5 Das Orakel und das Portal

Überall in dem dichten Wald lagen abgebrochene Äste, die von Schlingpflanzen und schwammiger, moosartiger Vegetation überwuchert waren, so daß man nur mühsam voran kam. Unerwartet kamen Bäche ans Tageslicht, die auf einen gewaltigen, unterirdischen Strom hindeuteten, plätscherten eilig vorbei und verschwanden wieder im Dickicht des Waldes.

Das Land stieg langsam an. Der Wald lag inmitten von Bergen, an denen das Gelände abrupt in eine Felslandschaft überging. Hier und dort fielen blasse Sonnenstrahlen in das grünblaue Licht, das im Wald vorherrschte.

Langsam suchten sich die drei Freunde einen Pfad durch das Gestrüpp. Schwungvoll hackten Flint und Tanis auf das üppige Grün ein, um sich und Raistlin einen Weg zu bahnen. Tanis murrte, weil er sein Schwert zu so etwas hergeben mußte, während Flint, der den größten Teil des Morgens der Nörgler gewesen war, eine gewisse Freude daran hatte, seine gut geschärfte Axt zu schwingen. Hinter ihnen wartete Raistlin wortlos jedesmal, wenn sie anhielten, und lehnte sich dabei auf den festen Wanderstab aus Zedernholz, den Flint ihm vor einigen Monaten geschnitzt hatte. Sein bleiches Gesicht verriet seine Spannung, doch er ertrug die Verzögerungen geduldiger als seine zwei Gefährten.

Die Beschreibung des Zaubermeisters war sehr genau gewesen. Die Höhle des Orakels war zwar gut verborgen und ihre genaue Lage nur einer Handvoll privilegierter Zauberkundiger bekannt, doch sie lag nicht viel mehr als eine halbe Tagesreise von Solace entfernt. Morat hatte Raistlin eingeschärft, auf der Hut zu sein. Das Orakel hatte unvorstellbare Kräfte und war ungebetenen Gästen gegenüber nicht sehr freundlich gesonnen.

Hinter Solace gabelte sich die Straße, die nach Südosten führte, in zwei kleinere, steinige Straßen, von denen die eine tiefer in den hügeligen Süden ging, während die andere nach Osten abbog. Morats Anweisungen entsprechend nahmen Tanis, Flint und Raistlin die östliche Straße. Nach einigen Meilen fächerte sich der Weg in zahlreiche, ausgetretene Pfade auf, so daß der Reisende die Qual der Wahl hatte. Ohne den Rat des Zaubermeisters hätten sie nie den schmälsten davon gewählt, einen matschigen, lehmigen Pfad nach Nordosten, der ein paar Meilen später offenbar in einer Sackgasse endete. Ein Dickicht niedriger Gewächse umgab einen Hain gewaltiger, breitblättriger Bäume mit tiefhängenden Zweigen und dicken Stämmen.

Eine halbe Stunde lang hackten sie sich durch das wuchernde Unterholz einen Weg frei, bis sie an einer Gruppe prachtvoller Bäume mit weit ausgebreiteten Ästen vorbeikamen. Auf der anderen Seite der Sperre ging – wie der Zaubermeister es gesagt hatte – der gerade noch zu erahnende, alte Pfad weiter.

Teils gebückt, teils über Felsen hinweg oder unter umgestürzten Bäumen hindurch arbeiteten sich die drei eine Stunde lang auf dem gewundenen, schuttübersäten Pfad vorwärts.

Raistlin schlug ein ordentliches Tempo an. Seine Entschlossenheit, das Orakel zu erreichen, beeindruckte Tanis, der Kitiara aus seinen Gedanken verdrängt hatte und ganz mit seiner augenblicklichen Aufgabe beschäftigt war. Flint nutzte jede Gelegenheit zum Schimpfen und Murren.

»Dein Magier da sollte besser wissen, wovon er spricht!« beschwerte sich Flint und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. Anschließend war das Tuch von Dreck und Schweiß verschmiert.

Raistlin sah ihm fest in die Augen. »Wenn du Zweifel hast, dann kehr um«, fauchte Caramons Zwillingsbruder, der ebenso erschöpft war wie der Zwerg und solche Anstrengungen weitaus weniger gewöhnt war. Sein Gesicht glänzte blaß. »Obwohl ich dachte, daß für jemanden von deinen Waldläuferqualitäten dieser Ausflug ein Kinderspiel sein müßte.«

Flint setzte eine finstere Miene auf, hielt aber den Mund, drehte Raistlin den Rücken zu und schlug wieder den Pfad frei. Auch Tanis hätte etwas Zuspruch gebrauchen können, aber er sah das ärgerliche Glimmen in Raistlins Augen und sagte lieber nichts.

Schließlich schien der kaum sichtbare Pfad auf einer kleinen, grasbewachsenen Lichtung zu enden. An einem Ende der Lichtung stand ein Mammutbaum, der mit anderen Bäumen und großen Findlingen dahinter zu verschmelzen schien. Unten an dem großen Baum klaffte ein schwarzes Loch. Das mußte der Ort sein, denn aus der Höhlung drangen Nebelschwaden, die von einem seltsamen, brackigen Geruch begleitet waren.

»Hallo!« rief Raistlin kühn. Als er sich in die Dunkelheit bückte, klang seine Stimme im stillen Wald rauh und laut. »Drei Freunde zu Besuch! Wir bringen Grüße von Morat, dem Zaubermeister!«

Die einzige Antwort war Schweigen. Bei Raistlins Worten ringelten sich kalte, weiße Nebelfinger um seine Füße und schoben sich aufwärts um seine Beine und seinen Körper, ohne den jungen Zauberer richtig zu berühren. Doch sie schillerten und pochten, als würden sie auf die Wärme seines Blutes reagieren.

Mit immer größeren Augen beobachtete Tanis den unheimlichen Nebel und warf einen Blick auf Flint, der ihm finster zunickte. Die zwei Freunde, die wenige Schritte hinter Raistlin standen, nahmen ihre Waffen zur Hand. Über die Schulter warf ihnen der junge Zauberer einen strengen Blick zu. Widerstrebend steckten Zwerg und Halbelf die Waffen wieder ein.

