2 Eine Flaschenpost

»Zwanzig zu fünf«, sagte Tanis betrübt, als er eine neue Zahl auf einen Tisch in Flints Werkstatt ritzte. Mit offensichtlichem Vergnügen rollte der grauhaarige Zwerg einen glatten, runden, schwarzen Stein in die Mitte eines Kreises, der mit Kreide auf den Boden des Schuppens gezeichnet war. Der Kreis enthielt eine ganze Anzahl kleinerer, vielfarbiger Steine. Sobald der größere Stein getroffen hatte, sprang Flint erstaunlich behende hin und schnappte sich soviele Steine, wie er konnte, wenn sie aus dem Kreis rutschten.

»Achtundzwanzig«, verkündete Flint befriedigt, nachdem er die Steine gezählt hatte, die er in der Hand hielt. »Aber wir müssen nichts aufrechnen, mein Junge. Schließlich ist es nur ein dummes Spiel.« Er gab sich große Mühe, das Lächeln zu unterdrücken, das an seinen Mundwinkeln zuckte.

»Achtundzwanzig zu fünf«, sagte Tanis, der die alte Zahl ausstrich und eine neue einritzte.

Es war zwar mitten an einem Werktag, doch Flint hatte sich nach all den Jahren schon halb zur Ruhe gesetzt und sperrte sein Geschäft nur auf, wenn er Lust hatte, sich mit lästiger Kundschaft abzugeben. Er hielt sein Werkzeug scharf und sauber, doch einiges davon hatte sich schon Wochen nicht mehr vom Haken gerührt. Der graue Zwerg war kein so leidenschaftlicher Feinschmied mehr wie damals, als er den Drang verspürt hatte, ein Meister seines Faches zu werden, so geschickt und einfallsreich, daß selbst die Elfen seine Arbeit priesen. Die Handwerkskunst war es auch gewesen, die Flint und Tanis vor vielen Jahren zusammengeführt hatte, als der Halbelf in Qualinesti noch ein Junge gewesen war.

Heute hatte Flint eine Partie Hahnenkugel vorgeschlagen, um Tanis aus seinen trüben Gedanken zu reißen. Es hatte nicht geklappt. Tanis konnte an nichts anderes denken als an Kitiara, die Solace vor ein paar Monaten verlassen hatte, ohne dem Halbelfen zu verraten, wohin sie ging. Flint hingegen war in letzter Zeit bester Laune, weil dieser unbezähmbare Kender, Tolpan Barfuß, ebenfalls schon wochenlang fort war. Er war mit Caramon und Sturm unterwegs.

Es war so friedlich, wenn Tolpan nicht da war, dachte Flint mehrmals am Tag.

Tanis stand auf und lief zu dem Kreidekreis, wo er die Kiesel in der Mitte zusammenschob. Dann ging er die erforderlichen Schritte zurück, bevor er sich wieder dem Ziel zuwandte. Seine große Gestalt schien sich vor Konzentration zusammenzuziehen, als er den schwarzen Stein vorschwang und mit einem gezielten Ruck aus dem Handgelenk losließ. Trotz der bewundernswerten Technik ging der Stein weit daneben und streifte den Kieselhaufen nur. Tanis hastete zum Kreis, doch keiner der Kiesel schaffte es, über den Rand zu rollen.

»Ach, wie schade«, sagte Flint, der seine dicken, weißen Augenbrauen stirnrunzelnd zusammenzog. Trotzdem lachten seine Augen, und Tanis ließ sich nicht täuschen. »Ich lasse dir deinen Sieg«, sagte der Halbelf verstimmt. Auf seinem Gesicht lag ein sauertöpfischer Ausdruck. »Wir brauchen gar nicht weiterzumachen, wenn du so weit voraus bist.«

