Einige Meilen vor der Ostspitze von Karthay, in der See bei Spornheim, versammelten sich Hunderte von Orughi. Ihre grauen, muskelbepackten Schultern ragten aus dem Wasser, während ihre Füße mit den Schwimmhäuten unter der Oberfläche paddelten. Ihre aufwärts gerichteten Gesichter zeigten eine hohe Stirn, eine platte Nase, spitze Ohren, Knopfaugen und strähniges, goldenes Haar, das tropfnaß herabhing. Einige trugen Streitäxte und Dolche, während andere ihren Eisenbumerang mit der langen Metallschnur, die Tonkk, dabeihatten. Die Orughi schauten nach Westen. Weil sie amphibische Lebewesen waren, konnten sie tagelang schwimmen, ohne müde zu werden. Jetzt paddelten die Orughi herum, denn sie warteten auf ein Zeichen von Sargonnas.
Einige Meilen weiter und tiefer in der Straße vom Land Ho wartete unter einer Dunstglocke eine mit Ogern bemannte Kriegsflotte darauf, das Bündnis mit den Minotauren zu besiegeln. Es waren nur Dutzende, nicht Hunderte von Schiffen, aber jedes stand für einen Ogerstamm, jedes wurde von einem Häuptling dieser verhaßten Rasse geführt. Auf ein Zeichen würden sie sich in Bewegung setzen. Jetzt schaukelten die Kriegsschiffe fast friedlich im Wasser und warteten auf ihre Stunde.
Die Oger hielten Abstand von ihren im Wasser lebenden Vettern, den Orughi. Sie verachteten die begriffsstutzigen Orughi und würden sich nicht mit den Wasserogern zusammentun, ehe Sargonnas das forderte.
Im Moment betrachtete Oolong vom Xak-Clan, der zum Flottenkommandanten der Oger ernannt worden war, die ferne Orughihorde durch sein Fernrohr. Oolong Xak seufzte verstimmt, kratzte seinen verlausten Kopf und fuhr mit schmierigen Fingern durch sein langes, plattgedrücktes Haar. Jeder Oger, der etwas auf sich hielt, würde sich schämen, sich in einem Krieg mit den Orughi zu verbünden, aber die Minotauren hatten die Oger schon fast dazu überredet. Mit Versprechungen und Geschenken hatten sie sie geködert. Aber Oolong Xak war nicht der einzige unter ihnen, dessen Zweifel erst durch den letzten Beweis von Sargonnas persönlich ausgeräumt werden würden.
Viele Meilen entfernt, im Palast der Stadt Lacynos auf der Insel Mithas, erwarteten die acht Minotauren des Obersten Kreises und ihr König den großen Zauber mit unterschiedlich großer Begeisterung, Ungeduld und Skepsis.
Der König der Minotauren wünschte sich die Eroberung Ansalons sehnlichst, weil er seine Untertanen mit der Größe und Reichweite seiner Macht beeindrucken wollte. Der König hatte Truppen gestellt und viel Geld für die umsichtigen Pläne des Nachtmeisters gegeben. Der Erfolg würde seiner Weisheit zugeschrieben werden.
Sein einziger, überzeugter Mitstreiter war Atra Cura, der blutrünstige Abgeordnete der minotaurischen Piraten. Für Atra Cura und seine bunte Gefolgschaft war jeder Krieg ein guter Krieg, denn in dem Chaos, das unweigerlich auf den Schiffsrouten des Blutmeers ausbrechen würde, war für sie viel zu holen.
Dutzende von Kriegsgaleeren standen im Hafen von Lacynos bereit, und viele Dutzend weitere wurden in den Buchten und Häfen von Mithas gezimmert. Akz, der Anführer der minotaurischen Marine, hatte seine Sklaven gnadenlos angetrieben, um die Termine einzuhalten. Allerdings war er geteilter Meinung über die großen Pläne des Nachtmeisters und mehr oder weniger unentschieden. Akz war kein besonders religiöser Minotaurus, und er war lange genug Mitglied des Obersten Kreises, um zu wissen, daß Kriegspläne kamen und gingen.
Immerhin hatte bisher noch nie jemand den Versuch gewagt, Sargonnas in die Welt zu rufen. Dazu brauchte man Kühnheit und Ehrgeiz, gab Akz zu. Aber falls der Spruch sein Ziel nicht erreichte – na und? Die Galeeren konnten für andere, zukünftige Unternehmungen genutzt werden. Akz hatte es nicht eilig, seine Schiffe und seine geschulten Leute in einem unübersehbaren, langwierigen Krieg zu opfern, wenn nicht klar war, daß die Götter persönlich ihn guthießen. Deshalb würde Akz keinen Finger krumm machen, solange Sargonnas ihn nicht persönlich dazu aufforderte.
Obwohl Inultus, der Befehlshaber über das minotaurische Heer, Akz haßte, stimmten sie in Kriegsfragen stets überein. Auch Inultus würde mit Freuden seine Legionen gut gedrillter Soldaten hergeben… wenn Sargonnas dies verfügte. Andernfalls sah Inultus keinen Grund, einen in der Geschichte einmaligen und höchst geschmacklosen Pakt mit den Ogern und den Orughi einzugehen, um den in den Annalen der Minotauren bedeutendsten Angriff auf den Kontinent Ansalon zu entfesseln.