Nach langen Augenblicken schüttelte Raistlin irritiert den Kopf und faßte einen Entschluß. Ohne ein Wort der Warnung an seine Gefährten nahm er seinen Stab herunter, zog den Kopf ein und verschwand in der schwarzen Höhlung. Fast augenblicklich ließ der Nebel nach und wurde mit ihm in die Höhle gesogen. Flint und Tanis mußten sich sputen, um nachzukommen.

Gleich hinter der Öffnung stießen die drei zusammen. Raistlin war hinter dem Eingang stehengeblieben, um seinen Augen Zeit zu lassen, sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Zunächst konnte keiner von ihnen in der nebligen Dunkelheit viel sehen. Der knochenweiße Nebel umwogte sie, kräuselte sich und veränderte seine Form. Selbst Tanis mit seinen Elfenaugen konnte wenig sehen. Obwohl der Nebel substanzlos erschien, stellte er eine undurchdringliche Sichtbarriere dar. Er verhinderte jedoch nicht das Hören. Nach einem Moment absoluten Schweigens nahmen Tanis und die anderen Stimmen wahr, die unverständlich von weiter hinten in der Finsternis erklangen.

Auch konnten sie noch riechen. »Hier drin stinkt es schlimmer als bei einem toten Troll«, flüsterte Tanis Flint zu, der sich einen Lappen vor Mund und Nase preßte, um dem Gestank zu entkommen.

»Ruhe!« zischte Raistlin.

Der junge Zauberer tastete mit seinem Stab nach vorn und berührte die Decke. Dann erklärte er den anderen, daß sie sich in einem niedrigen Tunnel befanden. Langsam ging er weiter, wobei er mit der rechten Hand den Weg erkundete. Seine Gefährten folgten ihm. Eng beieinander stolperten die drei minutenlang weiter, bis sie zu einer scharfen Biegung kamen. Dahinter erleichterte ihnen ein schwacher Lichtpunkt vor ihnen das Weitergehen.

Das Licht wurde allmählich heller, bis sie in eine Art Behausung traten, die eher rund als eckig war und bis auf den Tunnel keinen weiteren Zugang hatte. In diesem Raum gab es keinerlei unverständliche Stimmen oder dunkle Prophezeiungen. Als Tanis hochschaute, sah er Sonnenlicht eindringen. Der Erdboden war trocken, fest gestampft und sauber gefegt. Ein Stuhl, ein Bett und eine große Korbtruhe wiesen darauf hin, daß jemand hier wohnte.

Am hinteren Ende des Raums dampfte und blubberte ein Kessel. Der Nebel zog sich zurück und waberte über dem Kessel. Kein Hinweis auf den Bewohner oder Besitzer. Der überwältigende, stechende Geruch hing immer noch in der Luft.

Etwas entspannter faßte Tanis an die Wand, die ihn interessierte. Sie war mit Streifen in gedämpften Farben gemasert, schien jedoch weder aus Holz noch aus Stein zu sein. Dennoch fühlte sie sich hart an.

»Irgendein versteinertes Holz«, murmelte Flint bewundernd, während er sich über seinen grauen Bart strich. Er stupste Tanis mit dem Ellenbogen an, um dessen Augen auf Raistlin zu lenken.

Beide sahen etwas befremdet zu, wie der junge Magier, ohne auf seine Gefährten zu achten, weiterging und sich vor dem Bett hinhockte. Offenbar sprach er mit leiser Stimme unmittelbar zum Boden vor seinen Füßen.

»Wir kommen nicht als Feinde…«, murmelte Raistlin mit gesenktem Blick. Tanis und Flint konnten seine Worte kaum verstehen. »… und wenn wir welche wären, könntest du uns sicher leicht besiegen, Chental Pyrnee.«

Als Tanis näher hinsah, erblickte er eine weiße Spitzmaus, die mit heftig zuckenden Barthaaren unter dem Feldbett kauerte. Flint entdeckte das winzige Tier ebenfalls. Die Spitzmaus, die stecknadelgroße, harte, rote Augen hatte, huschte piepsend und quiekend hin und her.

»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, fügte Raistlin hastig hinzu, der immer noch am Boden kauerte. »Wir sind gekommen, um dir Respekt zu erweisen und um einen Gefallen zu bitten. Ich weiß, daß wir in dein Reich eingedrungen sind, aber bitte hör uns an. Wenn du willst, kannst du uns verbannen oder sogar vernichten. Mein Lehrer, Morat von Teichgrund, sagt, daß du beides kannst, denn du hast wirklich außergewöhnliche Kräfte.«

Ein Knall ließ die Luft erbeben, dem folgte ein Knistern. Die Spitzmaus war verschwunden. Neben dem schweren Kessel erschien wie aus einem Riß in der Luft, der sich unmittelbar hinter ihr schloß, eine alte Ogerin… das Orakel. Sie rührte den Kessel um, während sie ein giftiges, purpurrotes Auge auf Raistlin warf. Das andere Auge schien zugenäht zu sein. Es eiterte.

Mit mißtrauischem Blick machte Tanis einen Schritt zurück. Flint fingerte nervös an seinem Axtgriff herum. Raistlin erhob sich wieder.

»Genauso schnell könnte ich eure Knochen in der Suppe haben!« zeterte die Ogerin. »Glaubt bloß nicht, daß ich das nicht kann. Ich muß bloß den Finger heben!« Ihre Stimme war heiser und schrill. Sie rührte heftig weiter und legte dabei den Kopf in Raistlins Richtung. »Wie geht es denn dem dummen, alten Morat? Ich höre immer nur von ihm, wenn er eine Bitte hat. Wer bist du, daß du seinen Namen in den Mund nehmen darfst?«

Chental Pyrnee war eine unglaublich häßliche Ogerin. Es war unmöglich, ihr Alter oder ihr Gewicht zu schätzen. In ihren losen Kleidern und den zahlreichen Schals in den unterschiedlichsten, unpassendsten, verblichenen Farben steckte eine Frau, dick wie ein Bär. Ihre Anwesenheit schien die Höhle auszufüllen und einen bedrohlichen Schatten über die drei Gefährten zu werfen.

