Der Mann trat auf die Veranda und sah dem neuen Tag ins Gesicht. Klar und kalt bot er sich ihm dar - und noch immer bedeckte Tau den Rasen. Er knöpfte seinen Mantel zu und steckte die Hände in die Taschen.
Als der Mann die Treppe hinunterging, wandten sich die beiden Raupen, die am Briefkasten gewartet hatten, ihm interessiert zu.
„Da geht er", bemerkte die erste. „Vermerk das in deinem Bericht."
Als die andere ihre Fühler zu drehen begann, verharrte der Mann und drehte sich rasch hemm.
„Ich habe das gehört", sagte er. Dann setzte er einen Fuß auf die niedrige Mauer, wischte die Raupen hinunter, auf den Betonboden, und zertrat sie.
Er hastete weiter durch den Vorgarten und näherte sich dem Bürgersteig. Nervös blickte er sich um. Im Kirschbaum raschelte ein Vogel und pickte mit glänzenden Augen nach den Kirschen. Der Mann beobachtete ihn. Alles in Ordnung? Oder... Der Vogel flog davon. Vögel waren harmlos. Von ihnen drohte keine Gefahr.
Er ging weiter. An der Ecke prallte er mit einem Spinnennetz zusammen, das von den Büschen bis zum Telefonmast reichte. Sein Herz klopfte heftig. Er tastete vor sich in der Luft Und schob es zur Seite. Als er weiterging, blickte er über seine Schulter. Die Spinne kam langsam aus dem Gebüsch hervor und untersuchte den Schaden, den ihr Netz genommen hatte.
Spinnen waren schwer einzuordnen. Probleme bei der Einschätzung. Weitere Fakten wurden benötigt... Bisher noch kein Kontakt.
Er wartete an der Bushaltestelle und stapfte mit den Füßen auf, um sie warm zu halten.
Der Bus kam und er stieg ein, fühlte sich mit einem Mal erleichtert, als er Platz nahm und unter den warmen, schweigenden Menschen saß, die gleichgültig geradeaus blickten. Etwas wie Geborgenheit keimte in ihm auf.
Er lächelte, und zum erstenmal seit Tagen entspannte er sich.
Der Bus fuhr die Straße hinunter.
Aufgeregt wedelte Tirmus mit den Antennen.
„Dann stimmt also ab, wenn ihr wollt." Er eilte an ihnen vorbei und den Hügel hinauf. „Aber bevor ihr beginnt, laßt mich noch einmal wiederholen, was ich gestern gesagt habe."
„Das kennen wir doch schon alles", erwiderte Lala ungeduldig. „Fangen wir doch endlich an. Die Pläne sind ausgearbeitet. Wozu sich also noch damit aufhalten?"
„Ein Grund mehr für mich, mit euch zu reden." Tirmus ließ seinen Blick über die Götter wandern, die sich hier versammelt hatten. „Der ganze Hügel steht bereit, gegen den fraglichen Riesen loszumarschieren. Warum? Wir wissen, daß er sich nicht mit seinen Freunden verständigen kann. Die Art der Vibration, die Sprache, die sie benutzen, macht es unmöglich, daß er die Information, die er über uns gewonnen hat, weitergibt... "
„Unsinn.“ Lala erhob sich. „Die Riesen können sich sogar sehr gut verständigen."
„Es gibt keine Aufzeichnung, aus der hervorgeht, daß ein Riese Informationen über uns verbreitet hat.“
Unruhe erfaßte die Armee.
„Also handelt schon", sagte Tirmus resigniert. „Aber es ist verschwendete Mühe. Er ist harmlos - abgeschnitten. Warum also soviel Zeit damit vertändeln und..."
„Harmlos?" Lala starrte ihn an. „Verstehst du denn nicht? Er ist informiert!"
Tirmus entfernte sich vom Hügel. „Ich bin gegen unnötige Gewaltanwendung. Wir wollten unsere Kräfte schonen. Eines Tages werden wir sie benötigen."
