Rums. Raistlin, Flint und Tanis landeten ineinander verknäult auf dem Boden eines kleinen, rechteckigen, nichtssagenden Raums mit gekalkten Wänden. Obwohl erst Sekunden verstrichen waren, seit sie von der Klippe gesprungen waren, hatte die Zeit während ihres Falls scheinbar angehalten und sich gedehnt. Alle drei fanden sich atemlos, benommen und orientierungslos wieder. Flint war der erste der Gefährten, der taumelnd auf die Beine kam, gefolgt von dem Halbelfen und dem jungen Zauberer.
Kein Fenster, keine Luke unterbrach die glatten Steinmauern und die Decke des Raums, in dem sie sich befanden. Der einzige Zugang schien eine dicke Eichentür zu sein. Obwohl er durch das Erlebnis der Reise durch das Portal immer noch sprachlos war, kroch Tanis hin und drückte sein Ohr an die Tür, konnte jedoch nichts hören.
In der Mitte des Raums stand sein einziger interessanter Einrichtungsgegenstand, ein riesiges, vergoldetes, ovales Stück Glas. Es war glänzend und verlockend wie ein Spiegel, und doch war es kein Spiegel. Das Oval lag auf einem Holzpodest, das in einem scharfen Winkel hochgelehnt war. An seinem breitesten Punkt bog sich die reflektierende Oberfläche des Ovals zu einer weiten Vertiefung, die in der Mitte von einem haarfeinen Schlitz unterbrochen wurde.
Mit dem schwarzen Edelstein, den die Ogerin ihm gegeben hatte, näherte sich Raistlin dem Oval. Er umklammerte das Amulett fest. Dann murmelte er einen obskuren Spruch, dem ein einfacher Befehl folgte: »Tor schließen.«
Die Oberfläche bewegte sich fast unmerklich wie ein Augenzwinkern. Der haarfeine Ritz verschwand. Raistlin nahm das Amulett ab, wickelte es in ein Tuch und steckte es in eine der Falten seines Umhangs.
»Natürlich bin ich dankbar, daß wir nicht auf diesen Felsen zerschmettert sind«, sagte Flint, »aber wo sind wir?«
Raistlin, der damit beschäftigt war, das Amulett zu verbergen, sagte nichts. Tanis war an der Tür aufgestanden und zog vergeblich an der stählernen Klinke.
»Abgeschlossen«, sagte Tanis.
»Hab’ ich eigentlich erwartet«, sagte Raistlin.
»Fest versiegelt«, fuhr Tanis fort, der sich hingehockt hatte und durch das Schlüsselloch spähte. »Kein Luftzug. Ich kann nichts weiter sehen als einen dunklen Gang und ein paar Türen.«
»Innen oder außen?« wollte Flint wissen, der dazu kam.
»Was?« fragte Tanis.
»Ist die Tür von innen oder außen verschlossen?«
»Ja, natürlich von außen, oder?« fragte Tanis verwirrt.
»Sei dir da nicht so sicher«, warnte Raistlin, der herüber kam, um sich die Tür anzusehen. Er lehnte sich an die Wand und schüttelte den Kopf, damit er wieder klar würde. Flint und Tanis wechselten Blicke. »Mir scheint, ich bin noch etwas wacklig auf den Beinen«, erklärte der junge Magier.
»Es ist von innen abgeschlossen«, erklärte Flint bestimmt, nachdem er sich den Mechanismus des Schlosses gründlich angesehen hatte.
»Wie kann es von innen abgeschlossen sein? Das ist doch völlig unlogisch.«
Doch Flint achtete nicht länger auf Tanis. Er hatte eines seiner langen, dünnen Messer und eine Nähnadel herausgeholt und pulte in dem Schloß herum. Der kleine Zwerg mußte sich nicht weit bücken, um genau zu sehen, was er tat. Minutenlang sagte keiner ein Wort, während er mit seinen Möchtegerndietrichen an dem Schloß herumfummelte.
»Wie schade, daß Tolpan nicht bei uns ist«, sagte Tanis. Er lächelte, als ihm aufging, daß er den Kender tatsächlich vermißte. »Der würde mit dem Schloß kurzen Prozeß machen.«
Flint hielt inne und sah den Halbelfen an. »Dieser Türknauf von Kender würde so lange brauchen, dir davon zu erzählen, wie Onkel Fallenspringer einmal in einer ähnlichen Lage war, daß er ganz vergessen würde, was er machen soll.« Der Zwerg widmete sich wieder seiner Aufgabe.
Flint grunzte zufrieden, als er das Klicken hörte, auf das er gewartet hatte. Er stieß die Nähnadel nach oben. Die Tür ging einen winzigen Spalt auf. »Ganz zu schweigen von dem Umstand, daß Tolpan der Grund ist, warum wir uns überhaupt in diesem Räum verfrachtet haben!« fügte Flint selbstgerecht hinzu.
Raistlin stand auf. Er hatte sich erholt. »Vorsicht«, warnte der junge Zauberer, bevor er die Tür aufmachte und hinausschlüpfte.
Tanis folgte ihm rasch.
»Wartet auf mich!!« schrie Flint, der eilig sein Werkzeug einsteckte und hinterherlief.
Das Licht in dem verschlossenen Raum war schwach gewesen, doch der Gang tauchte sie beinahe in totale Schwärze. Von einem Ende des Gangs winkte ein helles Viereck – ein Fenster. Raistlin lief hin, um hinauszusehen.