Ihr Gesicht war von Pickeln und Warzen übersäht. Aus Nase und am Kinn sprießten lange, sich kringelnde Haare. Ihre wenigen Zähne waren schwarz. Strähniges, maisgelbes Haar drang unter einer geflochtenen Kappe hervor. Das gräßliche Aussehen wurde durch das geschlossene Auge verstärkt, das bei einem Unfall oder durch eine Krankheit verloren gegangen sein mußte. Der ekelerregende Gestank ging mehr von ihr als von dem Inhalt des dampfenden Kessels aus.

»Ich war sein Schüler«, sagte Raistlin, der die Ogerin offen ansah und sich leicht verbeugte. »Morat vertraut mir, und deshalb hat er mir verraten, wie und wo du zu finden bist. Ich hatte weder die Zeit noch die Möglichkeit, vorher eine Nachricht zu schicken. Wir haben eine dringende Angelegenheit zu erledigen.«

Die häßliche Ogerin hob einen Löffel der undefinierbaren, scheußlichen Flüssigkeit, die sie umgerührt hatte, an die Lippen und probierte stirnrunzelnd. Dabei blinzelte ihr gutes Auge Raistlin abschätzig an. Tanis staunte über die Selbstbeherrschung des jungen Zauberers. Caramons Zwillingsbruder begegnete dem feindseligen Blick des Orakels, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne offensichtlichen Widerwillen.

»Der Zauberer ist ein Plappermaul, wenn du mich fragst«, murmelte Chental Pyrnee. »Dauernd schickt er junge Klugscheißer, um mir meine Sprüche abzuluchsen. In Dreier- und in Viererreihen stehen sie vor meiner Tür und betteln um meine Hilfe. Mit einigen habe ich Mitleid und helfe ihnen weiter, nur um Morat einen Gefallen zu tun. Aber die meisten verwandle ich in Warzenschweine oder Grasschlangen. Wenn sie sich nicht selbst zurückverwandeln können, tja, dann waren sie von vornherein gar nicht dazu würdig, Magier zu sein!«

»Der Meister hat mir gesagt, daß er seit Jahren niemanden mehr zu dir geschickt hat«, erwiderte Raistlin kühn. Seine Augen begegneten ihrem verhangenen, einsamen Blick.

»Ha!« Chental Pyrnee machte Kaubewegungen mit den Lippen. Sie funkelte Raistlin an. »Mag sein, mag sein. Was weiß ich, wie die Jahre verstreichen? Aber gibt dir das das Recht, mir zu widersprechen? Ihr braven, kleinen, rotznäsigen Klugscheißer seid alle gleich. Wer sind die anderen zwei? Kann mir nicht vorstellen, daß der Zaubermeister heutzutage schon Elfen und Zwerge aufnimmt.« Mit ihrem langen, runzligen Finger zeigte sie verächtlich auf Tanis und Flint.

Flint hätte dem häßlichen Orakel am liebsten den Axtstiel auf den Kopf geschlagen, aber Tanis hielt ihn an der Tunika zurück. Er warf schnell einen Blick auf Raistlin, der ihm mit leichten Stirnrunzeln zu verstehen gab, daß sie die Ogerin respektvoll zu behandeln hatten. Tanis senkte demütig den Kopf. Es gelang ihm sogar, Flint mit einem Rippenstoß zu derselben Geste zu veranlassen.

Raistlin hatte deutlich gesagt, wie wichtig diese Ogerin in ihrer Höhle war, wenn sie Tolpan, Sturm und Caramon wirklich retten wollten. Er hatte ihnen auch deutlich gesagt, wie gefährlich Chental Pyrnee werden konnte, wenn man sie verärgerte.

»Das sind meine Freunde«, sagte Raistlin.

Der Blick der Ogerin ging zurück zu dem jungen Zauberer. »Freunde, pah! Einen Feind kann man leicht erkennen«, sagte Chental Pyrnee kryptisch, »aber noch viel leichter kann man sich in Freunden irren. Ein Feind kann sich mit einer einzigen Tat verraten. Ein Freund muß sich immer wieder beweisen.«

»Ganz meine Meinung«, nickte Raistlin.

Während sie argwöhnisch den jungen Zauberer beobachtete, schöpfte Chental Pyrnee einen weiteren Löffel aus dem Kessel. Dann schleuderte sie die Flüssigkeit unerwartet so nah neben Raistlin an die Wand, daß er schnell ausweichen mußte, um nicht getroffen zu werden. Die Flüssigkeit ließ das felsartige Holz verschmoren und rann zischend die Wand herunter, wobei die äußere Schicht wegbrannte und strahlende, kupfer- und türkisfarbene Muster sichtbar wurden. Einen kurzen Augenblick war der Raum von Licht und Farbe durchflutet. Dann verging beides flackernd.

Tanis konnte Flint gerade so eben festhalten. Raistlins Gesicht war angespannt, doch er sagte nichts. Der junge Zauberer wußte, daß die Ogerin versuchte, ihn einzuschüchtern. Er war wirklich beeindruckt und hatte nicht gerade wenig Angst. Morat hatte ihn gewarnt, Chental Pyrnee könne gefräßig sein.

Das Orakel rührte weiter sein Gebräu um und beobachtete Raistlins Reaktion. Über dem dampfenden Kessel wogte Nebel. Die Wand zischte. Das einzelne Auge der Ogerin blickte durch die Höhle und erfaßte die Gefährten.

Schließlich sagte sie: »Solche Tricks könnte ich den ganzen Tag vorführen«, und brach damit die Spannung. Unwillkürlich war sie außerordentlich zufrieden mit dem respektvollen Betragen dieser drei ungewöhnlichen Gefährten. Plötzlich hörte sie mit ihrem unablässigen Rühren auf. »Aber«, fügte die häßliche Ogerin hinzu und zwinkerte Raistlin mit ihrem verfärbten Auge deutlich zu, »ihr seid in Eile und habt Wichtiges zu tun. Was führt euch zur alten Chental? Es sollte aber wichtig oder wenigstens interessant sein. Langweilige Besucher ertrage ich nicht. Jedenfalls nicht lange.« Sie stieß ein harsches Keckem aus.

