie sehen die anderen Typen aus?"
Epstein griff in seine Manteltasche. „Hier." Er warf einen Stoß Fotografien auf den Tisch, die von einer Schnur zusammengehalten wurden. „Schauen Sie selbst."
Hendricks löste das Band.
„Sehen Sie", sagte Rudi Maxer, „deshalb wollten wir Verhandlungen aufnehmen. Ich meine, die Russen. Wir fanden es vor einer Woche heraus. Fanden heraus, daß Ihre Klauen dabei waren, aus eigenem Antrieb neue Typen zu entwickeln. Tief unten in Ihren unterirdischen Fabriken, hinter unseren Linien. Ihr habt zugelassen, daß sie sich selbst produzieren, selbst reparieren. Habt sie immer geschickter werden lassen. Es ist euer Fehler, daß das passiert ist."
Hendricks betrachtete die Fotos. Sie waren in aller Eile geknipst worden, waren verschwommen und dunkel. Die ersten zeigten David. David, wie er zusammen mit ihm die Straße entlangwanderte. David und ein zweiter David. Drei Davids. Alle einander vollkommen ähnlich. Jeder mit einem zerlumpten Teddybär.
Alle mitleiderregend.
„Sehen Sie sich auch die anderen an", riet Tasso.
Die nächsten Bilder waren aus großer Entfernung aufgenommen worden und zeigten einen furchtbar verwundeten Soldaten, der an einem Wegesrand saß, einen Arm in einer Schlinge, einen Beinstumpf ausgestreckt, eine primitive Krücke im Schoß. Dann zwei verwundete Soldaten, beide identisch, und sie standen Seite an Seite.
„Das ist die Erste Variante. Der Verwundete Soldat." Klaus beugte sich nach vorn und ergriff die Bilder. „Sehen Sie, die Krabben wurden entwickelt, um menschliche Wesen anzugreifen. Sie aufzustöbern. Jeder Typ war besser als der vorherige. Sie drangen weiter vor, kamen näher, gelangten an den meisten unserer Verteidigungsanlagen vorbei, in unsere Stellungen. Aber solange sie nur Maschinen waren, Metallkugeln mit Klauen und Hörnern und Fühlern, konnten sie wie jedes andere Objekt entlarvt werden. Wir konnten sie als tödliche Roboter identifizieren, sobald wir sie sahen... "
„Die Erste Variante zerstörte unsere gesamte nördliche Verteidigungslinie", unterbrach Rudi, „lange bevor wir einem von ihnen habhaft wurden. Dann war es zu spät. Sie kamen daher, verwundete Soldaten, die anklopften und um Einlaß baten. Also ließen wir sie herein. Und sobald sie sich drinnen befanden, schlugen sie zu. Wir hielten Ausschau nach Maschinen... "
„Zu dieser Zeit glaubte man noch, es mit nur einem Typ zu tun zu haben", fuhr Klaus Epstein fort. „Niemand vermutete, daß es noch andere Typen geben könnte. Die Bilder wurden uns per Funk übermittelt. Als wir den Kurier zu Ihnen schickten, wußten wir nur von einem Typ. Die Erste Variante. Der große Verwundete Soldat. Wir dachten, das sei alles."
„Ihre Stellung fiel..."
„... der Dritten Variante zum Opfer. David und sein Bär. Er funktionierte noch besser." Klaus lächelte bitter. „Soldaten sind für Kinder eine leichte Beute. Wir holten sie herein und versuchten sie zu füttern. Schließlich fanden wir heraus, hinter was sie her waren. Das heißt, jene, die sich in den Bunkern aufhielten."
„Wir drei haben Glück gehabt", sagte Rudi. „Klaus und ich - wir besuchten gerade Tasso, als es geschah. Dies ist ihr Zuhause." Er beschrieb mit seiner großen Hand einen Kreis. „Dieser kleine Keller. Wir waren fertig und wollten die Leiter hinaufklettern, um zurückzukehren. Vom Wall aus sahen wir, daß sie überall um den Bunker herumwimmelten. Der Kampf war noch immer im Gange. David und sein Bär. Hunderte von ihnen. Klaus schoß dabei die Fotos."
Klaus verschnürte die Bilder wieder.
„Und das gleiche ist all Ihren Stellungen zugestoßen?" fragte Hendricks.
„Ja."
„Aber was ist mit unseren Stellungen?" Ohne es zu bemerken, berührte er die Plakette an seinem Handgelenk.
„Können sie... "
„Sie werden nicht von Ihren Strahlplaketten beeinflußt. Für sie bedeutet es keinen Unterschied, ob man nun Russe, Amerikaner, Pole oder Deutscher ist. Es ist völlig gleich. Sie tun, wofür sie entwickelt worden sind. Führen ihren Auftrag aus. Sie vernichten das Leben, wo immer sie es antreffen."
„Sie werden von der Warme angezogen", fügte Klaus hinzu. „Ihr habt sie von Anfang an so konstruiert. Natürlich, jene, die ihr entwickelt habt, werden von den Strahlplaketten abgehalten, die Sie tragen. Inzwischen haben sie das überwunden. Diese neuen Varianten sind mit Blei isoliert."
„Was ist mit der anderen Variante?" fragte Hendricks. „Der David-Typ, der Verwundete Soldat - wie sieht die andere Variante aus?"
„Wir wissen es nicht." Klaus deutete auf die Wand. An der Wand hingen zwei scharfkantige Metallplaketten. Hendricks erhob sich und betrachtete sie. Sie waren verbogen und zerbeult.
„Die linke stammt von dem Verwundeten Soldaten", erläuterte Rudi. „Wir haben einen von ihnen erwischt. Er schlich in der Nahe unseres alten Bunkers herum. Wir erledigten ihn vom Wall aus, auf die gleiche Weise wie diesen David, der sich an Sie gehängt hatte."
Der Plakette waren Zeichen eingestanzt: I - V. Hendricks griff nach der anderen Plakette. „Und diese stammt vom David-Typ?"
„Ja." Die Prägung lautete hier: III - V.
Klaus lehnte sich über Hendricks' breite Schultern und warf einen Blick auf die beiden Kennzeichen. „Sie sehen, mit wem wir es zu tun haben. Es gibt noch einen anderen Typ. Vielleicht hat man ihn wieder eingestampft. Vielleicht funktionierte er nicht. Aber es muß eine Zweite Variante gegeben haben oder noch geben. Dort steht eine Eins und dort eine Drei."
„Sie haben Glück gehabt", bemerkte Rudi. „Der David hat Sie die ganze Zeit begleitet und Sie nicht angefallen. Vielleicht dachte er, daß Sie irgendwo in einen Bunker gelangen würden."
„Einer dringt ein und alles ist aus", bestätigte Klaus. „Sie sind flink. Der erste läßt alle anderen hinein. Sie sind unnachgiebig. Maschinen, die nur ein Ziel haben. Sie sind nur für eine Aufgabe konzipiert worden." Er wischte sich einen Schweißtropfen von der Oberlippe. „Wir haben es gesehen."
Stille kehrte ein.
„Geben Sie mir noch eine Zigarette, Yankie", bat Tasso schließlich. „Sie schmecken gut. Ich habe fast vergessen, wie gut sie schmecken."
Es war Nacht. Der Himmel war schwarz. Keine Sterne waren durch die dahintreibenden Aschewolken zu erkennen. Klaus hob vorsichtig die Luke, damit Hendricks hinausschauen konnte.
Rudi wies in die Dunkelheit. „In dieser Richtung liegen die Bunker. Wo wir bisher lebten. Sie sind nicht mehr als eine halbe Meile von hier entfernt. Es war reines Glück. Klaus und ich waren nicht dort, als es geschah. Gerettet durch unsere Begierde."
„Alle anderen müssen tot sein", sagte Klaus mit gesenkter Stimme. „Alles ging so schnell. Am Morgen fällte das Politbüro seine Entscheidung. Man informierte uns - den Vorposten. Unser Kurier wurde sofort losgeschickt. Wir sahen ihm nach, wie er in Richtung Ihrer Stellungen verschwand, und gaben ihm Feuerschutz, bis er nicht mehr zu sehen war."
„Alex Radrivsky. Wir beide kannten ihn. Er verschwand gegen sechs Uhr. Die Sonne war gerade aufgegangen. Gegen Mittag hatten Klaus und ich eine Stunde frei. Wir krochen heraus, verließen die Bunker. Niemand bemerkte uns. Wir gelangten hierher. Hier befand sich einst eine Stadt, einige Häuser, eine Straße. Dieser Keller war Teil eines großen Bauernhauses. Wir wußten, daß Tasso hier sein würde, sich hier unten in ihrem winzigen Zufluchtsort versteckte. Wir waren schon öfters hier. Auch andere Soldaten aus den Bunkern kamen zu ihr. Heute waren wir an der Reihe."
„So wurden wir gerettet", fuhr Klaus fort. „Glück. Es hätte auch jedem anderen passieren können. Schließlich waren wir... waren wir fertig, und wir kehrten an die Oberfläche zurück und wollten gerade den Wall hinaufklettern. In diesem Moment entdeckten wir sie, die Davids. Wir begriffen sofort. Wir hatten Fotos von der Ersten Variante gesehen, dem Verwundeten Soldaten. Einen Schritt mehr, und sie hätten uns gesehen. Nun, wir mußten zwei Davids erledigen, bevor wir wieder Tassos Versteck aufsuchten. Es gab Hunderte in diesem Gebiet. Wie Ameisen. Wir machten Bilder und schlichen uns in den Keller zurück, verriegelten sorgfältig die Luke hinter uns."
„Sie sind nicht sehr gefährlich, wenn man sie allein antrifft. Wir sind schneller als sie. Aber sie sind unerbittlich. Anders als lebende Geschöpfe. Sie kamen direkt auf uns zu. Und wir zerstörten sie."
Major Hendricks stützte sich auf den Rand der Luke und wartete darauf, daß sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. „Ist es nicht gefährlich, die Klappe ganz zu öffnen?"
„Nicht, wenn wir vorsichtig sind. Wie sollten Sie denn sonst Ihr Funkgerät einsetzen können?"
Hendricks hob langsam das kleine Funkgerät und preßte es an sein Ohr. Das Metall war kalt und feucht. Er blies in das Mikrofon und zog die kurze Antenne aus. Ein leises Summen erklang in seinem Ohr. „Das ist die richtige Frequenz, glaube ich."