»Gut, gut«, sagte Flint besänftigend, ging hinüber und hob die Steine auf, die er sorgsam in einen Holzbecher legte. Obwohl er offensichtlich stolz auf seinen großen Vorsprung war, warf der alte Zwerg doch einen mitleidigen Blick auf seinen jungen Freund. »Dieses ganze Getue um eine Frau!« murmelte er – hoffentlich so laut, daß Tanis es mitbekam. Er nahm den Becher und stellte ihn wieder an seinen Platz auf einem der vielen wohlgeordneten Regale, die an den Wänden seiner Werkstatt standen. »In über hundert Jahren habe ich noch nie erlebt, daß du dich so aufführst. Ich habe gesehen, wie du gegen Oger gekämpft und Räuber besiegt hast. Ich hätte nie gedacht, daß du dich von einer Frau unterkriegen lassen könntest…«

Verstohlen warf er einen Blick auf Tanis, um zu sehen, wie der reagierte. Doch der Halbelf war ganz in seine brütenden Gedanken versunken. Mit vor der Brust verschränkten Armen saß er auf einem von Flints hohen Hockern.

Flint drehte sich grantig wieder zum Halbelfen um. »Jedenfalls schuldest du mir ein Kupferstück«, betonte er.

Jetzt merkte Tanis auf. »Aber wir haben doch gar nicht zu Ende gespielt«, hielt er dagegen.

»Ein Grund mehr«, erklärte Flint eingeschnappt. »Du hast selbst gesagt, du gibst auf. Geschieht dir recht, wenn du wegen einer Frau so sehr mit dir haderst, daß du nicht einmal eine Partie Hahnenkugel zu Ende bringen kannst.«

Verdrossen griff Tanis in seinen Beutel, tastete mit den Fingern herum und zog ein glänzendes Kupferstück heraus. Flint griff gierig danach und untersuchte es fast argwöhnisch genau, ehe er das Geldstück in seine Tasche steckte. Diese kleine Geste reichte, um Tanis wieder zum Grinsen zu bringen.

Es klopfte an der Tür.

Beim Öffnen sah Flint eins von den vielen Gassenkindern von Solace, einen sommersprossigen Zehnjährigen namens Moya, der ihm einen gefalteten Zettel entgegenstreckte, während er auf den Fersen auf und ab wippte.

»Botschaft für Flint Feuerschmied«, sagte Moya wichtigtuerisch, obwohl er Flint Feuerschmied natürlich kannte, genau wie die meisten anderen Bürger von Solace.

Flint nahm den Zettel, doch ehe er ihn aufmachen und lesen konnte, riß Moya ihm das Papier wieder weg und sagte. »Macht ein Kupferstück, wenn Ihr’s lesen wollt.«

»Ein Kupferstück!« schäumte Flint. »Das ist Wegelagerei.«

»Bringelohn«, erklärte Moya ungerührt und stopfte den Zettel in seine hintere Hosentasche, wo Flint nicht an ihn herankam.

»Ein Kupferstück!« zeterte Flint. »Ich müßte es erst lesen, und wenn mir gefällt, was drin steht und von wem es ist, dann bezahle ich vielleicht ein Kupferstück! Aber warum sollte ich ein Kupferstück für etwas bezahlen, das ich vielleicht noch nicht einmal haben will?«

Moya blieb standhaft. Grummelnd griff Flint in seinen Beutel und reichte dem jungen Boten das Kupferstück, das er gerade Tanis abgenommen hatte.

Wutschnaubend knallte Flint die Tür zu. Er drehte sich zu Tanis um und öffnete die Botschaft. Bereits aus der unverwechselbaren Art der Faltung – in überkreuzten Dreiecken – wußte er, daß sie von Caramons Zwillingsbruder stammte.

Tanis sah ihm über die Schulter und las mit.

Flint,

ich habe Grund zu der Annahme, daß Caramon, Sturm und Tolpan in großer Gefahr sind. Wir treffen uns am Krystallmirsee. Bring Tanis mit.