Raistlin trat vor. Er wühlte in seinem Sack und zog ein dickes Stück Lochkäse heraus, der in einfaches, weißes Papier eingewickelt war. »Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte er höflich.

Chental Pyrnee griff sofort zu, nahm das Geschenk und wickelte es gleich aus. Ihr verbliebenes Auge leuchtete sichtlich erfreut auf, als sie das dicke Käsestück in ihrer knorrigen Hand hielt. Das einzige, was Flint einfiel, während er ihr zusah, war, wie hungrig er plötzlich war und welch eine Verschwendung guten Käses das war. Der Zwerg hoffte, daß die Ogerin nicht seinen Magen knurren hörte.

Chental Pyrnee brach ein Stück Käse ab und stopfte es sich in den Mund. Kleine Bröckchen rieselten zu Boden, als sie heftig kaute. »Mmmm… lecker«, sagte das Orakel genießerisch. Chental Pyrnee hielt die Hand hoch und ließ den Rest des Käses in den dampfenden Kessel plumpsen.

Flint schluckte hörbar vor Enttäuschung. Tanis, der seine Gedanken ahnte, konnte kaum ein Lächeln unterdrücken.

»Morat wußte noch, wie gern du den Käse aus dem Ort magst«, fuhr Raistlin freundlich fort. »Und das hier«, der junge Zauberer hielt einen zugeschnürten Beutel hoch, der offenbar voller Münzen war, »habe ich dir für den Gefallen mitgebracht, um den wir bitten.«

»Und der wäre?« fragte Chental Pyrnee neugierig, als sie den Beutel nahm und in der Hand wog. Der Beutel war schwer und klimperte ordentlich. Sie brauchte ihn nicht auszuleeren und zu zählen, um zu wissen, daß diese Bezahlung für den Dienst reichte, um den man sie bitten würde.

»Vom Zaubermeister habe ich erfahren, daß du den Schlüssel zu einem Portal besitzt, das uns nach Ogerstadt am Rand des Blutmeers bringen kann. Unsere Freunde und mein Bruder sind in diesen Teil der Welt entführt worden und schweben dort in höchster Gefahr. Wir haben nicht genug Zeit, um zu Land oder zu Wasser dorthin zu gelangen, und suchen verzweifelt nach schnelleren Reisemöglichkeiten. Wir sind zu dir gekommen, weil wir darauf vertrauen, daß dir die Dringlichkeit unserer Aufgabe zusagen wird.«

Die häßliche Ogerin machte ein vorwurfsvolles Gesicht und drohte Raistlin mit dem Finger. »Morat sollte nicht überall herumerzählen, daß ich von einem Portal weiß.«

Sie dämpfte verschwörerisch die Stimme und beugte sich näher zu Raistlin, bis ihre Gesichter nur noch um Armeslänge voneinander entfernt waren. Ihr Mund verzog sich, als würde sie, wie selten genug, zu lächeln versuchen. Ihr Atem stank schlimmer als der jedes Pferdes. Das purpurrote Auge quoll aus seiner Höhle vor. »Portale existieren, weil es das Holdervolk gut meint. Sie dürfen nicht aus reinem Eigennutz benutzt werden. Das Holdervolk hat bestimmte Bedingungen gesetzt. Die dazu notwendige Magie ist von höchster Wirksamkeit.«

»Aber gibt es das Holdervolk denn wirklich?« fragte Tanis hinter Raistlin hervor. »Ist das nicht nur eine Legende?«

Das purpurrote Auge betrachtete Tanis forschend, der mit seinen Worten gedankenlos herausgeplatzt war. Der Halbelf rüstete sich für irgendeine unangenehme Reaktion des Orakels, doch Chental Pyrnee schien sich über seine unbedachten Worte mehr zu amüsieren als zu ärgern. »Oh, ich möchte meinen, daß das Holdervolk wirklich existiert«, keckerte die Ogerin. »Es gibt natürlich keinen echten Beweis, wie es für viele Dinge keinen echten Beweis gibt. Es heißt, daß Holdervolk wäre bei Tag unsichtbar und bei Nacht scheu. Aber ich glaube, daß sie immer um uns herum sind. Sie beobachten und warten. Man muß im Leben seiner eigenen Überzeugung folgen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich jedenfalls glaube an das Holdervolk.«

Hier brachte sie ein weiteres, seltenes Lächeln auf die Lippen. Zweimal am Tag gelächelt, wahrscheinlich ein Rekord, dachte Flint bei sich.

Die häßliche Ogerin wandte sich wieder Raistlin zu und wog noch einmal den Geldbeutel in der Hand. Ihr Lächeln verschwand. Mit einem Ruck warf sie den Beutel in seine Richtung. Er landete zu seinen Füßen.

»Ein ganzer Karren voll Münzen würde mir nicht reichen, daß ich dafür das Holdervolk reize«, sagte sie schlicht. »Ich würde mein eigenes Leben aufs Spiel setzen.«

Wieder beugte sie sich zu Raistlin herunter und sprach langsam mit ihrem stinkenden Atem auf ihn ein. »Magie würde die Chancen erhöhen. Also, ich will nicht sagen, daß ich weiß, wo das Portal ist, und ich will nicht sagen, daß ich es nicht weiß. Wenn ich es wüßte, würde es einen magischen Gegenstand kosten, deine Bitte zu erfüllen. Kein Berg Münzen würde den geringsten Unterschied machen. Wenn du etwas Magisches bieten kannst, könnten wir vielleicht darüber reden. Als bemerkenswerter Schüler von Morat hast du vielleicht zufällig so etwas dabei. Wenn dem so ist, gebe ich dir den guten Rat, es anzubieten.«

Zufrieden grinsend ging die unangenehme Hexe wieder dazu über, ihren heißen, blubbernden Kessel umzurühren. Sie plapperte dazu vor sich hin, doch ihr purpurrotes Auge klebte weiter auf Raistlin.