Aber er zögerte noch immer.
„Wir ziehen Sie 'rein, wenn etwas geschieht", versprach Klaus.
„Danke." Hendricks hielt einen Augenblick inne, mit dem Funkgerät am Ohr. „Interessant, nicht wahr?"
„Was?"
„Diese neuen Typen. Die neuen Varianten der Klauen. Wir sind ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, nicht wahr? Aber jetzt sind sie vielleicht auch in den UN-Stellungen eingedrungen. Ich frage mich, ob wir nicht die Geburt einer neuen Spezies erleben. Der neuen Spezies. Evolution. Die Rasse, die den Menschen folgt."
Rudi brummte. „Es gibt keine Rasse nach den Menschen."
„Nein? Warum nicht? Vielleicht erleben wir es bereits, das Ende der menschlichen Wesen, die Geburt einer neuen Gesellschaft."
„Sie sind keine Rasse. Sie sind mechanische Killer. Ihr habt sie erschaffen, um zu zerstören. Das ist alles, was sie können. Sie sind Menschen, die eine Aufgabe erfüllen."
„So scheint es jetzt. Aber wie wird es weitergehen? Wenn der Krieg beendet ist? Vielleicht zeigt sich ihr wahres Potential erst, wenn es keine Menschen mehr gibt, die sie töten können."
„Sie reden, als ob diese Dinger lebendig wären!"
„Sind sie es denn nicht?"
Schweigen trat ein. „Sie sind Maschinen", sagte Rudi dann. „Sie sehen wie Menschen aus, aber sie sind Maschinen."
„Schalten Sie Ihr Funkgerät ein, Major", forderte ihn Klaus auf. „Wir können nicht ewig hier oben bleiben."
Hendricks umklammerte das Funkgerät und rief den Kode des Kommandobunkers. Er wartete, horchte. Keine Antwort. Nur Stille. Sorgsam untersuchte er das Walkie-Talkie. Alles war in Ordnung.
„Scott!" sagte er in das Mikrofon. „Können Sie mich hören?"
Stille. Er schaltete auf höchste Sendeleistung und versuchte es erneut. Nur statisches Rauschen.
„Ich bekomme keine Verbindung. Vielleicht hören sie mich, können aber nicht antworten."
„Sagen Sie ihnen, daß es sich um einen Notfall handelt."
„Sie werden glauben, daß man mich dazu zwingt. Unter Ihrer Anleitung." Er versuchte es erneut, beschrieb kurz, was er erfahren hatte. Aber der Lautsprecher blieb stumm, gab nur das statische Rauschen von sich.
„Die Radioaktivität schluckt den Großteil der Funkwellen", sagte Klaus nach einer Weile. „Vielleicht bekommen Sie deshalb keinen Kontakt."
Hendricks schaltete das Funkgerat aus. „Es ist sinnlos. Keine Antwort. Radioaktivität? Vielleicht. Oder sie hören mich, wollen aber nicht antworten. Um ehrlich zu sein, ich würde nicht anders reagieren, wenn ein Kurier versuchen würde, mich von den sowjetischen Linien aus anzufunken. Sie haben keinen Anlaß, eine derartige Geschichte zu glauben. Vielleicht hören sie alles, was ich sage..."
„Oder vielleicht ist es schon zu spät."
Hendricks nickte.
„Wir sollten besser die Luke schließen", erklärte Rudi nervös. „Es ist nicht gut, das Glück aufs Spiel zu setzen."
Langsam kletterten sie wieder nach unten. Klaus verriegelte sorgfältig die Luke. Sie begaben sich in die Küche. Die Luft war schwer und dick.
„Sind sie denn wirklich so schnell?" fragte Hendricks. „Ich habe den Bunker gegen Mittag verlassen. Vor zehn Stunden. Wie können sie sich so schnell bewegen?"
„Es dauert nicht lange. Nicht, wenn der erste eingedrungen ist. Es geht rasch vonstatten. Sie wissen, was die kleinen Klauen anrichten können. Selbst einer von ihnen kämpft wie... Es ist unglaublich. Jeder Finger ist ein Rasiermesser. Verrückt."
„In Ordnung." Ungeduldig wandte sich Hendricks ab. Er drehte ihnen den Rücken zu.
„Was ist los?" fragte Rudi.
„Die Mondbasis. Gott, wenn sie dorthin gelangen... "
„Die Mondbasis?"
Hendricks drehte sich herum. „Sie können die Mondbasis nicht erreichen. Wie sollten sie auch dorthin kommen? Es ist unmöglich. Ich kann es nicht glauben."
„Was ist mit dieser Mondbasis? Wir haben Gerüchte gehört, wissen aber nichts Genaues. Wie ist dort die Lage? Sie scheinen besorgt zu sein."
„Wir werden vom Mond aus versorgt. Die Regierungen halten sich dort auf, unter der lunaren Oberfläche. All unsere Leute und unsere Industrieanlagen. Deshalb haben wir weiterkämpfen können. Wenn sie einen Weg finden, die Erde zu verlassen und zum Mond zu gelangen... "
„Es ist nur einer nötig. Wenn einmal der erste hineingelangt, dann folgen auch die anderen. Hunderte, und alle sehen gleich aus. Sie hätten sie sehen sollen. Alle identisch. Wie Ameisen."
„Perfekter Sozialismus", meldete sich Tasso zu Wort. „Das Ideal eines kommunistischen Staates. Alle Bürger austauschbar."
Klaus knurrte zornig. „Unsinn. Das ist kein Sozialismus, sondern ein Zerrbild. Was jetzt?"
Hendricks ging unruhig in dem kleinen Raum auf und ab. Die Luft roch nach Essen und Schweiß. Die anderen beobachteten ihn. Schließlich verschwand Tasso durch den Vorhang in den anderen Raum. „Ich werde ein Nickerchen machen."
Der Vorhang schloß sich hinter ihr. Rudi und Klaus setzten sich an den Tisch, sahen noch immer Hendricks an. „Es liegt an Ihnen", erklärte Klaus. „Wir kennen Ihre Lage nicht."
Hendricks nickte.
„Es ist ein Problem." Rudi füllte seine Kaffeetasse aus einem rostigen Kessel und trank einen Schluck. „Wir sind hier für eine Weile sicher, aber wir können nicht ewig bleiben. Wir haben weder genug Nahrungsvorräte, noch die nötige Ausrüstung."
„Aber wenn wir nach draußen... "
„Wenn wir nach draußen gehen, erwischen sie uns. Oder sie erwischen uns vielleicht. Zumindest haben wir nicht viel Zeit. Wie weit ist Ihr Kommandobunker entfernt, Major?"
„Drei oder vier Meilen."
„Wir könnten es schaffen. Wir vier. Wir vier könnten alle Seiten im Auge behalten. Sie können sich nicht von hinten anschleichen und sich an uns hängen. Wir haben drei Gewehre, drei Strahlgewehre. Tasso kann meine Pistole nehmen." Rudi klopfte gegen seinen Gürtel. „In der sowjetischen Armee gibt es jetzt nach dem langen Krieg nicht mehr genug Schuhe, aber wir besitzen Gewehre. Wenn wir alle vier bewaffnet sind, müßte einer von uns bis zum Kommandobunker durchkommen. Vorzugsweise Sie, Major."
„Was ist, wenn sie bereits dort sind?" warf Klaus ein.
Rudi zuckte die Achseln. „Nun, dann kehren wir wieder um."
Hendricks blieb stehen. „Wie hoch schätzen Sie die Möglichkeit ein, daß sie sich bereits in den amerikanischen Linien befinden?"
„Schwer zu sagen. Vermutlich hoch. Sie sind organisiert. Sie wissen genau, was sie tun. Wenn sie sich einmal in Bewegung setzen, dann sind sie wie ein Schwarm Heuschrek-ken. Sie müssen in Bewegung bleiben, und sie müssen schnell sein. Sie bauen auf ihre Geschwindigkeit und darauf, daß sie im Verborgenen agieren. Rechnen mit dem Überraschungseffekt. Sie verschaffen sich Bahn, bevor jemand nur Verdacht schöpfen kann."
„Ich verstehe", murmelte Hendricks.
Aus dem anderen Raum meldete sich Tasso. „Major?"
Hendricks zog den Vorhang zur Seite. „Was ist?"
Tasso blickte schläfrig von dem Klappbett zu ihm auf. „Haben Sie noch mehr von diesen amerikanischen Zigaretten?"
Hendricks betrat den Raum und setzte sich ihr gegenüber auf einen Holzstuhl. Er suchte in seinen Taschen. „Nein. Sie sind alle."
„Schade."
„Von welcher Nationalität sind Sie?" fragte Hendricks nach einer Weile.
„Russin."
„Wie sind Sie hierhergekommen?"
„Hierher?"
„Dies hier war einst Frankreich, Teil der Normandie. Sind Sie mit der Sowjetarmee hierhergelangt?"
„Warum fragen Sie?"
„Nur aus Neugierde." Er musterte sie. Sie hatte ihren Mantel abgelegt und ihn über das Fußende des Klappbettes ausgebreitet. Sie war jung, ungefähr zwanzig. Schlank. Ihr langes Haar bedeckte das Kissen. Sie starrte ihn schweigend an, und ihre Augen waren groß und dunkel.
„Was ist mit Ihnen?" fragte Tasso.
„Nichts. Wie alt sind Sie?"
„Achtzehn." Sie sah ihn noch immer an, ohne zu blinzeln, und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie trug russische Armeehosen und eine Bluse. Graugrün. Einen breiten Ledergürtel mit Geigerzähler und Patronen. Ein Medizinkästchen.
„Sie waren Mitglied der Sowjetarmee?"
„Nein."
„Woher haben Sie diese Uniform?"
Sie zuckte die Achseln. „Jemand hat sie mir gegeben", erwiderte sie.
„Wie... wie alt waren Sie, als Sie hierherkamen?"
„Sechzehn."
„So jung?"
Ihre Augen verengten sich. „Was meinen Sie damit?"
Hendricks kratzte sich am Kinn. „Ihr Leben wäre völlig anders verlaufen, wenn es diesen Krieg nicht gegeben hätte. Sechzehn. Sie sind mit sechzehn hierhergekommen. Um auf diese Weise zu leben."
„Ich mußte überleben."