Zwei weitere Mitglieder des Obersten Kreises waren zweifellos dem König ergeben und stützten seine Politik, obwohl sie persönliche Vorbehalte gegen Bündnisse mit den Ogern und Orughi hatten. Victri, der gewählte Vertreter der ländlichen Minotauren, würde bereitwillig in jedem Krieg kämpfen, den der König befahl, doch bei diesem hatte er Bedenken und hoffte insgeheim, daß der Nachtmeister scheitern würde. Der große Gelehrte und Historiker Juvabit stimmte gleichfalls mit dem König, den er durch verwandtschaftliche Beziehungen seit seiner Jugend kannte. Aber der verstandesbetonte Juvabit mißtraute dem Mystiker, der der Nachtmeister war, und seinem fanatischen Kult. Deshalb wünschte sich auch Juvabit heimlich, daß der Nachtmeister erfolglos bleiben würde.
Groppis, der Schatzmeister, hatte nur die Meinung, daß er wünschte, die ganze Sache hätte bis jetzt nicht so viel gekostet – fast so sehr, wie er wünschte, der vorgesehene Feldzug zur Eroberung Ansalons wäre niedriger angesetzt.
Damit blieben Kharis-O, die einzige Frau, Anführerin der Minotaurennomaden, und Bartill, das Oberhaupt der Gilde der Architekten und Baumeister.
An ihrer Sicht bestand kein Zweifel. Beide waren ausdrücklich gegen das Bündnis, gegen den geplanten Krieg und gegen die größenwahnsinnigen Ideen des Nachtmeisters. Bartill, weil er sich immer um seine eigenen Projekte sorgte, für die er Geld brauchte; Kharis-O, weil sie abgesonderte Clans vertrat und grundsätzlich immer gegen alles war. Sie stimmte regelmäßig gegen die Mehrheit, und grundsätzlich unterlag sie.
Wie Bartill war Kharis-O jedoch bereit, jederzeit in den Krieg zu ziehen. Ein Minotaurus war treu bis zum Tod, und die Ehre gebot, daß beide im Einklang mit allen Entscheidungen des Obersten Kreises handelten.
Die acht Mitglieder des Obersten Kreises waren vom König zusammengerufen worden, um die Ankunft von Sargonnas zu erleben.
Die Acht warteten im größten Saal des Palastes. Einige trommelten mit den Fingern auf den großen Eichentisch. Andere liefen auf und ab und schnaubten vor Ärger, wenn sie mit den Schultern aneinanderstießen. Wieder andere hatten ihre gehörnten Köpfe auf den Eichentisch gelegt und schnarchten durchdringend.
Morgen abend würde es soweit sein.Das Allerheiligste des Nachtmeisters war unglaublich faszinierend, mußte Tolpan Barfuß gestehen.
Das trockene, aufgerissene Land war von brüchigen Mauern übersät. Hier und dort ein paar Säulen – mehr war nicht geblieben von den Tempeln der sagenhaften Stadt, die sich in den Himmel gereckt hatte. Überall lagen Steine herum. Eine oder zwei geborstene Statuen standen im Geröll.
Risse von Erdbeben, die die einstmals bedeutende Stadt erschüttert hatten, durchzogen den Boden im Zickzack und trugen zu dem unheimlichen Eindruck bei. Graue und schwarze Asche, die teilweise zu einer brüchigen Kruste verhärtet war, bedeckte alles.
Der Nachtmeister beobachtete Tolpan, als der Kender einen Teil der toten Stadt durchstreifte und dabei hin und wieder ein ascheüberzogenes Ding aufsammelte und in seinen Rucksack stopfte. Tolpan drehte sich um, bemerkte den Blick des Nachtmeisters und winkte.
»Ist der Kender nicht… interessant?« fragte Fesz, dem kein besseres Wort eingefallen war. Der Schamane stand neben dem Nachtmeister. »Sicher findet auch Ihr, daß es eine gute Idee war, ihn herzubringen. Tolpan hat mir bereitwillig alles über seine ehemaligen Freunde erzählt, und er hat darum gebettelt, mich begleiten zu dürfen.«
»Bist du sicher, daß er böse ist?« knurrte der Nachtmeister, der den Kopf schief legte, um den näherkommenden Kender mit seinen großen Stieraugen zu mustern.
»Er trinkt jeden Tag die doppelte Dosis des Tranks. Und er hat mir keinen Anlaß gegeben, an ihm zu zweifeln.«
»Was ist das für ein komischer Holzstab über seinem Rücken?«
»Das heißt Hupak, Herr«, erwiderte Fesz. »Der Kender sagt, es ist eine unschlagbare Waffe.« Der Minotaurenschamane brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Es dürfte nichts schaden, seine Kindereien zu dulden.«
Der Nachtmeister warf seinem Jünger einen Seitenblick zu. Fesz würde ihm einmal nachfolgen. In mancher Hinsicht war er der gerissenste und vertrauenswürdigste Schüler des Nachtmeisters, aber in anderer Hinsicht war Fesz, wie der Nachtmeister wußte, der Argloseste, Vertrauensseligste aller Minotauren.
»Was ist mit dem Menschen, Sturm?«
»Ein Zwischenfall, der allen Minotauren zur Schande gereicht«, stimmte Fesz zu, »aber nicht Tolpan anzulasten. Sturm hatte den Zweikampf schon fast verloren, und Tolpan hat so laut gebrüllt wie wir alle. Kein Minotaurus war wütender über die Rettung als Tolpan. Er bestand darauf, daß zahlreiche Wachen zum Tode verurteilt werden müßten, weil sie es zugelassen hatten, daß der Solamnier entkam! Er hat sogar darum gebeten, einen persönlich hinrichten zu dürfen. Das konnten wir wegen der Staatsgesetze natürlich nicht erlauben, aber Tatsache ist, daß er gefragt hat.«
Der Nachtmeister schien diese Mitteilung zu verarbeiten. Dann drehte er sich achselzuckend zu seinem Zimmer ohne Wände um, das einst der Eingang zur großen Bibliothek gewesen war. Während er sich mit tierhafter Geschmeidigkeit bewegte, raschelten die Federn im Wind, und die Glöckchen um seine ausladenden Schultern und Hörner bimmelten.
