Auf den Straßen von Hanoi sah er sich unerwartet einem beinamputierten Hausierer gegenüber, der in einem kleinen hölzernen Wagen hockte und mit schriller Stimme jedem Passanten seine Waren feilbot. Chien mäßigte seinen Schritt und hörte zu, aber er blieb nicht stehen; Einzelheiten über seine Arbeit im Ministerium für Kunst und Kultur kamen ihm in den Sinn und fesselten seine Aufmerksamkeit. Er hatte das Gefühl, allein zu sein, und all die vielen Fahrräder und Motorroller und düsengetriebenen Motorräder existierten nicht mehr für ihn. Und auch jener beinlose Hausierer schien nicht mehr gegenwärtig zu sein.
„Genosse", rief der Hausierer jedoch und verfolgte ihn mit seinem Wagen; eine Heliumbatterie versorgte den Motor mit der nötigen Energie und ließ das Gefährt rasch hinter Chien herrollen. „Ich führe in meinem Angebot eine große Anzahl zuverlässig wirkender pflanzlicher Heilmittel, und zu jedem gekauften Elixier erhalten Sie ein Dankschreiben von einem meiner treuen Kunden, von denen es Tausende in dieser Stadt gibt; nennen Sie mir Ihre Krankheit und ich werde sie heilen."
„Das mag schon sein", erklärte Chien und blieb einen Augenblick stehen, „aber ich leide an keiner Krankheit." Sieht man von der chronischen ab, dachte er, die jeden befällt, der für das Zentralkomitee arbeitet, und deren Erreger die Karrieristen sind, die unermüdlich darauf drängen, einen Posten zu ergattern. Meinen eingeschlossen.
„Beispielsweise kann ich Strahlungskrankheiten kurieren", behauptete der Hausierer, der ihn noch immer verfolgte. „Oder, falls erforderlich, die Sexualkraft stärken. Und ich kann Krebswucherungen zum Verschwinden bringen, selbst die schrecklichste Version, die man den Schwarzen Krebs nennt." Der Hausierer hielt ein Tablett hoch, auf dem Fla schen, kleine Aluminiumbehälter und Plastikdosen mit zahlreichen Pulvern standen, und er fuhr in seinem eigentümlichen Singsang fort: „Sollte ein Rivale versuchen, Ihre mühsam errungene bürokratische Stellung für sich zu vereinnahmen, so kann ich Ihnen ein Mittelchen liefern, das zwar wie eine gewöhnliche Hautcreme aussieht, in Wirklichkeit allerdings ein furchtbar wirkungsvolles Gift ist. Und, Genosse, meine Preise sind niedrig. Und als besondere Gefälligkeit für jemand, der so vornehm wie Sie auftritt, würde ich sogar die inflationären Nachkriegspapierdollar annehmen, die als international anerkanntes Zahlungsmittel gelten, tatsächlich aber nicht mehr wert sind als eine Rolle Klopapier."
„Ah, gehen Sie doch zum Teufel", erklärte Chien und winkte einem vorbeifahrenden Hovercrafttaxi zu; er hatte sich bereits dreieinhalb Minuten verspätet, und seine zahlreichen fettarschigen Vorgesetzten im Ministerium würden sich dies sehr genau merken - wie auch seine Untergebenen, deren Erinnerungsvermögen in diesem Fall allerdings noch besser war.
„Aber Genosse", sagte der Hausierer rasch, „Sie müssen etwas von mir kaufen."
„Warum?" fragte Chien indigniert.
„Weil ich, Genosse, ein Kriegsveteran bin. Ich habe während des Letzten Nationalen Befreiungskriegs auf Seiten der Vereinigten Demokratischen Volksfront gegen die Imperialisten gekämpft; in der Schlacht um San Francisco verlor ich meine Beine." Seine Stimme klang nun triumphierend, fast ein wenig verschlagen. „So lautet das Gesetz. Wenn Sie sich weigern, Waren zu kaufen, die Ihnen von einem Veteranen angeboten werden, dann riskieren Sie eine Gefängnisstrafe - und Schande dazu."
Müde gab Chien dem Hovertaxi ein Zeichen weiterzufahren. „Einverstanden", sagte er. „Okay, ich muß also etwas von Ihnen kaufen." Flüchtig musterte er das magere Ange bot an Heilkräutern und traf dann achtlos seine Wahl. „Dieses dort", entschied er und deutete auf ein eingewickeltes Päckchen in der letzten Reihe.
Der Hausierer lachte. „Das ist ein spermatozides Mittel, Genosse, das von Frauen gekauft wird, die aus politischen Gründen keinen Antrag auf Die Pille stellen dürfen. Es wäre für Sie von geringem Nutzen, und um es genau zu sagen, da Sie ein Mann sind, könnten Sie es überhaupt nicht gebrauchen."
„Das Gesetz", erklärte Chien in bissigem Tonfall, „verlangt nicht von mir, daß ich Ihnen irgend etwas Nützliches abkaufe; die Wahl ist mir freigestellt. Ich nehme es also." Er griff in seine wattierte Jacke und holte die Brieftasche hervor, die fast aus den Nähten platzte von den vielen Nachkriegsbanknoten, mit denen er wie alle Regierungsangestellten viermal wöchentlich entlohnt wurde.
„Erzählen Sie mir von Ihren Problemen", sagte der Hausierer.
Chien starrte ihn an, und er war entsetzt über den Angriff auf sein Privatleben - vor allem, da sein Gegenüber nicht einmal für die Regierung arbeitete.
„Schon gut, Genosse", stieß der Hausierer rasch hervor, als er Chiens Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich wollte Sie nicht belästigen; entschuldigen Sie bitte, aber als Arzt - als Kräuterdoktor - muß ich soviel wie möglich über meine Kunden wissen." Er verstummte, und ein düsterer Ausdruck glitt über sein hageres Gesicht. „Sitzen Sie ungewöhnlich oft vor dem Fernsehgerät?" erkundigte er sich unvermittelt.
Überrascht entgegnete Chien: „Jeden Abend. Ausgenommen freitags, da gehe ich in meinen Club, um mich in der aus dem besiegten Westen eingeführten esoterischen Kunst des Lassowerfens zu üben." Das war sein einziger Zeitvertreib; seine übrige Freizeit verbrachte er mit der Arbeit für die Partei.
Der Hausierer beugte sich nach vorn und griff nach einem in graues Papier eingewickeltes Päckchen. „Sechzig Handelsdollar", verlangte er. „Natürlich sichere ich Ihnen volle Garantie zu; falls das Mittel nicht hält, was es verspricht, werde ich den Rest zurücknehmen und Ihnen den vollen Betrag zurückerstatten."
„Und was", fragte Chien beißend, „verspricht dieses Präparat?"
„Es erfrischt ermüdete Augen während langwieriger sinnloser offizieller Ansprachen", versicherte der Hausierer. „Ein Beruhigungsmittel; nehmen Sie es, sobald Sie wieder den wie üblich trockenen und endlosen Monologen ausgesetzt sind, die... "
Chien gab ihm das Geld, nahm das Päckchen entgegen und ging davon. Unsinn, sagte er sich im stillen. Alles nur Geschäftemacherei; die Verordnung sorgt doch nur dafür, daß sich die Veteranen wie eine privilegierte Klasse aufführen. Wie Blutsauger leben sie von uns - von uns, der jüngeren Generation.
Das graue Päckchen steckte vergessen in seiner Jackentasche, als er das riesige Nachkriegsministerium für Kunst und Kultur betrat und sein ausgesprochen stattlich eingerichtetes Büro erreichte, um seinen Arbeitstag zu beginnen.
In seinem Büro erwartete ihn bereits ein untersetzter kaukasischer Weißer mittleren Alters, der einen braunen zweireihigen Anzug aus Hongkongseide und darunter eine Weste trug. Neben diesem kaukasischen Unbekannten stand Chiens unmittelbarer Vorgesetzter, Ssu-Ma Tso-pin. Tso-pin machte die beiden auf Kantonesisch miteinander bekannt, einem Dialekt, den er nur unvollkommen beherrschte.
„Mr. Tung Chien, ich möchte Ihnen Mr. Darius Pethel vorstellen. Mr. Pethel wird in der neuen ideologischen und kulturellen Einrichtung mit didaktischem Charakter, die wir bald in San Fernando, Kalifornien, eröffnen, als Leiter tätig sein." Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Mr. Pethel hat sein ganzes bisheriges Leben dem Kampf des Volkes gegen den imperialistischen Länderblock gewidmet und hauptsächlich auf dem Gebiet der pädagogischen Medien gearbeitet; deshalb wurde dieser wichtige Posten mit ihm besetzt."
Sie schüttelten sich die Hände.
„Möchte einer von Ihnen Tee?" fragte Chien seine beiden Besucher; er drückte auf den Knopf seines infrarotbeheizten Hibachis, und einen Augenblick später begann das Wasser in dem reich verzierten Keramiktopf - der aus Japan stammte - zu kochen. Als er sich an seinen Schreibtisch setzte, bemerkte er, daß die zuverlässige Miss Hsi bereits die (vertrauliche) Informationsakte des Genossen Pethel herausgesucht hatte; rasch überflog er sie und bemühte sich gleichzeitig, sich nicht anmerken zu lassen, was er tat.
„Der Absolute Wohltäter des Volkes", fuhr Tso-pin fort, „hat bereits persönlich mit Mr. Pethel gesprochen und ihm sein volles Vertrauen geschenkt. Eine ungewöhnliche Gunst. Die Schule in San Fernando wird scheinbar nur normale taoistische Philosophien lehren, aber in Wirklichkeit soll sie uns natürlich eine Verbindung zu dem liberalen und intellektuellen Teil der Jugend in dem westlichen Teil der USA schaffen. Zwischen San Diego und Sacramento haben viele von ihnen überlebt; wir schätzen ihre Zahl auf mindestens zehntausend. Die Schule wird zweitausend von ihnen aufnehmen. Ihnen wird keine andere Wahl bleiben, als diese Schule zu besuchen. Ihre Rolle in dem Programm von Mr. Pethel ist von großer Bedeutung. Ah, Ihr Teewasser kocht, wie ich sehe."
„Danke", murmelte Chien und warf einen Beutel Lipton's Tee hinein.
„Obwohl Mr. Pethel selbst bestimmen wird", fuhr Tso-pin fort, „welche Inhalte die Schule ihren Studenten in den Kursen anbietet, werden sämtliche Prüfungsunterlagen, auch wenn es seltsam erscheinen mag, Ihrem Büro übermittelt und Ihnen zur sorgfältigen ideologischen Kontrolle vorgelegt werden. Mit anderen Worten, Mr. Chien, Sie werden entscheiden, wer von diesen zweitausend Studenten zuverlässig ist, wer tatsächlich auf die Programmierung reagiert und wer nicht."
„Ich schenke jetzt den Tee ein", erklärte Chien und führte die Zeremonie durch.
„Wir müssen uns darüber im klaren sein", brummte Pethel in noch holprigerem Kantonesisch als Tso-pin, „daß seit der Niederlage in dem weltweiten Krieg die amerikanische Jugend ein Talent zur Vernebelung ihrer wahren Einstellung entwickelt hat." Während der letzten Worte war er in die englische Sprache zurückgefallen; Chien verstand nicht, was er meinte, und wandte sich hilfesuchend an seinen Vorgesetzten.
„Mr. Pethel meint, daß sie lügen", erklärte Tso-pin.
„Nach außen hin benutzen sie die richtigen Parolen", sagte Pethel, „aber innerlich halten sie sie für falsch. Die Prüfungsantworten dieser Gruppe werden zweifellos jene verraten, die... "
„Sie wollen damit doch nicht sagen, daß die Prüfungsunterlagen von zweitausend Studenten von meinem Büro bearbeitet werden sollen?" fragte Chien ungläubig. „Das allein ist eine Arbeit, die meine ganze Zeit in Anspruch nimmt; es ist völlig unmöglich, noch weitere Aufgaben zu übernehmen." Er war entsetzt. „Eine kritische, offizielle Billigung oder Ablehnung der Prüfungsarbeiten dieser scharfsinnigen Heuchler, wie Sie sie erwarten..." Er gestikulierte. „Unmöglich", sagte er auf Englisch.
Tso-pin runzelte die Stirn, als er den westlichen Ausdruck vernahm, und sagte scharf: „Sie verfügen doch über genug
Personal. Außerdem können Sie nötigenfalls weitere Mitarbeiter anfordern; das Budget des Ministeriums wurde in diesem Jahr erhöht und ein derartiges Ansinnen läßt sich durchaus verwirklichen. Und denken Sie daran, daß der Absolute Wohltäter des Volkes Mr. Pethel persönlich beauftragt hat." Sein Tonfall war ein wenig drohender geworden. Aber dies genügte schon, um Chiens Aufregung zu mäßigen und ihn daran zu erinnern, daß er Tso-pins Anweisungen auszuführen hatte. Zumindest vorläufig konnte er nichts dagegen unternehmen. Um seine Bemerkung zu unterstreichen, ging Tso-pin zur Rückwand des Büros; er blieb vor dem lebensechten 3-D-Porträt des Absoluten Wohltäters stehen, und nach einem kurzen Moment aktivierte seine Gegenwart das hinter dem Bild verborgene Bandgerät. Das Gesicht des Wohltäters erwachte zum Leben, und die vertraute Parole ertönte. „Kämpft für den Frieden, meine Söhne", intonierte er freundlich und nachdrücklich zugleich.