Tanis und Flint drängten sich gleich hinter den jungen Zauberer, um ihm über die Schulter zu schauen.
Was sie sahen, war eine grenzenlose, blauschwarze See mit aufgewühltem Wasser. Die Küstenlinie war unregelmäßig, stellenweise mit Sandstränden. An anderen Stellen brach das Wasser gegen scharfgezackte Felsen und eindrucksvolle Klippen.
Ihr Aussichtspunkt lag im höchsten Turm einer Burg auf der Spitze eines steilen Hügels. Eine staubige Straße schlängelte sich zum Horizont. Es war nicht zu übersehen, daß die Straße von Körpern und Skeletten gesäumt war, die auf Piken aufgespießt waren. Auf der aufgerissenen, ausgedörrten Erde daneben wuchsen struppige Büsche und ein paar verkrüppelte Bäume.
Direkt unter dem Turm hütete ein Wachhäuschen mit einem Fallgitter die eine Seite einer Brücke, die sich über einem tiefen Graben spannte. Tanis und die anderen sahen, daß Riesenbären durch den Graben wanderten. Auf den Toren standen Wachen. Allerdings keine menschlichen Wachen, wie Tanis feststellte.
Die großen, tierähnlichen Geschöpfe mit ihren harten Muskeln hatten platte Nasen, spitze Ohren und perlenartige, runde Augen. Lange, ungepflegte Haare fielen ihnen von den Schultern. Sie trugen Tierhäute und Pelzumhänge, dazu Krummsäbel und Speere.
Oger.
Eine der Ogerwachen drehte sich müßig um und blickte in ihre Richtung.
Schnell duckten sie sich vom Fenster weg.
»Das Orakel hatte recht«, zischte Raistlin seinen Gefährten mit gedämpfter Stimme zu, obwohl sie sich gut außer Hörweite der Ogerwachen befanden. »Das ist die Küste des Blutmeers. Wir sind in Ogerstadt, in einem Turm oben in der Burg. Irgendwie müssen wir hier rauskommen, aber das bedeutet, daß wir kämpfen oder eine kleine Armee von Ogern, ihren Sklaven und bösen Geistern umgehen müssen.«
»Großartig«, murmelte Flint.
»Laß mich vorgehen«, sagte Tanis schnell, der aufstand und wieder den Gang hinunter schritt. Er drehte sich um und winkte. »Kommt, wir suchen einen Weg nach unten.«
»Ich geh’ als zweiter«, sagte Raistlin, der ihm folgte.
»Da mach’ ich doch gern die Nachhut«, grummelte Flint.
Als Raistlin an dem Raum vorbeikam, aus dem sie gekommen waren, nahm er sich die Zeit, die Tür fest zuzumachen und die Klinke zu überprüfen.
Vor ihnen führte eine schmale Wendeltreppe nach unten. Mit der einen Hand an der kalten, modrigen Wand entlanggleitend – die andere lag für alle Fälle am Griff seines Dolches –, ging Tanis langsam die Stufen hinunter. Raistlin legte Tanis die Hand auf die Schulter und folgte ihm. Flint tat dasselbe bei Raistlin.
Mehrere Minuten liefen sie treppab, bis sie einen großen Absatz erreichten, von dem drei Gänge abzweigten, jeder offenbar zu einigen Räumen oder zumindest mehreren Türen. Gedämpfte Geräusche und Stimmen drangen von weiter unten zu den Gefährten herauf. Tageslicht erhellte die Gänge, die zur Zeit unbelebt erschienen.
Flint stieß vorsichtig eine Tür auf, hinter der ein großer, schmuckloser Raum lag. Der Raum enthielt ein einfaches Bett, einen Tisch, eine Truhe und einen Schrank. In dem Bett hatte offenbar kürzlich jemand geschlafen – wahrscheinlich letzte Nacht –, doch das Zimmer war leer. Nach der Stille zu urteilen, die überall vorherrschte, war das mit den anderen Räumen genauso.
»Ich vermute«, sagte Raistlin, der sie zurück in den Gang führte, »daß das hier Gästezimmer sind. Es dürfte später Nachmittag sein. Wenn es zur Zeit Besucher gibt, sind die anderweitig beschäftigt; wir sind also sicher, bis sie zurückkommen.«
»Großartig«, murrte Flint. »Wir müssen also nur auf den Abend warten und uns dann den Oger aussuchen, dessen Bett wir teilen wollen.«
»Oder uns hier rauskämpfen«, sagte Tanis vorschnell.
Im gleichen Moment hörten alle drei ein Schlurfen am anderen Ende des Gangs. Bevor einer von ihnen reagieren konnte, sahen sie aus einem der Zimmer jemanden kommen, der etwas auf den Boden stellte. Sie purzelten fast übereinander, als sie sich in das leere Gästezimmer zurückdrängten.
»Pst!« sagte Tanis zu Flint, als sie gegeneinander liefen. Raistlin zog hinter ihnen die Tür zu.
»Was nun?« flüsterte Flint.
Raistlin schlich zum Fenster, achtete aber darauf, nicht gesehen zu werden. Im Westen sah er trockenes Land, das von welkem Gras und absterbenden Blumen gesprenkelt war. Weit hinten erhoben sich steile Hügel, die von dunklem Wald bedeckt waren.
Die Burg hing an der Seite eines zerklüfteten, felsigen Abhangs. Ogerwachen patroullierten die inneren und äußeren Mauern.