»Hallihallo, Nachtmeister!« zirpte Tolpan ihm nach.
Der Nachtmeister drehte sich nicht um, um den Gruß des Kenders zu erwidern. Der Oberschamane setzte sich schwerfällig an seinen langen Tisch, während die anderen beiden Angehörigen der Hohen Drei ihm hurtig Zauberbücher und Zutaten brachten. Diese baute er vor sich auf, prüfte und verglich sie und schrieb dabei mit einer Feder etwas auf.
»Etwas unnahbar, hm?« meinte Tolpan.
»Es ist bald soweit«, grollte Fesz vielsagend. »Der Nachtmeister muß seine gesamte Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Aufgabe richten. Ich muß zu ihm, Tolpan, und ihm bei seinen Vorbereitungen helfen.«
Fesz drehte sich um und ging zu dem langen Tisch, wo er sich zu den anderen zwei hohen Akolythen des Nachtmeisters begab. Als der Nachtmeister sich über seine Berechnungen beugte, standen die Hohen Drei hinter ihm. Sie achteten darauf, ihn nicht zu unterbrechen, ihm jedoch sofort jeden Wunsch zu erfüllen, wenn er eine Anweisung brummte.
Tolpan zuckte mit den Achseln und hüpfte zu dem Holzverschlag, in dem Kitiara gefangen saß. Sie sah ein wenig abgemagert und ungebadet aus, dachte er bei sich. Er bemerkte, daß Dogz, der in der Nähe auf einer Decke lag, ihn genau beobachtete.
»Also, Kit«, sagte Tolpan gutgelaunt, »wie bist du denn so schnell nach Karthay gekommen? Ich bin beeindruckt. Ich wette, es war etwas Magisches, hm?«
Kitiara sah ihn mit steinernem Blick an.
»Gut, dann verrate mir eines: Wie kommt es, daß sie dich so leicht erwischt haben? Ich dachte, Caramon wäre der einzige blöde Majere.«
Sie funkelte ihn an und stieß jedes Wort einzeln heraus: »Wie oft muß ich dir das eigentlich noch sagen? Ich bin keine Majere!«
Tolpan zuckte mit den Achseln. »Na gut, dann eben eine halbe Majere. Wahrscheinlich die Hälfte, die gefangen wurde.« Er kicherte über seinen eigenen Witz.
»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, hier wimmelt es nur so von Minotauren. Woher sollte ich das wissen?«
Tolpan schnitt ihr das Wort ab. »He, ich hab’ gehört, daß du geopfert werden sollst, wenn es soweit ist – morgen abend, hat Fesz gesagt. Wenn ich Raistlin also noch irgend etwas von dir ausrichten soll, falls ich ihn je wiedersehe, dann kannst du es mir jetzt sagen.«
Mit aller verbliebenen Kraft warf sich Kit vergeblich gegen das Käfiggitter. Die Latten erzitterten, und der Kender wich auf eine sichere Entfernung zurück. Kit drückte ihr Gesicht an die Latten und fauchte Tolpan an.
»Ich weiß nicht, was du Böses im Schilde führst, Tolpan«, zischte Kit, »aber wenn ich je wieder hier rauskomme, dann lege ich meine Hände um deinen kleinen Verräterhals und bring’ dich um!«
»Ach, tut mir leid, daß du so denkst«, sagte Tolpan in verletztem Ton, »weil wir doch so gute, alte Freunde sind. Außerdem«, fügte er frech hinzu, »frage ich mich, ob du nicht ein kleines bißchen eifersüchtig bist. Gib’s zu, du hättest nichts dagegen, selbst mal ein Weilchen böse zu sein…«
Kit durchbohrte ihn mit ihren Blicken.
Tolpan trat grinsend zu Dogz zurück. Der Kender drehte sich um und sah den Minotaurus an, der ihn bedauernd ansah.
»Und was ist mit dir los?« fragte Tolpan, der sich neben dem Minotaurus, der ihn bewachen sollte, auf den Boden hockte.
»Nichts, Freund Tolpan«, sagte Dogz, der etwas trockene Asche durch seine Finger rieseln ließ. Er mied Tolpans Blick.
»Nichts, Freund Tolpan«, ahmte Tolpan ihn mit singender Stimme nach. Er sah sich um. Seiner Schätzung nach umstand etwa ein Dutzend Minotauren das Lager des Nachtmeisters. Sie trugen alle möglichen Waffen – Doppeläxte, beschlagene Keulen, Wurfspeere und Geißeln. Dutzende weitere durchstreiften weiter draußen das Gelände.
Im Gegensatz dazu war keiner der Hohen Drei bewaffnet, auch der Nachtmeister nicht. Nur Dogz trug Breitschwert, Katar und Kettenflegel.
Dogz senkte seine Stimme zu einem leisen Knurren. »Manchmal wundere ich mich über dich, Freund Tolpan«, sagte der Minotaurus.
»Was wunderst du dich?«
»Ob du wirklich mit all diesen Leuten befreundet bist – erst Sturm. Und jetzt diese Frau, Kitiara. So wie du sie behandelst.«
Tolpan klopfte Dogz auf die Schulter. »Tja, ich bin doch jetzt ein böser Kender, oder?« erinnerte er Dogz. »Ich gebe mir bloß größte Mühe, mich entsprechend zu verhalten. Klar, sie waren mal meine Freunde. Aber damals war ich gut – na ja, ziemlich gut – jedenfalls meistens. Jetzt bin ich böse. Und wenn ich sie verrate, mache ich es als Böser doch ganz richtig. Du solltest stolz auf mich sein.«
»Ja«, sagte Dogz zögernd.