„Ich moralisiere nicht."
„Ihr Leben wäre ebenfalls anders verlaufen", murmelte Tasso. Sie bückte sich und zog einen ihrer Stiefel aus. Sie warf den Stiefel auf den Boden. „Major, würden Sie bitte in den anderen Raum gehen? Ich bin müde."
„Es wird zu einem Problem werden. Es wird schwer für uns vier sein, in diesem Quartier zu leben. Gibt es nur diese beiden Räume?"
„Ja."
„Wie groß war der Keller ursprünglich? War er größer als jetzt? Sind die anderen Räume mit Schutt gefüllt? Vielleicht sind wir in der Lage, einige von ihnen instandzusetzen."
„Vielleicht. Ich weiß es wirklich nicht." Tasso löste ihren Gürtel. Sie legte sich im Bett zurecht und knöpfte ihre Bluse auf. „Sind Sie sicher, daß Sie keine Zigarette mehr haben?"
„Ich besaß nur diese eine Packung."
„Schade. Vielleicht finden wir welche, wenn wir Ihren Bunker erreicht haben." Sie zog den zweiten Stiefel aus und griff nach dem Lichtschalter. „Gute Nacht."
„Sie wollen schlafen?"
„So ist es."
Im Raum wurde es finster. Hendricks stand auf und schob sich durch den Vorhang und betrat die Küche. Und verharrte, erstarrte.
Rudi stand an der Wand, und sein Gesicht war bleich und düster. Sein Mund öffnete und schloß sich, doch kein Laut drang heraus. Klaus stand vor ihm, und die Mündung seiner Pistole deutete auf Rudis Magen. Keiner von ihnen bewegte sich. Klaus hielt seine Waffe fest umklammert. Rudi war blaß und stumm, lehnte mit ausgebreiteten Armen an der Wand.
„Was..." stieß Hendricks hervor, aber Klaus schnitt ihm das Wort ab.
„Seien Sie still, Major. Kommen Sie zu mir. Ihre Waffe. Nehmen Sie Ihre Waffe."
Hendricks zog seine Pistole. „Was ist los?"
„Richten Sie Ihre Waffe auf ihn." Klaus bedeutete ihm, näher zu kommen. „Zu mir! Schnell!"
Rudi bewegte sich ein wenig und senkte seine Arme. Er wandte sich an Hendricks und befeuchtete seine Lippen. Das Weiße seiner Augen leuchtete hell. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, lief über seine Wangen. Er richtete seinen Blick auf Hendricks. „Major, er ist verrückt geworden. Halten Sie ihn auf." Rudis Stimme war dünn und heiser, fast unhörbar.
„Was ist geschehen?" fragte Hendricks barsch.
Ohne seine Pistole zu senken, antwortete Klaus: „Major, erinnern Sie sich an unsere Diskussion? Die drei Varianten? Wir kennen die erste und die dritte. Aber wir kennen die zweite nicht. Das heißt, bis jetzt." Klaus' Finger krümmte sich um den Abzug. „Wir wußten es vorhin noch nicht, aber wir wissen es jetzt."
Er feuerte. Eine Explosion aus weißer Hitze schoß aus der Mündung und leckte nach Rudi.
„Major, das ist die Zweite Variante."
Tasso schob den Vorhang zur Seite. „Klaus! Was hast du getan?"
Klaus wandte sich von der verkohlten Gestalt ab, die langsam an der Wand zu Boden rutschte. „Die Zweite Variante, Tasso. Nun kennen wir sie. Wir haben alle drei Typen identifiziert. Die Gefahr ist beseitigt. Ich..."
Tasso blickte an ihm vorbei, starrte die geschwärzten, ver-schmorten Überreste und Kleidungsfetzen an. „Du hast ihn getötet."
„Ihn? Den Roboter, meinst du. Ich habe ihn beobachtet. Ich hatte einen Verdacht, aber ich war mir nicht sicher. Das heißt, zu Beginn war ich mir nicht sicher. Aber heute abend wußte ich es." Klaus fuhr nervös mit den Fingern über den Pistolenlauf. „Wir haben Glück gehabt. Verstehst du denn nicht? Eine Stunde später wären wir vielleicht... "
„Du wußtest es?" Tasso glitt an ihm vorbei und beugte sich über die rauchenden Überreste auf dem Boden. Ihr Gesicht verhärtete sich. „Major, schauen Sie sich das selbst an. Knochen, Fleisch."
Hendricks bückte sich. Die Überreste waren menschlicher Natur. Versengtes Fleisch, verkohlte Knochenteile, Schädelreste. Bänder, Eingeweide, Blut. Blut, das auf dem Boden eine Pfütze bildete.
„Keine Rädchen", sagte Tasso leise. Sie richtete sich auf. „Keine Rädchen, keine Teile, keine Relais. Keine Klaue. Keine Zweite Variante." Sie verschränkte die Arme. „Hoffentlich bist du in der Lage, uns das zu erklären."
Klaus setzte sich an den Tisch, und die Farbe wich plötzlich aus seinem Gesicht. Er legte den Kopf in die Hände und zitterte.
„Heraus damit." Tassos Finger schlossen sich um seine Schultern. „Warum hast du das getan? Warum hast du ihn getötet?"
„Er hat Angst gehabt", bemerkte Hendricks. „Das, was uns zugestoßen ist, was wir erlebt haben..."
„Vielleicht."
„Was sonst? Was glauben Sie?"
„Ich glaube, er hatte vielleicht einen Grund, Rudi zu töten.
Einen guten Grund."
„Was für einen Grund?"
„Vielleicht hat Rudi etwas herausgefunden."
Hendricks musterte ihr ausdrucksloses Gesicht. „Was soll er herausgefunden haben?" fragte er.
„Etwas über ihn. Über Klaus."
Klaus blickte schnell auf. „Merken Sie nicht, was sie damit sagen will? Sie glaubt, daß ich die Zweite Variante bin. Merken Sie es denn nicht, Major? Sie will erreichen, daß Sie glauben, ich hätte ihn aus diesem Grund getötet. Daß ich..."
„Warum hast du ihn denn sonst getötet?" schnappte Tas-so.
„Ich habe es bereits erklärt." Klaus schüttelte müde den Kopf. „Ich hielt ihn für eine Klaue. Ich war mir sicher."
„Warum?"
„Ich habe ihn beoachtet. Ich war mißtrauisch."
„Warum?"
„Ich glaubte, etwas beobachtet zu haben. Etwas gehört zu haben. Ich glaubte, ich..." Er verstummte.
„Sprich weiter."
„Wir saßen hier am Tisch. Spielten Karten. Sie, Major, waren bei ihr im Nebenraum. Es war still. Ich glaubte, ich hätte ihn... ihn summen gehört."
Schweigen trat ein.
„Glauben Sie das?" wandte sich Tasso an Hendricks.
„Ja. Ich glaube, was er sagt."
„Ich nicht. Ich glaube, er hat Rudi aus einem guten Grund umgebracht." Tasso berührte das Gewehr, das in einer Ek-ke des Raumes stand. „Major..."
„Nein." Hendricks schüttelte den Kopf. „Hören wir sofort damit auf. Einer ist genug. Wir haben Angst, genau wie er. Wenn wir ihn töten, fügen wir ihm genau das gleiche zu, was er Rudi angetan hat."
Klaus blickte dankbar zu ihm auf. „Danke. Ich hatte wirklich Angst. Das verstehen Sie, oder? Nun fürchtet sie sich, genau wie ich. Sie will mich töten."
„Es wird nicht mehr getötet." Hendricks näherte sich der Leiter. „Ich werde nach oben gehen und es noch einmal mit dem Funkgerat versuchen. Wenn ich keine Verbindung bekomme, werden wir morgen früh zu meiner Stellung aufbrechen."
Klaus stand eilig auf. „Ich komme mit Ihnen hinauf und gebe Ihnen Deckung."
Die Nachtluft war frostig. Die Erde kühlte sich ab. Klaus holte tief Atem und füllte seine Lunge mit Sauerstoff. Er und Hendricks verließen den Tunnel. Klaus stellte sich breitbeinig auf, das Gewehr erhoben, und beobachtete, horchte. Hendricks duckte sich neben der Tunnelöffnung und schaltete das kleine Funkgerät ein.
„Haben Sie Erfolg?" fragte Klaus schließlich.
„Noch nicht."
„Versuchen Sie es weiter. Sagen Sie ihnen, was geschehen ist."
Hendricks machte weiter. Ohne Erfolg. Schließlich zog er die Antenne wieder ein. „Es ist sinnlos. Sie können mich nicht hören. Oder sie hören mich und wollen mir nicht antworten. Oder..."
„Oder sie leben nicht mehr."
„Ich versuche es noch einmal." Hendricks zog die Antenne wieder heraus. „Scott, können Sie mich hören? Melden Sie sich!"
Er lauschte, vernahm nur das statische Rauschen. Dann, noch immer sehr leise...
„Hier ist Scott!"
Seine Finger verkrampften sich. „Scott! Sind Sie das?"
Klaus kniete nieder. „Sind das Ihre Leute?"
„Scott, hören Sie zu. Verstehen Sie mich? Die Klauen...
Haben Sie meine Nachricht empfangen? Haben Sie mich gehört?"
„Ja." Leise. Fast unverständlich.
„Sie haben meine Nachricht empfangen? Ist im Bunker alles in Ordnung? Sind keine von ihnen eingedrungen?"
„Alles ist in Ordnung."
„Haben sie versucht einzudringen?"
Die Stimme wurde leiser.
„Nein."
Hendricks wandte sich an Klaus. „Bei ihnen ist alles in Ordnung."
„Sind sie angegriffen worden?"
„Nein." Hendricks preßte den Lautsprecher fester an sein Ohr. „Scott, ich kann Sie nur schwer verstehen. Haben Sie die Mondbasis informiert? Weiß man dort oben Bescheid?"
Keine Antwort.
„Scott! Können Sie mich hören?"
Stille.
Hendricks entspannte sich, sank zusammen. „Aus. Muß an der radioaktiven Strahlung liegen."
Hendricks und Klaus sahen einander an. Keiner von ihnen sagte etwas. Nach einer Weile bemerkte Klaus: „Klang es so, als ob es einer von Ihren Leuten war? Konnten Sie die Stimme identifizieren?"
„Sie war zu leise."
