15 Der Angriff

Bis zur Dämmerung waren so viele Kyrie im Lager eingetroffen, daß Tanis ihre immer größer werdende Anzahl nicht mehr überschauen konnte. Zwanzig, vielleicht zwei Dutzend, schätzte der Halbelf. Die geflügelten Wesen flogen herbei und erstatteten Wolkenstürmer in ihrer eigenen Sprache Bericht. Dann drehten sie sich um, um die Menschen und die anderen zu betrachten. Einige flogen wieder los. Andere zogen Waffen heraus, die gewetzt werden mußten.

Die Chancen wurden besser, erklärte Tanis Flint. Der Zwerg runzelte die Stirn. Er war nicht restlos überzeugt. Ungeduldig wartete er, daß Wolkenstürmer ihnen mitteilen würde, was er von seinen Spähern erfahren hatte.

Flint und Caramon gingen zu dem Kyriekrieger, um mit ihm zu reden. »Wissen wir schon, wo Kitiara festgehalten wird und wie groß die Truppen unserer Gegner sind?« fragte Flint, der sich aus Rücksicht auf die Kyrie der Gemeinsprache bediente. Die anderen, einschließlich Tanis und Sturm, waren hinter ihn getreten. Wolkenstürmer stand auf und sprach ernst zu den Freunden:

»Meine Späher haben die alte Stadt überflogen und viele Dutzend Minotauren gesehen, die überall in den Ruinen lagern. Es sind fast alles Soldaten, alle schwer bewaffnet«, berichtete der Kyriekrieger. »Das Lager des Oberschamanen liegt fast in der Mitte der Ruinenstadt. Es ist nach oben hin offen, aber gut bewacht. In einem Käfig im Lager des Nachtmeisters wird eine Menschenfrau festgehalten. Im Lager ist einiges los, anscheinend werden Vorbereitungen für irgend etwas getroffen. Meine Späher wagen es nicht, zu nahe heranzufliegen, da sie nicht gesehen werden sollen. Einer meiner Brüder meint, er hätte eine kleine Person herumspringen sehen, weder Mensch noch Minotaurus, aber er ist sich nicht sicher.«

»Der verdammte Kender«, murmelte Flint.

»Was ist mit meinem Bruder?« Caramon sah Wolkenstürmer fragend an.

»Bisher«, erwiderte Wolkenstürmer finster, »gibt es keine Spur von dem Zauberer.«

»Wir wissen also, daß Kit etwa in der Mitte der alten Stadt gefangensitzt«, sagte Tanis. »Wir wissen auch, daß sie gut bewacht ist. Wie viele sind wir jetzt… zwanzig, dreißig?«

Keiner gab voreilig die Antwort. Tanis sah sich in der Gruppe um. Tapfere, aber angespannte Gesichter starrten ihn an. Jedem war klar, daß die Zahlen eindeutig zugunsten der Minotauren sprachen.

Wolkenstürmer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weiß Vogelgeist mehr über das Lager, wenn er zurückkommt«, sagte Wolkenstürmer, um ihnen Mut zu machen. »Er ist nicht nur mein erster Kundschafter, sondern auch ein erstklassiger Stratege, wenn es zum Kampf kommt.«

»Ganz gleich, wie es steht, wir müssen morgen einen Rettungsversuch machen«, sagte Sturm. Die anderen Gefährten stimmten murmelnd zu.

»Ja«, pflichtete Wolkenstürmer ihm feierlich bei. »Morgen.«

Fast unwillkürlich blickten alle hoch. Die Sonne war bereits untergegangen. Rosiges Zwielicht ging der kalten Nacht voraus.

»Ich nehme an, wir kommen morgen reichlich zum Kämpfen«, sagte Flint knurrig. »Am besten bereiten wir uns gut darauf vor.« Damit zog der alte Zwerg Streitaxt und Wetzstein heraus. Der Rest der Gruppe traf ähnliche Vorbereitungen für die Schlacht.Als Vogelgeist zu ihrem augenblicklichen Lager zurückflog, fiel ihm unten etwas auf. Er kreiste und flog zurück, um einen zweiten Blick darauf zu werfen. Ein minotaurischer Soldat wälzte sich neben einem großen Loch auf dem Boden. Offenbar kämpfte er, doch womit? Vogelgeist riskierte es, tiefer zu gehen, um besser sehen zu können.

Der mindestens sieben Fuß große Stiermann war ein Zwerg im Vergleich zu dem Tier, mit dem er kämpfte – ein riesiges, vierarmiges, gepanzertes Monster mit einem Kamm auf dem Rücken. Es war weit größer als der Minotaurus und mindestens doppelt so lang wie hoch. Das bizarre Wesen blieb mit seinen vier verhornten Tatzen dicht am Boden, schlug aber immer wieder nach dem Minotaurus und schnappte nach ihm. Das Tier hatte den Minotaurus umgeworfen und hielt ihn mit seinen bösartigen Angriffen vom Aufstehen ab.