Die Abstimmung erfolgte, und wie erwartet, war die Armee dafür, gegen den Riesen zu marschieren. Tirmus seufzte und begann eine Karte in den weichen Boden zu ritzen.
„Dies ist der Ort, wo er sich zumeist aufhält. Wir können davon ausgehen, daß er dort gegen Ende der Periode wieder erscheint. Nun, wie ich die Lage sehe... "
Er fuhr fort damit, anhand der in den Boden eingeritzten Karte den Plan zu erläutern.
Einer der Götter hatte sich einem anderen genähert, und ihre Antennen berührten sich. „Dieser Riese... Er hat nicht die geringste Chance. Auf eine Art tut er mit leid. Wie konnte er sich überhaupt einmischen?"
„Ein Unfall", lächelte der andere. „Du weißt doch, wie sie immer herumstolpern."
„Auf jeden Fall ist das für ihn wirklich eine üble Sache."
Die Nacht war hereingebrochen. Die Straße war dunkel und leer. Der Mann kam den Bürgersteig entlang und hatte eine Zeitung unter seinen Arm geklemmt. Er schritt schnell aus und blickte sich ständig um. Er umrundete den großen Baum, der nahe am Bordstein wuchs, überquerte flink die Straße und erreichte die gegenüberliegende Seite. Als er dann um die Ecke bog, prallte er wieder mit dem Spinnennetz zusammen, das sich vom Gebüsch bis zum Telefonmast spannte. Automatisch schlug er danach und wischte es aus seinem Gesicht. Als die Fäden zerrissen, erklang eine leise summende Stimme, metallisch und wie aus weiter Ferne.
„... halt!"
Er verharrte.
„... vorsichtig... im Innern... halt..."
Er preßte die Lippen zusammen. Mit den Händen zerfetzte er die letzten Fäden und ging weiter. Hinter ihm bewegte sich die Spinne in den Überresten ihres Netzes und beobachtete ihn. Der Mann blickte sich um.
„Hau bloß ab", sagte er. „Du glaubst doch nicht, daß ich eingesponnen in deinem Netz da stehen bleibe."
Er folgte dem Bürgersteig und erreichte den Weg, der sich durch seinen Vorgarten bis zur Veranda zog. Er ging den Weg entlang und hielt sich von den dunklen Büschen fern. An der Veranda holte er den Schlüssel aus dem Versteck und schob ihn in das Schloß.
Er hielt inne. Vorsichtig? Nun, drinnen war es besser als draußen, vor allem in der Nacht. Die Nacht war eine schlimme Zeit. Zuviel rührte sich in den Büschen. Beunruhigend. Er öffnete die Tür und trat ein. Vor ihm lag der Teppich wie eine Pfütze aus Finsternis. An der gegenüberliegenden Wand konnte er die Umrisse der Stehlampe ausmachen.
Vier Schritte bis zur Lampe. Er hob ein Bein. Und erstarrte.
Was hatte die Spinne gesagt? Halt? Er wartete, horchte. Stille herrschte.
Er nahm sein Feuerzeug und ließ es aufflammen.
Der Teppich aus Ameisen quoll auf ihn zu, bäumte sich wie eine Flutwelle auf. Er sprang zurück, hinaus auf die Veranda. Die Ameisen krabbelten in dem Zwielicht hastig, gierig, eilig über den Boden.
Der Mann sprang die Veranda hinunter auf die Erde und rannte um das Haus. Als die ersten Ameisen die Veranda erreichten, drehte er bereits mit fieberndem Gesicht den Wasserhahn auf und richtete den Schlauch auf das Haus.
Der Wasserschwall schleuderte die Ameisen in die Höhe, warf sie durcheinander und wusch sie hinweg. Der Mann verengte die Düse des Schlauches und äugte durch den
Tropfennebel. Er bewegte sich vorwärts und ließ den harten Wasserstrahl hin und her gleiten.
„Zur Hölle mit euch", stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und auf mich habt ihr gewartet..."
