6 Gefangen und ausgesetzt

Tagelang trieben sie dahin. Da Sturm und Caramon keine Ahnung hatten, wo sie waren, war jeder Versuch, in eine bestimmte Richtung zu schwimmen, sinnlos. Außerdem waren die Seile, die sie an den gesplitterten Mast banden, vom Salzwasser geschrumpft. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als das Kinn über die Wellen zu halten und mit den Beinen zu treten. Der Himmel blieb grau und bleiern, und Dunst bedeckte alles. Der Nebel war undurchdringlich. Sie sahen überhaupt nichts.

Obwohl nie die Sonne schien, drang diffuses Licht durch den Dunst, und es war heißer als im Hochsommer in Solace. Die Hitze laugte sie aus wie eine nasse Decke, verbrannte Haut und Augen und dauerte gnadenlos an.

Die Nacht brachte nur wenig Linderung. Sie hätten den Einbruch der Nacht und Erlösung von der Hitze begrüßt, wenn sie dadurch nicht in tiefste Finsternis getaucht worden wären. Sie konnten kaum einander erkennen, viel weniger die Zwillingsmonde, Lunitari und Solinari. In diesem Teil der Welt, wo immer sie sich auch befanden, war der Himmel grau und drückend.

Das Wasser selbst brachte nicht viel Trost. Die brackige, braune, fast schlammige See blieb selbst bei Nacht unangenehm warm und hatte einen stechenden Geruch an sich. Die Wellen schlugen hoch, obwohl wenig Wind ging. Es war beinahe, als ob unter der beständig aufgewühlten Oberfläche irgendwelche Turbulenzen herrschten.

Seit zwei Tagen hatten sie kein Zeichen von Leben gesehen, kein Schiff am Horizont, keinen Vogel, keinen Fisch. Seit zwei Tagen hatten sie weder gegessen noch getrunken noch geschlafen. Seit zwei Tagen strampelten und paddelten sie, so gut sie konnten, an dem Mast hängend weiter, doch Stärke und Willenskraft ließen langsam nach.

»Es könnte schlimmer sein«, hatte Caramon am ersten Tag gesagt.

»Wie?« hatte Sturm gefragt.

»Es könnte Flint sein statt mir«, hatte Caramon entgegnet und sich zu einem Grinsen gezwungen. »Er ist der einzige, den ich kenne, der noch schlechter schwimmt als ich.«

Sturm hatte das Grinsen erwidert. Er hatte sich entschlossen, nicht an seinen Körper zu denken, der von Hunger und Schmerzen geschwächt war. Dennoch begann er zu zweifeln, wieviel länger sie beide noch überleben konnten.

»Ich frage mich…«, setzte Sturm an.

»Was?« fragte Caramon.

»Wo sind wir?«

Am dritten Tag wurde der Dunst irgendwann noch dichter, und gegen Mittag konnten sie kaum vier Schritt weit sehen, wo sie hintrieben. Sturm und Caramon warfen sich nervöse Blicke zu, als sie ein Knarren und Stöhnen vernahmen. Schrille Schreie gellten durch die Luft. Gebrochene Balken und Plankenstücke und schwere, wassergetränkte Klumpen Riementang schaukelten auf einmal um sie herum im Wasser.

Sturm lehnte sich vom Mast weg und konnte etwas Tang mit dem Mund erreichen.

»Was machst du denn?« fragte Caramon entgeistert.

»Ist genießbar«, sagte Sturm, der nur noch ein Flüstern herausbrachte. Er kaute angestrengt. Es war eßbar, obwohl es durch seine rohe, gummiartige Konsistenz schlimmer als geschmacklos war. »Wer weiß, wann wir wieder etwas Anständiges zu Essen bekommen.«

Caramon dachte einen Augenblick darüber nach. Dann stürzte er sich, so gut er konnte, auf den nächsten Haufen, der vorbeitrieb, und erwischte auch etwas von den rotbraunen, schmutzigen Pflanzen. Möglichst ohne nachzudenken, kaute der Zwilling entschlossen darauf herum, konnte den Tang jedoch nicht herunterwürgen. Voller Abscheu spuckte Caramon alles wieder aus.

Die braunen Augen streng auf Caramon gerichtet, kaute Sturm weiter.

Nach kurzem Überlegen versuchte Caramon erneut, den Tang zu erreichen, doch es gelang ihm nicht. Die Pflanzen trieben an ihm vorbei.

Das Stöhnen und Schreien wurde lauter. Dann folgte ein Knall und splitternde Geräusche, als wenn… Ja, was? Es klang, als würde ein Schiff auflaufen, als würde Holz brechen, als würde etwas auf einem unerkannten Riff Leck schlagen. Der chaotische Lärm schwoll wie durch ein geisterhaftes Echo an und wieder ab.

Regentropfen mischten sich in den Dunst und prasselten auf ihre Gesichter herab. Die Wellen legten sich, so daß die See unheimlich ruhig wurde. Sie waren von geisterhafter, grauweißer Leere umgeben.

»Was kannst du sehen?« fragte Caramon mit rauher, brüchiger Stimme.