Der junge Magier stand mit müdem, besiegtem Gesichtsausdruck da. Er wollte etwas sagen, überlegte es sich aber noch einmal. Die Stille im Raum wurde bedrückend.

»Raistlin!« flüsterte Tanis, der ihn heranwinkte. Der Magier drehte sich um, damit er sich mit seinem Freund beraten konnte. Flint, der die Ogerin leid war, stellte sich neben die beiden, um zuzuhören.

»Was ist mit der Flaschenpost von Tolpan?« fragte Tanis. »Das ist doch ein magischer Gegenstand, oder?«

»Du hast sie doch dabei?« warf Flint ein.

»Ja«, sagte Raistlin widerstrebend.

»Wir brauchen sie nicht mehr«, ergänzte Tanis. »Vielleicht nimmt sie die.«

»Das verstehst du nicht«, sagte Raistlin störrisch.

»Ich kann praktisch jedes Wort hören, das ihr sagt!« krächzte die Ogerin. Chental Pyrnee legte eine Hand ans Ohr, neigte den Kopf in ihre Richtung und kicherte. »Praktisch jedes Wort«, murmelte sie mißmutig in sich hinein, während sie weiterrührte.

Die drei Freunde rückten von ihr ab und drängten sich näher zusammen. Raistlin sprach sehr leise. »Die Flasche bedeutet mir nichts«, flüsterte der Magier, »aber sie Chental Pyrnee zu geben, verstößt gegen meine Ehre. Diese Ogerin unterstützt jeden, der ihren Preis bezahlt. Auch wenn es um einen bösen Zweck geht. Unter Umständen tut sie dies wieder. Kein magischer Gegenstand, ganz gleich wie unschuldig, sollte ihr in die Hände fallen.«

»Aber sie hat bereits wenigstens einen Gegenstand – den magischen Schlüssel oder womit sie auch das Portal aufschließt«, wunderte sich Flint. »Wäre es deshalb nicht korrekt, wenn wir ihr dafür etwas von uns geben? Auf diese Weise gewinnt sie doch keine Macht dazu.«

»Das stimmt«, räumte Raistlin zögernd ein.

»Schließlich«, fügte Tanis hinzu, »geht es vielleicht um Caramons Leben.«

»Und um Sturms«, stimmte Flint mit ein, »ganz zu schweigen von Tolpan.«

Raistlin runzelte die Stirn. »Ich nehme an, ihr habt recht«, sagte er. Der Zauberer drehte sich wieder zu Chental Pyrnee um, welche die drei beobachtet und zu lauschen versucht hatte. Ihr purpurfarbenes Auge leuchtete interessiert.

Raistlin fummelte in seinem Sack nach der Flaschenpost und zog sie heraus. Auf der Stelle griff Chental Pyrnee danach und hielt sie mit beiden Händen hoch. Ihr abscheuliches Gesicht strahlte vor Freude.

»Eine Flaschenpost!« rief sie aus. »Das ist aber hübsch! Ich habe schon Äonen keine mehr gesehen! Sind allerdings nicht sehr praktisch. Jeder Besitzer kann sie nur einmal verwenden. Aber sie können einem sehr gelegen kommen.« Plötzlich runzelte sie die Stirn. »Ich hoffe, es ist eine gute Nachricht drin, damit ich mich damit nicht langweile.«

»Wenn du Kender magst, wird es dir sehr – «, setzte Flint an, ehe Tanis dem Zwerg die Hand vor den Mund legen konnte.

Chental Pyrnee drehte sich um und starrte den Zwerg argwöhnisch an, aber Raistlin fiel ein und winkte beruhigend ab. »Sie ist von einem Kender auf einer Schiffsreise, und – «

Während sie Raistlin zuhörte, nickte sie eifrig. »Oooh! Ein Kender!« Chental Pyrnee quiekte vor Vergnügen. »Nichts könnte mich mehr erfreuen. Es sind so unterhaltsame Wesen. Vor über sieben Jahren habe ich mal einen eingestellt, der für mich putzen und fegen sollte, aber es hat nicht geklappt, denn eines Tages… Ach, was soll’s. Das ist eine lange Geschichte – wie alle Kendergeschichten –, und wenn ich mich recht erinnere, seid ihr doch etwas in Eile.«

Mit überraschender Geschwindigkeit eilte die Ogerin zu der großen Truhe und machte sie auf, wobei ihr ausladendes Hinterteil den Inhalt sorgfältig vor den Blicken ihrer Besucher verbarg. Sie wühlte in den Sachen herum, schob geräuschvoll einiges zur Seite, bis sie sich schließlich aufrichtete und umdrehte. In der Hand hielt sie triumphierend einen schimmernden schwarzen Edelstein, der an einer Silberkette hing.

»Da ist es!« verkündete das Orakel und händigte ihn Raistlin aus. »Es ist sehr mächtig, also nutzt es weise.«

»Das Amulett der Finsternis«, sagte Raistlin verwundert, während er es für die anderen hochhielt. Der Edelstein drehte sich langsam an der Kette und fing das fahle Licht im Raum ein.

Flint fand, daß er wie viele andere, schwarze Edelsteine aussah, die er in seinem langen Leben gesehen hatte. Tanis war klar, daß Raistlin das Einzigartige daran erkennen konnte.

»Natürlich«, fügte Chental Pyrnee nachdenklich hinzu, »hatte ich noch keine Gelegenheit, es selbst zu benutzen, deshalb kann ich nur vorschlagen, wie man es am besten anwendet.«

»Ich dachte, das Amulett der Finsternis wäre für immer verloren«, bemerkte Raistlin sinnend.

»Verloren vielleicht«, sagte die Ogerin, »aber nicht für immer. Außerdem habe ich nicht behauptet, daß es das eine, einzige Amulett der Finsternis ist. Das warst du. Alles, was ich garantiere, ist, daß es euch durch das Portal nach Ogerstadt bringt. Das wird es tun, soviel weiß ich. Du kannst es von mir aus auch Senfkuchenamulett nennen.«

»Wie kommen wir an die Magie?« fragte Raistlin.