»Diese Gestalt am Ende des Gangs war bloß eine Putzfrau«, sagte Tanis reumütig zu Flint. Er massierte seinen Fuß, auf den Flint in der Eile versehentlich getreten war.
»Woher weißt du das?« fauchte Flint. Er setzte sich auf das Bett.
Tanis deutete auf seine Augen und sagte mit der Andeutung eines Lächeln: »Elfenaugen.«
Flint stieß einen Schwall von Verwünschungen aus.
Bevor er damit fertig war, ging die Tür weit auf. Eine kleine gedrungene Gestalt stand auf der Schwelle. Von hinten wurde sie von hellem Tageslicht beschienen. Augenblicklich warf sich Tanis auf die Gestalt, nur um von einem Mopgriff fest gegen das Kinn gestoßen zu werden. Flint, der einen Schritt hinter dem Halbelfen war, schlang seine Arme um den Kopf des Eindringlings. Er wurde in die Hand gebissen und zurückgeschleudert. Raistlin ging vom Fenster weg und trat in die Mitte des Raums.
Die Gestalt kam ins Zimmer. Sie schwenkte einen Mop und sah sie finster an.
Sowohl Tanis als auch Flint wichen noch ein paar Schritte weiter zurück. Flint sank aufs Bett. Weil Raistlin plötzlich das Absurde dieser Situation aufging, begann er zu kichern. Der Eindringling war wirklich eine Putzfrau – mit dicken Muskelsträngen, einer schweineähnlichen Schnauze und langen, strähnigen, braunen Haaren. Doch ihre Stimme klang scharf und klug.
»Jetzt sagt mir, wer ihr seid und was ihr hier macht, und zwar schnell. Wenn eure Geschichte mich nicht überzeugt, ziert ihr morgen früh schon einen Ogerspeer!«
Tanis tastete nach seinem Schwert. Flint rieb sich die Hand. Beide waren entsetzt, einer Halbogerin zu begegnen, einer gemischtrassigen Frau, wie sie keiner von ihnen auf all ihren langen Reisen je gesehen hatte. Obwohl sie zweifellos gefährlich aussah, funkelte in den Augen der Frau dennoch ein fröhliches Licht. Nach zivilisiertem Maßstab war sie häßlich und tierhaft, doch sie trug einen ordentlichen Lederrock und wirkte einigermaßen gepflegt.
Als Tanis über die Schulter zu Raistlin schaute, konnte die Halbogerin einen besseren Blick auf Flint werfen. Sie quietschte vor Freude und stieß den erstaunten Halbelfen zur Seite.
Die Halbogerin brachte ihr Gesicht direkt vor Flints. Er lehnte sich verblüfft und – um die Wahrheit zu sagen – etwas eingeschüchtert zurück. Ihr Atem traf ihn wie ein heißer Wind. »Hach! Ein Zwerg! Ich hab’ noch nie einen gesehen – lebend, meine ich! Klar, ich sehe jede Menge Zwergenskelette und Knochen, aber das ist ja nicht dasselbe wie ein lebender.«
Die Halbogerin griff mit ihren breiten Händen nach vorn und berührte den langen Vollbart des Zwergs. »Hach, was für ein hübscher Bart!«
Flint machte ein finsteres Gesicht. Hilfesuchend verdrehten sich seine Augen in Richtung Tanis und Raistlin.
Die Halbogerin fuhr herum und sah die beiden anderen Gefährten an, worauf sie einen dicken Finger an ihre fleischigen Lippen legte. »Der Häuptling sollte nichts davon erfahren. Er würde den Zwerg auf der Stelle töten, und dann müßte ich dieses Zimmer zehnmal oder zwanzigmal saubermachen, bis der Gestank raus ist.« Höflich nickte sie Flint zu.
»Entschuldige bitte, wenn ich das sage. Und dann würde er sein Herz zum Frühstück verspeisen.«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Wahrscheinlich würde er die Innereien den anderen geben, aber das Herz wäre für ihn, ganz sicher. Der Kopf würde natürlich an einer weithin sichtbaren Stelle auf einem Speer stecken.« Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge.
Flint erbleichte.
»So ein hübscher Zwerg.« Wieder blickte sie ihn augenklimpernd an. »Ich weiß nicht, aber ich finde ihn einfach hinreißend.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. Verschwörerisch sah sie Tanis und Raistlin an. »Aber wir müssen aufpassen, daß er nicht gesehen wird, sonst ist er auf jeden Fall tot.«
Flint machte den Mund auf, aber Raistlin trat vor und legte der Putzfrau den Arm um die Schultern. »Dann kannst du ihm – uns – helfen, aus Ogerstadt zu entkommen?«
Die Halbogerin kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, ich könnte… und ich glaube, ich würde. Ich mag diese Oger nämlich nicht besonders, wißt ihr. Ich bin ihre Sklavin, seit sie damals meinen Vater umgebracht haben, einen armen Bauern. Mich haben sie nur verschont, damit ich für sie putzen kann. Und eins will ich euch sagen, für so einen Haufen Rüpel sind diese Oger erstaunlich eigen, was die Sauberkeit angeht. Ich gehöre natürlich nicht zu ihnen. Ich bin nur zur Hälfte Oger. Mein Name ist Kirsig. Wie heißt ihr?«
Raistlin stellte alle der Reihe nach vor, obwohl sich Kirsig hauptsächlich für Flint zu interessieren schien. »Flint Feuerschmied«, sann sie mit leuchtenden Augen.