Der Minotaurus versuchte, mit seinem Dreizack nach dem Tier zu stechen. Wenn er Erfolg hatte, konnte er das beschwerte Netz am anderen Ende der Waffe nutzen, um es über das Tier zu werfen und es endgültig umzubringen. Da er aus dem Gleichgewicht gebracht war und die Angriffe des Wesens abwehren mußte, hatte es der Minotaurus allerdings schwer, einen Treffer zu landen. Jeder Klauenhieb des Tiers kostete den Minotaurus mehr Blut.

Im faszinierten Versuch, festzustellen, was für ein Wesen der Minotaurus bekämpfte, sank Vogelgeist weiter abwärts, bis er unmittelbar über dem Zweikampf flatterte.

Dem Minotaurus gelang es, aufzuspringen und sich auf den Rücken des Tiers zu werfen. Während er sich mit einer Hand festhielt, stach er dem Tier unter den Kamm, wo sein Panzer aus seinem Rücken herausragte. Mit einem durchdringenden Schrei sprang das Tier direkt unter dem Kyrie mehrere Fuß hoch in die Luft.

Erst jetzt erkannte Vogelgeist, um was für ein Tier es sich handelte. Es war ein Landhai, ein gefräßiges Raubtier, das so selten war, daß weder Vogelgeist noch irgendein anderer Kyrie seines Wissens je ein Exemplar gesehen hatten.

Aus dem kleinen Korb, der an seiner Seite baumelte, zog Vogelgeist etwas heraus, das wie gebündelter Efeu aussah.

Unter ihm war der kurzfristige Vorteil des Minotaurus dahin. Der Landhai hatte es geschafft, sich mitten in der Luft zu drehen und genau auf den Schultern des Minotaurus zu landen. Der Landhai fing an, mit seinen Klauenfüßen auf Beine und Rücken des Stiermenschen einzuschlagen. Zugleich schlossen sich mächtige Kiefer um dessen Hals.

In diesem Augenblick schoß Vogelgeist nach unten und warf sein Würgenetz über den Landhai. Da es aus einer seltenen Pflanze, dem Kriechenden Würger, bestand, wickelte das Würgenetz sein Opfer rasch ein und machte es zu einem lebenden Paket. Bei jeder Bewegung des Landhais zog sich die Pflanze enger zusammen, bis deren gummiartige Tentakel fest um das wilde Monster gewickelt waren.

Vogelgeist zweifelte daran, ob das Würgenetz gegen den Landhai ebenso wirkungsvoll gewesen wäre, wenn das wilde Tier nicht verwundet gewesen wäre. Außerdem war es hilfreich gewesen, daß der Landhai so mit seinem eigenen Kampf beschäftigt gewesen war, denn er hatte den Kyrie erst bemerkt, als es zu spät war.

Der Kyriekrieger landete und näherte sich vorsichtig dem Landhai. Das Ungeheuer schlug weder um sich, noch schrie es. Es blieb ausgesprochen still liegen, wie tot, beobachtete Vogelgeist jedoch aus bösartigen, gelblichen Augen. Dem Kyrie gefror das Blut in den Adern. Der halslose Kopf des Landhais ragte direkt unter seinem Panzerkragen hervor und endete in einem grausamen, spitzen Kiefer, der auffallend dem einer riesigen Schnappschildkröte ähnelte.

Das Würgenetz lag weiter um den Landhai, so daß sein Kopf unbeweglich war und sein gepanzerter, blaugrüner Körper und die Beine noch fester umschlossen waren. An der Seite zuckte der Minotaurus im Todeskampf. Sein rotes Blut tränkte den Wüstenboden.

Vogelgeist wußte, der gefräßige Landhai würde in seinem Territorium alles angreifen. Er vergrub sich in der Erde, wenn er ausruhen wollte, und brach an die Oberfläche durch, wenn er Vibrationen spürte, die bedeuteten, daß neue Beute nahte. Kein Lebewesen blieb freiwillig in der Umgebung eines Landhais.

Wie alle Kyrie besaß Vogelgeist magisches Wissen aus der alten Welt, einen Wissensschatz, der Jahrhunderte älter war als die Magie der drei Monde, und der die Fähigkeit zur Verständigung mit jedem Tier einschloß. Trotz seiner Vorbehalte gegenüber dem Landhai beschloß der mutige Kyrie, daß er mit ihm reden würde.