„Ah", machte Chien; er war noch immer besorgt, bemühte sich aber, sich nichts anmerken zu lassen. Vielleicht konnte er die Prüfungsunterlagen durch einen der Computer des Ministeriums vorab sortieren lassen; Fragen, die mit ja, nein und vielleicht zu beantworten waren, konnten durchaus auf diese Weise bearbeitet und gleichzeitig auf ihre ideologische Richtigkeit oder Unrichtigkeit hin untersucht werden. Vielleicht würde sich alles zu einer reinen Routinesache hin entwickeln. Vielleicht.
„Ich habe", eröffnete Darius Pethel, „bestimmtes Material mitgebracht, das ich Ihnen zur Prüfung überreichen möchte, Mr. Chien." Er öffnete den Reißverschluß einer alten, unansehnlichen Plastiktasche. „Zwei Prüfungsaufsätze", erklärte er, als er die Dokumente auf Chiens Schreibtisch legte. „Dadurch werden wir erfahren, ob Sie für diese Aufgabe qualifiziert genug sind." Er blickte zu Tso-pin hinüber, und für einen Moment trafen sich ihre Augen.
„Soviel ich weiß", fügte Pethel hinzu, „werden Sie, sofern Sie diesen Fall erfolgreich abschließen, zum Vizekanzler des Ministeriums ernannt werden, und Seine Hoheit, der Absolute Wohltäter des Volkes, wird Ihnen persönlich den Kisterigian-Orden überreichen." Pethel und Tso-pin schenkten Chien ein Lächeln.
„Den Kisterigian-Orden", wiederholte Chien; er nahm die Prüfungsunterlagen zur Hand und überflog sie mit gespielter Gleichgültigkeit. Aber in seiner Brust pochte sein Herz vor unterdrückter Aufregung. „Warum diese beiden? Ich meine, Sir, worauf muß ich achten?"
„Einer dieser Aufsatze", erläuterte Pethel, „ist die Arbeit eines überzeugten Progressiven, eines loyalen Parteimitglieds von zweifelsfreier Einstellung. Der andere stammt von einem jungen sti-lyagi, den wir kleinbürgerlicher, imperialistischer, degenerierter Kryptoideen verdächtigen. Es ist Ihre Aufgabe, Sir, herauszufinden, wer was geschrieben hat."
Herzlichen Dank, dachte Chien. Aber er nickte und las den Titel des zuoberst liegenden Aufsatzes.
DOKTRINEN DES ABSOLUTEN WOHLTÄTERS, DIE BEREITS IM WERK DES ARABISCHEN POETEN BAHA AD-DIN ZUHAYR (13. JAHRHUNDERT) ERWÄHNUNG FINDEN.
Während Chien die Seiten des Aufsatzes durchblätterte, stieß er auf einen vertrauten Vierzeiler mit dem Namen „Tod", der ihm schon zu Beginn seiner Schulzeit begegnet war.
Einmal wird er fehlen, zweimal wird er fehlen,
Er wählt nur eine von den vielen Stunden;
Für ihn gibt es keine Täler, gibt es keine Höhen,
gibt es nur die Ebene mit ihren Menschenwunden.
„Eindrucksvoll", bemerkte Chien. „Dieses Gedicht... "
„Er verwendet diesen Vierzeiler", bemerkte Pethel und beobachtete Chiens Lippen, als er das Gedicht erneut las, „um die uralte Weisheit, die der Absolute Wohltäter in unserem Leben verkörpert, mit der Tatsache zu vergleichen, daß kein Mensch sicher ist; wir alle müssen sterben, und nur die überpersönliche, historisch notwendige Idee überlebt. Wie es auch sein sollte. Sind Sie damit einverstanden? Ich meine, mit diesem Studenten? Oder..." Pethel schwieg einen Moment und schaute Chien wachsam an. „Oder will er in Wirklichkeit nur die Verkündungen des Absoluten Wohltäters ins Lächerliche zerren?"
„Geben Sie mir die Zeit, den anderen Aufsatz zu lesen", sagte Chien zurückhaltend.
„Sie benötigen keine weiteren Informationen; entscheiden Sie sich."
Zögernd erwiderte Chien: „Ich... ich habe dieses Gedicht noch nie unter diesem Blickwinkel betrachtet." Er war irritiert. „Wie dem auch sei, es stammt keinesfalls von Baha ad-Din Zuhayr; es ist ein Bestandteil der Erzählungen aus Tausendundeine Nacht. Zumindest stammt es aber aus dem dreizehnten Jahrhundert; das gebe ich zu.“ Rasch überflog er den Text, der sich an das Gedicht anschloß. Es schien ein routiniertes, einfallsloses Sammelsurium der von der Partei verbreiteten Klischees zu sein, die ihm von Geburt an vertraut waren. Das blinde imperialistische Ungeheuer, das allen menschlichen Ehrgeiz niederwalzte und erstickte (eine ungeschickt gewählte Metapher), eine Handlungsweise, die auf die noch immer existierenden parteifeindlichen Gruppen in den östlichen Vereinigten Staaten zutraf... Er fühlte sich davon gelangweilt, und sein Kopf war so leer wie das hohle Geschwätz dieses Studentenaufsat zes. Wir müssen weiterkämpfen, behauptete der Verfasser. Die Überreste des Pentagon in den Catskill-Bergen vernichten, Tennessee unterwerfen und vor allem den Haufen starrsinniger Reaktionare in den roten Bergen von Oklahoma zur Räson bringen. Er seufzte.
„Ich glaube", meldete sich Tso-pin zu Wort, „wir sollten Mr. Chien die Erlaubnis geben, sich in seiner Freizeit mit diesem schwierigen Problem zu befassen." Zu Chien gewandt sagte er: „Ich bin einverstanden, daß Sie diese Unterlagen heute abend mit in Ihr Kondominium nehmen, wo Sie dann genug Zeit haben, sich mit ihnen zu beschäftigen." Er verbeugte sich halb spöttisch, halb freundschaftlich. Nun, wie dem auch sei, ob dies nun als Beleidigung gedacht war oder nicht, auf jeden Fall hatte er Chien aus der Klemme geholfen, und dafür war Chien ihm dankbar.
„Sie sind sehr freundlich", murmelte er, „und ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir die Gelegenheit geben, diese neue und sehr anregende Arbeit zu Hause in meiner Freizeit zu erledigen. Mi-koyan, würde er heute noch leben, wäre gewiß damit einverstanden." Du Hurensohn, dachte er, und meinte damit sowohl seinen Vorgesetzten als auch Pethel, den Kaukasier. Schieben mir ein derart heißes Eisen zu, das ich darüber hinaus auch noch in meiner Freizeit erledigen soll. Offensichtlich steckt die KP der USA in Schwierigkeiten; ihre Indoktrinierungsanstalten schaffen es wohl nicht, diesen starrköpfigen, exzentrischen Yankees anständige Gedanken beizubringen. Und dann hat man dieses heiße Eisen so lange hin und her geschoben, bis man endlich einen Dummen gefunden hatte - und zwar mich.
Herzlichen Dank für diesen Mist, dachte er säuerlich.
An diesem Abend nahm er in seinem kleinen, aber gemütlich eingerichteten Kondominium-Apartment den zweiten Aufsatz zur Hand, der von einer Marion Culper verfaßt worden war, und er entdeckte, daß auch darin Gedichte zitiert wurden. Offensichtlich war dies eine sehr poesiebegeisterte Klasse, und er fühlte sich mit einem Mal sehr krank. Er war schon immer dagegen gewesen, poetische Werke - gleichgültig, von welcher Art - für gesellschaftliche Zwecke zu verwenden. Nun, er mußte sich wohl damit abfinden, und dann machte er es sich bequem in seinem körperfreundlich geformten, kunstlederbespannten Sessel, setzte eine mit einer riesigen Bauchbinde versehene Zigarre der Marke Cuesta Rey Nummer Eins in Brand und begann zu lesen.
Die Verfasserin dieses Aufsatzes, Miss Culper, hatte für ihren Text ein Gedicht von John Dryden gewählt, einem englischen Poeten aus dem siebzehnten Jahrhundert, und zwar handelte es sich dabei um die letzten Zeilen aus dem bekannten Gedicht „Ein Lied zum St.-Cäcilien-Tag".
... Und in der letzten und schrecklichen Stunde Geht diese faule Pracht endgültig zugrunde,
Und Posaunen werden ihre Stimme erheben,
Die Lebenden sterben, die Toten leben,
Und Musik wird dann zum Himmel streben.
Bei allen Teufeln, dachte Chien bei sich. Will sie etwa damit andeuten, daß Dryden bereits den Untergang des Kapitalismus vorausgesehen hat? Und das nur wegen dieser Stelle mit der „faulen Pracht"? Großer Gott! Er beugte sich nach vorn, um seine Zigarre aus dem Aschenbecher zu nehmen, und stellte fest, daß sie erloschen war. Während er in seinen Taschen nach dem japanischen Feuerzeug suchte, richtete er sich halb auf...
... und das Fernsehgerät an der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers gab einen schrillen Pfiff von sich.
Aha, dachte Chien. Der Führer steigt herab, um mit uns zu reden. Dieser Absolute Wohltäter des Volkes, der oben in Peking residiert, und das nun schon seit neunzig Jahren.
Oder sind es bereits hundert? Oder ist dieser Arsch, wie wir ihn manchmal zu bezeichnen geruhen...
„Mögen die zehntausend Blüten freiwillig auferlegter Armut im Garten eures Geistes blühen", erklärte der Fernsehansager. Ächzend erhob sich Chien, vollführte die vorgeschriebene Verbeugung, um seinen Herrn zu begrüßen; jeder Fernseher war mit Beobachtungsgeräten ausgerüstet, die der Gepol - der Geheimpolizei -verrieten, ob sich der Besitzer auch tatsächlich verbeugte und/oder zusah.
Auf dem Bildschirm erschienen die wohlgeformten Gesichtszüge, das breite, faltenlose, gesunde Antlitz des ein-hundertundzwanzig Jahre alten Vorsitzenden der KP Ost, dem Herrscher über Millionen Menschen - zu vielen Menschen, dachte Chien. Leck mich doch, fluchte er lautlos, und setzte sich wieder auf seinen Kunstledersessel und beobachtete den Bildschirm.
„Meine Gedanken", begann der Absolute Wohltäter mit seiner volltönenden, behäbigen Stimme, „sind bei euch, meine Kinder. Und vor allem bei Mr. Tung Chien in Hanoi, der einer schwierigen Aufgabe entgegensieht, einer Aufgabe, die die Menschen des demokratischen Osten und die Menschen der amerikanischen Westküste bereichern wird. Wir müssen alle gemeinsam an diesen edlen, aufopferungswilligen Mann und an die Arbeit denken, die auf ihn wartet, und ich habe beschlossen, ihm einige Sekunden meiner Zeit zu opfern, um ihn zu ehren und ihn zu ermutigen. Hören Sie mir zu, Mr. Chien?"
„Ja, Eure Hoheit", sagte Chien, und fragte sich gleichzeitig, wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit sein mochte, daß der Parteiführer sich an diesem Abend ausgerechnet ihm zuwendete. Die Wahrscheinlichkeit war so gering, daß er mit einem Mal einen Zynismus verspürte, der einem Genossen nicht gut anstand. Vielleicht wurde diese Sendung allein auf seinen Apparat überspielt - oder zumindest nur auf die
TV-Geräte dieser Stadt. Ebensogut konnte es sich auch um eine geschickte Lippensynchronisation handeln, die von dem Hanoier TV-Sender vorgenommen wurde. Auf jeden Fall war er gezwungen, zuzuhören und die Sendung zu verfolgen - und sich die Worte zu merken. Seine lebenslängliche Erfahrung in diesen Dingen machte es ihm leicht. Äußerlich schien er völlig aufmerksam zu sein. Innerlich grübelte er noch immer über die beiden Prüfungsunterlagen und fragte sich, welcher Aufsatz von wem stammte; wo endete die ergebene Treue zur Partei und wo begann der sarkastische Spott? Es war schwer zu sagen... und das erklärte natürlich, warum man ihm diese Aufgabe zugeschustert hatte.