Nachdem sie sich aufmerksam umgesehen hatte, beugte sich die häßliche Ogerin vor und flüsterte Raistlin etwas ins Ohr. Der Magier nickte, damit die anderen wußten, daß er zufrieden war. Er steckte das Amulett ein.

»Wo finden wir das Portal?« fragte Tanis.

»Ganz einfach«, sagte Chental Pyrnee. Mit schriller Stimme begann sie, umständlich und endlos den Weg zu beschreiben, so kompliziert, daß Tanis der Kopf schwamm. Irgendwie genau nach Osten, am Hundefelsen scharf links, dann an den Bäumen hoch zu einem tiefen Abgrund, an einem stürmischen Überhang entlang, und dann…

»Ich kenne den Ort«, sagte Flint.

Die Ogerin warf dem Zwerg einen argwöhnischen Blick zu. Auch die beiden anderen Gefährten sahen den Zwerg überrascht an. »Ich durchstreife diese Gegend seit dreißig Jahren«, sagte er stolz. »Ihr könnt mir keinen Berg nennen, auf dem ich nicht war oder den ich nicht wenigstens kenne.«

Tanis sah Raistlin zu. »Also los«, sagte der Halbelf voller Tatendrang.

»Ja«, stimmte Raistlin zu.

Wieder verbeugte er sich leicht vor dem Orakel. »Danke für deine Hilfe.«

Alle drei gingen rückwärts aus der Höhle, um die einäugige Hexe im Auge zu behalten, die mit einer Hand ihren brodelnden Kessel umrührte und mit der anderen glücklich die Flaschenpost hochhielt.

»Danke für die Flaschenpost des Kenders!« rief Chental Pyrnee ihnen nach, als sie verschwanden. »Viel Glück mit dem Portal! Bei Portalen weiß man nie so genau. Und wenn euch zufällig dieser alte Griesgram Morat über den Weg läuft, dann sagt ihm, daß er mir mindestens zehn Jahre keinen Besuch mehr schicken soll! Ich bin völlig geschafft!«Müde lagerten die drei Gefährten nur wenige Meilen hinter der Höhle des Orakels. Die merkwürdige, stinkende Ogerin hatte keinen von ihnen in bessere Laune für das vor ihnen liegende Abenteuer versetzt. Tanis sammelte Reisig und abgebrochene Äste für ein Feuer, während Flint eine Leinsamenbrühe zum Abendessen vorbereitete. Raistlin hielt sich abseits. Er aß schweigend. Sein Gesicht wirkte erschöpft und seine Augen besorgt, als sie in die tanzenden Zungen der Flammen starrten.

Schließlich kam Flints unablässiges Genörgel bei dem Magier an. »Wenn ihr umkehren wollt, dann kehrt um!« fauchte Raistlin. »Alle beide! Notfalls finde ich das Portal allein und gehe auch allein nach Ogerstadt!«

»Ich habe nichts von Umkehren gesagt«, schimpfte Flint zurück. »Ich habe über den Weg gesprochen, der morgen vor uns liegt.«

»Flint hat gesagt, daß es ein abgelegener Sims ganz oben auf einer kahlen Klippe ist«, erklärte Tanis einlenkend. »Ziemlich schwierig zu klettern.«

»Wie weit?« fragte Raistlin, der sich wieder gefaßt hatte.

»Nicht weit«, muffelte Flint, der an seiner braunen Brühe nippte. »Das ist nicht das Problem. Ich kann hochklettern und Tanis wohl auch. Aber«, fügte er mit einem Blick auf den wenig beeindruckenden Körper des jungen Zauberers hinzu, »unter Umständen ist es, ähm, für jemanden von deiner, ähm, Kondition, ähm, nicht zu schaffen.«

»Wie weit?« beharrte Raistlin.

»Nur eine, vielleicht zwei Stunden«, meinte Tanis.

»Gut«, sagte Raistlin.

»Woher wissen wir, daß das Orakel die Wahrheit gesagt hat? Woher wissen wir, daß es da oben wirklich ein Portal gibt? Woher wissen wir, daß es nicht eine verdammte Zeitverschwendung ist?« Flints Stimme wurde immer lauter.

»Sie hat die Wahrheit gesagt«, murmelte Raistlin. »Morat hat gesagt, wenn Chental Pyrnee anfängt zu feilschen, dann bleibt sie auch fair.«

»Aber wie willst du die schwierige Klippe hochklettern?«

»Laß das meine Sorge sein«, wies Raistlin ihn zurecht. »Schlaf lieber!«

Flint schnaubte wütend, sagte aber nichts mehr. Er zerrte seine Bettrolle heraus, legte sich mit dem Rücken zu den anderen darauf, und sehr bald und sehr laut hörte man nur noch sein Schnarchen. Nach diesem unangenehmen Zwischenspiel redeten Tanis und der junge Zauberer nicht weiter miteinander.

Lunitari und Solinari schienen an entgegengesetzten Enden des Himmels, von wo aus sie sich langsam aufeinander zu bewegten. Die Bahnen der beiden würden sich zu dieser Zeit im Jahr, im Spätsommer, nicht überschneiden. Hier oben war die Nacht von Sternen erhellt. Das Blattwerk hatte sich schon beträchtlich gelichtet. Der Hang war mit bizarren Steinen übersät. Das Licht der Monde und der Sterne gab den Blick auf vereinzelte, kümmerliche Bäume frei, die zwischen Gipfeln lagen, welche von leuchtendem Schnee bedeckt waren.

Durch die friedliche Nacht drangen die leisen Geräusche der Nachttiere. Ein sanfter Wind raschelte in den Baumkronen. Tanis sog tief den Duft der Pinien, der Erde und der frischen Bergluft ein.