»Nichts«, erwiderte Sturm. »Und du?«

»Weniger als nichts.«

Plötzlich ragte eine große Masse, eine beeindruckende Ansammlung von Umrissen, vor ihnen aus dem Dunst. Einen Augenblick geriet Caramon in Panik, weil er glaubte, ein gewaltiges Seeungeheuer würde sich auf sie stürzen. Dann klärte sich sein Blick ein wenig, und trotz seiner Erschöpfung erkannte er, daß die Masse in Wirklichkeit aus einer Reihe Wracks und verstreuten Überresten von Schiffen bestand. Es knarrte, als die Wracks durch das eigentümlich ruhige Wasser glitten.

Die verfaulenden Schiffe waren ekelhaft weiß wie der Bauch eines toten Fisches und von klaffenden Löchern übersät. Ihr Holz war voller Blut- und Rostflecken und von gelbgrünem Schleim überzogen. Merkwürdige Muscheln und Meerestiere hingen an den Seiten. An den Masten flatterten zerfetzte Segel. Der Wind stöhnte durch die Takelage. Es erschien unmöglich, daß diese Schiffe noch schwammen.

»Sieh nur!« rief Caramon.

Ein dunkler Schatten glitt auf sie zu, das größte Schiff der leckgeschlagenen Flotte. Am Bug stand eine einzelne, verhüllte Gestalt. Drei Leichen baumelten leise schaukelnd an einem hohen Mast. Als sich das Schiff auf ein Dutzend Fuß genähert hatte, drehte sich die Gestalt mit der Kapuze um und neigte den Kopf, als ob sie sie beobachten würde.

Der Kapuzenmann zeigte auf Sturm und Caramon. Das Phantomschiff war so nah gekommen, daß Caramon die feuerroten Augen in den schwarzen Höhlen seines konturlosen Gesichts sehen konnte. Mit seinem knochigen Finger winkte der vermummte Geist – denn ein Geist mußte das Wesen einfach sein, dachte Caramon.

Das Schiff fuhr so nahe heran, daß die beiden ausgesetzten Freunde hätten hochgreifen und es berühren können, wenn sie die Arme dazu frei gehabt hätten. Einzelne, verrottete Planken ragten aus der Seite heraus. Caramon mußte fest treten, um nicht von einem von ihnen getroffen zu werden.

Während das Schiff vorbeifuhr, brachen Stücke von ihm ab und krachten aufs Deck oder platschten ins Wasser. Der vermummte Geist rührte sich nicht, doch seine Augen folgten ihnen. Caramon fühlte den furchtbaren Blick auf sich und Sturm lasten.

So plötzlich wie sie gekommen war, verschwand die Geisterflotte wieder im Dunst. Durch ihren Abzug wurde das brackige Wasser um Sturm und Caramon aufgewühlt, und der Wind frischte auf und steigerte sich schnell zum Sturm. Eine starke Strömung zog an Caramons Beinen. Wellen brachen über ihnen zusammen und füllten Mund und Nase mit Wasser. Der merkwürdige Strudel zog sie nach unten.

Mit einer letzten Kraftanstrengung schlug Caramon mit den Beinen, um sich über Wasser zu halten. Als er nach Luft schnappte, bemerkte er, daß sein Freund noch schlimmer dran war. Sturm hing tief im Salzwasser, so daß seine Lungen fast barsten. Caramon gab sich Mühe, Sturm nach Kräften hochzuhieven, während er gegen den enormen Sog der See ankämpfte.

Sturms Kraft war verbraucht, doch der Solamnier geriet nicht in Panik. Er bedauerte seinen Tod, doch die See hatte sich als würdiger Gegner erwiesen. Der Tod bot eine willkommene Zuflucht. Er fühlte, wie die Wellen sich gewiß zum letzten Mal über seinem Kopf trafen, als der Wirbel plötzlich nachließ und die See sich beruhigte.

Sturm und Caramon kamen hustend an die Oberfläche. Immer noch wogte das Meer um sie her, doch es war weniger bedrohlich. Um sie herum lag wieder Nebel. Die beiden Gefährten klammerten sich, so gut sie konnten, an den Mast, der sie sowohl gefangen, als auch an der Oberfläche hielt. Der halbertrunkene Sturm war kaum noch bei Bewußtsein. Der erschöpfte Caramon kämpfte gegen das Bedürfnis einzuschlafen an.

Irgendwie hielten sie durch. Am Morgen des fünften Tages waren die zwei jungen Männer am Rande der Verzweiflung. Schorf bedeckte ihre Lippen. Ihre Gesichter waren so verbrannt, daß die Haut sprang und eine glitzernde Flüssigkeit austrat. Sie steckten bis zum Hals im Wasser, doch ihre Kehlen waren ausgedörrt.

Immer noch trieben sie aneinanderhängend und an den Mast gefesselt weiter. Die braunen Wellen brachen über sie hinein. Die endlose, gnadenlose See erstreckte sich in alle Richtungen.

Caramons Beine waren so verkrampft, daß er sie kaum noch bewegen konnte. Sturms Augen waren zu verquollenen Schlitzen geschrumpft. Die nicht enden wollende Anstrengung, ihr Kinn über Wasser zu halten, hatte ihren Verstand ebenso betäubt, wie sie ihren Körpern zusetzte.