Es war eines der wenigen Male in seinem Leben, daß Flint sich hilflos vorkam. Verzweifelt sah er zu Tanis, aber der Halbelf zuckte nur mit den Schultern.
»Und könntest du uns helfen, ein Boot zu finden, das uns über das Blutmeer bringt?« fragte Raistlin.
Wie ein kleines Mädchen klatschte Kirsig in die Hände. »Das Blutmeer! Hach, ihr seid aber eine wagemutige Truppe, ich seh’ schon! Warum wollt ihr denn über das Blutmeer? Das ist eine furchtbar riskante Reise. Ihr müßt am Mahlstrom entlang und wirklich seefest sein. Ihr braucht einen kühnen, erfahrenen Kapitän, und der wird ganz sicher einiges dafür verlangen.«
»Wir zahlen soviel, wie wir können«, antwortete Tanis vorsichtig. »Kennst du so einen Kapitän?«
»Wenn ich ihn finde«, erwiderte Kirsig bescheiden. Ihr Gesicht war voller Geheimnistuerei. »Aber«, sie hielt inne, »ich kann die Burg erst nach Mitternacht verlassen, wenn ich meine Arbeit gemacht habe. Ihr könnt hierbleiben, aber ihr müßt vorsichtig sein. Der Häuptling, seine Leute, die Legion, die die Burg bewacht… jeder von ihnen kann hier aufkreuzen. Sie kommen leicht durcheinander, wißt ihr«, sagte sie mit verschwörerischem Zwinkern, »und wandern manchmal durch die Burg, weil sie ihre Waffen oder ihre Schuhe suchen.
Heute nacht empfängt der Häuptling einige Gesandte aus dem Viperntal. Ihr dürft keinen Mucks machen, bis jeder in der Burg schläft. Wenn ihr entkommt«, sie berichtigte sich, »sobald ihr entkommt, müßt ihr euch verstecken, bis ich den Kapitän gefunden und alles ausgemacht habe.«
»Bist du sicher…?« fragte Raistlin zögernd.
Kirsig lachte herzlich. »Oh, keine Bange. Der ist fähig, mehr als fähig.«
»Wie – wie sollen wir entkommen?« stammelte Flint. Er wollte ihre Aufmerksamkeit eigentlich lieber nicht auf sich ziehen, doch die Frage lastete auf seiner Seele. Kirsig drehte sich um und blickte ihn verzückt an. Als Flint zurückstarrte, streckte sie die Hand aus und streichelte seinen Bart.
»Ja, entkommen!« sagte sie aufgeregt. »Das ist das Problem, und wir werden es lösen. Wir werden diesen dummen Ogern eine Lektion erteilen.« Sie senkte die Stimme und winkte Raistlin und Tanis heran. »Aber es gibt nur zwei Wege aus Ogerstadt. Entweder ihr seid tot – das ist der sicherste Weg – oder – « Sie zögerte.
Die schwätzt mehr als Tolpan, dachte Flint.
»Ja?« drängte Tanis.
»Der andere«, flüsterte Kirsig, »ist noch schlimmer.«Sie mußten sich schnell beratschlagen, denn die Zeit drängte, und Kirsig würde vermißt werden, wenn sie ihrer Arbeit allzulang fern blieb.
Raistlin erzählte Kirsig von ihrer Aufgabe. Der junge Magier erklärte, daß sein Bruder, Sturm und Tolpan vermißt waren, und erzählte ihr sogar von dem Portal, durch das sie hierher gelangt waren. Kirsig machte große Augen, als er die Minotaurischen Inseln erwähnte. Sie war noch nie über das Blutmeer gefahren, das sie nur aus vielen Sagen kannte, und war noch nie woanders gewesen als im Ogerland. Aber vor kurzem waren, wie sie Raistlin berichtete, ein paar Stiermenschen in Ogerstadt gewesen und hatten mit dem Häuptling verhandelt.
»Worüber?« wollte Raistlin wissen, der sichtlich neugierig war.
»Was weiß ich?« meinte Kirsig. »Ich bin nicht der Hüter aller Geheimnisse hier. Ich kann euch bloß sagen, daß diese Minotauren furchtbar stinken und ihre Zimmer in einem abscheulichen Zustand hinterlassen. Dreckige Kühe!« Sie spuckte aus. Der Speichel landete neben Tanis’ Füßen. Der Halbelf machte diplomatisch einen Schritt nach hinten.
Wenn sie sich nicht durch das Haupttor nach draußen kämpfen wollten, gab es Kirsig zufolge nur einen einzigen Ausweg aus Ogerstadt: den Abwasserkanal. Wenn sie Glück hatten, sagte Kirsig, würden ihr Auftauchen und ihre Flucht geheim bleiben. Keiner würde auch nur vermuten, daß Fremde in der Burg gewesen waren.
Tanis verzog das Gesicht beim Gedanken an den Abwasserkanal.
»Weiter«, drängte Raistlin, der spürte, daß Kirsig noch mehr zu sagen hatte.
»Ich kippe alles Wischwasser und den Abfall und Schlimmeres da rein, wenn ihr wißt, was ich meine. Ich weiß, wo der Tunnel herauskommt, unten an der Bucht, wo die Wachen euch nicht sehen können. Das einzige ist – « wieder zögerte sie.
»Was?« forderte Tanis.
»Im Kanal spukt es. Geister und Ghule. Sagt jeder. Es ist gefährlich, dort hindurch zu gehen. Ihr könntet umkommen.«
»Das Risiko nehmen wir in Kauf«, sagte Raistlin schnell.