„Sie sind sich also nicht sicher?"
„Nein."
„Dann wäre es möglich, daß... "
„Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher. Gehen wir zurück und schließen wir die Luke."
Langsam kletterten sie die Leiter hinunter, zurück in den warmen Keller. Klaus verriegelte hinter ihnen die Luke. Tasso erwartete sie bereits. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
„Erfolg gehabt?" fragte sie.
Keiner von beiden antwortete. „Nun", sagte Klaus dann, „was meinen Sie, Major? War das Ihr Offizier oder war es einer von ihnen?"
„Ich weiß es nicht."
„Dann sind wir genau da, wo wir angefangen haben."
Hendricks blickte zu Boden, und sein Kinn hing herunter. „Wir müssen gehen. Um uns zu überzeugen."
„Es ist gleich. Wir haben nur noch Nahrungsmittel für wenige Wochen. Wir müssen auf jeden Fall nach oben, wenn sie verbraucht sind."
„Es scheint so."
„Was ist?" fragte Tasso. „Haben Sie Ihren Bunker erreichen können? Was ist geschehen?"
„Es war vielleicht einer von meinen Leuten", sagte Hendricks langsam. „Oder es war vielleicht auch einer von ihnen. Aber wir werden es nie erfahren, wenn wir hierbleiben." Er sah auf seine Uhr. „Wir sollten uns schlafen legen. Morgen müssen wir früh aufstehen."
„Früh?"
„Die größte Wahrscheinlichkeit, den Klauen zu entgehen, besteht am frühen Morgen", erklärte Hendricks.
Der Morgen war frisch und klar. Major Hendricks beobachtete mit seinem Fernglas die Umgebung.
„Sehen Sie etwas?" fragte Klaus.
„Nein."
„Können Sie unsere Bunker ausmachen?"
„Welche Richtung?"
„Dort." Klaus griff nach dem Fernglas und stellte es ein. „Ich weiß, wo man suchen muß." Lange Zeit beobachtete er schweigend.
Tasso erschien im Einstiegsloch und kletterte hinaus. „Etwas entdeckt?"
„Nein." Klaus gab Hendricks das Fernglas zurück. „Sie sind außer Sichtweite. Kommen Sie. Wir dürfen hier nicht bleiben."
Die drei kletterten den Hang des Erdwalls hinunter, rutschten über die weiche Asche. Über einen flachen Felsen kroch eine Eidechse. Plötzlich verharrte das Tier, erstarrte.
„Was war das?" murmelte Klaus.
„Eine Eidechse."
Die Eidechse lief weiter, huschte durch die Asche. Sie besaß genau die gleiche Farbe wie der verwüstete Boden, so daß sie fast nicht zu erkennen war.
„Perfekte Anpassung", bemerkte Klaus. „Lyssenko hat also recht gehabt."
Sie erreichten ebenen Boden und blieben dicht beieinander stehen und blickten sich um.
„Gehen wir." Hendricks setzte sich in Bewegung. „Zu Fuß wird es ein ganz schön langer Marsch werden."
Klaus glitt an seine Seite. Tasso folgte ihnen, und sie hielt ihre Pistole schußbereit. „Major", begann Klaus, „ich würde Sie gern etwas fragen. Wie sind Sie auf den David gestoßen? Auf den, der sich an Sie gehängt hat?"
„Ich traf ihn unterwegs. Bei einigen Ruinen."
„Was sagte er?"
„Nicht viel. Er behauptete, allein zu sein. Ganz auf sich gestellt."
„Und Sie haben nicht bemerkt, daß er eine Maschine war? Er redete wie ein normaler Mensch? Nie sind Sie mißtrauisch geworden?"
„Er sagte nicht viel. Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt."
„Es ist seltsam, daß es Maschinen gibt, die dem Menschen so ähnlich sind, daß man von ihnen genarrt wird. Fast lebendig. Ich frage mich, wohin das führen wird."
„Sie tun das, wofür die Yankies sie entworfen haben", warf Tasso ein. „Man hat sie gebaut, um alles Lebendige zu jagen und zu vernichten. Menschliches Leben. Wo immer sie darauf stoßen."
Hendricks sah Klaus aufmerksam an. „Warum haben Sie gefragt? Woran denken Sie?"
„An nichts", erwiderte Klaus.
„Klaus hält Sie für die Zweite Variante", ertönte hinter ihnen Tassos gleichgültige Stimme. „Er läßt Sie nicht aus den Augen."
Klaus errötete. „Warum nicht? Wir schicken einen Kurier zu den Stellungen der Yankies und er kommt zurück. Vielleicht hat er geglaubt, mit uns das Große Los zu ziehen."
Hendricks lachte rauh. „Ich kam von den UN-Bunkern. In meiner Nähe befanden sich ständig Menschen."
„Vielleicht sahen Sie eine Gelegenheit, in die sowjetischen Linien einzudringen. Vielleicht sahen Sie eine Chance. Vielleicht... "
„Die sowjetischen Linien waren bereits überrollt. Ihre Stellungen wurden erobert, bevor ich meinen Kommandobunker verließ. Vergessen Sie das nicht."
Tasso schob sich an seine Seite. „Das beweist überhaupt nichts, Major."
„Wie das?"
„Es scheint, daß es zwischen den einzelnen Varianten kaum Verständigung gibt. Jede wurde in einer anderen Fabrik hergestellt. Sie arbeiten offenbar nicht zusammen. Sie hätten demnach zu den sowjetischen Linien aufbrechen können, ohne etwas von den Erfolgen der anderen Varianten zu ahnen. Und sogar ohne die anderen Varianten zu kennen."
„Woher wissen Sie eigentlich so viel über die Klauen?" fragte Hendricks.
„Ich habe sie gesehen. Ich habe sie beobachtet, als sie die sowjetischen Bunker übernommen haben."
„Du weißt wirklich sehr viel", bemerkte Klaus. „Aber in Wirklichkeit hast du doch nur wenig zu sehen bekommen. Seltsam, daß du ein solch hervorragender Beobachter sein sollst."
Tasso lachte. „Mißtraust du jetzt mir?"
„Vergessen wir's", erklärte Hendricks. Schweigend gingen sie weiter.
„Müssen wir den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen?" fragte Tasso schließlich. „Ich bin daran nicht gewöhnt." Sie blickte sich in der Ascheebene um, die sich so weit man sehen konnte erstreckte. „Wie schrecklich das alles ist."
„Es ist überall so", versicherte Klaus.
„Auf eine Art wünsche ich, daß du im Bunker gewesen wärest, als der Angriff begann."
„Wenn nicht ich, dann wäre jemand anders bei dir gewesen", brummte Klaus.
Tasso lachte, steckte die Hände in ihre Taschen. „Das glaube ich auch."
Sie marschierten weiter und beobachteten sorgfältig die öde Ebene aus stummer Asche, die sie umgab.
Die Sonne begann unterzugehen. Hendricks marschierte langsam weiter und winkte Tasso und Klaus zurückzubleiben. Klaus duckte sich und stützte den Gewehrkolben auf den Boden.
Tasso setzte sich mit einem Seufzer auf einen Betonblock. „Das tut gut."
„Sei still", befahl Klaus scharf.
Hendricks kletterte die Anhöhe hinauf, die vor ihm lag. Jene Anhöhe, die der Russe einen Tag zuvor erklommen hatte. Hendricks legte sich nieder und beobachtete durch das Fernglas das vor ihm liegende Gelände.
Es war nichts zu entdecken. Nur Asche und ab und zu ein paar Bäume. Aber dort, nicht mehr als fünfzig Meter entfernt, befand sich der Eingang zu ihrem vorgeschobenen Kommandobunker. Der Bunker, von dem er aufgebrochen war. Hendricks beobachtete schweigend weiter. Keine Bewegung zeigte sich. Kein Anzeichen von Leben. Nichts rührte sich.
Klaus schob sich näher an ihn heran. „Wo ist er?"
„Dort unten." Hendricks reichte ihm das Fernglas. Ascheschleier drifteten über den abendlichen Himmel. Die Welt begann sich in Dunkelheit zu hüllen. Es würde nicht mehr lange bis zum Anbruch der Nacht dauern.
„Ich sehe nichts", erklärte Klaus.
„Dieser Baum dort. Der Stumpf. Bei dem Steinhaufen. Der Eingang befindet sich rechts neben dem Haufen."
„Wenn Sie es sagen, wird es wohl stimmen."
„Sie und Tasso geben mir von hier Rückendeckung. Sie werden die ganze Strecke bis zum Bunkereingang beobachten können."
„Sie wollen allein hinuntergehen?"
„Mit meiner Plakette bin ich sicher. Der Boden um den Bunker wimmelt von Klauen. Sie halten sich unter der Asche versteckt. Wie Krabben. Ohne die Plakette haben Sie keine Chance."
„Vermutlich haben Sie recht."
„Ich werde langsam gehen. Sobald ich mir sicher bin..."
„Wenn sie wirklich unten im Bunker sind, dann werden Sie nicht in der Lage sein, zu uns zurückzukehren. Die Dinger sind flink. Sie können es sich nicht vorstellen."
„Was schlagen Sie vor?"
Klaus dachte nach. „Ich weiß nicht. Bringen Sie sie dazu, an die Oberfläche zu kommen, so daß Sie sie sehen können."
Hendricks löste das Funkgerat vom Gürtel und zog die Antenne heraus. „Fangen wir also an."
Klaus gab Tasso ein Zeichen. Geschickt kletterte sie die Anhöhe zu ihnen hinauf.
„Er wird allein nach unten gehen", informierte Klaus sie. „Wir geben ihm von hier aus Deckung. Sobald du bemerkst, daß er zurückkommt, halte dich schußbereit. Die Dinger sind schnell."
„Du bist nicht sehr optimistisch", stellte Tasso fest.
„Nein, das bin ich wirklich nicht."
Hendricks kontrollierte sorgfältig seine Waffe. „Möglicherweise ist alles in Ordnung."
„Sie haben sie nicht gesehen. Es waren Hunderte. Und alle glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie quollen wie Ameisen heraus."
„Ich sollte in der Lage sein, dies festzustellen, ohne den ganzen Weg zurückzulegen." Hendricks entsicherte sein Gewehr und nahm es in die rechte und das Funkgerät in die linke Hand. „Nun, wünschen Sie mir Glück."