Er wagte einen Blick auf Raistlin, der mit ineinander gelegten Händen immer noch gedankenverloren dasaß. Er wirkte so ausgelaugt und bedrängt, als ob ihn ein scharfer Windstoß umpusten könnte. Tanis sah, wie der junge Magier seufzend aufstand und begann, um das Lagerfeuer herum hin und her zu gehen. Der Halbelf war sich Raistlins körperlicher Grenzen durchaus bewußt, besonders im Vergleich zu seinem robusteren Zwilling. Aber er wußte auch, daß der junge Magier regelmäßig mit Caramon zusammen auf Abenteuer auszog. Und mehr als einmal hatte Tanis einen Funken desselben Feuers gesehen, das Raistlins Halbschwester Kitiara erfüllte. Nein, Flint hatte kein Recht, den jungen Magier zu unterschätzen, beschloß Tanis. Weder körperlich noch sonstwie.

In diesem Augenblick sah Raistlin auf. Er begegnete Tanis’ Blick und gab ihn trotzig zurück.

»Was Flint wirklich zu schaffen macht«, meinte Tanis versöhnlich, »ist der Gedanke an das Blutmeer. Er weiß, daß du die Reise schaffst. Aber er selbst hat panische Angst davor, jedwedes Wasser zu überqueren, und zwar schon seit jenem mißglückten Zelten am Ufer des Krystallmirsees.«

Raistlin gluckste leise und setzte sich wieder. Die Erschöpfung nach den Anstrengungen des Tages lastete wie ein schweres Gewicht auf ihm. »Vielleicht«, sagte der junge Magier leise.

Vor ein paar Monaten hatten Flint und Tolpan einen Ausflug an das jenseitige Ufer des Krystallmirsees gemacht. Caramon und Sturm waren mitgekommen und hatten sich tagsüber mit dem graubärtigen Zwerg im Jagen und Fährtenlesen geübt. Tolpan war mit Raistlin herumgestromert, der sich damit beschäftigt hatte, Kräuter und Blumen für seine Zaubersprüche zu sammeln. Ironischerweise war es jener Tag gewesen, an dem Tolpan Raistlin von seinem guten Freund Asa und dem ungewöhnlichen kräuterkundigen Minotaurus aus Südergod erzählt hatte.

Es war ein herrlicher Tag gewesen, einer der ersten längeren Ausflüge der Gefährten, der nur von einem Zwischenfall am nächsten Morgen überschattet wurde. Tolpan hatte ein Boot »gefunden« und die anderen überredet, es in den friedlichen Krystallmirsee zu schieben. In einiger Entfernung vom Ufer hatte Caramon einen großen, grünen Hecht träge herumschwimmen sehen und mit dem ihm eigenen Feuereifer geprahlt, er könne ihn mit der Hand fangen. Allerdings hatte sich Raistlins Zwillingsbruder zu weit hinausgelehnt, so daß das Boot gekentert war.

Raistlin hatte schnell geschaltet und war unter dem Boot in der dort eingeschlossenen Luftblase aufgetaucht. Tolpan und Sturm waren gute Schwimmer, denen es gelang, das Boot wieder aufzurichten. Flint tauchte, um den schweren Caramon zu retten, der nicht schwimmen konnte und sofort untergegangen war. Die drei warteten besorgt, doch die Zeit verging. Schließlich sprangen Sturm und Tolpan wieder hinein. Sturm zerrte den prustenden Caramon an die Oberfläche, und kurz darauf kam Tolpan wieder hoch, der Flint am Kragen hielt. Der halb ertrunkene, hustende und frierende Zwerg schwor, daß ihn den Rest seines Lebens keiner mehr in ein Boot locken könnte.

»Wenn man bedenkt, wie schlecht Flint schwimmen kann«, sagte Tanis, »war es ziemlich heldenhaft von ihm, daß er versucht hat, deinen Bruder zu retten.«

»Heldenhaft und dumm«, grunzte Raistlin. Aber sein Tonfall klang milder. Tanis, dessen Blick vom rhythmischen Schwanken der Baumkronen abgelenkt wurde, bemerkte nicht, wie der junge Magier auf seiner Decke zusammensank und den Mantel um sich schlang.

»Ja«, grinste Tanis. »Heldenhaft und dumm. Zwei Worte, die gut zusammenpassen.« Er blickte zur Schönheit von Monden und Sternen empor und sog die Friedlichkeit des Ortes in sich auf. »Flint hat diesen Zwischenfall immer wieder erwähnt«, überlegte er leise. »Er erinnert sich bestens daran. Am schlimmsten war es für ihn vielleicht, daß er von Tolpan gerettet wurde. Wie man es auch dreht und wendet, er verdankt dem Kender sein Leben – jedenfalls damals. Daß er diese Schuld zurückzahlen muß, könnte das einzige sein, was ihn wieder aufs Wasser bringt – selbst auf so verfluchtes Wasser wie das Blutmeer.«

Tanis hielt inne, denn seine Gedanken schweiften kurz zu Kitiara. Eine Welle verwirrter Gefühle überrollte ihn. Der Halbelf hatte sich noch nie überwinden können, mit Raistlin über sie zu sprechen. Jetzt war vielleicht ein guter Zeitpunkt.

»Sag mal, Raist«, setzte Tanis an. Dann hörte er regelmäßigen Atem und sah, daß der junge Magier fest eingeschlafen war.

Er ging zu Raistlin hinüber und warf ihm eine zusätzliche Decke über. Die Luft wurde kalt. Tanis setzte sich wieder. Seufzend zog er seinen Mantel um die Schultern. Obwohl die Gegend sicher sein dürfte, beschloß er, lieber ein paar Stunden Wache zu halten, bevor er sich selbst schlafen legte.Spät am nächsten Morgen hatten die Gefährten einen unwegsamen, steilen Pfad an den Berghängen hinter sich gebracht und erreichten den Ort, den die Ogerin beschrieben hatte und den Flint von früheren Ausflügen kannte. Er stand in einer engen Schlucht und zeigte hinauf zu einer Ansammlung Sandsteinzinnen, die Wind und Wasser geformt hatten, bis sie sich wie eine Festung hoch in den Himmel reckten. Auf der Spitze der einen konnten sie einen steinernen Vorsprung sehen, der nach Osten zeigte, wo die einzigartige Struktur von noch imposanteren Bergzügen in den Schatten gestellt wurde.