»Ich will dir nichts tun«, sagte Vogelgeist in der Sprache aller Tiere. »Ich möchte dir erzählen, warum ich hier bin – und von den Minotauren, die diese Insel überfluten.«

Das Wesen starrte Vogelgeist weiterhin schweigend an. Schließlich antwortete es:

»Was kümmerst du mich? Ich will nur meinen Bauch füllen. Diese dummen Stiermenschen, die ihre Abstammung vom Tier leugnen und sich für etwas Besseres halten, sind mir gleichgültig.«

Der Landhai war nicht nur bösartig, sondern auch stur, dachte Vogelgeist.

»Vorläufig würde ich meinen, daß dich noch eine Sache interessieren dürfte, nämlich, daß die Wunde auf deinem Rücken versorgt wird.« Vogelgeist hatte den grünen Schleim, wahrscheinlich Blut des Landhais, bemerkt, der unablässig aus der Wunde quoll, die ihm der Minotaurus beigebracht hatte. »Mit meinen Heilkünsten kann ich mich um die Wunde kümmern, wenn du mich einfach anhörst.«

Argwöhnisch antwortete der Landhai: »Obwohl ich dein Gefangener bin, sollte es dir schwerfallen, mich zu töten, Kyrie. Dennoch kommt es mir so vor, als hätte ich kaum eine Wahl.«

»Minotauren aus Mithas haben auf dieser Insel einen Außenposten eingerichtet. Wie du wissen mußt, vernichten oder unterwerfen die Stiermenschen alles, was ihnen im Weg steht. Das verheißt nichts Gutes für dich oder alle anderen Lebewesen auf Karthay.« Vogelgeist legte eine Pause ein und versicherte sich, ob der Landhai zuhörte.

»Wir Kyrie haben unsere eigenen Gründe, weshalb wir die Minotauren schnellstmöglich von Karthay vertreiben wollen. Unsere Gruppe besteht nur aus einigen Kyriekriegern, ein paar Menschen, einem Zwerg und einem Elfen. Wir würden sehr davon profitieren, wenn ein erfahrener General wie du und alle Tiere, die du erwählst, an unserer Seite kämpfen würden.«

Vogelgeist rechnete damit, daß ein Appell an die übersteigerte Selbsteinschätzung des Landhais nützlich sein würde. Er behielt recht. Wenn ein großes, dickes, knopfäugiges Untier sich aufplustern kann, dann war das der richtige Ausdruck für den Landhai.

Das Untier kehrte jedoch fast augenblicklich zu seiner dickköpfigen Haltung zurück. »Ich brauche weder Kyrie noch irgend jemand anders, um die Minotauren zu vernichten. Wenn ich so etwas vorhätte, dann würde ich es selbst tun, langsam, einen nach dem anderen, mit der Zeit. Warum sollte ich mich euch anschließen?«

Vogelgeist hegte keine Zweifel, daß der Landhai wahrscheinlich recht hatte. Er konnte die Minotauren allein erledigen, sofern er genug Zeit hatte. Aber Wolkenstürmer, Caramon und die anderen konnten nicht auf dieses Irgendwann warten.

»Wenn du dich mit uns verbündest, versprechen wir, diese Insel dir und den anderen Tieren für die nächsten tausend Jahre als euer Reich zu überlassen. Als Anführer der Schlacht würdest du zweifellos als oberster Häuptling über die Insel anerkannt werden«, fügte Vogelgeist hinzu. In den kalten, ausdruckslosen Augen des Landhais konnte Vogelgeist nicht erkennen, welche Wirkung dieses Angebot hatte. »Und dann wäre da noch deine Wunde, die ich auf magische Weise heilen kann.«

Der Landhai blieb unentschlossen. Vogelgeist wartete geduldig. Die Wunde sonderte weiter grünen Schleim ab.

»Meine Verletzung zuerst«, sagte das Ungeheuer. »Dann können wir darüber reden, wer sich uns in einer Schlacht gegen die Minotauren anschließen würde. Die Stiermenschen haben keine Freunde unter den Tieren dieser Insel.« Er schien zu kichern. »Ich allerdings auch nicht.«Um die Wunde des Landhais zu verbinden, mußte Vogelgeist das Tier erst von dem Würgenetz befreien. Dazu zerhackte er den Kriechenden Würger dicht am Stengel und schnitt dann die Schlingarme an so vielen Stellen wie möglich durch. Später benutzte er ein paar von den Stücken, um eine Schlinge herzustellen, in der er das Ungeheuer zum Lager tragen konnte.

Vogelgeist brauchte all seine Kraft, um das Tier anzuheben und mit ihm zu fliegen. Caramon, Tanis, Sturm, Flint und die anderen schauten entsetzt auf, als der Kyrie den Landhai kurz nach Einbruch der Dämmerung in ihrer Mitte absetzte. Obwohl das Tier zahm wirkte, verzog es sich mürrisch an den Rand des Lagers und starrte mißtrauisch in die Wüste hinaus.