Klaus bot ihm die Hand an. „Gehen Sie nicht hinunter, ehe Sie nicht völlig sicher sind. Reden Sie von hier oben aus mit ihnen. Bringen Sie sie dazu, daß sie sich zeigen."
Hendricks erhob sich. Er kletterte die Anhöhe hinunter.
Später ging er langsamer und näherte sich dem Steinhaufen und den Trümmern neben dem abgestorbenen Baumstumpf. Dort lag der Eingang zum vorgeschobenen Kommandobunker.
Nichts rührte sich. Er hob das Funkgerat und schaltete es ein. „Scott! Können Sie mich hören?"
Stille.
„Scott! Hier spricht Hendricks. Können Sie mich hören? Ich stehe vor dem Bunker. Sie müßten mich durch das Periskop sehen können."
Er horchte, hielt das Funkgerät fest umklammert. Nichts. Nur statisches Rauschen. Er ging weiter. Eine Klaue wühlte sich aus der Asche und huschte auf ihn zu. Einige Schritte vor ihm stoppte sie und erstarrte dann. Eine zweite Klaue erschien, eine von den großen, die mit Fühlern ausgerüstet waren. Sie näherte sich ihm, beobachtete ihn aufmerksam und blieb dann respektvoll einige Schritte hinter ihm zurück. Sekunden später gesellte sich eine große Klaue hinzu. Stumm verfolgten ihn die Roboter, während er langsam auf den Bunker zuschritt.
Hendricks blieb stehen, und hinter ihm hielten auch die Klauen an. Er war jetzt nah genug. Fast vor der Bunkertreppe.
„Scott! Können Sie mich hören? Ich stehe direkt über Ihnen. Draußen. An der Oberfläche. Empfangen Sie mich?"
Er wartete, hielt das Gewehr schußbereit an der Seite, das Funkgerät fest an sein Ohr gepreßt. Die Zeit verging. Er lauschte konzentriert, doch dort war nur Schweigen. Schweigen, und das milde statische Rauschen.
Dann, fern und metallisch...
„Hier spricht Scott."
Die Stimme klang neutral. Kalt. Er konnte sie nicht identifizieren.
„Scott! Hören Sie, ich stehe genau über Ihnen. Ich befinde mich draußen, vor dem Bunkereingang."
„Ja."
„Können Sie mich sehen?"
„Ja."
„Durch das Periskop? Sie haben das Periskop auf mich gerichtet?"
„Ja."
Hendricks dachte nach. Um ihn herum hatte sich ein Kreis aus still wartenden Klauen gebildet, und ihre graumetallenen Leiber waren überall. „Ist im Bunker alles in Ordnung? Hat sich nichts Ungewöhnliches ereignet?"
„Alles in Ordnung."
„Würden Sie bitte zur Oberfläche heraufkommen? Ich möchte Sie einen Moment lang sehen." Hendricks holte tief Atem. „Kommen Sie zu mir herauf. Ich möchte mit Ihnen reden."
„Kommen Sie herunter."
„Ich gebe Ihnen den Befehl."
Stille.
„Kommen Sie nun?" Hendricks horchte. Keine Antwort ertönte. „Ich gebe Ihnen den Befehl, zu mir an die Oberfläche zu kommen."
„Kommen Sie herunter."
Hendricks preßte die Lippen zusammen. „Ich möchte mit Leone sprechen."
Eine lange Pause trat ein. Er hörte dem statischen Rauschen zu. Dann erklang eine Stimme, hart, dünn, metallisch. Die gleiche wie die erste. „Hier ist Leone."
„Hendricks spricht. Ich befinde mich auf der Oberfläche. Vor dem Eingang zum Bunker. Ich möchte, daß einer von Ihnen zu mir heraufkommt."
„Kommen Sie herunter."
„Warum sollte ich das tun? Ich habe Ihnen einen Befehl gegeben!"
Schweigen. Hendricks senkte das Funkgerät. Er blickte sich vorsichtig um. Der Eingang lag direkt vor ihm. Fast zu seinen Füßen. Er zog die Antenne ein und befestigte das Funkgerät an seinem Gürtel. Vorsichtig ergriff er mit beiden Händen das Gewehr. Er bewegte sich vorwärts, machte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Wenn man ihn beobachtete, dann würden sie wissen, daß er sich auf den Eingang zubewegte. Einen Moment lang schloß er die Augen.
Dann setzte er einen Fuß auf die oberste Stufe der in die Tiefe führenden Treppe.
Zwei Davids kamen herauf und ihre Gesichter waren völlig identisch und ausdruckslos. Er schmorte sie zu Schlacke. Weitere kamen stumm heraufgeeilt, ein ganzer Haufen. Alle vollkommen identisch.
Hendricks fuhr herum und rannte zurück, fort von dem Bunker, der Anhöhe entgegen.
Auf der Anhöhe eröffneten Tasso und Klaus das Feuer. Die kleinen Klauen waren bereits dabei, zu ihnen hinaufzukriechen, glänzende Metallkugeln, die sich schnell bewegten, gierig über die Asche krabbelten. Aber er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er kniete nieder, zielte auf den Bunkereingang, preßte das Gewehr an seine Wange. Die Davids krochen hervor, hielten ihre Teddybären umklammert, und ihre dünnen knotigen Beine bewegten sich unermüdlich, während sie die Stufen hinauf zur Oberfläche eilten. Hendricks feuerte in das Gewimmel. Sie barsten auseinander und Rädchen und Federn flogen in alle Richtungen. Er schoß erneut hinein in den Staubnebel.
Eine riesige Gestalt erschien im Bunkereingang, groß und schwankend. Hendricks hielt irritiert inne. Ein Mann, ein Soldat. Mit nur einem Bein, und er stützte sich auf eine Krücke.
„Major!" gellte Tassos Stimme auf. Er schoß weiter. Die große Gestalt bewegte sich auf ihn zu, während ihn die Davids umschwärmten. Hendricks schüttelte die Erstarrung ab. Die Erste Variante. Der Verwundete Soldat. Er zielte und feuerte. Der Soldat zerplatzte in tausend Teile, Drähte und Relais wirbelten durch die Luft. Aber viele Davids hatten den Erdboden erreicht, den Bunker bereits hinter sich gelassen. Er schoß und schoß, bewegte sich langsam, kriechend zurück, feuerte weiter.
Von der Anhöhe schoß Klaus. Die Hügelböschung war mit Klauen bedeckt, die nach oben vorzudringen versuchten. Hendricks näherte sich rennend und kriechend der Anhöhe. Tasso hatte sich von Klaus getrennt und bewegte sich langsam nach rechts, fort von dem Hang.
Ein David glitt auf ihn zu, das kleine bleiche Gesicht war ausdruckslos, das braune Haar hing ihm in die Augen. Er bückte sich plötzlich und öffnete die Arme. Der Teddybär sprang zu Boden und hüpfte auf ihn zu. Hendricks feuerte. Der Bär und der David verschmorten. Er grinste, blinzelte. Es war wie in einem Traum.
„Kommen Sie herauf!" Tassos Stimme. Hendricks eilte auf sie zu. Sie befand sich in der Nähe einiger Betonklötze; Mauerreste eines zerstörten Gebäudes. Sie feuerte an ihm vorbei, benutzte die Pistole, die Klaus ihr gegeben hatte.
„Danke." Er hatte sie erreicht und schnappte keuchend nach Luft. Sie stieß ihn weiter, hinter die Betontrümmer, und fingerte an ihrem Gürtel.
„Schließen sie die Augen!" Sie entfernte eine kugelförmige Granate von ihrer Hüfte. Rasch zog sie die Zündkappe ab. „Schließen Sie die Augen und legen Sie sich hin."
Sie zielte und warf die Granate. Sie flog in einem Bogen auf den Bunkereingang zu, prallte auf den Boden und rollte weiter. Zwei Verwundete Soldaten standen unentschlossen neben dem Steinhäufen. Weitere Davids quollen hinter ihnen hervor, hinaus auf die Ebene. Einer der Verwundeten Soldaten näherte sich der Granate, bückte sich ungeschickt und wollte sie aufheben.
Die Grante explodierte. Die Druckwelle erfaßte Hendricks und schleuderte ihn zu Boden. Ein Hitzesturm fauchte über ihn hinweg. Verschwommen sah er Tasso hinter den Betonklötzen hocken und langsam und methodisch auf die Davids schießen, die sich aus den flackernden Wolken aus weißem Feuer hervorschoben.
Oben auf der Anhöhe kämpfte Klaus gegen einen Ring aus Klauen an, die ihn eingekreist hatten. Er wich zurück, während er gleichzeitig auf sie schoß, und versuchte den Ring zu durchbrechen.
Hendricks kam wieder auf die Beine. Sein Kopf schmerzte. Er konnte kaum noch etwas sehen. Feuer, Staub leckte nach ihm. Sein rechter Arm war gefühllos und konnte nicht mehr bewegt werden.
Tasso zerrte ihn mit sich. „Kommen Sie. Wir müssen fort."
„Aber Klaus... er ist noch immer dort oben."
„Kommen Sie!" Tasso zog Hendricks davon, fort von den Ruinen. Hendricks schüttelte den Kopf, versuchte die Betäubung zu überwinden. Tasso führte ihn, mit wachsamen und glänzenden Augen, die nach Klauen Ausschau hielten, die der Explosion entkommen sein mochten.
Ein David löste sich aus den flackernden Flammenwolken. Tasso verschmorte ihn. Er schien der letzte gewesen zu sein.
„Aber Klaus. Was ist mit ihm? Er..."
„Kommen Sie!"
Sie zogen sich zurück, entfernten sich mehr und mehr von dem Bunker. Einige kleine Klauen folgten ihnen eine Weile und gaben dann auf, wandten sich um und verschwanden.
Schließlich hielt Tasso an. „Wir können hier einen Moment bleiben und uns ausruhen."
Hendricks setzte sich auf einen Schutthaufen. Er massierte sein Genick und keuchte. „Wir haben Klaus einfach zurückgelassen."
Tasso sagte nichts. Sie klappte die Pistole auf und schob ein neues Magazin Energiepatronen in die Trommel.
Benommen starrte Hendricks sie an. „Sie haben ihn aus einem bestimmten Grund zurückgelassen."