Wieder suchte er in seinen Taschen nach dem Feuerzeug
- und er entdeckte dabei das kleine graue Päckchen, das ihm der Hausierer, dieser Kriegsveteran - verkauft hatte. Oh je, dachte er, als er sich daran erinnerte, wieviel ihn das gekostet hatte. Das Geld war zum Fenster hinausgeworfen, denn was nützte ihm dieses Heilkraut schon? Nichts. Er drehte das Päckchen und bemerkte, daß auf der Rückseite einige kleingedruckte Worte standen. Nun, sagte er sich, wollen wir einmal nachschauen, was ich mir da habe andrehen lassen, und vorsichtig faltete er das Päckchen auseinander. Der Text hatte ihn neugierig gemacht - und das war natürlich auch beabsichtigt gewesen.
Versagen Sie als Parteimitglied und als Mensch? Fürchten Sie sich davor, überflüssig zu werden und auf dem Schuttabladeplatz der Geschichte zu landen, weil...
Rasch überflog er den Text, ignorierte die Behauptungen und versuchte herauszufinden, was er da eigentlich erworben hatte.
Währenddessen sprach der Absolute Wohltäter weiter.
Schnupftabak. Das Päckchen enthielt Schnupftabak. Zahllose winzige Körner, wie Schießpulver, und sie verströmten ein interessantes Aroma, das in seiner Nase kitzelte. Diese spezielle Mischung, stellte er fest, hieß Prin-cess Special. Sie roch tatsächlich sehr angenehm, entschied er. Eine Zeitlang, während seiner Studentenzeit an der Universität von Peking, hatte er Schnupftabak genommen, da aus Gesundheitsgründen das Tabakrauchen vorübergehend verboten worden war; er hatte eine Vorliebe für die modischen, erotisch anregenden Mischungen aus Chungking gehabt, die aus Gottweiß-welchen Stoffen hergestellt wurden. War dies hier etwas Ähnliches? Schnupftabak konnte man fast alle Aromastoffe zusetzen - ob es sich nun um Orangenessenz oder um pulverisierte Babyscheiße handelte... zumindest hatte man diesen Eindruck, vor allem bei einer englischen Mischung namens High Dry Toast, die dann auch mehr oder weniger dafür verantwortlich gewesen war, daß er das Tabakschnupfen aufgegeben hatte.
Auf dem Bildschirm fuhr der Absolute Wohltäter mit seiner monotonen Ansprache fort, und Chien roch vorsichtig an dem Pulver und las den Reklametext - offenbar kurierte es alles, vom morgendlichen Zuspätkommen angefangen bis zum Verliebtsein in eine Frau mit dubiosen politischen Ansichten. Interessant. Aber typisch für diese Werbesprüche...
Die Türglocke läutete.
Chien erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie, schon im voraus wissend, wen er dort antreffen würde. Richtig, dort stand auch schon Mou Kuei, der Hauswart, so schmal und hartäugig und pflichtbewußt wie immer; er trug seine Armbinde und den Metallhelm und verriet somit, daß er dienstlich hier war. „Mr. Chien, Genosse Parteiarbeiter. Ich habe einen Anruf von der Fernsehbehörde bekommen. Statt sich auf den Bildschirm zu konzentrieren, beschäftigten Sie sich mit einem Päckchen zweifelhaften Inhalts." Er hatte einen
Notizblock mitgebracht. „Zwei Rotvermerke, und weiterhin werden Sie hiermit angewiesen, sich in behaglicher, entspannter Haltung vor den Bildschirm zu setzen und dem Führer Ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu schenken. An diesem Abend sind seine Worte direkt an Sie gerichtet, Sir; an Sie."
„Das bezweifle ich", hörte Chien sich selbst sagen.
Kuei zwinkerte verblüfft und fragte: „Wie meinen Sie das?"
„Der Führer regiert über acht Milliarden Genossen. Da hat er mich bestimmt nicht unter all diesen Menschen als einzigen ausgesucht." Er war wütend; die Pedanterie, mit der ihn der Hauswart ermahnt hatte, ärgerte ihn.
„Aber ich habe es mit eigenen Ohren gehört", versicherte Kuei. „Er hat Sie gemeint."
Chien ging zum Fernsehgerät und drehte den Lautspecher auf. „Aber jetzt spricht er über Mißstande in Volksindien; das betrifft mich absolut nicht."
„Was auch immer der Führer sagt, ist relevant." Mou Kuei machte einen Vermerk in seinem Notizblock, verbeugte sich höflich und wandte sich ab. „Der Anruf, der mich dazu ver-anlaßte, zu Ihnen heraufzukommen und Sie wegen Ihrer Schlaffheit zu ermahnen, kam aus der Zentrale. Offenbar erachtet man Ihre Aufmerksamkeit als sehr wichtig; ich muß Sie anweisen, Ihr automatisches Aufzeichnungsgerät einzuschalten und die ersten Teile der Ansprache des Führers noch einmal anzuhören."
Chien rülpste. Und schloß die Tür.
Zurück zum Fernseher, sagte er zu sich. Vor dem wir unsere freien Stunden verbringen. Und dort lagen auch die beiden Prüfungsarbeiten der Studenten; auch mit ihnen mußte er sich noch beschäftigen. Und alles während meiner Mußestunden, dachte er verdrossen. Zur Hölle mit allem. Vor allem mit den Bonzen. Er trat an den Fernseher und wollte ihn abschalten; mit einem Mal blitzte ein rotes Warn licht auf und teilte ihm mit, daß er nicht die Erlaubnis besaß, das Gerät abzuschalten - er konnte das Geschwätz nicht einmal beenden, indem er den Stecker herauszog. Dieses endlose Gerede, kam es ihm in den Sinn, wird uns alle noch einmal töten und ins Grab bringen; wenn ich mich doch nur von diesem Sermon befreien könnte, von diesem Lärm, mit dem uns die Partei berieselt und die Menschheit verfolgt...
Aber es existierte zumindest keine Vorschrift, die es ihm verbot, Schnupftabak zu sich zu nehmen, während er dem Führer zusah. Also öffnete er das kleine graue Päckchen und schüttete ein kleines Häufchen der schwarzen Körner auf seinen linken Handrücken. Kunstfertig hob er dann seine Hand an die Nase und atmete tief ein, zog den Schnupftabak hoch hinauf bis in seine Stirnhöhle. Er erinnerte sich an den alten Aberglauben, nach dem die Stirnhöhle mit dem Gehirn in Verbindung stehen sollte, so daß durch das Inhalieren der Schnupftabak direkt auf das Gehirngewebe einwirken konnte. Er lächelte, setzte sich erneut hin, richtete seine Augen auf den Bildschirm und auf die gestikulierende Gestalt, die allen Menschen so vertraut war.
Das Gesicht schrumpfte zusammen und verschwand. Die Stimme verklang. Er sah sich Leere, einem Vakuum gegenüber. Der Bildschirm, weiß und leer wie er war, starrte ihn an und aus dem Lautsprecher drang ein leises Zischen.
Dieser verfluchte Schnupftabak, dachte er. Und inhalierte sorgfältig die letzten Reste des Puders, die noch auf seinem Handrücken verblieben waren, zog sie hinauf in seine Nase, seine Stirnhöhle und - so schien es ihm zumindest - direkt in sein Gehirn; er sog das Zeug ein und absorbierte es begeistert.
Der Bildschirm blieb leer, bis sich nach und nach ein neues Bild formte und verfestigte. Es war nicht der Führer. Nicht der Absolute Wohltäter des Volkes, und um genau zu sein, es war nicht einmal ein menschliches Gesicht.
Er sah sich einer toten mechanischen Konstruktion gegenüber, die aus soliden Schaltungen, beweglichen Teleskoparmen, Linsen und einem Sprechapparat bestand. Und der Sprechapparat begann, mit dröhnender Stimme, ihm Vorwürfe zu machen.
Wie gebannt starrte er es an und fragte sich: Was ist das? Die Wirklichkeit? Halluzinationen, entschied er. Der Hausierer muß an einige dieser psychedelischen Drogen herangekommen sein, die während des Befreiungskrieges eingesetzt wurden - er verkauft das Zeug und ich habe etwas, nein, eine ganze Menge davon genommen!
Unsicher näherte er sich dem Videofon und wählte die Nummer des nächstgelegenen Gepolreviers. „Ich möchte einen Pusher anzeigen, der mit halluzinogenen Drogen handelt", sagte er in das Mikrofon.
„Ihr Name, Sir, und Ihre Konap-Adresse." Der Polizeibeamte reagierte sachlich, brüsk und unpersönlich.
Er teilte ihm die gewünschten Informationen mit und taumelte dann zurück in seinen Kunstledersessel, um die Erscheinung auf dem Bildschirm erneut anzustarren. Die Droge wirkt bestimmt tödlich, sagte er sich. Sie muß eines von diesen Mitteln sein, die man in Washington D. C. oder in London entwickelt hat - stärker und seltsamer als das LSD-25, das so verdammt wirksam war, als man damit unsere Trinkwasservorräte verseuchte. Und ich habe geglaubt, es würde es mir erleichtern, die Rede des Führers zu ertragen... aber dies ist weit schlimmer, dieses elektronische, wirbelnde Monstrum aus Metall und Plastik, das immerfort daherredet - es ist einfach entsetzlich.
Wenn er sich vorstellte, dies für den Rest seines Lebens sehen zu müssen...
Das zweiköpfige Gepol-Team benötigte zehn Minuten, um sein Kondominium-Apartment zu erreichen und an die Tür zu klopfen. Und in der Zwischenzeit hatte das vertraute Ge sicht des Führers Stück für Stück die schreckliche künstliche Grimasse auf dem Bildschirm verdrängt, die mit ihren Tentakelarmen wedelte und immerfort schwätzte. An allen Gliedern bebend ließ er die beiden Polizisten ein und führte sie zu dem Tisch, wo er das restliche Zeug mitsamt der Verpackung hingelegt hatte.
„Ein psychedelisches Gift", erklärte er heiser. „Es wirkt nur kurze Zeit. Wird sofort durch die Nasenschleimhäute absorbiert und gelangt in den Blutkreislauf. Ich sage Ihnen gleich, von wem und wo ich es gekauft habe." Er holte tief Atem; die Anwesenheit der beiden Polizisten übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus.
Mit gezückten Kugelschreibern warteten die beiden Beamten.
Und die ganze Zeit über murmelte der Führer im Hintergrund seine Rede. So wie er es an Tausenden Abenden zuvor in Tung Chiens Leben getan hatte. Aber, dachte er, ich werde ihn niemals wieder wie früher sehen. Nicht mehr, seitdem ich dieses giftige Zeug inhaliert habe.
Ist es das, was sie beabsichtigt haben? fragte er sich.
Es erschien ihm merkwürdig, daß er sofort an sie als eine Gruppe dachte. Eigenartig - aber auf irgendeine Weise erschien ihm dieser Gedanke zutreffend zu sein. Einen Moment lang zögerte er, Einzelheiten zu nennen und den Polizisten alles zu erzählen, damit sie den Mann finden konnten. Ein Hausierer, wollte er sagen. Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn traf, kann mich nicht mehr erinnern. Aber er erinnerte sich, kannte noch die Straßenkreuzung. Und so, trotz seines rätselhaften Widerwillens, erzählte er es ihnen.
„Danke, Genosse Chien." Vorsichtig griff der ranghöchste der beiden Beamten nach dem restlichen schnupftabakähnlichen Mittel - Chien hatte nicht viel davon genommen - und schob das Päckchen in eine Uniformtasche. Die Uniform wirkte stattlich, ordentlich. „Wir werden das Zeug so rasch wie möglich analysieren", erklärte der Polizist, „und Sie umgehend informieren, welches Gegenmittel in Ihrem Falle angebracht ist. Wie Sie zweifelsohne gelesen haben, haben einige dieser im Krieg eingesetzten psychedelischen Drogen eine ausgesprochen fatale Wirkung."
„Ich bin darüber informiert", versicherte er. Genau das hatte er auch vermutet.
„Viel Glück und danke, daß Sie uns sofort angerufen haben", erklärten beide Polizisten und wandten sich ab. Trotz ihrer Beflissenheit schien der Fall sie nicht sehr zu berühren; offensichtlich gehörten derartige Dinge zur Routine.
Der Laborbefund wurde ihm sehr schnell mitgeteilt - das war vor allem überraschend aufgrund der Tatsache, daß die staatliche Bürokratie normalerweise sehr schwerfällig arbeitete. Der Befund wurde ihm per Videofon mitgeteilt, noch ehe der Führer seine Fernsehrede beendet hatte.
„Es handelt sich dabei nicht um ein Halluzinogen", informierte ihn der Labortechniker der Gepol.
„Nein?" fragte er verwirrt und keineswegs erleichtert.
„Im Gegenteil. Es ist ein Phenothiazin, das, wie Sie zweifellos wissen, ein Anti-Halluzinogen ist. Eine ziemlich große toxische Konzentration pro Gramm ist zwar vorhanden, doch dürfte das Präparat keinen großen Schaden anrichten. Vermutlich senkt es Ihren Blutdruck oder macht Sie müde. Es wurde wahrscheinlich während des Krieges aus einem medizinischen Vorratslager gestohlen, das die Barbaren bei ihrem Rückzug aufgegeben haben. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen."