Raistlin

Tanis runzelte die Stirn vor Neugier. Er war sich nicht sicher, was er von Raistlins Botschaft halten sollte. Seit Caramon und die Halbschwester der Zwillinge, Kitiara, fort waren, hatte Raistlin sich von den verbliebenen Freunden zurückgezogen und war noch reservierter als sonst. Tanis wußte, daß er selten lange von seinem Zwillingsbruder getrennt gewesen war, und der Halbelf vermutete, Caramons Abwesenheit hätte Raistlin in eine eigenbrötlerische, vielleicht aufgewühlte Stimmung gebracht. Der robuste Caramon wich seinem schwächeren Bruder normalerweise nicht von der Seite, doch als Flint und Tanis Raistlin vor ein paar Tagen zufällig in Otiks Wirtshaus getroffen hatten, war es gerade umgekehrt gewesen. Es war der junge Magier, der sich um Caramons Wohlergehen zu sorgen schien, denn sein Bruder hätte längst wieder in Solace sein sollen.

»Caramon hat gesagt, er würde nach vierzehn Tagen zurück sein«, hatte Raistlin beharrt. »Es sieht ihm nicht ähnlich, fortzubleiben, ohne mir eine Nachricht zu schicken.«

»Es paßt zu Caramon«, hatte Tanis eingewandt, allerdings nachdenklich hinzugefügt: »Aber nicht zu Sturm.«

»Ich sag’ euch, wem das ähnlich sieht – Tolpan. Und Tolpan ist dafür verantwortlich«, hatte Flint festgestellt. Er hatte sein Bier heruntergekippt, Otik für ein weiteres herangewinkt und sich verschwörerisch zu den anderen vorgebeugt. »Er läßt dich bloß glauben, daß du das Sagen hast, aber wo du auch hinwillst, er war’s, der dich an der Nase herumgeführt hat. Nein, bestimmt ist alles Tolpans Schuld, und es sieht diesem Türknauf von Kender mal wieder ähnlich, in Südergod herumzustreunen, ohne auch nur den geringsten Gedanken an seine Freunde zu Hause zu verschwenden. Ich halte es für überflüssig, sich Sorgen zu machen. Tolpan taucht immer wieder auf, und mit ihm werden Sturm und Caramon auftauchen. Genießt die Zeit der Stille, rate ich euch.«

Das war ungefähr die längste Rede gewesen, die der gewöhnlich schweigsame Flint je gehalten hatte. Der Zwerg hatte einen tiefen Zug aus dem neuen Bierkrug genommen und sich dann mit dem Ärmel den Schaum von den Lippen gewischt. Während Flint sich dann strahlend im Wirtshaus umgeblickt hatte, war ihm gar nicht aufgefallen, daß Raistlin nicht geantwortet hatte. Der junge Zauberer hatte dagesessen und ihnen Gesellschaft geleistet, hatte aber nicht viel gesagt. Im Gegenteil – als die Stunden verstrichen und aus dem Nachmittag Abend wurde, hatte Raistlin seine Freunde kaum noch wahrgenommen. Nachdem er seinen Stuhl umgestellt hatte, hatte er an ihnen vorbeigestarrt. Der Holzstapel, den Otik angezündet hatte, schien ihn zu fesseln. Das flackernde Feuer hatte sich in Raistlins blaßblauen Augen gespiegelt.

Und jetzt die geheimnisvolle Nachricht, mit der Aufforderung, Raistlin am Krystallmirsee zu treffen.

»Was meinst du?« fragte Tanis.

Zur Antwort zeichnete sich Unwillen auf dem faltenreichen Gesicht des Zwergs ab. Die Nachricht war unwillkommen. Jetzt tat es ihm noch mehr leid, daß er dafür ein Kupferstück bezahlt hatte.