»Wenn… wenn ich nur diese Fesseln lösen könnte«, keuchte Caramon, dem Wasser in den Mund schwappte, als er ihn zum Sprechen aufmachte. »Allein hättest du vielleicht bessere Chancen.«

»Ich!« rief Sturm schockiert aus. »Ich würde dich nie verlassen! Das wäre unehrenhaft.«

»Jedenfalls«, stellte Caramon mit einem flüchtigen Blick auf Sturm fest, »kann ich sie nicht zerreißen, also schätze ich, daß wir weiterhin aneinander hängenbleiben.«

Minutenlang herrschte Schweigen zwischen ihnen. »Der Mast ist ein Fluch«, sagte Sturm schließlich mit Grimm in der Stimme. »Er hält uns über Wasser, aber nur gerade eben… gerade genug, um uns zu quälen. Ertrinken wäre besser.« Er hielt inne und blickte aufs Meer. »Da! Da sind sie wieder!«

Zwei Meeresraubtiere umkreisten sie seit einem Tag. Vier runde, schwarze Augen in einer breiten Stirn schauten hin und wieder aus dem Wasser, wenn eines der Tiere auftauchte, um Luft zu holen. Die hilflosen Gefährten konnten die dicke, knubbelige Haut und die Klauen mit den Schwimmflossen sehen. Sie erhaschten auch einen Blick auf mächtige Kiefer mit Reihen von dreieckigen Zähnen. Obwohl es riesige Wesen von mindestens acht Fuß Länge waren, hielten sie stets respektvollen Abstand. Stundenlang umkreisten sie ihre Beute oder tauchten lange in die Tiefe, um dann wieder zu beobachten.

»Vodyanoi… verwandt mit den Erdkolossen«, krächzte Caramon. »Ich habe gehört, daß sie im tiefen Wasser leben. Warum greifen sie nicht an?«

»Vodyanoi sind schlau«, sagte Sturm mühsam flüsternd, »aber auch feige. Es muß ein Pärchen sein. Ich wette, wenn es ein ganzer Schwärm wäre, wären wir jetzt schon tot. Aber sie wissen, daß wir müde sind. Es dauert nicht mehr lange. Sie müssen nur warten. Das ist viel einfacher als kämpfen.«

Sturm nahm all seine Kraft zusammen und trat nach den massigen Meereswesen. Die beiden Vodyanoi rissen ihre riesigen Mäuler auf, stießen einen durchdringenden Schrei aus und tauchten ab.

»Keine Sorge«, murmelte Sturm, der kurz die Augen schloß. »Die kommen zurück.«

Sturm glaubte nicht, daß er und Caramon den Tag überleben würden. Sein Magen brannte, als wäre er vergiftet. Seine Beine hingen leblos herunter wie ein totes Gewicht. Einmal oder zweimal hatte er hinüber gesehen und bemerkt, daß Caramon am Eindösen war. Sein Kinn lag sehr gewagt auf dem schaukelnden Mast. Sturm wollte seinen Freund warnen, wach zu bleiben, doch sein ausgetrockneter Mund brachte kein Wort mehr heraus.

Ein Schatten tanzte vor Sturm über das Wasser. Beim Aufblicken sah er oben am diesigen Himmel einen schwarzen Punkt kreisen, doch er war sich nicht sicher. Er glaubte, er hätte diese schwarze Gestalt schon einmal gesehen… gestern? Was war das? Ein weiterer Jäger wie die Vodyanoi, tippte er. Auch am Himmel wartete man auf ihren Tod.

Da war es wieder, das Krächzen, von dem er meinte, daß er es schon zuvor gehört hatte. Es schien von dem schwarzen Punkt zu kommen. War das also ein Riesenvogel, der ihn und Caramon verspottete?

Plötzlich plumpste etwas fast unmittelbar vor ihnen ins Wasser. Es war eckig, eingekerbt und mehrere Finger dick, eine Art flaches Brot, das ganz nah bei dem Solamnier im Wasser trieb.

Sturm reckte sich und erwischte es mit den Zähnen. Es war hart wie Holz, doch es war kein Holz. Es war eine dicke Scheibe Brot. Hungrig biß er hinein, während er mit der Schulter Caramon anstieß.

Der große Krieger bewegte sich und schlug die Augen auf. Sturm ließ die Hälfte des Brotes wieder ins Wasser fallen und stupste sie zu Caramon hin. Dieser war noch soweit bei sich, daß er es mit den Zähnen packte und in mehreren Bissen herunterwürgte.

Wieder erscholl das Krächzen, diesmal entfernter. Caramon und Sturm blickten blinzelnd zum Himmel hoch, doch sie konnten den schwarzen Fleck kaum erkennen, der über ihnen emporstieg und aus ihrem Blickfeld verschwand.

Das dicke, harte Brot war kein Ersatz für Otiks Würzkartoffeln, doch unter den gegenwärtigen Umständen schmeckte es beinahe genausogut.

Die Wärme des Seewassers lullte sie ein. Die mörderische Hitze raubte ihnen alle Energie. Die Monotonie der Wellen betäubte ihre Sinne.

Wie in Trance trieben sie ziellos dahin.

Sturm träumte von seinem Vater und fragte sich, was aus dem tapferen, dem Untergang geweihten Angriff Feuerklinge geworden war. Eines Tages würde er die Antwort erfahren. Vorläufig gab es nur wenige, unzusammenhängende Hinweise – wie Trittsteine, die über einen endlosen Teich verteilt lagen. Immer wenn Sturm auf einen der Steine trat, verwandelte dieser sich in ein Seerosenblatt, und Sturm sank auf den Grund.

Caramon träumte von einem warmen Gasthaus und einem schönen Mädchen.