Nachdenklich legte Chien mit bedächtigen Bewegungen den Hörer des Videofons auf. Und dann trat er an das Fenster seines Konap - an jenes Fenster, das ihm eine hübsche Aussicht auf die anderen hoch emporragenden Konaps von Hanoi bot -, um nachzudenken.
Die Türglocke läutete. Wie in Trance schritt er durch das
teppichausgelegte Wohnzimmer, um zu öffnen.
Vor ihm stand ein Mädchen in einem hellen Regenmantel, und sie hatte ihre dunklen, glänzenden langen Haare unter einer Babuschka verborgen. „Ah, Genosse Chien?" fragte sie im schüchternen, leisen Tonfall. „Tung Chien? Vom Ministerium für..."
Er ließ sie wie automatisch herein und schloß die Wohnungstür. „Sie haben mein Videofon abgehört", erklärte er; es war ein Schuß ins Blaue, aber eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, daß er recht hatte mit seiner Vermutung.
„Haben sie... haben sie den Rest des Schnupftabaks mitgenommen?" Sie blickte zu ihm auf. „Oh. hoffentlich nicht; heutzutage ist so schwer daranzukommen."
„Schnupftabak", erwiderte er, „ist leicht erhältlich. Im Gegensatz zu Phenothiazin. Das meinen Sie doch, oder?"
Das Mädchen hob den Kopf, musterte ihn mit ihren großen, dunklen Augen. „Ja, Mr. Chien..." Sie zögerte und wirkte so unsicher wie die Polizisten selbstbewußt gewesen waren. „Sagen Sie mir, was Sie gesehen haben; es ist für uns von höchster Wichtigkeit, dies zu wissen."
„Wollen Sie damit andeuten, daß ich eine Wahl gehabt habe?" fragte er scharf.
„J-ja, gewiß. Das hat uns auch so sehr verwirrt; wir haben uns etwas ganz anderes vorgestellt. Wir verstehen es einfach nicht; alle Theorien haben versagt." Ihre Augen wirkten jetzt noch dunkler und tiefgründiger, und sie erkundigte sich: „Besaß es die Gestalt des Meeresungeheuers? Das schleimige Ding mit den Zähnen, diese außerirdische Lebensform? Bitte, sagen Sie es mir; wir müssen es erfahren." Sie atmete schwer, angestrengt, und über ihrer Brust hob und senkte sich der Regenmantel; er bemerkte, wie er fasziniert den Rhythmus verfolgte.
„Eine Maschine", erklärte er.
„Oh!" Sie senkte den Kopf, nickte heftig. „Ja, ich verstehe;
ein mechanischer Organismus, der in keiner Weise an einen Menschen erinnert. Kein Simulacrum, das einen Menschen darstellen soll."
Er sagte: „Dieses Ding sah tatsächlich nicht wie ein Mensch aus." Und in Gedanken fügte er hinzu: Es redete auch nicht wie wir, versuchte es nicht einmal.
„Sie begreifen, daß dies keine Halluzination war?"
„Man hat mir offiziell bestätigt, daß das Mittel, das ich genommen habe, ein Phenothiazin war. Mehr weiß ich nicht." Er sagte so wenig wie möglich; er wollte nicht reden, sondern zuhören. Er wollte hören, was das Mädchen zu sagen hatte.
„Nun, Mr. Chien..." Sie holte tief Atem. „Wenn es keine Halluzination war, was war es dann? Was bleibt übrig? War es das, was man eine ,übersinnliche Wahrnehmung' nennt? Was meinen Sie?"
Er antwortete nicht; er wandte ihr den Rücken zu, nahm gemächlich die beiden Prüfungsarbeiten der Studenten zur Hand, überflog den Text und ignorierte sie. Wartete auf ihren nächsten Versuch.
Sie beugte sich über seine Schulter, und sie roch nach Frühlingsregen, süß und anregend, und sie roch so gut wie sie aussah und wie sie sprach. So ganz anders als die barschen, gespreizten Worte, die man im Fernseher hörte - die er gehört hatte, seit er ein Baby gewesen war.
„Einige von denen", sagte sie heiser, „die das Stelazin genommen haben - es war Stelazin, Mr. Chien - sehen die eine Inkarnation, andere eine andere. Aber es haben sich bestimmte Kategorien herausgeschält; es gibt keine endlose Vielfalt. Einige sehen das, was Sie gesehen haben; wir nennen es den Klapperer. Einige erblicken das Meerungeheuer; das ist der Schlinger. Und dann gibt es noch den Vogel und die Kletterröhre und..." Sie verstummte. „Aber die Reaktionen der anderen Leute dürften für Sie wenig be deuten. Und auch für uns." Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: „Jetzt, wo Sie es selbst erlebt haben, Mr. Chien, würden wir uns freuen, wenn Sie unserer Vereinigung beitreten würden. Schließen Sie sich jener Gruppe an, deren Mitglieder das gleiche Bild wie Sie gesehen haben, der Gruppe Rot. Wir wollen herausfinden, was es wirklich ist, und..." Sie zuckte die Achseln. „Es kann doch nicht gleichzeitig in all diesen Gestalten auftreten." Ihre Stimme klang ergreifend in ihrer Naivität. Er fühlte, wie seine Vorsicht nachließ, nebensächlich wurde.
„Was haben Sie gesehen?" fragte er. „Sie persönlich?"
„Ich gehöre zur Gruppe Gelb. Ich... ich habe einen Sturm gesehen. Einen heulenden, bösartigen Wirbelwind. Der alles entwurzelt und Kondominium-Apartments zerstört, die für Jahrhunderte erbaut wurden." Sie lächelte mühsam. „Der Zerstörer. Insgesamt gibt es zwölf Gruppen, Mr. Chien. Zwölf absolut unterschiedliche Erfahrungen unter dem Einfluß desselben Phenothiazin-Präparats, während der Führer im Fernsehen eine seiner Reden hielt. Oder eher: als dieses Ding sprach." Sie lächelte ihn an, breit und sehr lange -dehnte das Lächeln vermutlich künstlich aus - und ihr Blick war einfühlsam, fast vertrauend. Als ob sie glaubte, daß er etwas unternehmen konnte, was ihr verwehrt blieb.
„Ich sollte Sie an sich verhaften lassen", bemerkte er schließlich.
„Es gibt kein Gesetz, das unser Handeln verbieten könnte. Wir haben sorgfältig das Sowjetrecht studiert, bevor wir... bevor wir Leute gesucht haben, die das Stelazin verteilen sollten. Wir besitzen nicht sehr viel von diesem Mittel; wir müssen sehr darauf achten, wem wir es geben. Sie erschienen uns eine gute Wahl zu sein... ein bekannter, nach dem Kriege geborener junger Karrierist auf dein Weg nach oben." Sie nahm ihm die Prüfungsunterlagen aus der Hand. „Hat man Ihnen Pol-Lek verordnet?" erkundigte sie sich.
„Pol-Lek?" Er kannte den Ausdruck nicht.
„Das bedeutet, man bekommt etwas Geschriebenes oder Gesagtes zum Studium, um zu überprüfen, ob es mit den weltanschaulichen Grundsätzen der Partei übereinstimmt. Auf Ihrer hierarchischen Position ist nur von ,Lektüre' die Rede, nicht wahr?" Erneut lächelte sie ihn an. „Wenn Sie eine Stufe höher steigen, auf die Ebene von Mr. Tso-pin, dann werden Sie diesen Ausdruck kennenlernen." Mit düsterem Gesicht fügte sie hinzu: „So wie Mr. Pethel. Er steht sehr weit oben, Mr. Chien; es gibt in San Fernando keine ideologische Akademie. Was man Ihnen übergeben hat, sind gefälschte Prüfungsarbeiten, die dazu dienen, Ihre politische Ideologie zu überprüfen. Haben Sie schon herausgefunden, welche Arbeit orthodox und welche häretisch ist?" Ihre Stimme klang jetzt sehr fein, schien von leiser, boshafter Ironie geprägt. „Wenn Sie sich irren, dann wird Ihre steile Karriere plötzlich zu Ende, für alle Zeiten vorüber sein. Erkennen Sie jedoch die Wahrheit... "
„Wissen Sie, welcher Aufsatz der richtige ist?" fragte er.
„Ja", nickte sie gelassen. „Wir haben in Mr. Tso-pins Büro eine Abhöranlage eingebaut und sein Gespräch mit Mr. Pethel verfolgt - der in Wirklichkeit nicht Mr. Pethel, sondern der Hohe Gepol-Inspektor Judd Craine ist. Vermutlich haben Sie schon von ihm gehört; er war 1998 während des Kriegsverbrecherprozesses in Zürich der Erste Assistent von Richter Vorlawsky."
„Ich... verstehe", brachte er mühsam hervor. Nun, das erklärte einiges.
„Ich heiße Tanya Lee", sagte das Mädchen.
Er schwieg, nickte lediglich und war zu verwirrt, um irgend etwas darauf zu erwidern.
„Rein technisch gesehen bin ich nur eine kleine Sekretärin in Ihrem Ministerium", fuhr Miss Lee fort. „Jedenfalls sind wir uns noch nie begegnet, soweit ich mich erinnern kann. Wir versuchen, alle Stellen zu besetzen, die wir bekommen können. Und versuchen so hoch wie möglich aufzusteigen. Mein eigener Chef... "
„Halten Sie es für richtig, daß Sie mir all das erzählen?" Er deutete auf den Fernseher, der noch immer eingeschaltet war. „Wird unser Gespräch nicht aufgezeichnet?"
„Wir blockieren die optische und akustische Übertragung aus diesem Apartmentgebäude mit einem Störsender; sie werden mindestens eine Stunde benötigen, um den Fehler zu finden. Demnach haben wir noch" - sie warf einen Blick auf die kleine Armbanduhr an ihrem schmalen Handgelenk -„fünfzehn Minuten, in denen wir uns ungestört unterhalten können."
„Sagen Sie mir", bat er, „welche Arbeit orthodox ist."
„Sie machen sich deswegen Sorgen? Wirklich?"
„Worüber", entgegnete er, „sollte ich mir denn sonst Sorgen machen?"
„Verstehen Sie denn nicht, Mr. Chien? Sie haben doch soeben etwas gelernt. Der Führer ist nicht der Führer; er ist etwas anderes, aber wir wissen nicht, was er ist. Noch nicht. Mr. Chien, mit allem Respekt, aber haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihr Trinkwasser analysieren zu lassen? Bitte, lachen Sie mich nicht aus. Ich weiß, das Ansinnen klingt paranoid, aber haben Sie wirklich schon einmal daran gedacht?"
„Nein", erklärte er. „Natürlich nicht." Und er wußte, was sie jetzt sagen würde.
„Unsere Untersuchungen", fuhr Miss Lee mit harter Stimme fort, „haben ergeben, daß es mit Halluzinogenen versetzt ist. Es war versetzt, ist versetzt und wird auch in Zukunft mit Drogen versetzt sein. Nicht mit jenen Drogen, die während des Krieges benutzt wurden, nicht mit diesen desorientierenden Präparaten, sondern mit einem synthetischen Derivat einer mutterkornähnlichen Substanz namens
Datrox-3. Sie trinken es hier im Gebäude, wenn Sie morgens aufstehen; Sie trinken es in den Restaurants und in den anderen Apartments, in denen Sie zu Besuch sind. Sie trinken es im Ministerium; das ganze Trinkwasser stammt schließlich aus demselben zentralen Reservoir." Ihre Stimme klang jetzt rauh und grausam. „Wir haben das Problem gelöst; wir wußten, sobald wir die Analyse in Händen hatten, daß jedes gute Phenothiazin die Wirkung aufheben würde. Was wir natürlich nicht wußten war, daß es eine Vielzahl authentischer Erlebnisse gab; rational betrachtet ergibt das keinen Sinn. Die Halluzination müßte von Mensch zu Mensch verschieden und die realen Erlebnisse müßten alle identisch sein - aber es ist genau umgekehrt. Wir können noch nicht einmal eine vorläufige Theorie aufstellen, die das erklärt, und Gott weiß, wie sehr wir uns darum bemüht haben. Zwölf unterschiedliche Halluzinationen - das wäre leicht zu verstehen. Aber nicht eine Halluzination und zwölf Wirklichkeiten." Dann schwieg sie einen Moment und studierte stirnrunzelnd die beiden Aufsätze. „Die Arbeit, die das arabische Gedicht enthält, ist orthodox", erklärte sie. „Wenn Sie ihnen das sagen, wird man Ihnen vertrauen und Sie befördern. Dann werden Sie eine weitere Stufe in der Parteibürokratie erklommen haben." Lächlend - ihre Zähne waren makellos und wohlgeformt - schloß sie: „Da sehen Sie, was Sie für Ihre Investition am heutigen Morgen alles bekommen haben. Für die nächste Zeit ist Ihre Karriere gesichert. Wir haben dafür gesorgt."