»Ich sehe das so«, führte Tolpan aus, der sich auf dem Rücken auf die aschebedeckte Erde legte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. »Inzwischen bin ich so eine Art Ehrenmitglied der Minotauren. Hast du mir nicht erzählt, daß die Macht das Recht bestimmt und daß die Minotaurenrasse eines Tages die Welt erobern will und so?«
»Ja«, erwiderte Dogz wieder.
»Nun, ich beweise nur meine Treue gegenüber dem minotaurischen Volk. Wenn du die Wahl hast, dein Volk zu verraten oder deine Freunde – hups, ich meine, deine ehemaligen Freunde –, was würdest du tun?«
Der Minotaurus senkte seine riesigen Hörner. Als er wieder aufsah, waren seine Augen groß und traurig. Sein fauliger Atem überwältigte Tolpan regelrecht. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich meine Freunde verraten«, fügte er langsam, offensichtlich verwirrt hinzu.
»Freust du dich nicht auf den Zeitpunkt, wo Sargonnas die Welt betritt?«
Dogz sah nach drüben, wo der Nachtmeister saß und seine Zauberbücher las. Hinter ihm standen die Hohen Drei.
»Doch«, sagte Dogz.
»Na, siehst du? Ich auch«, sagte Tolpan triumphierend. Er klopfte Dogz auf die Schulter. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Dogz«, fügte der Kender hinzu. »Davon kriegst du Runzeln auf der Schnauze.« Tolpan gähnte übertrieben. »Jetzt werde ich etwas ausruhen. Das brauche ich dringend.«
Der Kender schloß die Augen. Einen Moment später machte er eins wieder auf, um Dogz’ Reaktion zu beobachten.
Dogz hatte sich aufgesetzt und putzte mit sinnendem Blick seine Waffen. Wie Tolpan zogen die Minotauren gewöhnlich klare Grenzen zwischen Freunden und Feinden – den Kendern zum Beispiel. Dogz hatte Kender immer gehaßt, obwohl er noch nie einen gesehen hatte. Als er Tolpan auf der Venora zum ersten Mal erblickt hatte, hatte er ihn nicht einmal berühren wollen. Tolpan war für ihn schlimmer als ein Feind gewesen, eines der niedersten Wesen der Schöpfung.
Aber nachdem er Tolpan gefangengenommen und eine Menge Zeit mit ihm verbracht hatte, hatte Dogz den eigenartigen kleinen Wicht immer lieber gemocht. Er hatte seine Tapferkeit unter der Folter und seinen Sinn für Humor in lebensgefährlichen Situationen bewundert. Durch die Gespräche mit Tolpan hatte er viel über Solace und die Freunde des Kenders erfahren – besonders den knurrigen Zwerg Flint Feuerschmied und Tolpans Onkel Fallenspringer –, und er hatte sie allmählich auch als seine Freunde angesehen.
Dogz hatte reichlich Verwandte, aber er hatte wenig Freunde. Freundschaft war für ihn etwas ganz Neues, und das hatte Tolpan ihn gelehrt.
Dann hatte Fesz Tolpan böse gemacht, und der Kender hatte sich verändert. Er wurde fordernd. Es machte weniger Spaß, bei ihm zu sein. Vielleicht würde der böse Tolpan dabei helfen, Sargonnas in die Welt zu bringen, aber Dogz war sich nicht sicher, ob ihm der alte Kender nicht besser gefallen hatte.
Dogz seufzte. Er beugte sich vor, um etwas Schmutz von seinem Katar zu kratzen, einer langen Klinge an einem H-förmigen Griff. Er ölte und polierte seinen ungewöhnlichen Dolch, während er lange angestrengt über das Thema Freundschaft nachdachte.
Zwanzig Schritt weiter lief Kitiara in ihrem Holzkäfig rastlos auf und ab. Ihren wachsamen Augen entging nichts. Sie spitzte die Ohren, um Fetzen der Unterhaltungen um sie herum aufzufangen, wenn Worte zu ihr herüberdrangen. Kit war nicht gerade begeistert von Kendern, aber ihr hatte Tolpan, so wie er früher gewesen war, jedenfalls besser gefallen.
Der Nachtmeister hatte Sturm erwähnt, also war der Solamnier anscheinend noch am Leben. Und kürzlich hatte Kit ihn auch von Caramon und Raistlin reden hören. Sie waren unzweifelhaft alle irgendwo in der Nähe, und der Nachtmeister befürchtete, sie könnten sich einmischen.
Dieser Gedanke zauberte ein schiefes Lächeln auf Kitiaras Gesicht.
Die Sonne stand am Zenit. Das Land wurde unter ihrer Hitze gebacken, und die Erde brach auf. Den dickhäutigen Minotauren schien das Klima wenig auszumachen. Dogz säuberte und ölte sorgfältig seine Waffen. Die Minotaurenwachen am Rand des Lagers liefen auf ihren festgelegten Runden regelmäßig durch Kitiaras Blickfeld.
Der Nachtmeister saß an seinem langen Tisch, wo er die Ingredienzien für den gewaltigen Zauberspruch morgen abend überprüfte.
Einer der wenigen Vorteile von Kits engem Käfig war, daß die Holzlatten über ihrem Kopf das schlimmste Sonnenlicht abhielten. Ihr Blick glitt zu dem verräterischen Kender. Er hatte die Augen geschlossen. Tolpan Barfuß schien friedlich zu schlafen.Während der Nachtmeister über seinem Spruch saß, dachte er den Augenblick seines Triumphs vor fünf Tagen zurück – einen Tag, bevor sie die Menschenfrau gefangen hatten –, als der Zeitpunkt für den Spruch bestätigt wurde und Sargonnas sich dem Minotaurus gezeigt hatte.