Keiner von beiden bemerkte, daß der Dunst sich allmählich hob und das Wasser seine schmutzigbraune Farbe verlor.Der Kender durchmaß die Mitte seiner Steinzelle in dem unterirdischen Palastanbau. Tolpan Barfuß schien der einzige Gefangene in diesem Teil des Gebäudes zu sein. Dogz hatte ihm verraten, daß er persönlicher Gefangener des Minotaurenkönigs war. Das erfüllte Tolpan mit Stolz, selbst wenn es bedeutete, daß er besonders ausgeklügelte Foltern und Verhöre zu erdulden hatte.

Dogz war nicht der Folterer. Eines Tages brachte er das bißchen Haferschleim, das die Minotauren Tolpan zu essen gaben. Es war ein abscheuliches Zeug, selbst für Tolpan, der wie die meisten Kender recht offen war, was das Essen anging.

Auch der Befehlshaber, Clief-Eth, war nicht der Folterknecht. Er stellte nur zwischen den Martern die Fragen.

Clief-Eth wollte wissen, wofür Tolpan das Jalopwurzpulver von dem kräuterkundigen Minotaurus Argotz gekauft hatte. Inzwischen hatte Clief-Eth das Jalopwurzpulver – genau wie den restlichen Inhalt von Tolpans Beuteln –, aber offenbar war er mehr darauf aus, zu erfahren, warum der Kender die seltene Substanz überhaupt gesucht hatte.

Tolpan hätte die Frage vielleicht beantwortet, wenn er die Antwort gewußt hätte, aber die kannte nur Raistlin. Grundsätzlich war der Kender gern höflich und hilfsbereit. Aber Tolpan wußte, daß Argotz ermordet worden war und daß die stinkenden Minotauren nach diesem Mord ihm, Caramon und Sturm nachgejagt waren und irgendwie einen magischen Sturm zusammengebraut hatten, der sie an den östlichen Rand des Blutmeers befördert hatte. Er mußte Raistlin unbedingt irgendwann mal fragen, wie so ein magischer Sturm funktionierte.

Deshalb beantwortete Tolpan die Frage nicht, und die Minotauren quälten ihn schon tagelang.

Die armen, blöden, häßlichen, schmutzigen Rindviecher! Sie brauchten viel Nachhilfe bei ihren Foltertechniken. Aus Tolpans Sicht waren sich die minotaurischen Folterknechte höchst uneinig über die Frage, wie viele Schmerzen sie ihm zufügen durften, damit er ihnen sagte, was er wußte, ohne ihn schwer zu verletzten oder zu töten. Wenn sie Tolpan umbrachten oder in den Wahnsinn trieben, ohne die erwünschte Antwort zu erhalten, würde sich jemand namens Nachtmeister furchtbar aufregen.

»Vorsicht, ihr Dummköpfe!« mahnte Clief-Eth immer wieder während der Folterungen. »Der Nachtmeister hat strenge Anweisung gegeben, daß der Kender am Leben bleiben muß, bis er redet!«

Das bedeutete, daß sie ihm nicht die Zunge herausreißen konnten – was wirklich schade war, wie Tolpan überlegte, denn das wäre eine ziemlich wirksame Maßnahme gewesen.

Nachdem ihn die Henkersknechte einige Tage lang getreten und verprügelt hatten, ohne einen anderen Erfolg zu erzielen als Beulen und Blut, versuchte der Kender, Clief-Eth und seinen Untergebenen mit einfallsreichen Vorschlägen auszuhelfen.

»Warum hängt ihr mich nicht an meinem Haarknoten irgendwo auf?« riet er ihnen.

Clief-Eth hielt das für eine gute Idee. Also baumelte Tolpan einen ganzen Tag und eine Nacht, in der er nicht viel Schlaf bekam, an seinem Haarschopf von einem Haken in der Decke. Sein Gesicht lief knallrot an, und er erstickte beinahe. Tolpan mußte zugeben, daß es wirklich wehtat. Er gratulierte Clief-Eth zu seiner ausgezeichneten Foltermethode, doch auch sie erbrachte nicht das von den Minotauren gewünschte Resultat.

»Schneidet mir meinen Haarknoten ab, damit ich mich schäme«, schlug Tolpan spontan vor. »Ein Kender mit kurzen Haaren wird wie ein Aussätziger behandelt, wie eine Kuh ohne Hörner.«

Clief-Eth fand, daß es einen Versuch wert war, also schnitten die minotaurischen Folterknechte Tolpans Haare direkt an der Kopfhaut ab. Tolpan schämte sich außerordentlich – ungefähr fünf Minuten lang. Danach fiel ihm ein, daß die einzigen, die seinen geschorenen Kopf zu sehen bekamen, diese stinkenden Minotauren waren. Außerdem beschloß er, daß das Ergebnis gar nicht so unpraktisch war. Vielleicht sollte er seine Haare öfter abschneiden. Jedenfalls gratulierte er den Minotauren überaus höflich zu ihren Fähigkeiten als Folterer und ihrer Bereitschaft, neue Methoden auszuprobieren.

Natürlich hatten Clief-Eth und seine Minotauren auch ein paar eigene Ideen. Tolpan mußte zugeben, daß ein paar davon durchaus effektvoll waren.