Wolkenstürmer begrüßte Vogelgeist. Die beiden Kyrie standen abseits und redeten kurz in ihrer eigenen Sprache miteinander. Dann brachte Wolkenstürmer seinen Freund strahlend zu den anderen.

»Was sollen wir mit so einem Tier?« fragte Caramon.

»Das Minotaurenlager ist gut bewacht. Wir sind zahlenmäßig weit unterlegen. Wir brauchen jeden Verbündeten, den wir finden können«, erklärte Wolkenstürmer. »Es gibt keinen furchtloseren Kämpfer als einen Landhai. Vogelgeist sagt, dieser hier hätte versprochen, andere Tiere dieses Landes herzurufen, damit sie uns helfen. Außerdem hat er von einem Schwarm Bergroche erzählt, die sich eventuell auch unserer Sache anschließen. Ich werde Zwillingsstern losschicken, damit er mit den Rochen redet und sie um Hilfe bittet.«

»Roche!« rief Flint aus. Obwohl Flint ein Hügelzwerg war, kein Bergzwerg, kannte er dennoch den Ruf dieser großen Raubvögel nur zu gut. Sie ähnelten überdimensionalen Adlern und hatten eine Spannweite von bis zu einhundertzwanzig Fuß. Bergzwerge, die in entlegenen Regionen Minen anlegten, wurden mitunter von Rochen angegriffen, die ihre Nester verteidigten.

»Es hat noch nie einen Roch gegeben, der einem Zwerg geholfen hätte – oder umgekehrt«, sagte Flint heftig.

Caramon sah Tanis bittend an. Dieser griff ein, um den Zwerg zu beruhigen. »Wolkenstürmer hat recht – wir brauchen Hilfe. Wenn Vogelgeist einen Landhai fangen kann, dann kann Zwillingsstern vielleicht die Roche für uns zähmen.« Tanis sah die Halbogerin an, die wie gewöhnlich nicht weit von Flint stand. »Kirsig und ich werden unser Möglichstes tun, die Roche von dir und dich von den Rochen fernzuhalten.«

Kirsig, die das Thema Roche und Zwerge sehr ernst nahm, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte nachdrücklich.

»Wann können wir damit rechnen, daß unsere ungewöhnlichen Verbündeten sich uns anschließen?« fragte Sturm. Seit seiner Rettung aus der Grube des Untergangs hatte der Solamnier allmählich einen tiefen Respekt vor den Kyrie entwickelt und sah keinen Anlaß, die Weisheit ihres ausgefallenen Plans in Frage zu stellen.

Vogelgeist neigte den Kopf zum Landhai und schien kurze Zeit zu lauschen. »Die Botschaft ist ausgesandt. Morgen früh sollten wir neue Freunde sehen. Am besten warten wir ab. Bis dahin sollten wir schlafen.«

Der Kyrie befolgte seinen eigenen Rat, hockte sich hin, schloß die Augen und schlief beinahe sofort ein. Jedenfalls wirkte es so. Kurz darauf schlug Vogelgeist noch einmal ein Auge auf. »Weckt mich zur Wache, falls nötig«, sagte er noch und schloß wieder die Augen.

»Ich habe mich heute ausgeruht, während ihr auf Kundschaft wart«, stellte Yuril fest. »Ich übernehme die erste Wache und wecke jemanden, wenn ich müde werde.«

Yuril hob eine Decke auf und ging zu einem großen Baum am Rand des Waldes, in dessen Deckung sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die anderen begannen, sich zu verteilen und bequeme Schlafplätze zu suchen. Einige Kyrie und die übrigen Seeleute von der Castor hatten sich bereits schlafen gelegt.

»Ich, äh, muß noch mein Schwert schärfen und meine anderen Waffen für morgen vorbereiten«, murmelte Caramon vor sich hin. »Ich denke, ich leiste Yuril Gesellschaft.«

Sturm und Tanis wechselten einen Blick. »Denk aber dran, daß einer von euch eigentlich Wache halten sollte«, rief Tanis ihm nach.

In Wirklichkeit machte Caramon sich seit Raistlins Verschwinden am Morgen unablässig Sorgen über den Verbleib seines Zwillingsbruders. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er einschlafen würde, selbst wenn er es wollte. Yurils Nähe war allerdings beruhigend.Flint schlief ebenfalls, aber nicht gut. Seine Träume waren vom Rauschen großer Flügel erfüllt, die sich über ihm herabsenkten. Kirsig, die sitzend über den Zwerg wachte, mußte dem Zwerg immer wieder die Decke umlegen, die er fortgeschoben hatte.

Als er am nächsten Morgen schließlich erwachte, sah Flint, daß die Geräusche, die seinen Schlaf gestört hatten, der Wirklichkeit entstammt hatten. Jedoch eher von seltsamen Landtieren als von den Bewohnern der Lüfte.