Er hatte Angst. In seinem Haus... niemals zuvor war es ihnen gelungen! Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. In seinem Haus. Zum erstenmal waren sie in sein Haus eingedrungen. Natürlich hatte es auch dann und wann ein, zwei Motten, ein paar Fliegen gegeben. Aber sie waren harmlos, nervös, laut...
Ein Teppich aus Ameisen!
Sorgsam bespritzte er sie mit dem Wasser, bis ihre Reihen zerstört waren und sie zum Rasen flohen, in die Büsche, unter das Haus.
Er setzte sich auf den Gartenweg, hielt den Schlauch umklammert, zitterte an allen Gliedern.
Sie hatten es tatsächlich versucht. Das war nicht nur ein wütender, lästiger, impulsiver Angriff gewesen; sie hatten den Überfall geplant, sorgfältig vorbereitet. Sie hatten auf ihn gewartet. Noch ein weiterer Schritt und...
Wenn die Spinne ihn nicht gewarnt hätte!
Schließlich erhob er sich und drehte das Wasser ab. Kein Laut ertönte; alles war still. Plötzlich raschelte es in dem Gebüsch. Käfer? Etwas Schwarzes krabbelte über den Boden - er zertrat es. Vermutlich ein Kurier. Schnell, aber nicht schnell genug. Vorsichtig kehrte er in das dunkle Haus zurück und suchte sich den Weg mit seinem Feuerzeug.
Später saß er an seinem Schreibtisch, und neben ihm lag die Spraypistole aus Edelstahl und Kupfer. Er fuhr mit seinen Fingern über das feuchte Material.
Sieben Uhr. Hinter ihm aus dem Radio drang leise Musik. Er beugte sich nach vorn und verstellte die Schreibtischlampe so, daß sie den Boden neben dem Tisch er
leuchtete.
Er setzte eine Zigarette in Brand und griff nach dem Schreibpapier und seinem Kugelschreiber. Nachdenklich saß er eine Weile reglos da.
Also hatten sie es wirklich auf ihn abgesehen und waren bereits dabei, Vorbereitungen für seinen Tod zu treffen. Verzweiflung übermannte ihn wie eine Sturzflut Eiswasser. Was konnte er nur unternehmen? An wen konnte er sich wenden, wem davon erzählen? Er ballt die Fäuste und saß steif und aufgerichtet im Sessel.
Neben ihm glitt die Spinne herab und verharrte vor ihm auf der Tischplatte. „Tut mir leid. Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Angst eingejagt, wie in diesem Gedicht."
Der Mann starrte sie an. „Bist du es? Jene von der Ecke? Die mich gewarnt hat?"
„Nein. Das war eine andere. Ein Spinner. Ich bin ein Beißer. Schauen Sie sich meine Zangen an." Sie öffnete und schloß ihre Beißwerkzeuge. „Ich zermalme sie."
Der Mann lächelte. „Schön für dich."
„Klar. Wissen Sie überhaupt, wieviel es von uns auf einem
- sagen wir auf einem halben Hektar gibt? Schätzen Sie."
„Ungefähr tausend."
„Nein. Eineinhalb Millionen. Von allen Arten. Beißer wie ich, oder Spinner und Stecher."
„Stecher?"
„Das sind unsere besten. Lassen Sie mich nachdenken." Die Spinne überlegte. „Zum Beispiel die Schwarze Witwe, wie sie von Ihnen genannt wird. Sehr wertvoll." Sie verstummte. „Nur eines..."
„Ja?"
„Wir haben unsere Probleme. Die Götter..."
„Götter!"
„Ameisen, wie Sie sie bezeichnen. Die Führer. Sie sind hinter uns her. Sehr unglücklich. Sie besitzen einen schrecklichen Geschmack - man wird krank davon. Wir müssen sie den Vögeln überlassen."
Der Mann stand auf. „Vögel? Sind sie...?"
„Nun, es gibt da ein Übereinkommen. Schon seit Jahren. Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Wir haben noch etwas Zeit übrig."
Der Mann spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. „Noch Zeit übrig? Was meinst du damit?"
„Nichts. Später wird es ein wenig Ärger geben, schätze ich. Lassen Sie sich von mir über die Hintergründe aufklären. Ich glaube nicht, daß Sie darüber schon Bescheid wissen."