Sie versuchten, ihn auszuhungern, obwohl Tolpan ihren Gefängnisfraß sowieso verabscheute. Die einzige Folter am Hungernlassen war, daß er Dogz nicht zu sehen bekam, den er inzwischen richtig gern hatte. Aber wenn Dogz das Essen brachte, tat er dies neuerdings unter dem wachsamen Blick von Clief-Eth und riskierte daher kein Wort an Tolpan.

Die minotaurischen Folterknechte brachen Tolpan alle Finger einer Hand, einen nach dem anderen, einmal mit einem Steinhammer, einmal durch Zurückbiegen, bis der Finger knackte und so weiter. Das tat ziemlich weh. Aber die langen, schlanken Kenderfinger sind wie die Knochen eines Menschenbabys. Sie schmerzen, doch sie heilen rasch. Das wußte Tolpan, und er gab sich größte Mühe, den Schmerz so ehrenhaft zu ertragen, wie es seinem Freund Sturm wohl gelungen wäre.

Wo waren Caramon und Sturm überhaupt? Ob sie tot waren? Während der Folter konzentrierte sich Tolpan darauf, sich um seine beiden Freunde zu sorgen. Bestimmt mußte man sie retten. Wenn er aus seiner gegenwärtigen Lage entkommen war, würde er auf jeden Fall versuchen, sie zu finden.

Die minotaurischen Folterer tauchten Tolpan versuchsweise in eiskaltes Wasser. Drei der gehörnten Unmenschen waren nötig, um seinen wildgewordenen Kopf unter die Oberfläche einer riesigen Badewanne zu drücken. Sie hielten ihn lange, lange fest. Tolpan hielt so lange den Atem an, bis es einfach nicht mehr ging. Er mußte zugeben, daß er fast ertrunken wäre. Das dürfte wohl die beste Foltermethode gewesen sein, wenn er sie nach Effektivität wertete. Aber der Kender sagte Clief-Eth immer noch nicht, was der Minotaurus wissen wollte.

Clief-Eth wiederholte immer dieselben Fragen: »Bist du ein Zauberer? Wozu wolltest du diese Zutaten haben? Wenn du kein Zauberer bist, für wen arbeitest du dann?«

Natürlich konnte Tolpan diese Fragen nicht beantworten, weil er dadurch Raistlin einen Haufen Schwierigkeiten eingebrockt hätte. Der arme Raistlin… auch wenn er vielleicht nicht gerade jemand war, den man zum Geburtstag einladen würde. Aber Tolpan mochte ihn und wußte, daß der Magier eine solche Situation nicht so gut wie er durchhalten würde.

Dann hörten die Torturen plötzlich auf.

Tagelang blieb Tolpan allein. Sein einziger Besucher war Dogz. Am ersten Tag nach dem Ende der Folter war Dogz die Treppe heruntergekommen, um den Kender die erste Schale Suppe zu bringen, die man ihm seit einer ganzen Weile zugestanden hatte. Der Minotaurus stellte sie vorsichtig vor Tolpans Zelle ab und schob sie mit dem Fuß unter den Gitterstäben hindurch.

Da Tolpans rechtes Auge zugeschwollen und das andere von Blut und Schmutz verklebt war, und da ihm sowieso nicht sehr nach Essen war, sprang er nicht auf. Er sah noch nicht einmal auf und sagte auch nichts zu Dogz. Deshalb bemerkte er nicht, wie Dogz ihn anschaute.

Mit niedergeschlagenen Augen trollte sich der Minotaurus. Erst Stunden später, nachdem er längst fort war, als der Kender endlich beschloß, die Suppe zu probieren, erkannte Tolpan, daß die Schüssel nicht den üblichen Schleim enthielt. Es war Kleiesuppe, inzwischen abgekühlt, aber gar nicht so schlecht, wenn man bedachte, daß sie von Minotauren gekocht worden war. Dieser Dogz!

Danach brachte Dogz mehrere Tage lang heiße Kleiebrühe, und Tolpan erholte sich allmählich. Seine Schnitte und Blutergüsse würden bald heilen, und an der Stelle, wo sein Haarknoten gewesen war, sproß schon wieder Flaum.

Er und Dogz unterhielten sich wieder. »Warum haben sie aufgehört, mich zu foltern, Dogz?« fragte der Kender.

Dogz blickte über die Schulter zur Treppe, die nach oben führte. »Ich weiß nicht, ob ich dir das verraten darf«, knurrte der Minotaurus.

»Wieso nicht?« fragte Tolpan unschuldig. »Du erzählst mir doch sonst alles. Ich weiß schon von deinem Bruder, der bei einer Kneipenschlägerei umgekommen ist, und von deinem Onkel, der dem Obersten Rat angehörte, ehe er als Gladiator in der Arena starb, und von der Frau deines Vetters, die mit einem Schmied in Streit geriet, der ein Messer zog und… He, ist dir je der Gedanke gekommen, daß deine Familie unter einem Fluch stehen könnte? Alle werden umgebracht.« Tolpan machte eine Pause, um genüßlich die Suppe von dem Holzlöffel abzulecken. Inzwischen wußte er, daß er aufhören mußte zu reden, um eine Antwort aus Dogz herauszulocken.

»Also, warum haben sie aufgehört, mich zu foltern?«

»Weil der Nachtmeister einen wichtigen Gesandten schickt, der dich befragen soll«, grollte Dogz.