Südergod war nur eine Monatsreise entfernt, hin und zurück. Es waren fast drei Monate ins Land gegangen, seit Sturm, Caramon und Tolpan abgereist waren. »Ach«, sagte der Zwerg mit abwehrender Handbewegung, »Raistlin ist so ein Angsthase. Bestimmt ist gar nichts passiert. Aber«, fügte er seufzend hinzu, »ich schätze, wir brechen lieber schleunigst zum Krystallmirsee auf.«

Ähnlich wie einst bei Tanis hatte Flint die Majere-Zwillinge mehr oder weniger unter seine Fittiche genommen, als ihre Mutter gestorben war und sie noch nicht erwachsen gewesen waren. Über den Zwerg hatte der Halbelf die Brüder kennengelernt und mochte sie auch – in Grenzen. Caramon war beherzt und gutmütig, doch seine schlichte Art führte ihn manchmal in die Irre. Was Raistlin anging, den blassen, jungen Zauberer mit dem durchdringenden Blick, gestand Tanis sich ein, daß es ihm schwerfiel, irgendein Gespräch mit Raistlin anzuknüpfen, wenn Caramon nicht in der Nähe war.

»Komm schon«, sagte Flint. Er legte seinem Freund den Arm um die Schulter und dirigierte ihn zur Tür. Am Arbeitstisch blieb der Zwerg einen Augenblick stehen, um mit einem abgebrochenen Stück Holzkohle etwas auf ein glattes Stück Rinde zu schreiben. Er zwinkerte Tanis zu, als er es beim Rausgehen an die Tür hängte. »Auf der Jagd«, stand auf dem Schild.

Zum Ostrand der Stadt mußten die beiden Freunde die hohen Hängebrücken zwischen den riesigen Vallenholzbäumen nehmen. Wenn die Menschen von Solace es nicht bereits gewöhnt gewesen wären, die zwei zusammen zu sehen, hätten der Zwerg und der Halbelf bestimmt die Blicke auf sich gezogen. Der kleine untersetzte Flint mit seinem wiegenden Gang mußte sich sputen, um mit seinem viel größeren Gefährten Schritt zu halten, der die Wege mit der leichtfüßigen, sicheren Anmut der Qualinesti-Elfen, dem Volk seiner Mutter, entlanglief.

Bei dieser Gelegenheit wirkte der Anblick noch komischer, weil Flint unablässig gestikulierte und Ausrufe von sich gab, während er eine gräßliche Geschichte nach der anderen über Tolpan erzählte, nur um Tanis aus seiner melancholischen Stimmung zu holen. Aber Tanis blieb die meiste Zeit schweigsam. Er machte lange Schritte, während Flint sich bemühte mitzuhalten.

Es war nicht so sehr Raistlins dringender Ruf, der Tanis Gedanken verdüsterte, als sie zum Krystallmirsee liefen, sondern eher Raistlins Halbschwester, Kitiara Uth Matar. Für Tanis war Kitiara praktisch ständig gegenwärtig.

Ihr lachendes Gesicht und ihr verschmitztes Lächeln hielten bei Tag und bei Nacht seine Träume zum Narren.

Tanis und Kitiara hatten sich mehr gestritten, als daß sie miteinander ausgekommen wären. Dann hatte Kitiara Tanis eines Tages – vor mehreren Wochen – erklärt, daß sie das Angebot hatte, mit einer Gruppe Söldner nach Norden zu ziehen, die von einem gewissen Herrn für einen geheimnisvollen, zweifellos verwerflichen Zweck angeheuert worden waren. Tanis hatte erklärt, diese Reise wäre ihrer unwürdig. Kitiara hatte zurückgegeben, daß alles besser war, als im trägen, alten Solace im Schlaf zu sterben.

Weil ihn die Vorstellung von Kitiaras Aufbruch erschütterte, hatte Tanis die Taktik geändert und angeboten, sie zu begleiten. Daraufhin hatte sich Kitiara gekringelt vor Lachen. Als sie sich wieder gefangen hatte, hatte in ihren dunklen Augen allerdings eine Spur Ärger gelegen. »Du paßt nicht dazu«, hatte sie ziemlich beleidigend gesagt.