Am Südwestrand des Lagers stand der Landhai. Dahinter schien der Wüstenboden in der frühen Dämmerung zu wogen. Flint sah näher hin. »Großer Reorx!« rief er aus. Dutzende von riesigen Bodeninsekten, deren Rücken von harten, schwarzen, beweglichen Platten bedeckt war und deren Kopf in einem Paar kleiner, aber sicher wirksamer Kiefer endete, bedeckten den Wüstenboden.

»Horaxe.«

»Was?« fragte Flint den Kyrie, der neben ihm aufgetaucht war.

»Sie leben unterirdisch und werden fast so lang, wie wir groß sind. Sie greifen im Rudel an«, erklärte der Kyrie. »Ich hatte zum Glück noch nie das Pech, in eins hineinzugeraten. Ich habe gehört, sie quetschen einen mit ihren krummen Scheren zu Tode.«

Als er sah, wie Flints Kiefer herunterklappte, fügte der Kyrie hinzu: »Keine Sorge. Sie unterstehen dem Landhai, und der Landhai ist auf unserer Seite – vorläufig.«

»Ihre Scheren sind kräftig, das stimmt«, meldete sich Kirsig zu Wort, die sich zu ihnen gesellt hatte. Die Halbogerin schien über jedes beliebige Thema nützliches Wissen zu besitzen. »Mein Papa hat gesagt, sie könnten wirklich lästig werden, wenn sie einem in die unterirdischen Tunnel geraten. Normalerweise scheuen sie das Sonnenlicht. Ich nehme jedoch an, daß sie es während des Angriffs ein paar Stunden in der Sonne aushalten können.«

Inzwischen waren alle Freunde, die Kyrie und die Seeleute aufgestanden und starrten die seltsame Horde Tiere an – den Landhai, die Horaxrudel und ganz hinten seltsame Felsformationen, die sich bewegten. Flint rieb sich verwundert die Augen.

»Kirsig«, flüsterte er und zupfte die Halbogerin am Ärmel. Flint zeigte hinter die Horaxe.

Die rötlichbraunen Felsen hatten sich wieder bewegt und damit bewiesen, daß sie nicht unbelebte Steine, sondern die knubbelige Haut eines gigantischen Reptils waren. Flint schätzte das gewaltige, schlangenähnliche Tier auf annähernd zweihundert Fuß – von der langen, peitschenartigen Schwanzspitze bis zu seinem pfeilförmigen Maul mit den Reißzähnen. Das Ungetüm schien flach auf dem Boden zu liegen. Die Füße mit den Schwimmhäuten lagen auf beiden Seiten seines Schuppenkörpers.

Was Flint für Höhlen im Fels gehalten hatte, waren tatsächlich die Augenhöhlen des Tiers, die so tief lagen, daß man seine Augen nicht erkennen konnte. Das Monster schlug müßig mit seinem Schwanz über den Boden und köpfte dabei mehrere Felsvorsprünge.

»Das große Hatori, und der Größe nach ein sehr altes«, flüsterte Kirsig. »Auf dieser Insel wird es in den letzten Jahrzehnten wenig zu fressen bekommen haben, und ein hungriges Hatori ist ein hungriger Kämpfer, wie mein Papa immer sagte.«

Der Landhai starrte erst die Kyrie und ihre Freunde an, dann die Armee, die er zusammengerufen hatte. Obwohl keines dieser Raubtiere seine Konkurrenten liebte, mochten sie die Minotauren noch weniger, die in der Welt der Wüste als rücksichtslose, arrogante Antreiber bekannt waren.

Der Landhai hatte ihnen den Plan mitgeteilt, den Vogelgeist und Wolkenstürmer vorgeschlagen hatten. Die Tiere würden einen Tag lang gemeinsam kämpfen, und die Kyrie würden ihnen das verlassene Karthay für tausend Jahre überlassen. Da Kit und wahrscheinlich auch Raistlin in der Ruinenstadt waren, hatten die Wüstenräuber den strengen Befehl, keine Menschen oder andere Rassen anzugreifen, nur Minotauren. Diese konnten sie nach Belieben töten.

Ein plötzlicher Windstoß warf Flint beinahe um. Der Wind ließ nicht nach, er wehte Decken und Gepäck durch das Lager. Mit sinkendem Herzen blickte Flint nach oben. Genau über ihnen flatterten vier Roche, zwei Erwachsene und zwei kleinere, wahrscheinlich ihre halbwüchsigen Nachkommen. Durchdringende, schwarze Augen betrachteten die versammelte Gruppe. Mit den kräftigen Körpern, den schlanken, geschoßgleichen Köpfen und der enormen Spannweite war jeder Roch so groß wie ein Vallenholzbaum. Ihre glänzend braunen und gelben Federn und die starken, gekrümmten Schnäbel blinkten in den Strahlen der aufgehenden Sonne.