„Ich glaube Ihnen einfach nicht", erklärte er. Instinktiv hatte sich seine alte Vorsicht wieder bemerkbar gemacht, die Vorsicht, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte und noch gewachsen war, seit er mit den intrigierenden Mitgliedern der KP Ost, Sektion Hanoi, zusammenarbeitete. Es gab genug Möglichkeiten, einen Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen - und einige davon hatte er selbst schon benutzt; andere waren bei ihm oder bei Bekannten angewendet worden. Vielleicht war dies hier eine neue Methode, die er noch nicht kannte. Alles war möglich.
„Heute abend", bemerkte Miss Lee, „hat der Führer Sie in seiner Rede direkt angesprochen. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor? Ausgerechnet Sie, wo es so viele Menschen gibt? Sie, ein kleiner Bürovorsteher in einem unwichtigen Ministerium...?"
„Zugegeben", fiel er ihr ins Wort. „Ja, das ist mir aufgefallen."
„Aber es ist nicht ungewöhnlich. Seine Hoheit ist dabei, sich einen ausgewählten Kader junger, nach dem Krieg geborener Männer aufzubauen, von denen er hofft, daß sie neues Leben in die verknöcherte, verkalkte Hierarchie der alten Säcke und Parteiveteranen bringen. Seine Hoheit hat Sie aus dem gleichen Grunde wie wir ausgewählt; wenn Sie es klug anstellen, können Sie im Lauf Ihrer Karriere bis zur Spitze vorstoßen. Zumindest für einige Zeit... soweit wir wissen. So funktioniert das."
Er dachte: Also hat jeder Vertrauen zu mir. Nur ich selbst nicht; und vor allem jetzt nicht mehr, nicht nach diesem Erlebnis mit dem antihalluzinogenen Zeug. Es hat Jahre des Vertrauens ausgelöscht, und zweifellos war das auch richtig.
Aber zumindest wußte er nun, was er zu tun hatte; zunächst schwankte er noch, aber dann war er völlig sicher.
Er trat ans Videofon, hob den Hörer und begann - zum zweitenmal in dieser Nacht - die Nummer der Geheimpolizei von Hanoi zu wählen.
„Mich verhaften zu lassen", erklärte Miss Lee, „wäre der zweitschlimmste Fehler, den Sie machen könnten. Ich werde ihnen einfach sagen, daß Sie mich hierherbestellt haben, um mich zu bestechen; ich werde behaupten, Sie hätten gedacht, daß ich aufgrund meiner Stellung beim Ministerium darüber informiert wäre, welche Prüfungsarbeit die richtige ist."
„Und was wäre mein schlimmster Fehler?" fragte er.
„Keine weitere Dosis Phenothiazin zu nehmen", entgegnete Miss Lee gelassen.
Tung Chien legte den Hörer auf und dachte: Ich verstehe nicht mehr, was mit mir geschieht. Zwei verschiedene Kräfte, die Partei und Seine Hoheit auf der einen und dieses Mädchen mit ihrer angeblichen Gruppe auf der anderen Seite, versuchen mich zu beeinflussen. Die eine will mich so hoch wie möglich in die Parteihierarchie katapultieren; und die andere - ja, was wollte Tanya Lee? Aus ihren Worten ging hervor, daß sie die Partei, den Führer, die ethischen Grundsätze der Vereinigten Demokratischen Volksfront verachtete - was wollte sie also von ihm?
Neugierig fragte er: „Sind Sie gegen die Partei?"
„Nein."
„Aber..." Er machte eine verwirrte Bewegung. „Aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht; entweder ist man für oder gegen die Partei. Also sind Sie für die Partei." Noch immer verwirrt starrte er sie an; gelassen erwiderte sie den Blick. „Hinter Ihnen steht eine Organisation", bemerkte er, „und Sie treffen sich mit Ihren Leuten. Was wollen Sie zerstören? Die Funktionsfähigkeit der Regierung? Verfolgen Sie die gleichen Ziele wie diese verräterischen Collegestudenten der Vereinigten Staaten während des Vietnamkrieges, die Truppentransporter blockierten, demonstrierten... "
„Es war nicht so, wie Sie es darstellen", unterbrach Miss Lee verdrossen. „Aber vergessen Sie's; hier geht es um andere Dinge. Was wir wissen wollen, ist folgendes: Wer oder was regiert uns? Wir müssen hoch genug einsickern, müssen jemand anwerben, irgendeinen aufstrebenden Parteitheoretiker, der möglicherweise auch zu persönlichem Gespräch mit dem Führer eingeladen wird - Sie verstehen?"
Ihre Stimme zitterte; sie sah auf ihre Uhr, ängstlich darauf bedacht, rechtzeitig wieder fortzugehen; die fünfzehn Minuten waren fast vorbei. „Wie Sie wissen, treffen nur sehr wenige Menschen persönlich mit dem Führer zusammen. Ich meine, nicht nur über den Bildschirm."
„Er lebt zurückgezogen", bemerkte er. „Aufgrund seines hohen Alters."
„Wir haben die Hoffnung", sprach Miss Lee weiter, „daß Sie - wenn Sie den Test mit diesen angeblichen Prüfungsarbeiten bestehen, die man ihnen vorgelegt hat, und mit meiner Hilfe müßte alles funktionieren -, daß Sie dann zu einer der Herrengesellschaften eingeladen werden, die der Führer von Zeit zu Zeit gibt und von denen man im Fernsehen natürlich nichts erfährt. Verstehen Sie jetzt?" Immer schriller wurde ihr Tonfall, fast grell vor Verzweiflung. „Dann würden wir Bescheid wissen; wenn Sie dorthin unter dem Einfluß einer antihalluzinogenen Droge hingehen, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen..."
„Und meine Karriere im öffentlichen Dienst dürfte damit beendet sein. Von meinem Leben ganz zu schweigen." Er hatte laut gedacht und blickte sie jetzt forschend an.
„Sie schulden uns etwas", schnappte Tanya Lee mit bleichem Gesicht. „Wenn ich Ihnen nicht verraten hätte, welche Prüfungsarbeit Sie auswählen müssen, dann hätten Sie die falsche genommen und auch so Ihre Karriere beendet. Und Sie hätten versagt - versagt bei einem Test, von dem Sie nicht einmal wußten, daß Sie ihm unterzogen wurden!"
„Ich hatte eine Chance von fünfzig zu fünfzig", erinnerte er sanft.
„Nein." Sie schüttelte den Kopf. „Der häretische Text ist mit einem Haufen Parteijargon versehen; sie haben die Arbeiten absichtlich so konstruiert, daß Sie der Falle nicht entgehen konnten. Sie wollten, daß Sie den falschen nehmen."
Erneut überflog er die beiden Arbeiten, und erneut war er verwirrt. Hatte sie recht? Möglich. Wahrscheinlich. Was sie sagte, klang wahr, vor allem, da er die Parteifunktionäre und insbesondere Tso-pin, seinen Vorgesetzten, nur zu gut kannte. Er fühlte sich erschöpft. Betäubt. Nach einer Weile sagte er zu dem Mädchen: „Sie verlangen also von mir eine Gegenleistung. Sie haben etwas für mich getan - haben oder geben es zumindest vor, mir die richtige Antwort für diese Parteiprüfung gegeben. Aber damit liegen jetzt alle Vorteile bei mir. Was hindert mich also daran, Sie am Kragen zu packen und hinauszuwerfen? Ich denke überhaupt nicht daran, irgendeinen gottverdammten Auftrag für Sie zu erfüllen." Seine Stimme, stellte er fest, klang tonlos, bar jeder emotionalen Anteilnahme, genau wie alle anderen Stimmen, die in den Parteizirkeln Geltung besaßen.
„Es wird weitere Prüfungen geben", eröffnete ihm Miss Lee, „vor jeder Beförderung erwartet Sie ein neuer Test. Und auch diese werden wir für Sie ausspionieren." Mit einem Mal war sie vollkommen ruhig; offensichtlich hatte sie seine Reaktion erwartet.
„Wie lange geben Sie mir Zeit, darüber nachzudenken?" fragte er.
„Ich muß jetzt gehen. Aber übereilen Sie nichts; Sie werden mit Sicherheit nicht schon in der nächsten Woche oder im nächsten Monat zu der Villa des Führers am Gelben Fluß eingeladen werden." Sie näherte sich der Tür, öffnete sie und verharrte. „Sobald man Ihnen neue getarnte Prüfungen auferlegt, werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen. Und die Antworten liefern - bei diesen Gelegenheiten werden Sie dann einige andere von uns zu sehen bekommen. Vermutlich sehen wir uns so bald nicht wieder; ich schätze, dieser kriegsversehrte Veteran wird Ihnen die richtigen Antworten verkaufen, wenn Sie das Ministeriumsgebäude verlassen." Sie lächelte kurz. „Aber irgendwann in nächster Zeit, und da gibt es keinen Zweifel, erhalten Sie eine präch tige, offizielle, sehr formelle Einladung in die Villa, und wenn Sie dorthin gehen, werden Sie bis zum Kragen mit Stelazin präpariert sein... vermutlich mit der letzten Dosis unseres schwindenden Vorrats. Gute Nacht." Sie schloß hinter sich die Tür und war fort.
Mein Gott, dachte er. Jetzt können sie mich erpressen. Wegen dem, was ich getan habe. Und sie hat es nicht einmal für wert gefunden, das zu erwähnen; angesichts der Absichten, die sie verfolgten, war es auch völlig unnötig, dies besonders zu erwähnen.
Aber womit konnten sie ihn erpressen? Er hatte den beiden Gepol-Beamten doch bereits mitgeteilt, daß man ihm eine Droge verkauft hatte, die aus Phenothiazin bestand. Dann wissen sie Bescheid, erkannte er. Sie werden mich beobachten, werden mißtrauisch sein. Faktisch gesehen habe ich kein Gesetz gebrochen, aber - sie werden mich trotzdem beobachten.
Andererseits wurde man immer beobachtet. Allmählich entspannte er sich bei dem Gedanken. Im Laufe der Jahre hatte er sich, wie jeder andere, an diesen Zustand gewöhnt.
Ich werde den Absoluten Wohltater des Volkes sehen, wie er wirklich ist, sagte er sich. Was vermutlich bisher noch niemandem gelungen ist. Was mag er wohl sein? Welche der Nicht-Halluzinationen trifft zu? Vielleicht sehe ich auch etwas völlig anderes... etwas, das mich überwältigen wird. Wie soll ich weiterleben, wie meine Pflicht erfüllen, wenn er wirklich der Gestalt gleicht, die ich auf dem Bildschirm gesehen habe? Was ist er - der Zerstörer, der Klapperer, der Vogel, die Kletterröhre, oder noch etwas Schlimmeres?
Er fragte sich, wie wohl die anderen Bilder auf ihn wirken mochten... und dann hörte er auf zu spekulieren; es hatte keinen Sinn. Und es ängstigte ihn.
Am nächsten Morgen erwarteten ihn Mr. Tso-pin und Mr.
Darius Pethel in seinem Büro; beide wirkten ruhig, konnten aber ihre Spannung nicht verhehlen. Wortlos händigte er ihnen eine der beiden „Prüfungsarbeiten" aus. Die orthodoxe, die jenes kurze und herzzerreißende arabische Gedicht enthielt.
„Dies", begann Chien mit fester Stimme, „ist die Arbeit eines überzeugten Parteimitglieds oder eines Kandidaten, der um seine Aufnahme in die Partei ersucht hat. Das jedoch..." Er wedelte mit den übrigen Unterlagen. „Reaktionäres Gewäsch." Zorn erfüllte ihn. „Trotz der oberflächlichen..."
„Schon gut, Mr. Chien", unterbrach Pethel und nickte beifällig. „Es ist nicht nötig, jede Einzelheit genau zu analysieren. Ihre Beurteilung ist richtig. Sie haben gestern abend in der Fernsehrede des Führers gehört, daß er Ihren Namen erwähnt hat?"
„Ja, natürlich", versicherte Chien.
„Also haben Sie auch zweifellos erkannt", fuhr Pethel fort, „daß von den Dingen, die wir hier vorbereiten, sehr viel abhängt. Der Führer hat ein Auge auf Sie geworfen; das dürfte klar sein. Und um es genau zu sagen, er hat sich mit mir hinsichtlich Ihrer Person in Verbindung gesetzt." Er öffnete seine prallgefüllte Aktentasche und suchte darin herum. „Offenbar habe ich das gottverdammte Ding verloren. Nun, jedenfalls..." Er blickte Tso-pin an, der mit einem knappen Nicken antwortete. „Seine Hoheit wünscht, daß Sie am nächsten Donnerstag zu ihm auf die Jangtse-Ranch kommen und mit ihm zu Abend essen. Insbesondere würde es Mrs. Fletcher freuen..."