»Einen was?«

»Einen der wichtigsten Adepten seines Kults.«

»Oh. Ist das gut oder schlecht?«

Dogz legte das Gesicht nachdenklich in Falten. »Ich weiß es nicht«, gab er ehrlich zu. »Aber es ist eine große Ehre für Lacynos, ihn aufzunehmen. Es kommt selten vor, daß der Nachtmeister einen der Hohen Drei den ganzen Weg von Karthay hierher schickt. Ich kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal geschehen ist.«

»Warum kommt er nicht selbst?« fragte Tolpan.

Dogz stieß ein langes, tiefes Kichern aus und bleckte dabei seine gelben Zähne. »Der Nachtmeister verläßt Karthay selten«, antwortete Dogz. »Sein Reich ist Karthay.«

»Hast du ihn je gesehen?«

»Natürlich nicht«, schnaubte Dogz.

»Woher weißt du dann, daß es ihn überhaupt gibt?«

Dogz wurde zornig. »Das ist überhaupt nicht lustig, Freund Tolpan. Er ist der höchste Priester unserer Religion. Er ist die direkte Verbindung zu Sargonnas, dem Gott, den wir verehren.«

»Hmm«, sagte Tolpan. »Sargonnas, Kumpan der Takhisis…« Tolpan leckte den letzten Rest vom Löffel ab und schob Löffel und Schale wieder unter dem Zellengitter hindurch.

»Ja«, sagte Dogz begeistert. »Treuer Diener der Königin der Finsternis. Ich wußte nicht, daß du dich so gut mit den Göttern von Krynn auskennst.«

»Oh, ich weiß von allem möglichen ein bißchen. Überall wo ich hinkomme, schnappe ich ein paar Dinge auf – überhaupt, wenn dieser Nachtmeister auf der Insel Karthay lebt und sie nie verläßt, was macht er denn da die ganze Zeit?«

Dogz zögerte, schüttelte dann aber den Kopf.

Von oben kam ein Ruf. Tolpan erkannte die Stimme von Sarkis, der nie weit war, besonders, wenn er Gelegenheit bekam, Dogz herumzukommandieren.

Peinlich berührt ergriff Dogz den Löffel und die leere Schale und eilte dann die Stufen hinauf.

Nicht lange darauf brachte Dogz eines Tages wieder den gewöhnlichen, gräßlichen Haferschleim. Tolpan vermutete, daß das ein Zeichen für die Ankunft des hohen Gesandten des Nachtmeisters war. Später am Tag polterte eine Gruppe Minotauren die Treppe herunter, um einen Blick auf Tolpan zu werfen. Außer ein paar der bekannten Folterknechte war Sarkis dabei, der neben Clief-Eth unbedeutend und mickrig wirkte, und dazu ein Neuankömmling, der sich von den anderen unterschied.

Den Neuankömmling sah sich Tolpan genauer an. Er schien eine Art junger, kraftstrotzender Schamane zu sein, denn er trug Pelze und einen gefiederten Kopfschmuck. Seine Hörner waren so gewaltig, daß sie fast die hohe Decke streiften.

Die anderen behandelten den Schamanen unterwürfig, der hin und her schritt und Tolpan von allen Seiten schief ansah.

»Hoch mit dir, Kender«, knurrte Sarkis. »Du hast hohen Besuch.«

Der Minotaurenschamane sah stirnrunzelnd auf. Clief-Eth warf Sarkis einen ärgerlichen Blick zu.

Da Tolpan sich immer über Gesellschaft freute, gab er sich größte Mühe, für diesen wichtigen Besucher fröhlich und ansehnlich auszusehen. Das war gar nicht so einfach angesichts der Tatsache, daß er von heilenden Wunden übersät war, daß seine Kleider in Fetzen hingen und seine Füße bloß und zerschunden waren. Er blickte dem wichtigen Besucher ins Gesicht. Dieser schaute ihn seinerseits forschend an.

»Wir haben bei dem kleinen Luder alles versucht, Fesz«, beklagte sich Clief-Eth bei dem Schamanen. »Er gibt einfach nicht nach. Ich denke, wir bringen ihn am besten um und fertig.«

»Du wirst nicht fürs Denken bezahlt«, grollte Fesz beinahe sanft, wie Tolpan fand. »Und wenn das so wäre, würde dein Lohn sehr gering ausfallen.«

Clief-Eth schnaubte, sagte aber nichts. Fesz drehte sich wieder zu der vergitterten Zelle um. Da der Kender dem riesigen Minotauren nicht einmal bis zur Brust reichte, ließ sich Fesz auf die Knie nieder und blickte Tolpan direkt ins Gesicht.

Tolpan roch den fauligen Atem des Minotaurus, seinen Achselschweiß, die ranzigen Streifen seiner Pelzkleider, doch er war zu gut erzogen, um gerade jetzt etwas darüber zu erwähnen.

»Du bist aber ein netter, kleiner Bursche«, schnurrte Fesz, der seine große sehnige Hand ausstreckte, um Tolpan die Wange zu streicheln.

Seine Stimme klang melodiös und wirkte beruhigend auf den Kender. Seine Hand fühlte sich irgendwie gut an, mußte Tolpan zugeben.

»Du bist nicht unser Feind; du bist unser Freund«, sagte Fesz mit tiefer Stimme. »Das sehe ich doch. Es war falsch, daß die anderen dich so schlecht behandelt haben.« Sein Kopf machte eine mißbilligende Geste in Richtung Clief-Eth.