„Sprich weiter. Ich höre zu." Er begann unruhig auf und ab zu gehen.
„Sie bewohnen die Erde schon verdammt lange, bereits seit über einer Milliarde Jahre. Sehen Sie, die Menschen kamen von irgendeinem anderen Planeten. Von welchem? Ich weiß es nicht. Sie landeten und fanden die Erde von ihnen bewohnt vor. Es gab einen Krieg."
„Also waren wir die Invasoren", murmelte der Mann.
„Gewiß. Der Krieg warf beide Seiten in die Barbarei zurück. Die Menschen vergaßen, warum sie gekämpft hatten, und sie degenerierten zu Ameisen, Termiten..."
„Ich verstehe."
„Die letzten Menschen, die die ganze Geschichte gekannt hatten, erschufen dann uns. Man züchtete uns" - die Spinne kicherte auf ihre eigene Art - „für eine ehrenvolle Aufgabe. Und ich muß sagen, wir haben sie wirklich erfolgreich im Zaum gehalten. Wissen Sie, wie sie uns nennen? Die Fresser. Ausgesprochen unfreundlich, nicht wahr?"
Zwei weitere Spinnen ließen sich an ihren Fäden auf den Tisch nieder. Die drei Spinnen drängten sich zusammen.
„Es ist ernster, als ich gedacht hatte", sagte der Beißer rasch. „Besaß leider nicht alle Informationen. Dieser Stecher
hier... "
Die Schwarze Witwe krabbelte bis an die Tischkante. „Riese", pfiff sie metallisch, „ich möchte mit Ihnen reden."
„Gerne", nickte der Mann.
„Es wird hier bald Ärger geben. Ein ganzer Haufen von ihnen hat sich schon auf den Weg gemacht. Wir werden hier eine Weile bleiben. Wollen ein wenig mitmischen."
„Ich verstehe", sagte der Mann. Er preßte die Lippen zusammen und fuhr sich unsicher mit den Fingern durch das Haar. „Glaubst du... daß wir eine Chance..."
„Eine Chance?" Der Stecher bewegte sich nachdenklich. „Nun, wir sind bereits sehr lange in diesem Geschäft. Fast eine Million Jahre. Ich schätze, daß wir sie im Griff haben, trotz einiger Rückschläge. Unser Übereinkommen mit den Vögeln und natürlich auch mit den Fröschen..."
„Ich meine, daß wir euch schon retten werden", mischte sich der Beißer optimistisch ein. „Und um es genau zu sagen, warten wir geradezu auf Vorfälle wie diesen."
Unter den Bodenbrettern erklang ein leises kratzendes Geräusch, der Lärm von zahllosen kleinen Klauen und Flügeln, die sanft und fern vibrierten. Der Mann horchte. Und begann am ganzen Körper zu zittern.
„Du bist dir völlig sicher? Du meinst, ihr könntet es wirklich schaffen?" Er wischte den Schweiß von der Oberlippe und griff nach der Spritzpistole, horchte weiter.
Der Lärm nahm zu, schwoll unter ihnen an, unter den Dielen, unter ihren Füßen. Draußen raschelte es in den Büschen, und einige Motten flatterten gegen das Fenster. Lauter und lauter wurden die Geräusche, unter ihnen, über ihnen, überall, ein zunehmendes Gesumm voller Zorn und Entschlossenheit. Der Mann blickte hin und her.
„Du bist dir wirklich sicher, daß ihr es schaffen könnt?" flüsterte er. „Ihr könnt mich tatsächlich retten?"
„Oh", sagte der Stecher verwirrt. So meinte ich das nicht.
Ich meinte die Spezies, die Rasse... nicht Sie als Individuum."
Der Mann keuchte, und die drei Fresser bewegten sich unruhig. Weitere Motten prallten gegen das Fenster. Der Boden unter ihnen zitterte und hob sich.
„Ich verstehe", sagte der Mann. „Tut mir leid, daß ich euch mißverstanden habe."