»Dann bleibt hier im Zimmer und verhaltet euch still«, sagte Kirsig, die ihrerseits jeden von ihnen streng anblickte. »Ich bin gleich nach Mitternacht zurück. Bis dahin sind die meisten innerhalb der Burg sternhagelvoll oder schon im Land der Träume. Hier seid ihr sicher, aber steckt eure Nasen nicht aus der Tür.«
Sie warf einen letzten, wohlwollenden Blick auf Flint, während sie langsam und zurückhaltend ihre Finger von seinem graugefleckten Bart nahm. »So ein hübscher Zwerg«, sagte Kirsig, ehe sie ihren Eimer und den Mop nahm. Sie machte die Tür einen Spaltbreit auf, spähte nach draußen und schlüpfte dann ohne weitere Worte hinaus.
Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wartete Tanis noch etwas, bis er Raistlin zuflüsterte: »Glaubst du, wir können ihr trauen?«
Der junge Magier ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Er nickte.
Tanis schien zufrieden.
»Aber – «, begann Flint zaghaft.
Die beiden Gefährten warfen ihm einen amüsierten Blick zu. »Ganz sicher würde sie ihren besonderen, neuen Freund nicht verraten«, sagte Tanis.
Flint runzelte die Stirn, lief knallrot an und sagte nichts mehr. Als es dunkel wurde, hörten die drei Gefährten laute Geräusche von den unteren Stockwerken, rauhe Stimmen, die sich lachend und rufend erhoben, einen Schwall Flüche, der in Tumult überging und dann in einem Ogergesang mündete:
»Eisenhaken, Eispickel, Feuerpeitsche, hah!
Reißt auf das Herz, ob Freund, ob Feind,
Blut in den Augen – ja!
Oger allesamt!«
So und mit ähnlichen Sprechgesängen ging es weiter bis lange nach Mondenaufgang, und Tanis befürchtete schon, daß der Trubel die ganze Nacht andauern könnte.
Schließlich hallten laute Tritte von schweren Füßen durch die Gänge, gefolgt von Schubsen und Streiten. Waffen und schwere Ausrüstung fielen auf den Boden, und endlich herrschte weitgehend Ruhe, die von tiefem Schnarchen unterbrochen wurde. Vom einzigen Fenster des Raums aus beobachtete Tanis den Wachwechsel auf den Zinnen.
Schließlich hörten die drei leise Schritte. Die Tür ging auf, und Kirsig trat herein.
»Folgt mir«, grunzte die Halbogerin und winkte sie heran.
Immer im Schatten folgten sie ihr drei Treppen hinunter. Überall hörten sie das Stöhnen und Schnaufen schlafender Oger. Durch halb offene Türen konnten sie Füße sehen, die gegen die Bettpfosten gestemmt waren, und hin und wieder das Glitzern von Metall an Wandhaken. Aber keiner hielt sie auf. Sicherheitshalber hatten Flint und Tanis die Hand an die Waffen gelegt.
Im Erdgeschoß mußten die drei Gefährten einen weiten Saal mit hoher Decke durchqueren, wo die Reste des abendlichen Festmahls – umgeworfene Kelche, abgenagte Knochen und ähnliches – auf dem riesigen Eichentisch und dem Steinboden herumlagen. Die Wände waren mit detailgetreuen Wandteppichen von bluttriefenden Schlachten behängt. Das Feuer war erloschen. Nur noch glühende Kohlen glimmten vor sich hin.
Ein Thron auf einem Podest beherrschte ein Ende des Raumes, und auf diesem Thron hing ein riesiger, muskulöser, gelbbrauner Oger, der die Füße über eine Armlehne streckte. Er war sinnlos betrunken und schlief. Seine fleckige Haut war von Beulen und Blutergüssen übersät. Er schnarchte mit offener Schnauze. Ein dickes Silberband, das mit grünen Edelsteinen verziert war, lag als einziges Zeichen seines Status fest um seine Stirn.
»Arrast, der Häuptling«, flüsterte Kirsig, die auf ihn deutete. »Keine Bange. Der hat soviel Grog getrunken, daß er bis morgen früh nichts mehr mitkriegt.«
Als ob er gehört hätte, daß es um ihn ging, regte sich Arrast und drehte sich auf die Seite. Er hob kurz den Kopf, stieß ein rauhes Bellen aus und schnarchte weiter.
Da Flint nach Kirsigs vorherigen Worten noch etwas verunsichert war, eilte er rasch an dem schlafenden Häuptling von Ogerstadt vorbei.
Am anderen Ende des riesigen Raums bedeckte ein viereckiges Gitter eine tiefe, dunkle Grube, die in den Boden eingelassen war. Obwohl Flint hinunterspähte, konnte er nichts sehen. Von tief unten drangen schmatzende und kratzende Geräusche nach oben. Der faulige Gestank, der heraufwehte, reichte aus, den Zwerg kurz aus dem Gleichgewicht zu bringen.
»Spielegrube«, sagte Kirsig, die ihn am Ellenbogen festhielt.
»Schwarze Weiden«, sagte Raistlin ernst.
Tanis nickte.
»Ja«, stimmte Flint zu, obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, was »schwarze Weiden« waren, und als er an der dunklen Grube vorbeilief, sagte er sich, daß er kein Bedürfnis hatte, es herauszufinden.