„Mrs. Fletcher?" unterbrach Chien. „Wer ist diese ,Mrs. Fletcher'?"
Nach einer Pause erklärte Tso-pin trocken: „Die Frau des Absoluten Wohltäters. Sein Name - den Sie natürlich noch nie gehört haben - lautet Thomas Fletcher."
„Er ist ein Weißer", bestätigte Pethel. „Ursprünglich war er
Mitglied der Kommunistischen Partei von Neuseeland; er hat den dortigen Umsturz vorbereitet. Diese Information ist im Grunde kein Geheimnis, aber auf der anderen Seite ist es auch nicht erforderlich, darüber zu reden." Er brach ab und spielte mit seiner Uhrkette. „Vermutlich wäre es besser, wenn Sie vergessen würden, daß wir davon gesprochen haben. Natürlich, sobald Sie ihn sehen, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, werden Sie erkennen, daß er ein Weißer ist. So wie ich. Wie viele von uns."
„Die Rasse", stellte Tso-pin fest, „hat nichts zu tun mit der Loyalität zum Führer und zur Partei. Mr. Pethel hier ist ein Beispiel dafür."
Auf dem Bildschirm wirkt er nicht wie ein Abendländer. „Im Fernsehen... " begann er.
„Das Bild", unterbrach Tso-pin, „wird durch geschickte technische Manipulationen erzeugt. Aus ideologischen Gründen. Die meisten Personen in den höheren Positionen sind darüber informiert." Er warf Chien einen tadelnden Blick zu.
Also sind sie sich alle einig, durchfuhr es Chien. Was wir jeden Abend sehen, ist nicht die Wirklichkeit. Bleibt die Frage: Wie unwirklich ist es dann? Teilweise? Oder völlig künstlich?
„Ich werde mich darauf vorbereiten", erklärte er unterwürfig. Und er dachte: Das war ein Versehen. Sie waren nicht darauf vorbereitet - jene Leute, die Tanya Lee repräsentiert -, daß ich schon so bald eine Einladung bekommen würde. Was ist mit dem Antihalluzinogen? Ob sie es mir noch zukommen lassen können? Vermutlich ist die Zeit zu knapp.
Seltsamerweise fühlte er sich erleichtert. Er würde mit Seiner Hoheit zusammentreffen und ihn als Menschen sehen können - so wie jeder andere auch. Er würde einen anregenden und amüsanten Abend mit einigen der einflußreichsten Parteimitglieder von ganz Asien verbringen. Ich glaube, dachte er, daß die Idee mit dem Phenothiazin völlig unnötig war. Und seine Erleichterung wuchs.
„Ah, hier ist sie endlich", sagte Pethel plötzlich und holte einen weißen Umschlag aus seiner Aktentasche hervor. „Ihre Einladungskarte. Donnerstag morgen fliegen Sie mit einer Sino-Rakete zur Villa des Führers; dort wird Sie dann der Protokollbeamte instruieren, wie Sie sich zu verhalten haben. Vorgeschrieben ist ein Frack mit weißer Binde, aber die Atmosphäre wird sehr entspannt sein. Meistens werden eine ganze Anzahl Trinksprüche ausgebracht." Er fügte noch hinzu: „Ich habe selbst schon an zwei von diesen Feiern teilgenommen. Mr. Tso-pin" - er lächelte steif - „hat noch nicht diese Ehre gehabt. Aber, wie es so schön heißt, jeder, der warten kann, bekommt schließlich doch, was er will. Ein Ausspruch Ben Franklins."
„Nach meiner Meinung", bemerkte Tso-pin, „ist die Einladung für Mr. Chien ein wenig frühzeitig erfolgt." Philosophisch zuckte er die Achseln. „Aber nach meiner Meinung wird ja niemals gefragt."
„Noch etwas", wandte sich Pethel an Chien. „Es ist möglich, daß Sie in irgendeiner Beziehung enttäuscht sein mögen, wenn Sie Seiner Hoheit persönlich gegenüberstehen. Sorgen Sie dafür, falls Sie so empfinden sollten, daß Sie sich dies nicht anmerken lassen. Wir alle sind es gewohnt -und auch so erzogen worden - in ihm mehr als einen Menschen zu sehen. Aber am Tisch ist er" - Pethel fuhr sich durch das Haar - „nun, ein Naturereignis. Natürlich ohne daß unser Respekt vor ihm schwindet. Er mag zum Beispiel in den Augen eines gewöhnlichen Sterblichen nicht ganz vornehm wirken; möglicherweise erzählt er einige unanständige Witze oder er trinkt zuviel... Um ehrlich zu sein, niemand weiß im voraus, was geschehen wird, aber gewöhnlich ziehen sich diese Feiern hin bis zum frühen Morgen. Deshalb wäre es vernünftig, wenn Sie die Dosis Am phetamine annehmen würden, die Ihnen der Protokollbeamte offerieren wird."
„Oh?" sagte Chien. Das war neu für ihn und interessant.
„Das erhöht das Stehvermögen. Und man verträgt dann mehr Alkohol. Seine Hoheit ist ein sehr trinkfester Mann; oft ist er noch auf den Beinen und schwankt nicht einmal, während alle anderen bereits aufgegeben haben."
„Ein bemerkenswerter Mann", warf Tso-pin ein. „Ich glaube, seine... seine liebenswerten Schwächen beweisen, daß er ein hervorragender Mensch ist. Und stets auf der Höhe der Ereignisse; er ist das Idealbild eines Renaissancemenschen wie zum Beispiel Lorenzo di Medici."
„Daran denkt man unwillkürlich", bestätigte Pethel. Er musterte Chien mit solcher Aufmerksamkeit, daß die Angst des gestrigen Abends zurückkehrte. Stolpere ich von einer Falle in die andere? fragte sich Chien. Dieses Mädchen - war es vielleicht in Wirklichkeit eine Agentin der Gepol, die mich testen und eine illoyale, parteifeindliche Neigung aus mir herauslocken sollte?
Ich glaube, entschied er, ich sorge am besten dafür, daß mich dieser beinlose Hausierer, der mit den Heilkräutern handelt, nicht abfängt, wenn ich nach der Arbeit nach Hause gehe. Von jetzt an werde ich für den Heimweg einen ganz anderen Weg nehmen.
Er hatte Erfolg. An diesem Tag entging er dem Hausierer, und auch am nächsten und übernächsten Tag.
Am Donnerstag morgen allerdings rollte der Hausierer hinter einem geparkten Lastwagen hervor und stellte sich ihm in den Weg.
„Meine Medizin", fragte der Hausierer, „hat meine Medizin Ihnen geholfen? Ich weiß, daß sie geholfen hat, ich bin mir sogar ganz sicher; die Formel stammt noch aus der Sung-Dynastie. Ich weiß Bescheid. Nicht wahr?"
„Lassen Sie mich vorbei", verlangte Chien.
„Würden Sie so freundlich sein und mir eine Antwort geben?" Der Tonfall war nicht das anpreisende Gejammer eines Straßenhausierers, der seinem kärglichen Geschäft nachging. Ganz deutlich hörte Chien diese Stimme, hörte sie laut und klar... wie jene Stimmen der imperialistischen Marionettentruppen, die es schon so lange nicht mehr gab.
„Ich weiß, was Sie mir gegeben haben", erklärte Chien. „Und ich möchte nichts mehr davon haben. Sollte ich meine Meinung ändern, so kann ich mir das Mittel in jeder Apotheke kaufen. Danke." Er wollte weitergehen, aber der Wagen, auf dem der beinlose Hausierer hockte, versperrte ihm noch immer den Weg.
„Miss Lee hat mit mir gesprochen", sagte der Hausierer laut.
„Hmm", machte Chien. Er bog um den Wagen herum und beschleunigte seine Schritte, entdeckte ein Hovertaxi und winkte es zu sich.
„Heute abend also werden Sie in der Jangtse-Villa mit dem Führer speisen", fuhr der Hausierer fort und rollte angestrengt Atem holend hinter ihm her. „Nehmen Sie das Mittel - jetzt!" Auffordernd hielt er ihm ein kleines Päckchen entgegen. „Bitte, Parteigenosse Chien; um Ihretwillen, für uns alle. Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Großer Gott, vielleicht ist es eine außerirdische Lebensform; das ist unsere größte Sorge. Verstehen Sie denn nicht, Chien? Was bedeutet Ihre gottverdammte Karriere im Vergleich dazu? Wenn wir es nicht herausfinden..."
Das Taxi kam neben dem Bürgersteig zum Stillstand; die Tür glitt auf. Chien stieg ein.
Das Päckchen flog an ihm vorbei, landete auf der Türschwelle des Wagens und rollte dann auf den Fahrzeugboden, und es war feucht vom Morgenregen.
„Bitte", rief der Hausierer. „Es kostet Sie nichts; heute be kommen Sie es umsonst. Nehmen Sie es ruhig, nehmen Sie es vor dem Abendessen. Und lassen Sie die Finger von den Amphetaminen; sie wirken stimulierend auf den Thalamus und blockieren die Adrenalindämpfer, zu denen auch Phenothiazin gehört..."
Die Wagentür schloß sich hinter Chien. Er lehnte sich zurück.
„Wohin, Genosse?" fragte der Robotpilot.
Er nannte ihm die Koordinatenziffer seines Konap.
„Dieser Einfaltspinsel eines Hausierers hat es doch fertiggebracht, mein sauberes Inneres mit seinem schmierigen Tand zu beschmutzen", beschwerte sich das Fahrzeug. „Hören Sie - es liegt direkt neben Ihren Füßen."
Chien entdeckte das Päckchen - es sah ganz normal aus. Ich schätze, durchfuhr es ihn, auf diese Weise kommt man immer zu den Drogen; plötzlich sind sie da. Einen Moment lang saß er da und hob es schließlich auf.
Wie beim erstenmal, so war auch bei diesem Päckchen das Papier beschriftet, doch diesmal, erkannte er, war es ein handschriftlicher Text. Er stammte zweifellos von Miss Lee:
Wir waren von der plötzlichen Entscheidung überrascht. Aber Gott sei Dank waren wir mit allem fertig. Wo haben Sie Dienstag und Mittwoch gesteckt? Hier ist es jedenfalls, und viel Glück. Ich werde Sie am Wochenende aufsuchen; versuchen Sie nicht von sich aus, mit mir Kontakt aufzunehmen.
Er setzte die Notiz in Brand und ließ sie im Aschenbecher des Wagens verkohlen.
Und nahm die dunklen Körner.
Die ganze Zeit schon, dachte er. Halluzinogene in unserem Trinkwasser. Jahr für Jahr. Jahrzehntelang. Und nicht im Krieg, sondern im Frieden. Und nicht im feindlichen Lager, sondern bei uns. Dieser verdammte Bastard, fluchte er im stillen. Vielleicht sollte ich das Zeug wirklich nehmen; vielleicht sollte ich wirklich herauszufinden versuchen, wer oder was er ist und dann Tanyas Gruppe darüber informieren.
Und ich werde es tun, entschied er. Mit einem Mal hatte ihn die Neugier gepackt.
Ein gefährliches Gefühl, wie er wußte. Neugier war, vor allem in den Parteiangelegenheiten, für jede Karriere lebensgefährlich.
Von diesem Augenblick an war er der Neugierde verfallen. Er fragte sich, ob die Wirkung des Mittels den ganzen Abend lang anhalten würde, falls er sich tatsächlich dazu entschied, es zu nehmen.
Die Zeit würde es erweisen. Dies und alles andere. Wir sind die Menschenwunden in der Ebene, kam es ihm in den Sinn, die Wunden, die er schlägt. Wie es in dem arabischen Gedicht steht. Er versuchte sich an die restlichen Zeilen zu erinnern, aber es gelang ihm nicht.
Möglicherweise war es auch besser so.
Der Protokollbeamte der Villa, ein Japaner namens Kimo Okubara, ein großer und kräftiger Mann und offenbar ein ehemaliger Quondam-Ringer, empfing ihn mit berufsmäßiger Feindseligkeit, die auch nicht wich, nachdem er ihm seine gravierte Einladung vorgelegt und seine Identität nachgewiesen hatte.
„Ich bin überrascht, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, hierher zu kommen", brummte Okubara. „Warum sind Sie nicht zu Hause vor dem Fernsehschirm geblieben? Niemand hätte Sie hier vermißt. Bis jetzt sind wir auch ohne Sie hervorragend zurechtgekommen."
„Ich habe mir schon oft die Fernsehübertragungen ange sehen", erklärte Chien nachdrücklich. Obwohl die Abendgesellschaften selten per Fernsehen übertragen wurden; sie waren einfach zu obszön.