Er war zur Mittagszeit oben auf dem Bergplateau zwischen den farbigen Glasprismen, den Kristallen und den silbernen Spiegelscherben gewesen. Aus ihnen las er die Bewegung von Sonne und Sternen und berechnete ihre Stellung am Himmel in Beziehung zu den Monden. Er war zu dem Schluß gekommen, daß alle äußeren Bedingungen stimmten.
Plötzlich sah er eine Welle in einer der spiegelnden Oberflächen. Als er sich umschaute, sah er in den glänzenden, geschliffenen Glasstücken Flackern und Wellenbewegungen. Unter dem staunenden Blick des Nachtmeisters nahm das Flackern und Wabern Gestalt an, bis jedes Glasstück ein Stück des Gesichts von Sargonnas zeigte.
Ein schreckliches, furchteinflößendes, bedrohliches Gesicht hinter einem roten Nebel starrte den Nachtmeister aus schwarzglühenden Augen an.
Dann war das Angesicht von Sargonnas in den Glasstücken plötzlich verschwunden.
Sein Blick wurde zum Himmel gezogen, wo der Nachtmeister einen großen roten Kondor mit schwarzen Federn wahrnahm. Seine ausgebreiteten Flügel schienen den Himmel zu verdecken. Der Kopf war seltsam klein und nackt. Feuer umflackerte seine Flügelspitzen.
Sei gegrüßt, Nachtmeister, Diener des Bösen.
Der rote Kondor schien mit seidenweicher, schmeichelnder Stimme im Kopf des Nachtmeisters zu sprechen. Flammenzungen schossen aus seinem Schnabel.
Sei gegrüßt, Sargonnas, Gott der Finsteren Rache, Genosse der Takhisis.
Der Nachtmeister hatte sich noch nie so mächtig – oder so armselig – gefühlt wie damals, als Sargonnas zum ersten Mal zu ihm sprach.
Dein Plan ist mir bekannt. Seit Jahrhunderten warte ich auf einen mit deiner Kühnheit, deinem Mut. Seit Jahrhunderten brenne ich darauf, die Welt der Materie zu betreten und meine Kräfte zu entfesseln. Seit Jahrhunderten werde ich enttäuscht. Hast du jede Vorkehrung für den Spruch getroffen? Bist du zur rechten Zeit bereit?
Ja, Herr.
Bist du auf der Hut vor Täuschungen? Verrat?
Ja, Herr.
Bist du würdig?
Ich glaube schon, Herr.
Enttäusche mich nicht. Wage es nicht, mich zu enttäuschen, oder du erfährst, daß meine Rache dich überall erreicht.
Damit war der rote Kondor schimmernd mit der Sonne verschmolzen und hatte sich aufgelöst, als wäre er nie gewesen.
Der Nachtmeister war auf die Knie gesunken und hatte benommen den Kopf abgewendet. Das Gespräch mit Sargonnas hatte nur in seinem Bewußtsein stattgefunden. Als er sich umsah, merkte er, daß die Minotaurenwachen immer noch ungerührt an ihren Plätzen standen. Sie hatten Sargonnas weder gehört noch gesehen.
Dasselbe galt für die zwei Mitglieder der Hohen Drei, die nichts Ungewöhnliches bemerkt hatten – bis jetzt.
Einer von ihnen war zum Nachtmeister hochgelaufen gekommen. »Geht es Euch gut, Exzellenz?« hatte der junge, starke Stiermann besorgt gefragt.
Der Nachtmeister hatte nicht sofort geantwortet. Der junge Schamane hatte sich bemüht, dem Nachtmeister beim Aufstehen zu helfen.
»Geht es Euch gut, Exzellenz?«
Diesmal gehörte die Stimme Fesz. Der Schamane trat hinter dem Nachtmeister vor und tippte ihm auf die Schulter.
Als der Nachtmeister abrupt in die Gegenwart zurückkam, sah er sich einem Offizier der minotaurischen Truppen gegenüber. Der Offizier stand vor dem Nachtmeister, der gedankenverloren an seinem großen Tisch mitten in der toten Stadt gesessen hatte. Der Nachtmeister zwinkerte, betrachtete den gehörnten Soldaten vor sich und knurrte Fesz an: »Ja, natürlich geht es mir gut.«
»Ich bringe Neuigkeiten«, sagte der minotaurische Soldat. »Der Gruppe, die an der Südküste der Insel gelandet ist, hat sich ein Schwarm Kyrie angeschlossen.«
»Kyrie«, grunzte der Nachtmeister. »Wie viele?«
»Mindestens sechs, vielleicht sogar fünfzehn«, erwiderte der Soldat und fügte gleich hinzu: »Wahrscheinlich alle Angehörigen der Kriegergemeinschaft. Aber damit werden wir leicht fertig. Wir würden mit zehnmal so vielen fertigwerden.«
»Ja.«
Der Minotaurensoldat zögerte.