Tasso ließ die Waffe zusammenschnappen. Sie beobachtete die Schutthaufen in der Nähe, und ihr Gesicht war ausdruckslos. Als ob sie auf irgend etwas warten würde.
„Was ist es?" fragte Hendricks. „Wonach halten Sie Ausschau? Nähert sich uns etwas?" Er schüttelte den Kopf, versuchte zu verstehen. Was machte sie? Worauf wartete sie? Er konnte nichts erkennen. Nur Asche umgab sie, Asche und Ruinen. Hin und wieder kahle Baumstämme, ohne Blätter oder Äste. „Was..."
Tasso schnitt ihm das Wort ab. „Seien Sie still." Ihre Augen verengten sich. Plötzlich ruckte ihre Waffe nach oben. Hendricks drehte sich um folgte ihrem Blick.
In der Richtung, aus der sie gekommen waren, erschien eine Gestalt. Die Gestalt kam schwankend näher. Ihre Kleidung war zerfetzt. Sie hinkte und bewegte sich sehr langsam und vorsichtig. Hielt dann und wann an, ruhte aus und gewann neue Kraft. Einmal stürzte sie beinahe. Einen Moment stand sie, versuchte das Gleichgewicht zurückzugewinnen. Dann ging sie weiter.
Es war Klaus.
Hendricks erhob sich. „Klaus!" Er wollte auf ihn zugehen. „Was, zur Hölle, haben Sie... "
Tasso feuerte. Hendricks fuhr herum. Sie schoß erneut, und der Blitz zuckte an ihm vorbei, eine sengende Linie aus Hitze. Der Strahl traf Klaus in die Brust. Er explodierte und Getriebeteile und Rädchen flogen davon. Einen Moment lang ging er weiter. Dann taumelte er und prallte auf den Boden, und seine Arme lösten sich vom Rumpf. Weitere Rädchen rollten davon.
Stille.
Tasso sah Hendricks an. „Jetzt verstehen Sie wohl, warum er Rudi getötet hat."
Hendricks setzte sich langsam. Er schüttelte den Kopf. Er war wie betäubt. Er konnte nicht mehr denken. Das alles ging entschieden über sein Verständnis.
„Verstehen Sie?" fragte Tasso. „Verstehen Sie jetzt?"
Hendricks sagte nichts. Alles entfernte sich von ihm, glitt schneller und schneller davon. Dunkelheit überrollte ihn.
Er schloß die Augen.
Langsam öffnete Hendricks wieder die Augen. Sein ganzer Körper schmerzte. Er versuchte sich aufzurichten, aber Schmerz schoß durch seinen Arm und seine Schulter. Er keuchte.
„Versuchen Sie nicht aufzustehen", riet Tasso. Sie beugte sich über ihn und legte ihre kalte Hand auf seine Stirn.
Es war Nacht. Am Himmel glühten einige Sterne, leuchteten durch die dahintreibenden Aschewolken. Hendricks legte sich wieder hin und biß die Zähne aufeinander. Tasso musterte ihn unbeeindruckt. Sie hatte mit einigen Holzstückchen ein Feuer gemacht. Die Flammen flackerten schwach, leckten nach einer Metalltasse, die über dem Feuer hing. Alles war still. Undurchdringliche Finsternis herrschte hinter dem Lichtkreis der Flammen.
„Also war er die Zweite Variante", murmelte Hendricks.
„Ich habe es immer befürchtet."
„Warum haben Sie ihn dann nicht schon eher zerstört?" wollte er wissen.
„Sie hielten mich davon ab." Tasso trat ans Feuer und blickte in die Metalltasse. „Kaffee. Er ist bald fertig."
Sie kam zurück und setzte sich neben ihn. Dann klappte sie ihre Pistole auseinander und begann den Schußmechanismus zu zerlegen und ihn aufmerksam zu studieren.
„Dies ist eine wundervolle Waffe", sagte Tasso halblaut. „Die Konstruktion ist hervorragend."
„Was ist mit ihnen? Den Klauen?"
„Die Explosion der Granate setzte die meisten von ihnen außer Gefecht. Sie sind empfindliche Geschöpfe. Hochorganisiert, glaube ich."
„Und die Davids auch?"
„Ja."
„Wie sind Sie an diese Granate gelangt?"
Tasso zuckte die Achseln. „Wir haben sie neu entwickelt. Sie sollten unsere technologischen Fähigkeiten nicht unterschätzen, Major. Ohne diese Granate würden wir beide nicht mehr existieren."
„Sehr nützlich."
Tasso streckte ihre Beine aus und wärmte ihre Füße an der Hitze des Feuers. „Es hat mich überrascht, daß Sie nicht zu verstehen schienen, als er Rudi getötet hatte. Warum glaubten Sie, daß er... "
„Ich sagte es Ihnen bereits. Ich dachte, er hätte Angst."
„Wirklich? Wissen Sie, Major, daß ich eine kleine Weile lang Sie verdächtigt habe? Weil Sie nicht wollten, daß ich ihn töte. Ich dachte, Sie wollten ihn beschützen." Sie lachte.
„Sind wir hier sicher?" fragte Hendricks plötzlich.
„Eine Zeitlang schon. Bis sie Verstärkung aus anderen Gebieten erhalten." Tasso begann die Einzelteile ihrer Pistole mit einem Stoffetzen zu reinigen. Dann war sie fertig und setzte die Waffe wieder zusammen. Mit ihren Fingern strich sie über die Trommel.
„Wir haben Glück gehabt", murmelte Hendricks.
„Ja. Sehr viel Glück."
„Danke, daß Sie mich fortgezogen haben."
Tasso antwortete nicht. Sie blickte zu ihm auf, und ihre Augen glänzten im Flammenschein des Feuers. Hendricks untersuchte seinen Arm.
Er konnte die Finger nicht bewegen. Seine ganze Seite schien betäubt zu sein. In seinem Innern herrschte ein dumpfer, stetiger Schmerz.
„Wie fühlen Sie sich?" fragte Tasso.
„Mein Arm ist taub."
„Sonst noch etwas?"
„Innere Verletzungen."
„Sie haben sich nicht hingelegt, als die Granate explodierte."
Hendricks schwieg. Er beobachtete Tasso, während sie den Kaffee aus dem Becher in eine flache Metallschale goß, die sie ihm dann reichte.
„Danke." Er richtete sich auf, um zu trinken. Das Schluk-ken fiel ihm schwer. Sein Magen zog sich zusammen, und er stellte die Schale fort. „Mehr kann ich jetzt nicht trinken."
Tasso leerte den Rest. Zeit verging. Die Aschewolken drifteten über den dunklen Himmel. Hendricks ruhte sich aus, döste. Nach einer Weile bemerkte er, daß Tasso über ihm stand und auf ihn hinunterblickte.
„Was ist?" murmelte er.
„Fühlen Sie sich besser?"
„Ein wenig."
„Sie wissen, Major, daß man Sie erwischt hätte ohne meine Hilfe. Sie wären tot. Wie Rudi."
„Ich weiß."
„Wollen Sie nicht wissen, warum ich Sie gerettet habe? Ich hätte Sie auch zurücklassen können. Ich hätte Sie dort wirklich zurücklassen können."
„Warum haben Sie es dann nicht getan?"
„Weil wir von hier fort müssen." Tasso stocherte mit einem Stock im Feuer, blickte still hinein. „Kein menschliches Wesen kann hier überleben. Wenn ihre Verstärkung eintrifft, haben wir keine Chance mehr. Ich habe darüber nachgedacht, während Sie bewußtlos waren. Wir haben vielleicht noch drei Stunden, bis sie hier sind."
„Und Sie erwarten von mir, daß ich uns von hier fortbringen kann?"
„Ich erwarte von Ihnen, daß Sie uns von hier fortbringen."
„Warum ich?"
„Weil ich keine andere Möglichkeit sehe." Ihre Augen leuchteten in dem Zwielicht hell und wachsam. „Wenn Sie uns nicht fortbringen können, wird man uns binnen drei Stunden töten. Es gibt keinen Ausweg. Nun, Major? Was werden Sie tun? Ich habe die ganze Nacht gewartet. Wahrend Sie bewußtlos waren, saß ich hier und wartete und horchte. Es ist kurz vor Tagesanbruch. Die Nacht ist fast vorbei."
Hendricks überlegte. „Es ist seltsam", sagte er schließlich.
„Seltsam?"
„Daß Sie glauben, ich könnte uns von hier fortbringen. Ich frage mich, wie Sie sich das vorstellen."
„Können Sie uns zur Mondbasis bringen?"
„Zur Mondbasis? Aber wie?"
„Es muß einen Weg geben."
Hendricks schüttelte den Kopf. „Nein. Es gibt keinen Weg, den ich kenne."
Tasso sagte nichts. Für einen Moment flackerte ihr wachsamer Blick. Sie senkte den Kopf und wandte sich abrupt ab. Dann stand sie auf. „Noch Kaffee?"
„Nein."
„Wie Sie wünschen." Tasso trank schweigend. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Er lag auf dem Boden, tief in Gedanken versunken, versuchte sich zu konzentrieren. Es fiel ihm schwer. Sein Kopf tat noch immer weh. Und die benommene Schläfrigkeit erfüllte ihn nach wie vor.
„Es gibt vielleicht eine Möglichkeit", sagte er plötzlich.
„Oh?"
„Wann wird es Morgen werden?"
„In zwei Stunden. Die Sonne muß bald aufgehen."
„Man sagt, daß sich irgendwo hier in der Nähe ein Schiff befinden soll. Ich habe es nie gesehen. Aber ich weiß, daß es existiert."
„Was ist das für ein Schiff?" Ihre Stimme klang scharf.
„Eine Raketenfähre."
„Wird sie es schaffen? Bis zur Mondbasis?"
„Sie ist dafür da. Für Notfalle." Er massierte seine Stirn.
„Was ist?"
„Mein Kopf. Das Denken fällt mir schwer. Ich kann mich nur mühsam... mühsam konzentrieren. Die Granate scheint mir doch erheblich zugesetzt zu haben."
„Ist das Schiff in der Nähe?" Tasso glitt auf seine Seite, kniete neben ihm. „Wie weit ist es von hier entfernt? Wo befindet es sich?"
„Ich versuche mich zu erinnern."
Ihre Finger bohrten sich in seinen Arm. „In der Nähe?" Ihre Stimme war wie Eisen. „Wo könnte es sein? Versteckt unter der Erdoberfläche?"