Am nächsten Morgen war Tanis früh aufgestanden, um Kitiara zu verabschieden. Sie saß bereits auf ihrem Pferd, als er zum Stall kam. Er mußte ihr hinterherrennen und die Zügel festhalten, damit sie kurz stehenblieb. Kitiara hatte milde zu ihm herabgelächelt und dann den schwarzgelockten Kopf heruntergebeugt und ihn fest auf den Mund geküßt, bevor sie wortlos davongeritten war.

Noch jetzt konnte Tanis das Gefühl jenes Kusses heraufbeschwören. »Flint«, sagte er zu dem Zwerg, als sie über die Hängebrücken liefen, »warst du je verliebt?«

Vor lauter Überraschung über diese dreiste Frage stolperte der knorrige Zwerg und hielt sich am Geländer fest.

»Könnte ich nicht unbedingt behaupten«, meinte er schließlich, ehe er wieder weiterging. »Aber wenn ich es gewesen wäre, wäre ich bei der Auswahl der Frau, in die ich mich verliebe, bestimmt vorsichtiger gewesen, als gewisse Leute, die ich kenne.«

»Was soll das heißen?« fragte der Halbelf hitzig.

»Das soll heißen, du grüner Junge, daß Kitiara Uth Matar nicht gerade meine Vorstellung – oder überhaupt irgend jemandes Vorstellung – einer idealen Frau entspricht«, sagte Flint nachdrücklich. »Ich habe gesehen, wie du sie anhimmelst, und wie sie ihrerseits dich anblickt. Zwei Paar Schuhe. Nichts Gemeinsames, wenn du verstehst.«

Flint schüttelte entnervt den Kopf, als sie um eine Kurve bogen und auf die Brücke zuhielten, die sie nach unten zu dem Waldweg bringen würde, der zum See führte.

»Außerdem«, grummelte der Zwerg, »meine ich mich zu erinnern, daß ihr zwei praktisch jeden Tag Krach hattet, bis sie verschwunden ist. Meiner Meinung nach war das schon der halbe Grund für ihr Fortgehen.«

Tanis blieb stehen und hielt Flint am Arm fest. »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte er verärgert.

»Hm«, machte Flint, der abrupt stehenblieb. Er runzelte die Stirn. »Vielleicht gab es da ja mal jemanden. Hügelzwerg wie ich, natürlich. Ich weiß nicht, ob man es Liebe nennen kann. Es war eine Art… Romanze.«

Flint kämpfte mit den Worten, während ihm die Farbe in die Wangen stieg. Er sah auf seine Füße hinunter und wippte vor und zurück. Tanis wartete, daß er weiterredete.

»Und?« forschte Tanis schließlich nach, indem er seinem Freund näher kam. »Na los, was geschah? Sag’s mir.«

Flints Miene war voller Schmerz. »Sie war die Tochter eines Jägers«, sagte er zögernd. »Unsere Familien hatten uns bei unserer Geburt schon einander versprochen. Das waren harte Zeiten damals.« Er schnaubte. »Sind es immer noch…«

Tanis lauschte fasziniert. Der Zwerg hielt sich, was sein Privatleben anging, normalerweise sehr zurück. Vielleicht hatte seine gute Laune seine Wachsamkeit eingeschläfert, so daß seine übliche Reserviertheit bröckelte.

Flint zögerte, denn er schien etwas mit seinem inneren Auge zu betrachten. Auf einmal schüttelte er den Kopf, als wollte er ihn von Spinnweben befreien.

»Sie war einfach… jemand! Damals, als ich so jung und dumm war wie du!« knurrte er. »Du weißt, wie das bei den Zwergen ist. Hochzeiten werden vom Clan arrangiert, und alle müssen einverstanden sein. Oder, weißt du überhaupt viel über die Geschichte der Hügelzwerge und der Bergzwerge? Also, da gibt es eine interessante Geschichte…«

Tanis hüstelte. »Wie hat sie geheißen?«

Flint funkelte ihn an. »Lolly Ockenfels.«

Tanis grinste breit.