Flint übernahm die Führung und kletterte am nackten Felsen hoch, wobei er den wenigen, verkrüppelten Bäumen folgte, die sich hartnäckig in den Spalten und Rissen klammerten. Danach kam Tanis, gefolgt von Raistlin. Jeder war über ein Seil um den Leib mit dem nächsten verbunden.

Die Spalte, in der sie hochkletterten, mußte vierhundert Fuß hoch gewesen sein. Sie kamen langsam voran, und zwar vor allem, weil Flint darauf bestand, vorwegzugehen und alles auf seine Weise zu machen. Akribisch genau schob er sich hinauf, indem er kurze Eisenhaken in Armeslänge über seinem Kopf einschlug und sich selbst festband, bevor er mit dem Fuß neuen Halt suchte. Raistlin war mit seinem Vorschlag sehr vorausschauend gewesen, daß der Zwerg alles mitnehmen sollte, was für eine Bergtour notwendig war.

Tanis und Raistlin hatten es dank Flints Vorarbeit einfacher. Dennoch war es selbst für einen erfahrenen Kletterer kein einfacher Weg. Es gab nur wenig sicheren Halt für die Füße. Tanis und Raistlin mußten sich an brüchigen Fels klammern, während sie sich immer weiter nach oben schoben. Gegen Ende kühlte die Luft merklich ab, und unerwartete Windstöße fuhren ihnen in den Rücken.

Flint mußte zugeben, daß Raistlin Mut hatte. Der junge Magier beklagte sich nicht.

Nur einmal ließen Raistlins Kräfte nach, und er rutschte ab. Tanis über ihm konnte jedoch sofort das Seil straff ziehen und den Fall des Magiers abbremsen, während er mit der anderen Hand nach der Verbindung zu Flint griff. Raistlin gelang es, sich selbst hochzuziehen und sich am Felsen festzuhalten. Mit einem Wink gab er Flint zu verstehen, daß er weitersteigen konnte. Der Zwerg war zu Recht davon ausgegangen, daß es seinem sehnigen Freund Tanis keine Mühe machen würde, Raistlin zu sichern.

Nach fast zwei Stunden angestrengten Kletterns erreichten die drei die Spitze. Ausgelaugt sanken sie auf dem Vorsprung zusammen, ehe sie ihre Augen dem zuwandten, was dahinter lag. Der Vorsprung war gerade groß genug für die drei Freunde. Nach Osten hatten sie freien Blick auf ein eindrucksvolles Hochgebirgspanorama mit schneebedeckten Gipfeln.

Direkt unter ihnen lag eine tiefe, zerklüftete Schlucht. Ihr Boden war von Dampf verdeckt, der aus Felsspalten drang. Der Fall in diese bizarre Klamm würde den sicheren Tod bedeuten.

Als Flint auf wackligen Beinen aufstand, merkte er, daß die starken Windböen aus zwei Richtungen auf ihn einschlugen, aus Osten und Westen, denn der Absatz war einem Kreuzfeuer der Naturgewalten ausgesetzt. Die starken Winde zerrten an ihm. Er winkte den beiden anderen zu, sie sollten warten, und kroch unsicher zum anderen Ende des Absatzes, wo er einen seiner Eisenhaken einschlug. Unter Tanis’ und Raistlins Blicken schlug er noch einige ein und zurrte sein Seil daran fest, so daß sie alle gesichert aufstehen konnten, ohne ins Nichts geblasen zu werden.

Sie starrten hinunter.

»Und hier soll das Portal sein?« fragte Tanis zweifelnd. Er mußte seine Frage lauter wiederholen, ehe sie im Brausen des Windes zu verstehen war.

»Ja«, schrie Raistlin mit rauher Stimme.

»Das möchte ich aber nur ungern ausprobieren«, sagte Flint. Die beiden anderen gaben keine Antwort, denn auch sie wollten sich lieber nicht darauf verlassen. Aber welche Wahl hatten sie?

Flint hob einen Stein auf und hielt ihn über den Abgrund. Tanis nickte. Flint ließ los.

Sie warteten minutenlang, in denen sie angestrengt in den tobenden Wind lauschten, um den Aufprall zu hören. Schließlich glaubte Flint, unten auf den Felsen einen Schlag gehört zu haben.

»Kein Portal«, sagte Flint frustriert.

»Lebloser Gegenstand«, wiedersprach Raistlin, der wieder schreien mußte. »Das Portal nimmt keinen leblosen Gegenstand auf, der nicht von einem sterblichen Wesen begleitet wird, und außerdem geht es erst auf, wenn ich den richtigen Spruch sage!«

Nach einer langen Pause fragte Tanis: »Wie können wir da sicher sein?«

Raistlin antwortete nicht sofort. Die drei standen auf dem Felsvorsprung hoch über der Klamm und beugten sich über die zerklüftete Schlucht, die sich unter ihnen auftat. Der Wind umtoste sie, zerrte an ihren Haaren und Kleidern. Flints Seile verhinderten, daß sie hinunterfielen, aber selbst so mußten sie darum kämpfen, das Gleichgewicht zu halten.

»Wir wissen es nicht«, rief Flint schließlich.

»Stimmt das?« fragte Tanis, an Raistlin gewandt.

»Ja.«

Tanis und Flint sahen sich an. Flint verdrehte die Augen. Tanis zog sein Messer.

»Dann sag den Spruch«, meinte der Halbelf.

Raistlin schloß kurz die Augen, konzentrierte sich und schlug die Augen wieder auf. Er murmelte alte Wörter, die Flint völlig unzusammenhängend fand. Dann rief er in der Gemeinsprache, die seine beiden Freunde verstanden: »Portal öffnen!«

Mit seinem Messer zerschnitt Tanis die Seile, die sie an den Haken hielten. Rasch schob er es in die Scheide zurück. Dann gingen die drei nach vorn und sprangen in die Tiefe. Flint und Raistlin hakten sich an beiden Seiten bei Tanis ein, der in der Mitte blieb. Ein unverständlicher Schrei löste sich von ihren Lippen.

Ob durch den Wind oder durch ihre mangelnde Absprache, jedenfalls verknoteten die drei sich regelrecht, als sie Hals über Kopf strampelnd auf die spitzen Felsen unter ihnen zusausten.

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