„Ja. In einem Lagerraum."
„Wie findet man es? Ist die Stelle markiert? Benötigt man einen Kodegeber, um sie zu finden?"
Hendricks konzentrierte sich. „Nein. Keine Markierungen. Keine Kode."
„Was dann?"
„Ein Zeichen."
„Was für ein Zeichen?"
Hendricks antwortete nicht. In dem flackernden Licht waren seine Augen trübe, zwei blicklose Kugeln. Tassos Finger bohrten sich in seinen Arm.
„Was für ein Zeichen? Wie sieht es aus?"
„Ich... ich kann mich nicht erinnern. Lassen Sie mich schlafen."
„In Ordnung." Sie ließ ihn los und erhob sich. Hendricks lag mit geschlossenen Augen am Boden. Tasso entfernte sich von ihm, und sie hatte die Hände in die Taschen gesteckt. Sie trat gegen einen Stein und stand da, starrte hinauf zum Himmel. Die Schwärze der Nacht begann sich bereits in Grau zu verwandeln. Der Morgen brach an.
Tasso ergriff ihre Pistole und umkreiste das Feuer, ging hin und her. Am Boden lag Major Hendricks, die Augen geschlossen, bewegungslos. Das Grau wuchs am Horizont empor, höher und höher. Die Umgebung wurde sichtbar; Aschefelder, die sich in alle Richtungen erstreckten. Asche und Ruinen; hier und da eine Wand, Betonhaufen, der nackte Stamm eines Baumes.
Die Luft war kalt und scharf. Irgendwo in der Ferne gab ein Vogel ein trostloses Krächzen von sich.
Hendricks fuhr auf. Er öffnete die Augen. „Ist es schon Morgen?"
„Ja."
Hendricks setzte sich. „Sie wollten etwas wissen. Sie haben mir eine Frage gestellt."
„Erinnern Sie sich jetzt?"
„Ja."
„Was ist es?" Sie zögerte. „Was?" wiederholte sie scharf.
„Ein Brunnen. Ein zerstörter Brunnen. Es befindet sich in einem Lagerraum unter einem Brunnen."
„Ein Brunnen." Tasso entspannte sich. „Dann werden wir nach einem Brunnen suchen." Sie sah auf ihre Uhr. „Wir haben noch über eine Stunde, Major. Glauben Sie, daß wir es innerhalb einer Stunde finden können?"
„Helfen Sie mir hoch", bat Hendricks.
Tasso steckte die Pistole ein und half ihm auf die Beine. „Es wird schwierig werden."
„Ja." Hendricks preßte fest die Lippen zusammen. „Ich glaube nicht, daß wir genug Zeit haben, um ein größeres Gebiet abzusuchen."
Sie setzten sich in Bewegung. Die Morgensonne schenkte nur wenig Wärme. Das Land war flach und kahl, erstreckte sich grau und leblos, so weit sie blicken konnten. Einige Vögel glitten still und hoch über sie hinweg, kreisten langsam am Himmel.
„Sehen Sie etwas?" fragte Hendricks. „Irgendwelche Klauen?"
„Nein. Noch nicht."
Sie kamen an einigen Ruinen vorbei, Betonüberreste und Steine. Ein Zementfundament. Ratten huschten davon. Tasso sprang vorsichtig zurück.
„Das war einst eine Stadt", erklärte Hendricks. „Eine kleine Ortschaft. Ein Provinznest. Früher lag hier ein Weinbaugebiet. Hier, wo wir jetzt sind."
Sie erreichten eine zerstörte Straße, die von Rissen und Spalten durchzogen und von Unkraut überwuchert war. Zu ihrer Rechten reckte sich ein steinerner Schornstein empor.
„Seien Sie vorsichtig", warnte er.
Ein Loch gähnte vor ihnen, ein offener Keller. Zerfetzte Rohre ragten daraus hervor, verdreht und verbogen. Sie passierten die Trümmer eines Hauses, eine Badewanne, die auf der Seite lag. Ein zerbrochener Stuhl. Ein paar Messer und die Scherben von chinesischen Tellern. In der Straßenmitte war der Boden eingesackt. Die Grube war mit Unkraut und Schutt und Knochen gefüllt.
„Hier irgendwo", murmelte Hendricks.
„Diese Richtung?"
„Rechts."
Sie kamen an den Überresten eines Hochleistungspanzers vorbei. Hendricks Geigerzähler tickte warnend. Der Panzer war strahlenverseucht. Ein paar Schritte von dem Tank entfernt lag ein mumifizierter Leichnam ausgestreckt da, den Mund geöffnet. Neben der Straße befand sich flaches Gelände. Steine und Unkraut und Glassplitter.
„Dort", erklärte Hendricks.
Ein Steinbrunnen tauchte auf, zerstört, beschädigt. Über dem Schacht lagen einige Bretter. Der Großteil des Brunnens war zerfallen. Schwankend gingen Hendricks und Tasso auf ihn zu.
„Sind Sie sicher?" fragte Tasso. „Das sieht nicht sehr vielversprechend aus."
„Ich bin sicher." Hendricks setzte sich auf den Brunnenrand, die Zähne zusammengebissen. Sein Atem ging schnell. Er wischte den Schweiß von seinem Gesicht. „Man hat dies gebaut, damit der befehlshabende Offizier fliehen kann. Wenn etwas geschieht. Wenn der Bunker fällt."
„Das waren Sie."
„Ja."
„Wo ist das Schiff? Ist es hier?"
„Wir stehen darüber." Hendricks fuhr mit den Händen über die Brunnensteine. „Das Schloß reagiert nur auf mich. Es ist mein Schiff. Oder es sollte meines sein."
Ein scharfes Klicken ertönte. Dann vernahmen sie von unten ein leises knirschendes Geräusch.
„Treten Sie zurück", sagte Hendricks. Er und Tasso entfernten sich von dem Brunnen.
Ein Teil des Bodens glitt zur Seite. Ein Metallgitter schob sich langsam aus der Asche hervor, wischte Steine und Unkraut beiseite. Dann erschien das Schiff.
„Da ist es", sagte Hendricks.
Das Schiff war klein. Es lag still da, wie eine dumpfe Nadel in einem maschigen Netz hängend. Ascheregen rieselte in die dunkle Öffnung, aus der sich das Schiff hervorgeschoben hatte. Hendricks näherte sich der Rakete. Er kletterte an dem Netz hinauf und öffnete die Luke. Im Innern des Schiffes wurden die Kontrolltafeln und der Andrucksessel sichtbar.
Tasso folgte ihm und blickte in das Schiff hinein. „Ich bin nicht als Raketenpilotin ausgebildet", sagte sie nach einer Weile.
Hendricks blickte sie an. „Ich werde es steuern."
„Werden Sie das? Es besitzt nur einen Platz, Major. Ich sehe, daß das Schiff nur für eine Person entworfen ist."
Hendricks erstarrte. Aufmerksam studierte er die Einrichtung des Schiffes. Tasso hatte recht. Es gab nur einen Sitz. Das Schiff war konzipiert, nur eine einzige Person zu transportieren. „Ich verstehe", erklärte er. „Und die eine Person werden selbstverständlich Sie sein?"
Sie nickte.
„Natürlich."
„Warum?"
„Sie können nicht starten. Vermutlich würden Sie die Reise nicht überleben. Sie sind verletzt. Wahrscheinlich würden Sie nicht ankommen."
„Ein interessanter Punkt. Aber sehen Sie, ich weiß, wo sich die Mondbasis befindet. Und Sie nicht. Sie können Monate herumfliegen und sie doch nicht finden. Sie ist gut versteckt. Wenn man nicht weiß, worauf man achten muß..."
„Ich werde es versuchen. Vielleicht finde ich sie nicht. Nicht, wenn ich auf mich allein angewiesen bin. Aber ich glaube, Sie werden mir alle Informationen geben, die ich benötige. Ihr Leben hängt davon ab."
„Wieso?"
„Wenn ich die Mondbasis rechtzeitig erreiche, kann ich sie vielleicht dazu bringen, ein Schiff zu entsenden, um Sie abzuholen. Wenn ich die Basis rechtzeitig erreiche. Wenn nicht, dann haben Sie nicht die geringste Chance. Ich glaube, daß es Vorräte an Bord des Schiffes gibt. Sie werden lange genug reichen, um... "
Hendricks schnellte auf sie zu. Aber sein verletzter Arm behinderte ihn. Tasso duckte sich, glitt geschmeidig zur Seite. Ihre Hand fuhr nach oben. Hendricks sah den Pistolenknauf. Er versuchte den Schlag abzuwehren, aber sie war zu flink. Der Metallknauf traf ihn an der Kopfseite, direkt über dem Ohr. Betäubender Schmerz flackerte in ihm auf. Schmerz und rollende Wolken aus Finsternis. Er fiel zu Boden.
Verschwommen bemerkte er, daß Tasso über ihm stand und ihn mit ihrem Fuß anstieß.
„Major! Wachen Sie auf!"
Stöhnend öffnete er die Augen.
„Hören Sie mir zu." Sie beugte sich zu ihm hinunter, und die Pistole deutete genau auf sein Gesicht. „Ich muß mich beeilen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das Schiff ist startbereit, aber Sie müssen mir vor meinem Abflug die Informationen geben, die ich benötige."
Hendricks schüttelte den Kopf, versuchte seine Betäubung zu überwinden.
„Beeilen Sie sich! Wo befindet sich die Mondbasis? Wie kann ich sie finden? Worauf muß ich achten?"
Hendricks sagte nichts.
„Antworten Sie mir!"
„Tut mir leid."
„Major, das Schiff ist mit Vorräten ausgerüstet. Ich kann wochenlang suchen. Ich werde die Basis vielleicht finden. Und in einer halben Stunde sind Sie tot. Ihre einzige Chance zum Überleben ist..." Sie verstummte.
An der Böschung, in der Nähe einiger verkohlter Ruinen, bewegte sich etwas. Etwas in der Asche. Tasso fuhr rasch herum und zielte. Sie feuerte. Ein Feuerball leckte herüber. Etwas lief davon, rollte durch die Asche. Sie schoß wieder. Die Klaue explodierte. Rädchen flogen durch die Gegend.
„Sehen Sie?" sagte Tasso. „Ein Kundschafter. Es wird nicht mehr lange dauern."