»Ja?«
»Sie laufen in diese Richtung. Sie scheinen genau zu wissen, wo sie hinwollen.«
»Warum laufen sie? Warum fliegen die Kyrie sie nicht hierher?«
»Das wundert uns auch, Exzellenz«, erwiderte der Soldat. »Vielleicht sind sie so viele, daß die Kyrie nicht alle tragen können, oder die Kyrie mußten sich nach ihrem Anflug von den Bergen von Mithas ausruhen.«
»Pah!« schnaubte der Nachtmeister so heftig, daß der Minotaurensoldat einen Schritt zurückwich. »Die Kyrie ermüden nicht so leicht. Es muß einen anderen Grund geben, den wir bald erfahren werden.«
Der Minotaurensoldat schien weniger gleichmütig zu sein. »Ja«, erwiderte der zurechtgewiesene Soldat. »Wir schätzen, daß sie morgen mittag hier sind.«
Zur Überraschung des Soldaten schien der Nachtmeister sich an dieser Nachricht nicht im mindesten zu stören. Im Gegenteil, er wirkte erfrischt und machte sich wieder an die Arbeit. Eifrig schrieb er an die Ränder des Buches, das er gelesen hatte.
Der Nachtmeister schaute auf. Diesmal wirkte er doch irritiert. »Ja? Ist noch etwas?«
»N-nein, Exzellenz«, stammelte der Soldat, der sich umdrehte, um zu verschwinden.
Gut, sagte der Nachtmeister zu sich. Die Menschen, die angeblich von einem Zwerg und einem Elfen begleitet wurden, waren unterwegs, und die Kyrie hatten sich ihnen angeschlossen. Das kam allerdings unerwartet. Er würde seinen Plan etwas ändern müssen, aber dafür war noch genug Zeit.
Hinter ihm nickten Fesz und die anderen Mitglieder der Hohen Drei einander zu. Sie vertrauten der Weisheit des Nachtmeisters.
Hinter ihnen schlief Tolpan… mit einem offenen Auge.
Hinter ihm hockte Kitiara lauschend in ihrem Käfig.
Der Tag wurde zur Nacht.
Tolpan schreckte aus dem Schlaf. Er stellte fest, daß er eingedöst war. Es waren Stunden vergangen.
Das Heiligtum des Nachtmeisters brodelte vor Unruhe. Fesz und die anderen beiden Minotaurenschamanen waren dabei, Gegenstände in kleinen Kisten und Rucksäcken zu verstauen. Ein paar Minotaurenwachen waren näher gekommen und schienen Befehle zu erwarten. Der Nachtmeister, auf dessen langem Tisch keine Zauberbücher und Zutaten mehr lagen, stand in der Mitte des Lagers und erteilte Anweisungen.
Er trug seine volle Zeremonialkleidung. Büschelweise strömten Federn und Glöckchen von seinem gehörnten Kopf, und um die bulligen Schultern hatte er einen dunkelroten Umhang geworfen.
»He, was ist denn los?« fragte Tolpan gutgelaunt, als er zu Dogz schlenderte, der eilig seine eigenen Sachen einpackte.
Dogz drehte sich zu dem Kender um. »Der Nachtmeister sagt, es ist bald soweit«, meinte er feierlich. »Wir ziehen über Nacht in ein neues Lager um, damit uns die Menschen und Kyrie nicht finden, die auf dem Marsch hierher sind.«
Tolpan dachte über diese Nachricht nach. »Gute Idee«, sagte der Kender begeistert.
Als Fesz Tolpan sah, eilte er herbei. Die Augen des Schamanen glitzerten vor Aufregung. »Der Nachtmeister hat erlaubt, daß du mitkommen darfst«, sagte Fesz. »Du weißt gar nicht, was für ein seltenes Privileg das für einen deiner Rasse darstellt. Eigentlich sind die einzigen Anwesenden bei diesem Spruch der Nachtmeister, die Hohen Drei und das Opfer. Aber er meint, daß ein Kender als Vertreter einer Rasse, die für ihr Glück bekannt ist – besonders ein böser –, Sargonnas nur gefallen kann.«
Tolpans Blick schoß zu Kitiara. Die Kriegerin stand stocksteif mit großen Augen in ihrem Käfig. Ein Ohr hatte sie zum Lauschen an die Holzlatten gelegt.
»Ich bin geehrt«, sagte Tolpan, der sich vor Stolz aufblies. »Mehr als geehrt, ehrlich. Ich bin einfach platt. Ganz gleich, welche kleine Rolle man mir bei dem großen Schauspiel zugedacht hat, ich bin wirklich dankbar. Eigentlich sollte ich dem Nachtmeister persönlich meinen herzlichsten Dank aussprechen.«
Der Kender war bereits unterwegs zum Nachtmeister, doch Fesz packte ihn am Kragen und hielt ihn zurück. »Ich glaube nicht, daß es dem Nachtmeister jetzt passen würde, wo er doch so viele andere, wichtige Dinge im Kopf hat«, meinte Fesz mit gesenkter Stimme.
»Oh«, sagte Tolpan. »Das mag sein.«
Der Kender sah zu, wie zwei Wachen zu dem Holzverschlag gingen. Sie zogen die um sich tretende, schreiende Kitiara Uth Matar heraus und legten ihr dann Beinketten an. Die Arme banden sie ihr mit einem Strick auf dem Rücken fest.
»Falls ihr glaubt, ich lasse mich irgendeinem blöden Gott der Finsternis opfern – oder daß ich gar zulasse, daß ein verdammter Kender mitkommt und sich darüber amüsiert – dann werdet ihr ein böses Erw-«
Die Minotaurenwachen stopften Kitiara mitten im Satz einen Knebel in den Mund. Tolpan bedauerte das, denn er war neugierig, wie um alles in der Welt Kit auf die Idee kam, daß sie irgend jemand außer Sargonnas böse erwachen lassen könnte.
Der Nachtmeister hatte Kitiaras Ausbruch gehört. Sein Rücken spannte sich. Jetzt fuhr er wütend herum und stapfte auf die Kriegerin aus Solace zu.