»Ein angesehener Clan, die Ockenfelsens«, verteidigte sich Flint. »Sie waren ausgezeichnete Jäger. Aber es ist einfach so, daß ich damals einfach nicht fand, daß es die rechte Zeit sei, mich einfangen zu lassen, zu heiraten und die Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Ich war erst ein junger Bursche, und obwohl ich mit ihr ausgegangen bin, kannte ich Lolly nicht besonders gut. Jedenfalls bis zu diesem heimlichen Rendezvous, wo wir uns aussprachen und ich herausfand, daß sie mir in vielen Dingen glich.«

Tanis zog fragend die Brauen hoch. »Dickköpfig?«

»Sie hatte ihren eigenen Kopf«, sagte Flint irritiert. »Und als wir uns heimlich trafen, tja, da fand ich heraus, daß sie genauso darauf versessen war wie ich, die ganze Sache abzublasen. Bloß…«

»Bloß was?«

»Du stellst einen Haufen unangenehmer Fragen«, fauchte Flint. »Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle.« Er brach ab und schritt auf die Brücke zu, doch Tanis versperrte ihm den Weg.

»Bloß was?« wiederholte der Halbelf.

Flint sprach leise weiter: »Bloß bei diesem Treffen mit ihr ganz allein, da habe ich sie besser kennengelernt und erkannt, wie sie war. Sie hatte ihren eigenen Kopf wie ich…«

»Das hast du schon gesagt.«

»Und war irgendwie hübsch. Lange Rattenschwänze, gute, starke Schultern… dunkelbraune Augen mit, na ja, Tiefe.« Seine Stimme wurde noch leiser. Flint warf einen Blick auf Tanis, der begierig auf den Ausgang der Geschichte wartete.

»Und?«

Flint schob entschlossen den Unterkiefer vor. »Das ist eine Frage zuviel, Junge.« Der Zwerg tippte Tanis an, wodurch er diesen aus dem Gleichgewicht brachte. »Ich habe schon zu viel geredet, und Raistlin wartet.«

Flint stapfte auf die Brücke zu. Tanis blickte ihm nachdenklich hinterher. Dann lief er ihm mit ein paar langen Sätzen nach.

Von der anderen Seite kamen gerade zwei abgerissene Tagelöhner auf die Brücke, die zum Marktplatz von Solace wollten. Der eine, der eine schlecht passende Tunika trug, zeigte auf Tanis und machte eine laute Bemerkung über »spitze Elfenohren«, worauf sein Begleiter schallend loslachte.

Flint konnte spüren, wie Tanis sich spannte, als sie näher kamen. Angesichts der Stimmung, in der Tanis sich befand, konnte er sich in Schwierigkeiten bringen, überlegte der Zwerg.

Flint handelte rasch, indem er geschickt einen Holzhammer vom Gürtel schnallte und ihn scheinbar versehentlich herunterfallen ließ. Es gelang ihm, den Hammer mit dem Stiefel so anzustoßen, daß er auf das zerlumpte Paar zurutschte und genau vor die Füße dessen kullerte, der die abfällige Bemerkung gemacht hatte.

Der Mann bückte sich, um ihn aufzuheben, doch Flint war bereits da. Als er seinen Hammer aufhob, stieß der Zwerg dem Mann in der Tunika »versehentlich« das harte, abgerundete Ende unters Kinn. Der Tagelöhner sackte in sich zusammen.

»Hupsala«, sagte Flint, als er und Tanis ihren Weg fortsetzten. Der andere Mann, der seinem Freund die Wangen tätschelte, sah ihnen fassungslos nach.Bis Tanis und Flint den Waldpfad entlang des Ufers des Krystallmirsees erreicht hatten, war ihre Stimmung umgeschwungen. Während Tanis sich genüßlich ausmalte, welche Abenteuer vor ihm liegen mochten, führte Flint ein Selbstgespräch darüber, wie lästig Tolpan sein konnte, und war dadurch ausgesprochen reizbar geworden.