Okubaras Untergebene durchsuchten ihn nach Waffen, und diese Untersuchung schloß auch den Analbereich ein. Anschließend erhielt er seine Kleidung zurück. Jedenfalls hatten sie das Phenothiazin nicht gefunden - weil er es bereits genommen hatte. Die Wirkung derartiger Drogen hielt, soweit er wußte, ungefähr vier Stunden an; das war mehr als genug Zeit. Und, wie Tanya angedeutet hatte, war es eine größere Dosis. Er fühlte sich müde, schlapp und deprimiert, und seine Zunge verkrampfte sich wie die eines Menschen, der an der Parkinsonschen Krankheit litt - ein unerfreulicher Nebeneffekt, den er allerdings hinnehmen mußte.
Ein Mädchen, von der Hüfte aufwärts nackt, mit langen, kupferfarbenen Haaren, die über ihre Schultern hingen, spazierte an ihm vorbei. Interessant.
Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich ein splitternacktes Mädchen. Auch das war interessant. Beide Mädchen wirkten desinteressiert und gelangweilt und vollkommen selbstbewußt.
„Sie werden ebenfalls in dieser Aufmachung hineingehen", wurde Chien von Okubara informiert.
Überrascht entgegnete Chien: „Ich dachte, Frack und weiße Binde seien vorgeschrieben."
„Ein Witz", erklärte Okubara. „Auf Ihre Kosten. Nur die Mädchen laufen nackt herum. Solange Sie nicht homosexuell sind, können Sie das auch, wenn es Ihnen Spaß macht."
Nun, dachte Chien, ich hätte etwas Derartiges erwarten sollen. Er mischte sich unter die anderen Gäste - wie er trugen sie Frack und Binde oder, die Frauen, bodenlange Abendkleider - und fühlte sich mit einem Mal unwohl, trotz der beruhigenden Wirkung des Stelazins. Warum bin ich hier? fragte er sich. Die Unvereinbarkeit seiner Absichten entging ihm keineswegs. Er war hier, um seine Karriere innerhalb des Parteiapparates voranzutreiben, um von Seiner Hoheit ein zustimmendes, aufmunterndes Nicken zu erhalten... und gleichzeitig war er hier, um Seine Hoheit als Betrüger zu entlarven. Er wußte nicht, um welche Art von Betrug es sich handelte, doch es war einer: Betrug an der Partei, an allen friedliebenden, demokratisch gesinnten Menschen der Erde. Es ist absurd, sagte er sich. Und dennoch kann ich nicht anders.
Ein Mädchen mit kleinen, hell leuchtenden Brüsten bat ihn um Feuer; geistesabwesend holte er sein Feuerzeug hervor. „Wieso leuchtet dein Busen?" fragte er. „Sind radioaktive Injektionen dafür verantwortlich?"
Sie zuckte die Achseln und ging weiter, ließ ihn allein zurück.
Vermutlich hatte er falsch reagiert.
Möglicherweise liegt es an einer kriegsbedingten Mutation, dachte er.
„Getränke, Sir." Beflissen hielt ihm ein Diener ein Tablett entgegen. Er griff nach einem Martini - dem derzeitigen Lieblingsgetränk der höheren Parteimitglieder in Volkschina
- und nippte an der eisgekühlten Flüssigkeit. Guter englischer Gin, sagte er zu sich selbst. Oder vielleicht sogar die Originalmischung aus Holland; mit Wacholder veredelt. Nicht schlecht. Er schlenderte weiter und fühlte sich ein wenig besser; um es genau zu sagen, fand er die Atmosphäre hier ausgesprochen angenehm. Alle Anwesenden wirkten sehr selbstbewußt; sie hatten Erfolg gehabt und konnten sich jetzt ein wenig entspannen. Offenbar waren die Gerüchte, daß die Gegenwart Seiner Hoheit zu Angstneurosen führte, falsch; zumindest er selbst spürte kaum etwas davon.
Ein schwergewichtiger, glatzköpfiger Mann mittleren Alters stellte sich Chien in den Weg und hielt ihm sein Glas vor die
Brust. „Dieses kleine Ding, das Sie um Feuer gebeten hat", kicherte der Unbekannte, „diese Biene mit den Brüsten, die wie Christbaumschmuck wirken - in Wirklichkeit war das ein junger Bursche." Er kicherte wieder. „Hier müssen Sie verdammt vorsichtig sein."
„Und wo", fragte Chien, „finde ich richtige Frauen - falls es sie hier überhaupt gibt? Tragen die vielleicht Frack und weiße Binde?"
„So ungefähr", bestätigte der Unbekannte und schloß sich einer Gruppe ausgelassener Gäste an, ließ Chien mit seinem Martini allein zurück.
Eine attraktive, hochgewachsene, gutgekleidete Frau, die in Chiens Nähe stand, legte ihm plötzlich ihre Hand auf den Arm; deutlich spürte er, wie ihre Finger zitterten, als sie sagte: „Da kommt Seine Hoheit. Heute treffe ich zum erstenmal mit ihm persönlich zusammen; ich bin ganz durcheinander. Ist meine Frisur auch in Ordnung?"
„Natürlich", erklärte Chien automatisch, und er folgte ihrem Blick und sah den Absoluten Wohltäter den Raum betreten.
Das, was durch den Festsaal schritt und sich dem Tisch in der Mitte näherte, war kein Mensch.
Und es war auch nicht, wie Chien erkannte, ein mechanisches Gebilde; nicht das, was er auf dem Fernsehschirm erblickt hatte. Offenbar war das nur ein Gerät gewesen, das die Reden hielt - ähnlich wie Mussolini einen künstlichen Arm benutzt hatte, um bei langen und anstrengenden Paraden bis zuletzt salutieren zu können.
Gott, dachte er, und Übelkeit erfaßte ihn. War dies das Meeresungeheur, von dem Tanya Lee gesprochen hatte? Aber es besaß keine feste Gestalt. Keine Pseudopodien, ob nun aus Fleisch oder aus Metall. In gewissem Sinne existierte es nicht einmal; als er sich dazu überwand, es direkt anzusehen, verschwamm die Gestalt in ein undefinierbares Gebilde, wie ein Nebel. Er konnte hindurchschauen und die
Menschen auf der gegenüberliegenden Seite des Saales erkennen - aber nicht mehr dieses Etwas. Wenn er den Kopf drehte und es aus den Augenwinkeln heraus betrachtete, dann nahm er wieder seine Umrisse wahr.
Es war schrecklich; seine Ungeheuerlichkeit lähmte ihn. Während es sich bewegte, sog es das Leben der Menschen nacheinander in sich auf; es fraß jene, die sich um es versammelt hatten, bewegte sich weiter und fraß und fraß mit unersättlichem Appetit. Es haßte; er fühlte diesen Haß. Es verachtete: er spürte, daß es jeden der Anwesenden verachtete - und er teilte diese Verachtung sogar. Plötzlich hatte er den Eindruck, daß er und alle anderen Menschen hier nur Schnecken waren, die sich in ihre Häuser verkrochen hatten, und dieses Geschöpf saugte sie in sich auf und hinterließ lediglich leere Schneckenhäuser, über die es hinwegschritt, sie zermalmte, sich nach rechts und links bewegte, aber sich ihm dabei zielbewußt näherte - oder war dies eine Illusion?
Wenn das eine Halluzination ist, dachte Chien, dann ist es die schrecklichste, die ich jemals gehabt habe; wenn dies jedoch keine Halluzination ist, dann ist diese böse Kreatur Wirklichkeit - ein grausiges Geschöpf, das tötet und verletzt. Er sah die Spur aus zertretenen, zerquetschten Männern und Frauen, die es hinterließ; er sah, wie sie versuchten, wieder zu Sinnen zu kommen und ihre verkrüppelten Körper zu beherrschen, hörte, wie sie sich abmühten, verständlich zu sprechen.
Ich weiß, wer du bist, dachte Tung Chien. Du, das Oberhaupt der weltweiten Parteiorganisation. Du, der du alle Lebewesen vernichtest, die du berührst. Ich sehe das arabische Gedicht vor mir, in dem du die Menschenwunden schlägst - ich sehe dich über die Ebene streifen, die unsere Erde für dich ist, eine Ebene ohne Berge, ohne Täler. Du gehst überallhin, du erscheinst jederzeit, verschlingst alles;
du erschaffst das Leben und zerstörst es dann, und du erfreust dich daran. Er dachte: Du bist Gott.
„Tung Chien", erklang die Stimme, aber sie sprach direkt in seinem Kopf, kam nicht von dem mundlosen Gespenst, das vor ihm auftauchte. „Ich freue mich, dich wiederzutreffen. Du weißt nichts. Geh fort. Ich habe kein Interesse an dir. Warum sollte ich mich auch um Schleim kümmern? Ja, Schleim, denn ich bin davon umgeben, muß ihn ausscheiden, und ich habe es so gewollt. Ich könnte dich zertreten; ich könnte selbst mich vernichten. Ich schreite über scharfe Steine; ich habe spitze Dinge über den Schleim verstreut. Ich erschaffe die Verstecke, die tiefen Schluchten, es kocht in mir und dringt heraus und nimmt Gestalt an; für mich sind die Meere so durchsichtig wie Glas. Die Fasern meines Fleisches sind mit allem verbunden. Du bist ich. Ich bin du. Es ist gleichgültig, wie es auch gleichgültig ist, ob jene Kreatur mit den leuchtenden Brüsten nun ein Mädchen oder ein Junge ist; du könntest lernen, dich an beiden zu erfreuen." Es lachte.
Er konnte nicht glauben, daß es zu ihm sprach; er konnte sich nicht vorstellen - denn es war zu schrecklich -, daß es ihn auserwählt hatte.
„Ich habe jeden auserwählt", erklärte es. „Niemand ist zu unbedeutend; jeder fällt und stirbt, und ich bin da, um alles zu beobachten. Ich brauche nur zuzusehen; alles geht automatisch, denn so wurde es eingerichtet." Und dann sprach es nicht mehr mit ihm, sondern löste sich auf. Aber er sah es noch immer; er spürte seine vielfältige Gegenwart. Es war eine Kugel, die im Raum hing und fünfzigtausend Augen besaß oder eine Million - Milliarden; ein Auge für jedes Lebewesen, denn es wartete auf jeden, daß er fiel, um ihn zertreten zu können, wenn er hilflos dalag. Denn zu diesem Zweck hatte es das Leben erschaffen, und er wußte, verstand es jetzt. Was in dem arabischen Gedicht der Tod ge wesen zu sein schien, war nicht der Tod, sondern Gott; oder vielmehr war Gott der Tod, eine Kraft, ein Raubtier, ein kannibalisches Geschöpf, das seine Opfer wieder und wieder verfehlte und dies sich auch leisten konnte, stand ihm doch die Ewigkeit zur Verfügung. Beide Gedichte sagten die Wahrheit, erkannte er; auch jenes von Dryden. Die faule Pracht... das ist unsere Welt, und du hast sie erschaffen. Hast sie verzerrt, daß sie sich in dieser Weise entwickelte -und uns damit an dich gefesselt.
Aber zumindest, dachte er, habe ich mir meine Würde bewahrt. Und mit Würde setzte er sein Glas ab, drehte sich um und verließ den Saal durch eine der Türen. Er durchschritt einen langen, mit Teppichen ausgelegten Korridor. Ein Diener, von Kopf bis Fuß in Purpur gekleidet, öffnete eine weitere Tür vor ihm; er trat hinaus in die Finsternis der Nacht, stand allein auf einer Veranda.
Allein? Nein, er war nicht allein.
Es war ihm gefolgt. Oder hatte ihn bereits hier erwartet. Ja, so mußte es sein. Es war noch nicht fertig mit ihm.
„Ich gehe", erklärte er und lehnte sich über das Geländer; sechs Stockwerke unter ihm glänzte das Flußbett, wo der Tod wartete, der richtige Tod, nicht der aus dem arabischen Gedicht.
Als er sich hinunterstürzen wollte, legte es ihm eine seiner Gliedmaßen auf die Schulter.
„Warum?" fragte er. Aber er verharrte. War verwirrt. Verstand nichts mehr, nichts.
„Stürze dich nicht meinetwegen hinunter", sagte es. Er konnte es nicht mehr sehen, weil es hinter ihm stand. Aber dieses Ding auf seiner Schulter - es begann sich wie eine menschliche Hand anzufühlen.
Und dann lachte es.
„Was ist daran so lustig?" erkundigte er sich, während er zitternd am Geländer lehnte, noch immer von jener Pseudo
hand festgehalten wurde.
„Du nimmst mir meine Arbeit ab", sagte es. „Du wartest nicht; hast du keine Zeit? Ich werde dich unter den anderen auswählen; du brauchst den Vorgang nicht zu beschleunigen."
„Was ist, wenn ich doch springe?" fragte er. „Aus Abscheu vor dir?"
Es lachte. Und antwortete nicht.
„Du willst es mir nicht sagen", erkannte er.
Erneut nur Schweigen. Er löste sich von dem Geländer, glitt zurück auf die Veranda. Und auf einmal verschwand der Druck der Pseudohand.
„Du hast die Partei gegründet?" wollte er wissen.