„Sie werden dafür sorgen, daß man mich abholt?"
„Ja. Sobald wie möglich."
Hendricks blickte zu ihr auf. Forschend betrachtete er sie. „Sie sagen die Wahrheit?" Ein seltsamer Ausdruck prägte sein Gesicht; hungrige Gier. „Sie werden zu mir zurückkehren? Sie werden dafür sorgen, daß man mich zur Mondbasis schafft?"
„Ich werde Sie zur Mondbasis holen. Aber sagen Sie mir, wo sie liegt. Wir haben nur noch sehr wenig Zeit."
„In Ordnung." Hendricks ergriff einen Kieselstein und setzte sich auf. „Schauen Sie zu."
Hendricks begann in der Asche zu kratzen. Tasso stand neben ihm, beobachtete die Bewegungen des Kiesels. Hendricks zeichnete eine primitive Mondkarte.
„Das sind die Apenninen. Hier liegt der Krater Archimedes. Die Mondbasis befindet sich hinter diesem Ausläufer der Apeninnen, über zweihundert Meilen davon entfernt. Ich weiß nicht genau, wo. Niemand auf der Erde weiß es. Aber wenn Sie über den Apenninen sind, signalisieren Sie, indem Sie eine rote und eine grüne Leuchtrakete abschießen, in kurzem Abstand gefolgt von zwei roten Raketen. Der Basiscomputer wird Ihr Signal registrieren. Die Basis liegt natürlich unter der Mondoberfläche. Man wird Sie mit MagnetStrahlen einweisen."
„Und die Kontrollen? Kann ich sie bedienen?"
„Die Kontrollen arbeiten automatisch. Alles, was Sie zu tun haben, ist das richtige Signal zur richtigen Zeit zu geben."
„Das werde ich tun."
„Der Sitz absorbiert den Großteil des Andruckschocks. Sauerstoff und Temperatur werden automatisch überwacht. Das Schiff wird die Erde verlassen und den Raum erreichen. Es wird sich automatisch bis zum Mond steuern und einen Orbit einschlagen, hundert Kilometer über der Oberfläche. Der Orbit wird Sie über die Basis hinwegführen. Wenn Sie sich über den Apeninnen befinden, schießen Sie die Signalraketen ab."
Tasso glitt in das Schiff und setzte sich in den Andrucksessel. Die Sicherheitsgurte rasteten von selbst ein. Sie berührte die Kontrollen. „Zu schade, daß nicht Sie starten können, Major. Alles hier steht für Sie bereit, und Sie können die Reise nicht antreten."
„Lassen Sie mir die Pistole hier."
Tasso löste die Waffe von ihrem Gürtel. Sie hielt sie in der Hand und sah sie nachdenklich an. „Entfernen Sie sich nicht zu weit von diesem Ort. Sonst wird es sehr schwer werden, Sie zu finden."
„Ich werde hier beim Brunnen bleiben."
Tasso betätigte den Startschalter, glitt mit ihren Fingern über das glatte Metall des Schaltpultes. „Ein schönes Schiff, Major. Gut konstruiert. Ich bewundere eure Kunstfertigkeit.
Ihr Menschen habt immer gute Arbeit geleistet. Habt hübsche Dinge erfunden. Eure Arbeit, eure Schöpfungen sind eure größten Leistungen."
„Geben Sie mir die Pistole", verlangte Hendricks ungeduldig und streckte die Hand aus. Er kam auf die Beine.
„Leben Sie wohl, Major." Tasso warf die Pistole an Hendricks vorbei. Die Pistole klapperte über den Boden, hüpfte und rutschte davon. Hendricks eilte ihr nach. Er bückte sich und hob sie auf.
Die Luke des Schiffes schloß sich knackend. Die Riegel wurden vorgeschoben. Hendricks trat zurück. Die Innentür glitt zu. Schwankend hob er die Pistole.
Ohrenbetäubender Donner ertönte. Das Schiff schoß aus dem Metallkäfig hervor und verschmolz das Netz. Hendricks duckte sich, wich zurück. Das Schiff stieg empor, den driftenden Aschewolken entgegen, und verschwand im Himmel.
Hendricks stand noch lange Zeit da, bis nichts mehr zu sehen war. Alles war still. Die Morgenluft war frostig und ruhig. Betäubt begann er in die Richtung zurückzugehen, aus der er gekommen war. Es war besser, wenn er sich bewegte. Es würde bis zum Eintreffen der Hilfe noch lange Zeit vergehen - falls sie überhaupt eintraf.
Er suchte in seinen Taschen, bis er eine Zigarettenpak-kung fand. Grimmig setzte er eine Zigarette in Brand. Sie hatten alle Zigaretten von ihm gewollt. Aber Zigaretten waren knapp.
Eine Eidechse kroch heran, durch die Asche. Er hielt inne, bewegte sich nicht. Die Eidechse verschwand. Über ihm kletterte die Sonne am Himmel hinauf. Einige Fliegen ließen sich neben ihm auf einem flachen Stein nieder. Hendricks schlug nach ihnen.
Es wurde heißer. Schweiß lief ihm über das Gesicht, tropfte in seinen Kragen. Sein Mund war trocken.
Schließlich blieb er wieder stehen und setzte sich auf einen Schutthaufen. Er öffnete sein Medikamentenkästchen und schluckte einige Schmerztabletten. Er blickte sich um. Wo war er?
Etwas lag da vor ihm. Auf dem Boden ausgestreckt. Stumm und reglos.
Hendricks hob schnell seine Waffe. Es sah wie ein Mensch aus. Dann erinnerte er sich. Es waren die Überreste von Klaus. Die Zweite Variante. Dort, wo Tasso ihn ver-schmort hatte. Er sah Rädchen und Relais und Metallteile, die in der Asche verstreut lagen. Sie glitzerten und funkelten im Sonnenlicht.
Hendricks kam auf die Beine und ging hinüber. Er stocherte mit dem Fuß in den Innereien und drehte die geschmolzene Gestalt ein wenig. Er konnte die Metallhülle erkennen, die Aluminiumrippen und Verstrebungen. Weitere Drähte fielen heraus. Wirkten wie Sehnen. Drähte und Schaltungen und Relais. Zahllose Motoren und Drähte.
Er bückte sich. Die Gehirnkapsel war bei dem Sturz zerbrochen. Das künstliche Gehirn war sichtbar geworden. Er blickte es an. Ein Labyrinth von Schaltungen. Miniaturisierte Röhren. Drähte, so fein wie Haare. Er berührte die Gehirnkapsel. Sie rollte zur Seite. Die Typenplatte wurde sichtbar. Hendricks starrte sie an.
Und wurde bleich.
IV-V.
Lange Zeit starrte er die Plakette an. Die Vierte Variante. Nicht die Zweite. Sie hatten sich geirrt. Es gab noch weitere Typen. Nicht nur drei. Vielleicht sehr viel mehr. Zumindest vier. Und Klaus war nicht die Zweite Variante.
Aber wenn Klaus nicht die Zweite Variante war...
Plötzlich fuhr er zusammen. Etwas näherte sich ihm, bewegte sich durch die Asche neben dem Hügel. Was war das? Er reckte sich, um nachzusehen. Gestalten. Gestalten, die langsam daherschritten und sich ihren Weg durch die Asche bahnten.
Hendricks duckte sich eilig und hob seine Waffe. Schweiß rann ihm in die Augen. Er kämpfte die aufsteigende Panik nieder, als sich die Gestalten näherten.
Die erste war ein David. Der David entdeckte ihn und beschleunigte seine Schritte. Die anderen folgten ihm hastig. Ein zweiter David. Ein dritter. Drei Davids, alle identisch, näherten sich ihm ohne einen Laut, ohne Ausdruck, und ihre dünnen Beine bewegten sich unermüdlich. Und sie umklammerten ihre Teddybären.
Er zielte und schoß. Die beiden ersten Davids lösten ich in Staub auf. Der dritte kam heran. Und da war eine Gestalt hinter ihm. Kletterte stumm hinter ihm her, über die graue Asche. Ein Verwundeter Soldat, der den David überragte. Und...
Und hinter dem Verwundeten Soldaten erschienen zwei Tassos, schritten nebeneinander daher. Schwerer Gürtel, russische Armeehose, Bluse, langes Haar. Die vertraute Gestalt, die er vor einer kleinen Weile noch gesehen hatte. Im Andrucksessel der Rakete. Zwei schlanke stumme Gestalten, beide identisch.
Sie waren jetzt sehr nah. Der David bückte sich plötzlich und ließ seinen Bären los. Der Bär rannte über den Boden. Automatisch krümmte sich Hendricks Finger um den Abzug. Der Bär verschwand, löste sich in Nebel auf. Die beiden Tasso-Typen eilten weiter, ausdruckslos, Seite an Seite, wirbelten die graue Asche auf.
Als sie ihn fast erreicht hatten, hob Hendricks die Pistole und feuerte.
Die beiden Tassos verschwanden. Aber schon kletterte eine neue Gruppe die Böschung hinauf, fünf oder sechs Tassos nebeneinander, alle identisch, und sie näherten sich ihm mit großen Schritten.
Und er hatte ihr das Schiff und den Signalkode gegeben. Durch seine Hilfe befand sie sich auf dem Weg zum Mond, zur Mondbasis. Er hatte ihr die Möglichkeit dazu verschafft.
Er hatte recht mit der Granate gehabt... Sie war mit dem Wissen der anderen Typen hergestellt worden, des DavidTyps und des Verwundeter-Soldat-Typs. Und des KlausTyps. Nicht von menschlichen Wesen. Sie war in einer der unterirdischen Fabriken hergestellt worden, ohne menschliche Überwachung.
Die Tassos kamen auf ihn zu. Hendricks spannte sich und sah ihnen ruhig entgegen. Das vertraute Gesicht, der Gürtel, die dicke Bluse, die Granate sorgsam an ihrem Platz.
Die Granate...
Als die Tassos nach ihm griffen, keimte ein letzter ironischer Gedanke in Hendricks' Bewußtsein auf. Er fühlte sich ein wenig besser, als er darüber nachdachte. Die Granate. Gebaut von der Zweiten Variante, um die anderen Varianten zu zerstören. Einzig aus diesem Grunde.
Sie waren bereits dabei, Waffen zu entwickeln, um sich gegenseitig damit zu bekämpfen.