Durch einen kleinen Torbogen kamen sie zu einer schmalen Steintreppe, die sie auf eine tiefere Ebene führte. Das war der Kerker, wie man an dem feuchten Rottegestank merkte, der Mischung aus Knochen und zerbrochenen Waffen und den Strohhaufen, die von den getrockneten Blutstreifen verfärbt waren. An den Wänden hingen flackernde Fackeln, die mattes Licht spendeten.
Kirsig zeigte nach vorn. Tanis und Raistlin folgten Kirsig dichtauf, während Flint mit etwas Abstand hinterher stapfte. Sie betraten einen großen, nach Schimmel stinkenden Raum. Zwei dunkle Gänge mit Zellen an den Seiten gingen nach rechts und links ab. Selbst zu dieser Stunde drang schwaches Stöhnen und Jammern aus den Zellen, denn der Schlaf der Bewohner wurde von den übelsten Alpträumen gestört.
»Ich wünschte, wir könnten den armen Teufeln irgendwie helfen«, flüsterte Tanis Raistlin zu.
»Erstmal müssen wir uns selber retten«, entgegnete Raistlin.
»Da!« sagte Kirsig, die auf ein großes Loch in der hintersten Ecke des Raumes zeigte.
Sie eilten hin. Obwohl Tanis und Flint das große Gitter über dem Loch leicht lösen konnten, hatten sie Schwierigkeiten, es beiseite zu heben. Kirsig und sogar Raistlin bückten sich, um zu helfen. Schließlich bewegte sich das Gitter und sie konnten es fortschieben.
Als Kirsig sich aufrichtete, sah sie sich Auge in Auge einem vierschrötigen, orangebraunen Ogerwächter gegenüber, der gleich darauf den Mund aufriß und etwas in einer Sprache schrie, die keiner der drei Gefährten aus Solace verstand.
Sie verstanden nur das Wort »Kirsig« und konnten sich den Rest des offensichtlich feindseligen Inhalts denken.
Tanis stürzte sich mit erhobenem Schwert auf die Kreatur, doch die Ogerwache war doppelt so groß wie er und trotz ihres Aussehens nicht langsam von Begriff. Die Ogerwache riß den Arm hoch in die Luft und schlug das Schwert beiseite, wodurch Tanis gegen die Wand flog und betäubt liegenblieb. Flint versuchte, mit seinem Messer nach dem Oger zu stechen, doch dessen Reichweite war groß, und vor allem führte er eine dicke Dornenkeule. Der Oger schwang die Keule hoch und dann wieder herunter. Er zielte auf Flints Kopf. Der Zwerg duckte sich zur Seite, doch die Keule traf ihn an der Schulter und warf ihn zu Boden.
Mit maskenhaftem Gesicht ging Raistlin einen Schritt zurück. Er begann, mit leiser Stimme zu sprechen, während er besorgt in seinen Beutel nach den Zutaten tastete, die er für seinen Spruch brauchte.
Der Oger bemerkte den jungen Magier und näherte sich vorsichtig. Seine gelben Augen funkelten, und die fleckige Zunge schoß zwischen den scharfen, geschwärzten Zähnen hervor. Mit seiner Klauenhand griff er nach Raistlin.
Plötzlich verdrehten sich die Augen des Ogers, und er kippte nach vorn. Raistlin mußte aus dem Weg springen, sonst wäre er zermalmt worden. Aus dem Rücken des Ogers ragte ein langer, dünner Dolch, von dem schwarzes Blut heruntertröpfelte.
Raistlin starrte auf den Dolch. Flint und Tanis rappelten sich benommen auf und sahen die unberechenbare Kirsig an.
»Ich habe immer einen parat«, sagte die Halbogerin stolz und gleichermaßen schüchtern. Sie setzte einen Fuß auf den Rücken des Ogers, zog den Dolch heraus, wischte ihn sauber und steckte ihn wieder in ihren Lederrock. »Würdet ihr auch tun, wenn ihr in Ogerstadt arbeiten würdet und dauernd mit Ogern zu tun hättet!«
Tanis gratulierte ihr zu ihrer Tapferkeit.
In dem schwachen Licht war es schwer zu sagen, doch Kirsig schien zu erröten. »Keine Zeit für sowas«, sagte sie abwehrend. »Runter mit euch!«
Einer nach dem anderen ließen sich die drei Gefährten durch das Loch hinunter. Indem Kirsig den Speer des toten Ogers als Hebel benutzte, gelang es ihr, das Gitter wieder an seinen Platz zu schieben.
»Viel Glück!« rief Kirsig ihnen nach.
Allein zerrte sie den Körper der Ogerwache in eine Ecke und häufte eilig Stroh darüber, um ihn so gut wie möglich zu verbergen.In der faulig riechenden Flüssigkeit, in der sie sich wiederfanden, leuchteten in der Dunkelheit schimmernde, silbern- und purpurfarbene Streifen. Blubbernder Schaum, schwammige Kugeln und Teile von Dingen, die nach Krankheit und Tod stanken, dümpelten um sie herum. Aasfressende Fische schossen durch den Unrat, wobei ihre schuppigen Seiten die strampelnden Beine der Gefährten streiften. Eine Riesenschlange trieb mit dem Bauch nach oben im Kanal. Ein Teil ihres ungeheuer langen Leibes befand sich unter Wasser, doch zwei mannsgroße Beulen inmitten ihres weißen, aufgedunsenen Bauches schaukelten auf der Oberfläche.