»Falsch und grausam. Diese Städter haben so grausame Methoden. Mir blutet das Herz bei dem Gedanken, daß sie dir Schmerzen zugefügt haben. Der Nachtmeister persönlich hat mich geschickt. Auf sein Geheiß hin bin ich sofort gekommen, als ich von deinem Schicksal erfahren habe.«

Tolpan hörte zu. Obwohl der Atem immer noch ekelhaft roch, lullten ihn die Worte ein. Und hinter den faustgroßen Augen des Schamanen glaubte er einen Schimmer von Freundlichkeit zu entdecken, der in ihm Hoffnung weckte.

»Ich habe dir ein Stärkungsmittel mitgebracht, Tolpan Barfuß«, erklärte Fesz beruhigend. »Das wird die Sache sehr viel besser erledigen als alle Folter. Es macht dich zu meinem Freunde, dann sind meine Freunde deine Freunde und meine Feinde deine Feinde. Du hast den verständlichen Wunsch, dich für das Gute einzusetzen. Das hier jedoch wird dich auf meine Seite bringen – auf die Seite des Bösen.«

Die großen Hände des Minotaurus reckten sich etwas weiter und ergriffen Tolpan am Hals, um ihn fest, aber nicht zu fest zu halten. Er konnte immer noch atmen. Tolpan wand sich abwehrend, als der Minotaurus ihn näher heranzog. Obwohl er nicht nur an der Kehle, sondern auch von dem zwingenden Blick des Schamanen gehalten wurde, bemerkte Tolpan, wie Fesz mit der anderen Hand ein Zeichen gab. Zwei der übrigen Minotauren kamen rasch herbei. Sie trugen einen verzierten Kelch. Großspurig nahm Clief-Eth dem Minotaurus den Kelch ab und kam hinter Fesz hervor.

Fesz sperrte dem Kender die Kiefer auseinander, während Clief-Eth Tolpan eine grün-goldene Flüssigkeit aus dem Kelch in den Hals kippte. Schmeckt nicht schlecht, dachte Tolpan. Er fand die Vorstellung aufregend, daß sie ihn böse machen wollten. Das war Tolpans letzter bewußter Gedanke.

Der Kopf des Kenders sank auf die Brust, als der Trank zu wirken begann. Fesz ließ ihn auf den Boden sinken.

Nachdem er aufgestanden war, warf Fesz einen zufriedenen Blick auf Tolpan Barfuß. »Bringt ihn in mein Gästezimmer«, befahl der Schamane. »Ich kümmere mich selbst um ihn. Von jetzt an ist er einer von uns.«

Clief-Eth drehte sich um und bellte Befehle, doch Fesz packte ihn an der Schulter und riß ihn zurück. Der Schamane holte aus, schlug dem Kerkermeister ins Gesicht und stieß ihn dann zu Boden. Clief-Eth kam taumelnd wieder hoch. Betreten rieb er sich die Wange, wagte jedoch keine Gegenwehr. Statt dessen machte er eine leichte armselige Verbeugung.

Sarkis und die anderen Minotauren im Hintergrund grinsten höhnisch.

»Dieser Kender ist kein Zauberer!« knurrte Fesz Clief-Eth zornig an. »Das sieht doch jeder Trottel!«Hundert Jahre lang hatte man die Insel Karthay für einsam und verlassen gehalten. Kaum jemand reiste hierher. Wer es riskierte, wurde von Rieseninsekten, Heuschreckenschwärmen, lauernden Erdkolossen und todbringenden Sandbewohnern empfangen, die in den Dünen und Felsen umherkrochen. Nur wenige überlebten den heulenden Wind und den peitschenden Sand, ganz zu schweigen von der unbarmherzigen, grausamen Hitze der endlosen Tage und der bitteren Kälte der qualvollen Nächte auf der Insel.

Vor Hunderten von Jahren – keiner wußte genau, zu welchem Zeitpunkt – hatte es auf dieser Insel eine große Stadt gegeben, eine berühmte Stadt, die Karthay geheißen hatte. Es hatte eindrucksvolle Gebäude, saubere, ordentliche Straßen und eine blühende Zivilisation gegeben. Angeblich hatte sogar eine große Universität für höhere Studien existiert und eine Bibliothek, die für ihren Reichtum an Büchern gerühmt wurde.

Dann, vor Hunderten, vielleicht Tausenden von Jahren, hatte eine unbekannte Katastrophe die Stadt Karthay heimgesucht. Jetzt lag sie unter Tonnen von Gestein unter einer eingestürzten Klippe am Südrand der Insel begraben. Hier und da ragten zerbrochene Mauern und erkennbare Häuserteile aus dem Boden. Beim Zusammenbruch der großen Stadt hatten sich in den Trümmern unzählige Tunnel und Schluchten gebildet, ein Labyrinth unterirdischer Gänge. Einige waren durch eingeschlossene Gase sehr tückisch, andere mit Sandgruben übersät, wieder andere erstreckten sich meilenweit sicher und ohne Unterbrechung.

Das ungastliche Klima in den verlassenen Ruinen machte sie zum idealen Schlupfwinkel für den Nachtmeister. Obwohl ein paar beunruhigende Probleme aufgetaucht waren, machte sein Plan Fortschritte. Er wollte Sargonnas, den Gott der Vergeltung, in die Welt rufen und sich mit den feindseligen und bösen Rassen von Ansalon verbünden.