Zornig spuckte er Kitiara ins Gesicht. Er hatte seine übliche Beherrschung verloren. »Du Tropfen Schleim! Du bist es nicht wert, den Namen des Herrn der Finsteren Rache zu erwähnen! Du bist es nicht wert, in derselben Welt wie er zu leben! Bald wirst du sterben, und im Sterben wirst du mit Sargonnas den Platz tauschen. Du wirst in seine Welt verbannt, während er durch das Portal in unsere Ebene eindringt!«
Fesz, Dogz und die anderen starrten ihn an. Die Inbrunst des Nachtmeisters erschreckte sie. Zögernd legten die Minotaurenwachen Kitiara eine Augenbinde an. Die Kriegerin zappelte vergeblich.
Tolpan wollte gerade etwas Unpassendes sagen, als eine neue, unerwartete Stimme aus der Finsternis erklang.
»Ich denke, der Spruch würde besser wirken, wenn euer Opfer weniger unwillig zu Sargonnas’ Vergnügen sterben würde!«
Raistlin! Das war Raistlins Stimme! Tolpan würde sie überall erkennen, selbst hier an diesem abgelegenen Ort. Kit hörte auf, sich zu wehren. Also erkannte auch sie die Stimme ihres Halbbruders.
Aber wo war er? Raistlin war nirgends zu sehen.
Die Wachen umklammerten nervös ihre Waffen. Dogz zog sein Breitschwert. Besorgt warf er Blicke nach allen Seiten. Die Hohen Drei stellten sich zusammen, um notfalls einen Zauberspruch zu sagen.
Beim Klang der Stimme war der Nachtmeister herumgefahren, sah aber nichts. Tolpan konnte die riesigen Kuhaugen des Oberschamanen sehen, und zu seiner Überraschung erkannte er darin weder Furcht noch Unsicherheit, sondern eine gewisse Erleichterung. Es war, als hätte der Nachtmeister dies erwartet.
»Bist du es?« grollte der Nachtmeister. »Bist du der, den sie Raistlin nennen? Der Halbbruder dieser widerspenstigen Frau?«
»Ich bin Raistlin.«
Tolpan sah sich nach allen Seiten um, konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, wo Raistlin sich verbarg.
»Dann zeige dich.«
Es folgte ein leises, trockenes Lachen, danach wieder die scheinbar körperlose Stimme. »Lieber nicht.«
Der Nachtmeister schwieg. Tolpan wollte gerade etwas sagen, als der Nachtmeister seidenweich, fast schnurrend brummte: »Ich verstehe.« Er machte eine umfassende Geste. »Du hast dich unsichtbar gemacht, um den Ring meiner Soldaten zu durchdringen. Bravo! Ich hatte mich schon gefragt, wie du das anstellen willst. Sind deine Gefährten so weit zurück?«
Raistlin zögerte einen Augenblick. »Ich komme allein.«
»Gut.«
»Laß meine Schwester gehen. Ich werde ihren Platz einnehmen.«
Tolpan hörte einen erstickten Schrei und drehte sich zu Kitiara um, die sich aus dem Griff der Wachen loszureißen versuchte. Die Minotauren schienen sich angesichts dieser Stimme, die offenbar zu keinem Körper gehörte, unwohl zu fühlen.
»Phantastische Idee!« rief Tolpan. »Hallo, Raistlin. Ich bin’s, Tolpan! Hast du die magische Flaschenpost bekommen?«
»Ja«, sagte der Nachtmeister, der Tolpan über die Schulter stirnrunzelnd ansah. »Das ist eine phantastische Idee. Aber woher weiß ich, daß du dein Wort hältst?«
»Woher weiß ich, daß du deines hältst?«
Der Nachtmeister überlegte. Fesz kam herbei und flüsterte ihm etwas zu. »Ah«, sagte der Nachtmeister. »Gestatte, daß ich dir Fesz, meinen ältesten Jünger, vorstelle, den höchsten Schamanen nach mir. Geh zu ihm, damit er dir die Hände bindet. Wenn du das getan hast«, er winkte dem Minotaurus von Lacynos, »wird Dogz Kitiara an den Rand des Lagers bringen und sie freilassen. Du hast mein Wort.«
Dogz ergriff die Seile, die Kitiara festhielten. Die zwei Wachen, die glücklich wirkten, daß sie von ihrer Aufgabe erlöst wurden, traten beiseite.
»Einverstanden«, war Raistlins Stimme zu hören, und bei diesen Worten wurde Raistlins schlanke Gestalt neben Fesz sichtbar. Der Schamane griff grob nach ihm und schlang ein Seil um seine Hände, die er hinter seinem Rücken zusammenschnürte.
Der junge Magier, der von der Anstrengung des langen Unsichtbarkeitszaubers geschwächt war, mit dessen Hilfe er an den Minotaurenwachen vorbeigekommen war, die die zerstörte Stadt bewachten, fiel auf die Knie.
Tolpan hüpfte zu ihm hin.
Der Nachtmeister nickte Dogz zu, der Kitiara hochhob, sie über seine Schultern legte und über den freien Platz ging. Bald waren die beiden in der Dunkelheit verschwunden.
»Raistlin!« schrie Tolpan. »Ich wußte, du würdest kommen – jedenfalls wenn du die magische Flaschenpost bekommen hast. Du hast sie erhalten, nicht wahr?«
Eine Hand packte Tolpans Schulter und stieß den Kender unsanft beiseite. Der Nachtmeister trat an seine Stelle, beugte sich zu dem jungen Zauberer herunter und blies Raistlin seinen ranzigen Atem ins Gesicht.
»Das ist also der mächtige Raistlin«, knurrte der Nachtmeister.