Unheimliche Schreie aus der Ferne gellten durch den finsteren Tunnel. Uralte Leichen waren an Wandvorsprüngen hängengeblieben, wo ihre Knochen ein geisterhaftes Licht verströmten. Die Gefährten konnten die Ratten hören, aber nicht sehen; die Tiere rannten über den schmalen Sims, der an den Seiten des Tunnels entlang führte.
Tanis hielt Raistlin am Handgelenk fest. »Alles in Ordnung?« fragte der Halbelf seine beiden Freunde.
Flint zappelte auf der anderen Seite von Raistlin herum. Der Abwasserkanal war nur ungefähr sechs Fuß breit. Flints Füße konnten den unregelmäßigen, von Unrat übersäten Grund nur knapp erreichen. Daher mußte der Zwerg sich gelegentlich hochstoßen, um sein Kinn über dem schleimigen Wasser zu halten.
»Mir geht’s gut. Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte Raistlin gereizt.
Flint grunzte zur Antwort. Auch ihm ging es gut, falls man es gut nennen konnte, in einem schmierigen, scheußlichen Abwasserkanal fast zu ertrinken.
Der Abwasserstrom umfloß sie und zog sie in östliche Richtung, also Kirsig zufolge zur Küste des Blutmeers. Die Strömung riß sie mit überraschender Kraft mit. Sie hatten alle Hände voll zu tun, sich aneinander festzuhalten und über Wasser zu bleiben.
»Festhalten«,warnte Tanis, der seinen Griff um Raistlin verstärkte. »Der Kanal muß wohl ein Gefälle überwinden. Wir werden bestimmt noch schneller.«
Flint klammerte sich mit einer Hand an Raistlins Schulter fest, als die drei von der Strömung immer schneller und schneller davongetragen wurden. Schwindel und Entsetzen erfaßten die Gefährten. Sie wirbelten an allem möglichen Abfall und toten Wesen vorbei, die in Spalten steckten oder an vorstehenden Steinen festhingen.
Die Schreie , die sie vorher gehört hatten, wurden nun stärker und fast ohrenbetäubend. Der Tunnel führte um einen Winkel und sackte nach unten ab, so daß Tanis, Flint und Raistlin vorschnellten. Die Strömung legte noch mehr an Tempo zu, und sie wurden hin und hergeworfen.
Treibende Körper – manche Oger, manche zu aufgeschwemmt, um zu bestimmen, was da kam – stießen bei der schrecklichen Fahrt gegen sie.
Die entsetzlichen Schreie wurden zu Getöse, als der Tunnel um eine scharfe Ecke bog. Die Strömung ließ Flint gegen eine Steinwand prallen. Der Zwerg schrie auf vor Schmerz und umklammerte sein Bein. Raistlin gelang es, die Hand auszustrecken und ihn am Kragen zu packen.
Die drei wurden nach unten gewirbelt, wobei sie an einem gräßlich verunstalteten Wesen vorbeikamen, das sich an den Sims klammerte. Einstmals konnte es ein Mensch gewesen sein. Jetzt war es einer der Untoten. Eine lange Zunge zuckte nach ihnen und fuhr über Zähne, die scharf und unnatürlich verlängert waren. Die Nägel an den Händen waren zu rasiermesserscharfen Klauen geworden. Mit dem einen, gesprenkelten, vertrockneten Arm klammerte sich das Wesen an den Rand, mit dem anderen reckte es sich nach ihnen und machte mit der Klauenfaust eine ebenso drohende wie mitleiderregende Gebärde.
Tanis hob den Arm. Es gelang ihm, das Wesen abzuwehren, indem er den ausgestreckten Arm des Untoten beiseite stieß. Der öffnete seinen schmutzigen Mund und schrie auf die Gefährten ein, als diese an ihn vorbeischossen, ohne daß er sie erwischte.
Würgend vor Gestank und vor Schlamm wurden sie von der schnellen Strömung wie über Stromschnellen den dunklen, modrigen Tunnel herabgerissen. Nach einer scheinbaren Ewigkeit sausten Tanis, Flint und Raistlin schließlich in überraschend helles Mondlicht, das eine flache Bucht erhellte, die von Steinen, Schmutz und Müll gesäumt war.
Tanis half Raistlin auf die Beine. Arm in Arm taumelten sie an den Strand der Bucht hinauf, bis sie eine geschützte Stelle abseits der Kanalmündung erreichten. Flint war nirgends zu sehen. Nach einigen Minuten begann Tanis, sich zu sorgen, was aus Flint geworden war. Er machte sich auf den Rückweg und fand den alten Zwerg triefnaß, schlammbespritzt, wütend und mit wutverzerrtem Gesicht auf einem Stein sitzend vor.
»Was ist denn?« fragte Tanis erschöpft.
»Mein Bein«, keuchte Flint. »Ich kann es nicht belasten. Ich glaube, es ist gebrochen.«
Tanis untersuchte ihn sofort. Richtig, das rechte Bein war gebrochen. Es war bereits angeschwollen und wurde langsam blaurot.
Tanis warf sich den Zwerg, der sich ununterbrochen beklagte, über die Schultern und trug ihn aus der Bucht, um ihn sanft neben Raistlin zu setzen.
Obwohl der junge Magier sichtlich erschöpft war – sein Gesicht war verschmiert und von kleinen Schnitten übersät –, fand er in der Nähe einen abgebrochenen Ast, riß Streifen von seiner Robe ab und gab sich große Mühe, eine feste Schiene an Flints Bein anzulegen.