Der Nachtmeister hatte sein Heiligtum in einem ausgehöhlten Bereich der eingestürzten Ruinen errichtet, wo einst die große Bibliothek gestanden hatte. Von dieser einst großen Stätte des Lernens waren nur ein paar vereinzelte Säulen und hier und dort wenige vom Wind verwehte Fetzen uralter Bücher erhalten. Um das Lager des Nachtmeisters, das nicht überdacht war, lag ein Ring aus Feuern.

Immer in der Nähe des Nachtmeisters hielten sich die beiden verbliebenen Minotaurenschamanen der Hohen Drei auf, die jeder seiner Launen nachkamen und aus jedem Wort, jeder Handlung von ihm lernten. Um das Heiligtum herum lagerten in respektvoller Entfernung eine Gruppe ergebener Jünger und eine kleine Armee kampferprobter Minotauren, die unter dem Befehl des Nachtmeisters in Karthay stationiert waren.

In dieser Nacht wurde das Lager von einem seltenen Gast aufgesucht, der dem Nachtmeister äußerst wichtige Informationen brachte. Das Schuppenwesen mit seinen winzigen Flügeln und einer häßlichen Schnauze saß auf einer bröckelnden Mauer neben dem Oberkleriker der Minotauren, wo es nach der langen Reise mit starkem, heißem Schnaps seinen Durst löschte. Sein wahres Aussehen war nur dem Nachtmeister und den Hohen Drei bekannt. Wenn die Jünger und die minotaurischen Soldaten es gewagt hätten, durch die Dunkelheit zu spähen, hätten sie nur eine kleine Gestalt in Umhang und Kapuze gesehen.

»Ich habe mich geschickt verkleidet«, berichtete das Schuppenwesen mit rauher, aber schriller Stimme, »und jeden gefragt, den ich in diesem langweiligen, abgelegenen Nest getroffen habe, aber keiner wußte, wohin sie verschwunden sind oder weshalb.« Das Wesen füllte sich seine Steinguttasse noch einmal und nahm zufrieden einen tiefen Schluck.

Ein säuerlicher, schwefliger Geruch ging von dem Wesen aus, der vom Wind zu den lagernden Minotauren getragen wurde. Einige der gehörnten Stiermenschen, die doch für ihren eigenen Gestank berüchtigt waren, wechselten Blicke.

Der Nachtmeister mit seinen riesigen, intelligenten Augen verlagerte beim Zuhören das Gewicht. Winzige Glöckchen klingelten, wenn er sich bewegte. Um seine Schultern hatte er eine schwere Pelzrobe gelegt. Er seufzte, denn er wartete, daß der mit den Schuppen in seiner Erzählung fortfuhr.

Der Wind frischte auf, pfiff durch die Ruinen und blies ihnen Sand und Staub ins Gesicht. Die glühende Hitze des Tages war der rauhen Kälte der Nacht gewichen.

»Aber über meine Beziehungen«, zischte das Wesen, »habe ich herausbekommen, daß einer von ihnen einer jungen Frau, offenbar seiner Schwester, eine Nachricht geschickt hat. Und diese Frau ist auf dem Weg hierher!«

»Hierher?«

Nachdem es wachsam über seine Schulter geblickt hatte, lehnte sich das Schuppenwesen nach vorn und flüsterte dem Nachtmeister alles zu. Es erzählte ihm, wie die Frau namens Kitiara die Nachricht erhalten hatte und sofort verschwunden war. Innerhalb der nächsten Tage würde sie wohl auf der Insel auftauchen. Mit gespenstischem Zwinkern versicherte das Schuppenwesen dem Nachtmeister, daß seine Quellen absolut zuverlässig waren. Man durfte der Nachricht Glauben schenken.

Aufgebläht vor arrogantem Stolz nahm der Besucher einen weiteren tiefen Schluck.

Mit sichtlicher Ungeduld betrachtete der Nachtmeister das Wesen. »Und du glaubst«, grollte der Nachtmeister, »daß der, den ich suche, dieser junge Magier aus Solace ist – nicht der Gefangene in Lacynos?«

»Ja«, zischte der Besucher, »und der junge Magier ist verschwunden. Er hat Solace mit zwei Freunden verlassen. Auch sie könnten auf dem Weg hierher sein.«

Seufzend hob der Nachtmeister seinen riesigen Kopf. Seine Hörner ragten nach oben, als er die Augen an den dunklen Himmel wandte, um nach Vorzeichen Ausschau zu halten. Der Nachtmeister war unbesorgt. Im Gegenteil, er war außerordentlich zuversichtlich.

Es ging etwas vor sich, doch das konnte nichts Wichtiges sein. Das waren lästige Kleinigkeiten. Fesz war unterwegs, um mit dem Gefangenen in Lacynos fertigzuwerden. Er selbst würde sich auf die Ankunft der jungen Frau vorbereiten. Die anderen würden wieder auftauchen, egal wohin sie verschwunden waren. Welche Gefahr konnten sie schon für das unausweichliche Kommen von Sargonnas darstellen?

»Du hast deine Sache gut gemacht«, knurrte der Nachtmeister dem Schuppenwesen zu.

Dieses kippte erneut Schnaps in sich hinein. Noch vor Tagesanbruch würde es verschwinden. Keiner konnte schwören, es gesehen zu haben. Keiner würde sagen können, wer oder was dem Nachtmeister gedient hatte.

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