Toth-Ur schritt rastlos vor seinem Zelt auf und ab. Die Nachmittagssonne setzte ihm zu, bis sein glänzend schwarzes Fell schweißnaß an ihm klebte. Der Nachtmeister und sein Gefolge waren unbehelligt zum Gipfel des Vulkans aufgebrochen. Nach außen hin schien alles in Ordnung zu sein, aber in Toth-Urs Schritten lag dennoch große Unruhe. Zedhar war von seinem Kundschaftsgang am Vortag nicht zurückgekehrt. Der Kommandant überlegte, ob er einen Suchtrupp losschicken sollte, aber weil seine Truppenstärke bereits um die Soldaten vermindert war, die den Nachtmeister begleiteten, zögerte Toth-Ur noch. Der Oberschamane hatte ihm eingeschärft, heute wachsam zu sein… besonders heute.

Sein Zelt lag nahe des westlichen Rands der Ruinenstadt Karthay an einem eingestürzten Wall. Die Hände in die Hüften gestemmt, musterte Toth-Ur die einsame, karge Landschaft. Ein paar Soldaten standen an der Seite und erwarteten seine Befehle.

Plötzlich brach eine riesige Gestalt keine zehn Fuß vor dem Zelt des Kommandanten aus dem Boden, sprang hoch in die Luft und landete dann schwer auf einem Minotaurensoldaten. Die Gestalt schnappte einmal zu und brach dem Stiermenschen den Hals.

Bevor die übrigen Soldaten noch ihre Schwerter ziehen konnten, drang ein Horax nach dem anderen aus dem Loch, das der Landhai gemacht hatte. Wo der erstaunte Toth-Ur auch hinsah, überall krochen die seltsamen, schrecklichen Tiere aus dem Boden und griffen seine kleine Armee von allen Seiten an.

Die Minotauren hatten keine Chance, denn der Angriff der wilden Tiere kam direkt aus ihrer Mitte. Einige starben auf der Stelle. Andere hielten durch und kämpften, obwohl ihre Schwerter und Speere von den Chitinpanzern der Insektoiden einfach abprallten. Wieder andere zogen sich in bessere Stellungen zurück.

Der Landhai war wie toll. Ungestraft sprang er weiter, um die Minotauren zu zermalmen und zu zerreißen.

Das Horaxrudel war im Blutrausch. Immer zu zweit oder zu dritt überwältigten die Tiere einen Minotaurus. Jeweils einer legte seine Kiefer direkt über dem Huf um ein Bein und brach den Knochen. Ein dritter Horax griff die Weichteile des Minotaurus an, wenn der Soldat auf den Boden gefallen war. Dann fraßen die Tiere ihr Opfer.

Im Süden nahte noch schlimmeres Unheil. Die Wüste selbst schien sich gegen die Minotauren zu wenden. Das große Hatori war aufgetaucht und glitt rückwärts auf eine Reihe Minotauren zu, die tapfer ihre Stellung behaupteten. Mit seinem Knochenschwanz peitschte es hin und her und erwischte ein halbes Dutzend Soldaten auf einmal, die es gnadenlos zerquetschte.

Im Norden stießen die riesigen Roche aus den Wolken herab. Ihre Flügel verdeckten beinahe die Sonne. Sie kreisten außer Reichweite der Speere, während die Stiermenschen mit allem warfen, was ihnen in die Finger kam. Bevor Verstärkung eintraf, brauste jeder Roch auf die Ruinen zu und packte sich gewaltige, ascheverkrustete Steine, die er auf je zwei oder drei Minotauren gleichzeitig fallen ließ, um den Feind zu zermalmen. Kyrie flogen zwischen den Rochen und gaben den Riesenvögeln Befehle.

Überall versuchten die Minotauren, sich neu zu formieren. Für einen Minotaurus war es undenkbar, einem Kampf auszuweichen, aber dieser Angriff einer Armee von Monstern irritierte sie. Ihre Augen quollen hervor. Sie reagierten schlecht organisiert und wirkungslos. Toth-Ur hatte so etwas noch nie gesehen, nicht einmal im Traum. Der Kommandant der Minotauren befahl den Rückzug.

Sturm, Flint, Kirsig, Yuril und die anderen Frauen von der Castor näherten sich hinter dem Hatori. Sie wichen Speeren und Testos aus, den Stachelkeulen, die viele Minotauren schätzten.

Während eines Zweikampfs mit einem sieben Fuß großen Ungeheuer, das einen Katar schwang, hörte Sturm, wie Yuril aufschrie. Mit einem letzten Stoß stach der Solamnier den Minotaurensoldat in den Bauch und wich dann dem fallenden Körper aus. Er drehte sich um, um Yuril zu suchen.