„Ich habe alles gegründet. Die Anti-Partei und die Partei, die keine Partei ist, und ihre Anhänger und ihre Gegner, jene, die du als Yankee-Imperialisten bezeichnest, die Reaktionäre und alle anderen. Ich habe alles erschaffen. Als seien sie Grashalme."
„Und du bist hier, um dich daran zu vergnügen?" fragte er.
„Was ich will", erwiderte es, „ist, daß du mich siehst, wie ich bin, wie du mich gesehen hast, und ich will, daß du mir in allem absolut vertraust."
„Was?" stieß er mit bebender Stimme hervor. „Dir soll ich vertrauen?"
„Glaubst du an mich?" entgegnete es.
„Ja", nickte er. „Ich sehe dich."
„Dann kehre zurück an deine Arbeit im Ministerium. Sage Tanya Lee, daß du einen überarbeiteten, übergewichtigen alten Mann angetroffen hast, der zuviel trinkt und der Gefallen daran findet, den Mädchen in das Hinterteil zu kneifen."
„Oh, Jesus!" entfuhr es ihm.
„Und während du weiterlebst, weil du nicht in der Lage bist, dein Leben zu beenden, werde ich dich peinigen", fuhr es fort. „Ich werde dir alles abnehmen, Stück für Stück, alles, was du besitzt oder haben möchtest. Und dann, wenn du tot zusammenbrichst, werde ich dir ein Geheimnis verraten."
„Was für ein Geheimnis?"
„Die Toten werden leben, die Lebenden werden sterben. Ich töte alles was lebt; ich errette alles was gestorben ist. Und ich verrate dir eines: Es gibt schlimmere Dinge als mich. Aber du wirst ihnen nicht begegnen, weil ich dich bis dahin schon ermordet habe. Geh du nun zurück in den Festsaal und bereite dich auf das Essen vor. Stelle nicht in Frage, was ich anrichte; ich habe alles schon lange vor Tung Chien getan und ich werde es noch lange nach ihm tun."
Er schlug so kraftig zu, wie er konnte.
Und schrecklicher Schmerz explodierte in seinem Kopf.
Gefolgt von Dunkelheit und dem Gefühl zu fallen.
Und danach wieder Dunkelheit. Er dachte: Ich werde dich erwischen. Ich werde dafür sorgen, daß auch du stirbst. Daß du leidest; du wirst leiden, genau wie wir, ohne Unterschied. Ich werde dich erwischen; ich schwöre bei Gott, daß ich dich irgendwann erwischen werde. Und es wird wehtun. So wie ich jetzt Schmerzen habe.
Er schloß die Augen.
Brutal wurde er geschüttelt. Und dann hörte er Mr. Komo Okubaras Stimme. „Aufstehen, Trunkenbold. Stehen Sie auf!"
Ohne die Augen zu Öffnen, sagte er: „Besorgen Sie mir ein Taxi."
„Taxi wartet schon. Sie fahren nach Hause. Nach dieser Schande! Sie haben eine schreckliche Szene gemacht."
Unsicher kam er wieder auf die Beine, öffnete die Augen und sah an sich herab. Unser Führer, dem wir folgen, dachte er, ist der Einzige, der Wahre Gott. Und der Feind, den wir bekämpft haben, ist ebenfalls Gott. Es stimmt, es ist wahr - er ist allgegenwärtig. Aber bisher hatte ich nicht verstanden, was das bedeutet. Er starrte den Protokollbeamten an und dachte: Auch du bist Gott. Deshalb gibt es keinen Ausweg, nicht einmal, wenn man sich zu Tode stürzt. Wie ich es instinktiv versucht habe.
„Sie haben gleichzeitig Alkohol und Drogen zu sich genommen", bemerkte Okubara tadelnd. „Haben Ihre Karriere ruiniert. Ich habe das schon oft erlebt. Hauen Sie bloß ab."
Taumelnd näherte er sich dem großen Hauptportal der Villa am Jangtse. Zwei Diener, die wie mittelalterliche Ritter gekleidet waren und Federbuschhelme trugen, öffneten zeremoniell für ihn die Tür, und einer sagte: „Gute Nacht, Sir."
„Gleichfalls", erwiderte Chien und verschwand in der Nacht.
Morgens um zwei Uhr fünfundvierzig saß er schlaflos im Wohnzimmer seines Konaps, rauchte eine Cuesta Rey Astroria nach der anderen und hörte, wie jemand an der Tür klopfte.
Er öffnete und stand Tanya Lee gegenüber, die ihren Regenmantel trug und völlig verfroren aussah. Fragend leuchteten ihre Augen auf.
„Sieh mich nicht so an", sagte er heiser. Seine Zigarre war erloschen; er setzte sie wieder in Brand. „Ich bin schon genug angesehen worden", fügte er hinzu.
„Du bist ihm begegnet", erkannte sie.
Er nickte.
Sie setzte sich auf die Couchlehne, und nach einer Weile fragte sie: „Was kannst du mir erzählen?"
„Geh so weit wie möglich fort", erklärte er. „So weit du kannst." Und dann kam die Erinnerung; nein, es gab keinen Weg, der lang genug war. Und er erinnerte sich, daß er auch das schon einmal irgendwo gelesen hatte. „Vergiß es", sagte er und erhob sich, betrat unsicheren Schrittes die Küche, um Kaffee aufzusetzen.
Tanya folgte ihm. „War... war es so schlimm?"
„Wir können nicht gewinnen", erwiderte er. „Du kannst nicht gewinnen, und ich erst recht nicht. Ich habe nichts mehr damit zu tun; ich möchte nur noch in meinem Ministerium arbeiten und alles vergessen. Das ganze verdammte Erlebnis einfach vergessen, aus meinem Gedächtnis streichen."
„Ist es ein extraterrestrisches Wesen?"
„Ja", nickt er.
„Ist es uns feindlich gesinnt?"
„Ja", sagte er. „Nein. Beides trifft zu. Aber überwiegend ist es uns feindlich gesinnt."
„Dann müssen wir... "
„Geh nach Hause", forderte er sie auf, „und lege dich schlafen." Nachdenklich sah er sie an; lange Zeit hatte er dagesessen und über vieles nachgedacht. Über sehr vieles. „Bist du verheiratet?" wollte er wissen.
„Nein. Nicht mehr. Früher schon."
„Dann bleibe heute nacht bei mir", bat er. „Zumindest den Rest dieser Nacht. Bis die Sonne aufgeht." Er fügte hinzu: „In der Nacht ist es schrecklich."
„Ich werde bei dir bleiben", versprach Tanya und löste den Gürtel ihres Regenmantels, „aber du mußt mir noch einige Fragen beantworten."
„Was meinte Dryden", murmelte Chien, „als er sagte, daß die Musik zum Himmel steigen wird? Ich verstehe das nicht. Was hat Musik mit dem Himmel zu tun?"
„Die himmlische Ordnung des Universums endet dann", entgegnete sie, während sie ihren Regenmantel in den Schlafzimmerschrank hing. Sie trug jetzt einen orange gestreiften Pullover und Stretchhosen.
„Und ist das schlimm?" fragte er.
Sie schwieg nachdenklich. „Ich weiß es nicht. Vermutlich schon."
„Damit traut man der Musik sehr viel Macht zu", bemerkte er.
„Nun, du weißt doch, was der alte Pythagoras von der ,Sphärenmusik' gehalten hat." Sie setzte sich auf das Bett und streifte ihre sandalenartigen Schuhe ab.
„Du glaubst daran?" fragte er. „Glaubst du auch an Gott?"
„Gott!" Sie lachte. „Seit Erfindung der Eisenbahn ergibt dieser Begriff keinen Sinn mehr. Was meinst du denn genau? Gott - oder Gott?" Sie trat dicht an ihn heran und starrte ihm ins Gesicht.
„Schau mich nicht so an", verlangte er scharf, wich zurück. „Ich möchte nie wieder so angesehen werden." Irritiert entfernte er sich von ihr.
„Ich denke", erklärte Tanya, „daß, wenn es einen Gott gibt, Er sehr wenig Interesse an unseren menschlichen Angelegenheiten hat. Das ist meine Theorie. Ich meine, Er scheint sich nicht darum zu kümmern, ob nun das Böse triumphiert oder ob Menschen und Tiere verletzt und getötet werden. Nirgendwo ist etwas von Ihm zu sehen. Und die Partei hat schon immer jede Form von Glauben abgelehnt... "
„Hast du Ihn jemals gesehen?" fragte er. „Als du noch ein Kind warst?"
„Oh, natürlich, als Kind schon. Aber ich habe ebenfalls geglaubt, daß... "
„Ist dir schon jemals der Gedanke gekommen", unterbrach Chien, „daß gut und böse Bezeichnungen für das gleiche Ding sein können? Daß Gott gleichzeitig gut und böse sein kann?"
„Ich werde dir einen Drink mixen", erklärte Tanya und eilte barfüßig in die Küche.
„Der Zerstörer", sagte Chien. „Der Klapperer. Der Schlinger und der Vogel und die Kletterröhre... und die anderen
Bezeichnungen, die anderen Gestalten, die ich nicht kenne. Ich hatte eine Halluzination. Während des Festes. Eine große, umfassende, entsetzliche Halluzination."
„Aber das Stelazin..."
„Es hat eine noch schlimmere hervorgerufen", bemerkte er.
„Gibt es irgendeine Möglichkeit", fragte Tanya nüchtern, „dieses Ding, das du gesehen hast, zu bekämpfen? Diese Erscheinung, die du als Halluzination bezeichnest, die aber offensichtlich keine war?"
„Man muß daran glauben", erklärte er.
„Und was wird das nützen?"
„Nichts", murmelte er müde. „Überhaupt nichts. Ich bin erschöpft; ich möchte keinen Drink - ich möchte nur zu Bett gehen."
„In Ordnung." Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und zog ihren gestreiften Pullover über den Kopf. „Wir können später noch einmal darüber diskutieren."
„Eine Halluzination", sagte Chien, „ist etwas Wunderbares. Ich wünschte, ich hätte eine; ich will meine zurückhaben. Ich möchte so sein wie damals, bevor dieser Hausierer mir das Phenothiazin gab."
„Komm ins Bett. Es wird schön werden. Hier ist es warm und gemütlich."
Er legte seine Krawatte ab, sein Hemd - und entdeckte an seiner rechten Schulter das Zeichen, das Stigma, das zurückgeblieben war, nachdem es ihn vom Sturz in den Jangtse abgehalten hatte. Blutunterlaufene Stellen, die aussahen, als würden sie niemals wieder verschwinden. Er zog die Schlafanzugjacke an, und sie verbarg die Wundmale.
„Jedenfalls", bemerkte Tanya, als er sich zu ihr ins Bett legte, „ist deine Karriere dadurch sehr gefördert worden. Bist du nicht froh darüber?"
„Gewiß", sagte er und nickte knapp in die Dunkelheit hin
ein. „Sehr froh."
„Komm zu mir", sagte Tanya und legte ihre Arme um ihn. „Und vergiß alles andere. Zumindest für kurze Zeit."
Er zog sie an sich und tat das, was sie und er gewollt hatten. Sie war geschickt; sie war einfühlsam; sie war erfahren und sie half ihm, wie er ihr half. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sie schließlich „Oh!" sagte. Und sich dann entspannte.
„Ich wünschte", sagte er, „wir könnten ewig weitermachen."
„Wir können es", erklärte Tanya. „Es liegt außerhalb der Zeit; es ist grenzenlos wie ein Ozean. So war es damals im Kambrium, bevor unsere Vorfahren sich ans Land begaben; es ist die uralte ewige See. Und dies ist die einzige Möglichkeit, dorthin zurückzukehren. Darum bedeutet es auch soviel. Und in diesen Zeitaltern waren wir nicht voneinander getrennt; es war wie eine einzige weiche Masse, wie jene Quallen, die an den Strand gespült werden."
„An den Strand gespült", nickte er, „wo sie dann sterben."
„Kannst du mir ein Handtuch geben?" fragte Tanya. „Oder einen Waschlappen? Ich brauche es."
Er ging ins Badezimmer, um ihr ein Handtuch zu holen. Und dort - nackt wie er war - betrachtete er erneut seine Schulter, jene Stelle, wo es ihn festgehalten und zurückgeholt hatte, um noch etwas länger mit ihm spielen zu können.
Unerklärlicherweise bluteten die Wundmale.
Er wischte das Blut fort. Sofort quoll neues hervor, und als er das sah, fragte er sich, wieviel Zeit ihm noch bleiben mochte.
Vermutlich nur noch wenige Stunden.
Er kehrte ins Bett zurück und fragte: „Kannst du noch weitermachen?"
„Natürlich. Das hängt von dir ab; wenn du noch genug Energie übrig hast." Sie lag da und sah ihn an, ohne zu blin
zeln. Nur undeutlich war sie in der Dunkelheit zu erkennen. „Komm", sagte er. Und zog sie an sich.