»Dieser Mensch ist nichts neben Euch, Nachtmeister«, sagte Fesz verächtlich. »Er kämpft nicht einmal um sein Leben!«
»Er bleibt gefesselt!« befahl der Nachtmeister. »Wenn er etwas essen oder trinken will, bekommt er es. Aber unterschätzt ihn nicht. Bewacht ihn sorgfältig. Und jetzt laßt uns schnell aufbrechen! Ich will kein Risiko eingehen, und vielleicht hat er nicht die Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, er wäre allein gekommen!«
Die Minotauren gehorchten eilig.
Tolpan stand langsam vom Boden auf. Er wußte, jede Silbe des Nachtmeisters war nahezu heilig, aber der böse Tolpan fand, daß der mächtige Schamane dennoch ein paar Manieren zu lernen hatte. Während er geknickt seine Schulter massierte, dachte der Kender an seinen guten, alten Hupak…Dogz war noch nicht sehr weit, als einer der Minotaurensoldaten ihm hinterhergerannt kam.
Sie waren in einem anderen Teil der zerstörten Stadt, an den Ruinen eines Säulengangs, den Überresten einer Mauer und eingestürzten Balken.
»Vom Nachtmeister«, sagte der Soldat, der Dogz eine Nachricht auf Pergament reichte.
Töte die Menschenfrau, lautete die Botschaft. Es war die unverkennbare Schrift des Nachtmeisters.
Dogz zögerte. Das Menschenbündel über seinen Schultern versuchte zu schreien und zu treten, jedoch ohne Erfolg. Der riesige Minotaurus legte Kit auf den Boden und stellte einen seiner gespaltenen Hufe auf sie, damit sie sich nicht zur Seite rollte.
»Ich muß mit der Gefangenen reden«, sagte Dogz. »Warte auf mich.«
Der Soldat wich in die Schatten zurück.
Dogz schaute sich um. In der Nähe stand eine geborstene Säule. Er schleppte Kitiara hin, nahm ein Stück Seil vom Arm und wickelte es fest um sie und die alte Säule. Dann nahm er ihr die Augenbinde ab.
Ihre Augen sahen ihn fragend an.
»Ich habe den Befehl, dich zu töten«, knurrte der Minotaurus einfach.
Kits dunkle Augen starrten ihn trotzig an.
Der Minotaurus sah sich um, bis er einen großen Steinblock sah. Dann ging er langsam hinüber und setzte sich. Der Auftrag, die Menschenfrau zu töten, verstörte ihn – zunächst einmal, weil diese Menschenfrau ein Freund des Kenders Tolpan gewesen war, bevor der Kender böse geworden war, und dann, weil der Nachtmeister sein Wort gegeben hatte, daß man die Menschenfrau freilassen würde.
Beide Gründe machten Dogz gleichermaßen zu schaffen, und der Minotaurus grübelte lange vor sich hin. Schließlich stand er auf und näherte sich der Menschenfrau. »Ich werde dich heute abend nicht töten«, sagte er einfach.
Er wollte ihr wieder die Augenbinde anlegen. »Ich bringe dich nicht zurück zum Nachtmeister«, erklärte er. »Ich lasse dich hier, bis wir zurück sind. Dann werde ich entscheiden, was zu tun ist.«
Kitiara kämpfte wütend mit ihren Fesseln, weil sie etwas sagen wollte.
Dogz hielt nachdenklich inne. »Wenn du zu schreien versuchst, schlage ich dir den Schädel ein«, sagte er. Dann entfernte er den Knebel.
»Es – es – es geht nicht um mich«, stammelte Kitiara halb erstickt.
Der Minotaurus wartete.
»Es geht um Raistlin«, sagte sie. »Er ist mein Bruder. Kannst du ihm irgendwie helfen?«
Der Minotaurus wollte den Knebel wieder anlegen.
»Warte!« rief sie leise.
Es folgte eine Pause, während der der Minotaurus sie verächtlich anblickte. »Raistlin soll das Opfer sein«, sagte Dogz. »Es ist eine Ehre für Raistlin, Sargonnas, den Gott der Minotauren, in diese Welt einzulassen.« Wieder wollte der Minotaurus sie knebeln.
»Dann vergiß Raistlin«, sagte Kit verzweifelt.
Dogz hielt inne.
Kits Gedanken überschlugen sich. Sie erinnerte sich an die Unterhaltung von Dogz und Tolpan über Freundschaft und Verrat, die sie mitangehört hatte. Das brachte sie auf eine Idee. Vielleicht war es Raistlins einzige Chance.
»Du… du bist Tolpans Freund, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Dogz mißtrauisch.
»Dann gib ihm etwas von mir.«
Sie sagte ihm, was es war. Er riß die Augen auf.
Dogz wich vor Kit zurück, drehte sich um und trat gegen den kalten, aschebedeckten Boden. Minutenlang stand er so da, während Kit ihn beobachtete. Sie wußte, sie hatte ins Schwarze getroffen. So merkwürdig es schien, aber der Minotaurus betrachtete sich als Tolpans Freund.
Langsam ließ Dogz den Knebel sinken. Kitiara verriet ihm, wo das Ding war. Er suchte ihren Körper ab und fand es. Es war sehr klein. Niemand hatte es bemerkt, als sie durchsucht worden war. Und niemand würde es auffallen, wenn Dogz es mitbrachte. Dogz steckte den kleinen Gegenstand in seinen Gürtel. Dann hob er schroff den Knebel und befestigte ihn straff vor Kitiaras Mund.
Er starrte sie an, bis er die Augenbinde wieder angelegt hatte.
Er suchte den Minotaurensoldaten und befahl ihm, hierzubleiben und Kitiara um jeden Preis zu bewachen.
Dann rannte Dogz los, um den Nachtmeister und seinen Troß einzuholen.