Etwas weiter weg stand die Frau über dem verkrümmten Körper einer ihrer Gefährtinnen, die neben einem geköpften Minotaurus lag.

»Das ist Dinchie«, sagte sie und sah Sturm aus nassen Augen an. »Wir – wir sind viele Jahre zusammen zur See gefahren.« Yuril trat dem kopflosen Minotaurus in die Seite. Dann stürzte sie sich wieder in den Kampf. Sturm dachte daran, den Körper der Seefahrerin für ein späteres Begräbnis an die Seite zu ziehen, aber ehe er dazu kam, standen zwei behaarte, gespaltene Hufe vor ihm.

Der Solamnier sah gerade rechtzeitig hoch, um ein niederfahrendes Zweihänderschwert abzuwehren. Der mächtige Schlag ließ sein Schwert zerspringen. Die Nüstern des Minotaurus blähten sich auf, als er sein Schwert wieder hob. Sturm fummelte an dem Dolch in seinem Gürtel herum. Verzweifelt riß er ihn heraus und warf. Er traf seinen Gegner in den Magen. Der Minotaurus klappte zusammen. Sturm griff zu und zog das Messer erst mit einem Ruck nach oben, dann heraus. Dem Stiermenschen quollen die Eingeweide heraus.Der Kommandant der Minotaurenarmee hatte sich ins Innere der Stadt zurückgezogen. Aber seine Soldaten waren nicht formiert, und der Feind schien überall unter und über ihnen zu sein, um sie unablässig anzugreifen.

Ein Läufer kam zu Toth-Ur. »Eine Bande Kyrie, ein Elf und ein Mensch sind in die innere Stadt vorgedrungen und haben das Lager des Nachtmeisters erreicht, wo die Menschenfrau gefangengehalten wurde.«

Fluchend schrie Toth-Ur: »Folgt mir!« Mit einer kleinen Gruppe Soldaten stürmte er zu der alten Bücherei.Der Plan war gewesen, daß die Wüstentiere und die Roche die äußeren Truppen beschäftigen sollten, bis Caramon, Tanis, Wolkenstürmer, Vogelgeist und die anderen Kyrie zum Schlupfwinkel des Nachtmeisters durchgestoßen waren, um Kitiara zu retten. Inzwischen würde bald die Sonne untergehen, aber Kitiara hatten sie noch nicht gefunden – und Raistlin ebensowenig.

Seite an Seite hatten sich Caramon und Tanis zum Lager des Oberschamanen durchgekämpft und die wenigen Minotauren vertrieben, die als Wachen zurückgeblieben waren. Aber als sie den Verschlag erreichten, der nach den Worten des Kyrie Kitiara festgehalten hatte, war der Käfig leer.

Obwohl es ohne jede Deckung gefährlich war, bot Vogelgeist an, rasch den inneren Bereich der Ruinenstadt zu überfliegen, um sie zu suchen.

Bevor er abheben konnte, fuhr ein Shatang, ein Wurfspeer mit Widerhaken, zwischen ihnen nieder. Caramon drehte sich gerade rechtzeitig um, um sich vor dem Abwärtsschlag von Toth-Urs beschlagener Keule zu ducken. Der Kommandant, der in der einen Hand seinen Testo, in der anderen einen Clabbard hielt, stürzte sich auf den Majerezwilling. Aus dem Grunzen und Waffengeklirr um sich her schloß der junge Krieger, daß auch seine Freunde im Zweikampf standen.

Die einfachen Steinwaffen wären gegen das gehärtete Metall der Minotauren eindeutig im Nachteil gewesen, doch die Vogelmenschen konnten sich schließlich im Nu in die Luft erheben und die Minotauren mit ihren Klauen angreifen, während sie die Angriffsrichtung änderten und ihre Gegner aus dem Konzept brachten, deren Schwerthiebe oft ins Leere gingen.

Einer der Minotaurensoldaten schleuderte einen Speer, der Wolkenstürmer in den Flügel traf. Mit dem anderen Arm riß der Kyriekrieger die Waffe heraus und stieß sie dann dem Soldaten in den Bauch, der ihm zu nahe gekommen war.

Caramon, der nur ein Schwert hatte, begann angesichts von Toth-Urs ausgezeichnetem, zweihändigen Angriff zurückzuweichen. Plötzlich ging ein überraschter Ausdruck über das Gesicht des Kommandanten. Seine Waffen fielen auf die Erde. Mit einem unwillkürlichen Griff an seinen Rücken fiel der riesige Minotaurus vornüber. Yuril beugte sich hinunter und setzte dem Stiermenschen den Fuß auf den Rücken, um in einer fließenden Bewegung ihr Schwert herauszuziehen. Ungerührt wischte sie es am Boden ab und salutierte Caramon, indem sie es an die Stirn führte.