Der Sommer war mit einer Flut roter, violetter und goldener Wildblumen eingezogen, die den Pfad säumten. Um den See herum standen hohe Bäume. Am Himmel war keine Wolke zu sehen, und es regte sich kein Lüftchen. Wie leuchtend blaues Glas lag der Krystallmirsee friedlich vor ihnen.

Beim Blick auf die glatte Oberfläche des Sees lebte Flint wieder etwas auf. Er war sich ziemlich sicher, daß er Tanis beim Ditschen schlagen konnte. Vielleicht konnte er ein zweites Kupferstück gewinnen.

Vor sich entdeckten sie Raistlin, der mit dem Rücken zu ihnen auf einem großen, flachen Felsen am See hockte. Der ehrgeizige Zauberer trug eine rostfarbene Robe, die seinen dünnen Körper bedeckte und über den Stein fiel. Tanis und Flint wußten, daß der Majerezwilling diesen Ort liebte. Es hatte etwas mit einem Abenteuer zu tun, das er, Caramon und Kitiara hier erlebt hatten, als sie noch Kinder gewesen waren. Jetzt kam er oft hierher, um stundenlang allein zu sein – »das Undenkbare zu denken«, wie Flint es nannte, »was zum Glück für uns übriges, gemeines Volk eine Aufgabe für Magier ist.«

Raistlin drehte sich um und stand auf, um sie zu begrüßen, wobei sein ernstes Lächeln rasch verflog. Sein Gesichtsausdruck war sehr beherrscht. Der Magier winkte ihnen, damit sie sich neben ihm auf den Stein setzten.

Flint wurde still. Er fühlte, wie Raistlins Augen sein Gesicht erforschten. Nicht zum ersten Mal dachte Tanis, daß Raistlins blaßblaue Augen sich direkt in die Menschen hineinzubohren schienen.

»Was soll die ganze Geheimnistuerei?« fragte Tanis freundlich. »Warum konnten wir uns nicht einfach bei Otik treffen?«

Aus einer tiefen Falte seines Umhangs zog Raistlin eine auf den ersten Blick gewöhnliche Flasche mit langem Hals. »Weil ich finde, daß niemand außer uns dreien etwas hiervon wissen sollte«, sagte er geheimnisvoll.

Flint senkte den Kopf, um die besondere Flasche näher zu betrachten. Dann gab er einen Laut von sich, der halb verächtlich, halb lachend klang. »Sieht mir weder besonders interessant, noch besonders wichtig aus«, schnaubte der Zwerg leicht enttäuscht.

Raistlin bedachte ihn mit einem stechenden Blick. »Sieh zu!« sagte der Zauberer angespannt.

Er zog den Korken heraus, der die Flasche verschloß. Es zischte leise und roch nach der salzhaltigen Luft am Meer. Unter den Augen von Zwerg und Halbelf begann der Flaschenbauch hell zu glühen. Lichtpunkte wirbelten darin herum, begannen zu schimmern und eine klare Gestalt anzunehmen. Die Lichter waren wie winzige, strahlende Sternchen, die tanzten und wirbelten und einen regelrecht hypnotisierten.

Die Gestalt, die sie formten, war die von Tolpan Barfuß, das genaue Abbild des Kenders in Miniaturformat, der von funkelnden Lichtpunkten belebt war. Der Kender gestikulierte. Und dazu piepste unheimlicherweise Tolpans unverwechselbare Stimme aus dem langen Flaschenhals.

Lieber Raistlin!

Ist das nicht erstaunlich? Ich schreibe dir von Bord des guten Schiffs Venora… jedenfalls war es bis jetzt ein gutes Schiff (seit zwei Tagen und zwei Nächten). Caramon ist auf Deck, wo er sich mit seinen neuen Freunden, den Matrosen, amüsiert, und Sturm…

Die drei lauschten schweigend der ersten Hälfte der magischen Botschaft. Tanis war erstaunt. Flint klappte der Unterkiefer herunter.

»Unglaublich«, sagte Tanis. »Wo hast du das her?«

»Ein Kender in der Flasche«, sann Flint ungerührt nach.