»Mein übliches Pech«, murrte Flint, der wimmerte, als Raistlin die Bandage festband.
»Wir hätten dich dem Lacedon überlassen sollen«, sagte der junge Magier mit ungewöhnlichem, trockenen Humor.
»Dem was?« fragte der Zwerg.
»Dem Ghul da drin«, sagte Tanis. Dreckbeschmiert lag er im Sand, doch er war viel zu erschöpft, um sich um sein Äußeres zu kümmern. »Kirsig hatte recht mit den Untoten im Tunnel.«
»Natürlich hätten sie dich tot lieber gemocht. Sie leben von Leichen, weißt du«, sagte Raistlin trocken, der mit der Schiene fertig war. Ohne Umschweife rollte er sich an einem Felsen zusammen und war im Nu eingeschlafen.
Flint grummelte etwas Unverständliches.
Ihre kleine Bucht wurde von einer Felsnase abgeschirmt. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont das dunkle, feindselige Blutmeer. Das Licht beider Monde, Lunitaris und Solinaris, betupfte das schwarze Wasser mit Silberflecken. Sie konnten nichts anderes hören als das ewige Rauschen und Grummeln der Brandung.
Stundenlang warteten Tanis und Flint zitternd auf Kirsig. Irgendwann fand Tanis, daß Flint lange nichts gesagt hatte. Als er hinschaute, erkannte er, daß der Zwerg, der mit seinen Kräften am Ende war, ebenfalls eingeschlafen war. Er lehnte an einem Felsen und streckte das gebrochene Bein lang vor sich aus. Seufzend richtete sich Tanis auf die Nachtwache ein.Etwa eine Stunde vor Morgendämmerung kam ein kleines Boot in Sicht, das sich seinen Weg durch die Bucht suchte. Auf einer der vorderen Bänke saß Kirsig, doch die Ruder betätigte jemand anderes. Tanis weckte Flint und Raistlin.
Als das Boot bei ihnen landete, sprang Kirsig heraus. Der Ruderer, ein großer, gut proportionierter, schwarzhäutiger Mann mit spiegelglatter Glatze, folgte ihr. Er trug nichts außer einem dicken Lendenschurz und hochgeschnürten Sandalen. Eine schöne Knochenkette hing um seinen muskulösen Hals, und ein kleines juwelenbesetztes Messer steckte in einer Schlaufe seines Gürtels.
»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, erklärte Kirsig hastig. »Ich mußte in die Stadt und Nugeter holen. Dann mußte ich meine Sachen packen…« Plötzlich hielt sie inne und riß die Augen auf. »Hach, was ist denn mit dem hübschen Zwerg passiert?«
Sie stürzte zu Flint, der an dem Felsen sitzen geblieben war. Dort kniete sie sich hin und untersuchte sorgfältig sein Bein. Der Zwerg runzelte die Stirn.
Der, den sie Nugeter genannt hatte, stand mit den Händen in den Hüften da und grinste Tanis und Raistlin an, während er sie prüfend ansah.
»Kirsig…«, setzte Tanis an.
»Was soll das heißen, du mußtest deine Sachen packen?« fragte Raistlin Kirsig direkt.
Die Halbogerin drehte sich zu Raistlin um. »Na«, raunzte sie, »ich mußte eine Ogerwache töten. Ich kann doch wohl kaum hierbleiben, oder? Also komme ich mit!«
»Aber – aber – «, stammelte Raistlin.
»Eine Frau auf so einer Reise?« zweifelte Tanis.
»Wenn ihr mich fragt – «, setzte Flint an.
Nugeter brachte sie zum Schweigen, indem er in schallendes Gelächter ausbrach.
Nach langer Pause fragte Tanis Kirsig: »Was findet er denn so komisch?«
»Was ich komisch finde, Halbelf«, sagte Nugeter, der die drei verächtlich ansah, »ist, daß über die Hälfte meiner Mannschaft aus Frauen besteht. Und die erledigen die Arbeit genausogut wie die Männer.«
»Ich kenne Nugeter seit Jahren«, sagte Kirsig eilig. »Er hat immer bei meinem Vater Proviant gekauft, den er unterwegs brauchte. Er ist einer der besten Seefahrer dieser Gegend und ist bereit, euch übers Blutmeer zu fahren.«
»Nicht umsonst«, erinnerte Nugeter, der der Halbogerin mit dem Finger drohte.
»Außerdem«, fügte Kirsig eifrig hinzu, »werdet ihr Hilfe für diesen Zwerg brauchen… die Hilfe eines Heilers, meine ich. Ich habe über die Jahre einiges mitbekommen. Damit kann ich zwar nicht gerade die Pest heilen, aber doch den Schmerz lindern und die Heilung des Bruchs beschleunigen.«
Flint warf einen hilflosen Blick auf Tanis und Raistlin. Tanis und Raistlin blickten einander an.
»Na gut«, sagte Tanis resigniert.
Kirsig und die drei Gefährten quetschten sich in das Boot, und der muskulöse Nugeter begann, mit zügigem Schlag zu rudern. Minuten später waren sie aus der Bucht heraus und viele hundert Schritt von der Küste entfernt. Sie konnten kaum noch den schattenhaften Umriß von Ogerstadt auf dem steilen, felsigen Hügel erkennen.
Ein blasses, rosiges Licht zeigte sich am Himmel, als sie Nugeters Schiff erreichten.