»Gern zu Diensten«, sagte sie mit flüchtigem Lächeln, bevor sie davonrannte.Als Sturm, Flint und Kirsig durch einen eingestürzten Säulengang liefen, sprang ein Minotaurus, dem es gelungen war, dem Hatori und den Horaxen zu entgehen, auf den Zwerg los. Er wirbelte einen Testo. Flint duckte sich, fiel jedoch hin und stieß sich den Kopf an. Benommen sah der Zwerg zu, wie der Soldat sich mit erhobener Keule breitbeinig über ihn stellte.

Kirsig stieß einen Schrei aus wie von einer Todesfee, warf sich mit ganzem Gewicht auf den Soldaten, wollte ihn umstoßen. Flint kroch zur Seite. Er schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Beim Blick zurück sah der Zwerg, wie der Minotaurus unter Kirsigs Überraschungsangriff taumelte, sich dann aber fing. Der Stiermann schnappte sich die Halbogerin mit einer Hand, um ihr dann mit der anderen den Schädel einzuschlagen.

Zu spät war Sturm bei dem Minotaurus und bohrte ihm treffsicher das Schwert zwischen die Hörner. Ihre tapfere Gefährtin Kirsig war tot.»Mein Held.«

Vogelgeist, der Tanis trug, hatte die Menschenfrau entdeckt, die in einem nahen Stadtteil an eine zerbrochene Säule gefesselt war. Ein einsamer Minotaurus bewachte sie nach wie vor, doch der Kyrie und der Halbelf machten kurzen Prozeß mit dem hartnäckigen Soldaten.

Da Kitiara vom Ringen mit ihren Fesseln erschöpft und zudem enttäuscht war, weil sie nicht an der Schlacht teilnehmen konnte, die sie in der Ferne wahrgenommen hatte, begrüßte sie Tanis gereizt.

»Du hast die schlechte Angewohnheit, mich zu retten«, sagte sie, als der Halbelf sie losband. Mit großen Augen sah sie Vogelgeist an, der den Blick grinsend erwiderte. »Diesmal habe ich allerdings wohl wirklich ein bißchen Hilfe gebraucht«, fügte sie grollend hinzu.

»Keine Ursache«, erwiderte Tanis. Er wußte, ein ausdrücklicheres Dankeschön würde er von Kitiara Uth Matar niemals bekommen.

In seinen Augen sah Kit ausgehungert und schmutzig aus. Eilig holte Tanis ein Stück Trockenfleisch aus einem Beutel und gab es ihr. Kitiara schlang es hungrig herunter. Als er ihr zusah, wurde sich Tanis trotz ihres halbverhungerten, schmierigen Aussehens erneut ihrer herben Schönheit bewußt.

Caramon kam angerannt und schloß Kitiara ungestüm in die Arme. Sturm war dicht hinter ihm, dann kam Yuril.

»Wo ist Raist?« fragte Caramon.

Vogelgeist schüttelte den Kopf. Tanis fragte zurück: »Wo sind Flint und Kirsig?«

»Die Halbogerin ist tot«, sagte Sturm finster. »Sie ist tapfer im Kampf gefallen. Flint geht es gut.« Er winkte mit dem Arm. »Er ist da drüben und kämpft.«

Kit hatte sich Knöchel und Handgelenke massiert. Sie wirkte bereits munter und voller Tatendrang. Sie zeigte zum Dach der Welt. »Raistlin war hier, aber er hat angeboten, meinen Platz als Opfer des Nachtmeisters einzunehmen. Ich glaube, sie sind da oben. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die Nacht brach herein. »Aber wie erreichen wir rechtzeitig den Gipfel?«

Wolkenstürmer und die drei anderen Kyrie waren inzwischen gelandet. »Wir können im Nu hinauffliegen«, sagte der Kyriekrieger.

Kit schien zu zweifeln. Tanis versicherte ihr, daß es möglich war.

»Sturm«, befahl Caramon, »such Flint und sag ihm und den anderen, daß wir uns zurückziehen. Überlaßt die Minotauren der Armee der Tiere. Verschwindet aus der Ruinenstadt. Wir treffen uns am Lagerplatz von letzter Nacht.«

»Aber – «, protestierte der Solamnier.

»Keine Zeit. Wir haben nicht genug Kyrie, um alle hochzubringen«, warf Tanis ein, »und jemand muß Flint warnen.«

Sturm nickte und rannte davon.

Wolkenstürmer ergriff Caramon und hob ab. Vogelgeist nahm Tanis. Die anderen beiden Kyrie folgten ihnen mit Yuril und Kitiara.

Sie brausten hoch zum Dach der Welt.

Die wütende Schlacht ließen sie hinter sich. Heute nacht würden der Landhai, das Hatori und die Roche sich sattfressen können.

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