»Keine schlechte Idee. Ganz und gar keine schlechte Idee.«

»Schsch!« sagte Raistlin. »Jetzt kommt der wichtige Teil.« Das Kenderabbild fuhr mit seiner Geschichte fort.

»…Er hat auch nicht so gestunken wie die meisten von ihnen üblicherweise. Sturm hat gesagt, er hätte sogar Seifengeruch an dem Hornochsen bemerkt. Sein Name ist – aber ich sollte wohl lieber sagen, war, bloß damit greife ich mir vor – Argotz. Wie gesagt, Argotz hatte das Jalopwurzpulver, und ich habe es ihm zu einem fairen Preis abgehandelt, und ich glaube, er hat aus lauter Dankbarkeit noch etwas dazugegeben, denn als ich in das Gasthaus zurückkam, wo wir übernachtet haben, fiel mir auf, daß ich doppelt soviel hatte, wie ich bezahlt hatte. Allerdings ist das nicht das Komische – du weißt doch, ich habe dir gesagt, daß es auch etwas Merkwürdiges gab. Obwohl ich finde, daß man es reichlich merkwürdig finden kann, wenn ein Minotaurus einen Kräuterladen in einer Höhle betreibt. Jedenfalls hat Asa das gesagt, und ich meine, mich zu erinnern, daß du das auch gesagt hast. Aber der wirklich komische Teil…«»Der Kender ist nicht einmal hier und redet trotzdem ununterbrochen«, murmelte Flint, der die Augen verdrehte.

»Aber der wirklich komische Teil ist das, was danach geschah. Oh, hob’ ich schon erwähnt, daß Argotz alle seine Kräuter zusammenpackte und es mächtig eilig zu haben schien, irgendwohin zu kommen? Natürlich dachten wir uns nichts dabei, bis wir zwei Tage später an unserem letzten Morgen in Hyssop erwachten. Das war der Tag, an dem wir aufbrechen wollten, und wir sind auch aufgebrochen, aber vorher kam noch ein Mann in das Gasthaus gerannt, der allen erzählte, was dem minotaurischen Kräuterhändler am Ortsrand zugestoßen war. Wir sind selbst hinausgegangen, um nachzusehen, und wirklich, was der Mann gesagt hatte, stimmte: Eine ganz gewaltige Explosion hatte die Höhle zerrissen und den Berghang in die Luft gejagt. Das Hab und Gut des Minotaurus war zerfetzt und überall verstreut. ›Argotz hat bestimmt einen Fehler gemacht und die falschen Kräuter zusammengeschüttet‹, sagte einer der Schlauberger aus dem Ort. Aber wenn das wahr sein sollte, hatte ich geantwortet, warum steckte dann sein Kopf sauber abgehackt und bluttriefend auf einer Pike am Rand des Pfads, der von der Hauptstraße zur Höhle führte? Sturm und Caramon und ich fanden, daß es teuflisch interessant war, aber wahrscheinlich nichts mit uns zu tun hatte, und wir wollten sowieso los, darum haben wir die langweilige Rückreise nach Osthafen angetreten und Kapitän Murloch mit seinem Schiff angeheuert, uns nach Abanasinia zu bringen. Kapitän Murloch erinnert mich an Flint, obwohl er viel bulliger und natürlich ein Mensch ist, aber Kapitän Murloch glaubt, daß er immer weiß, wie alles zu machen ist, und er ist nicht immer dankbar für meine Ratschläge.

Jedenfalls ist das die Geschichte von dem kräuterkundigen Minotaurus und dem Jalopwurzpulver, die dir hoffentlich gefällt, da ich dafür diese magische Flasche einsetzen mußte. Ich muß mich jetzt beeilen, weil sich ein mächtiger Sturm zusammenbraut – ziemlich ungewöhnlich dunkel und schauerlich, wenn du mich fragst –, und ich will die Botschaft in die See werfen, wenn hoher Seegang aufkommt.P.S.: An den, der diese Flasche findet und entkorkt – du wirst die Botschaft hören, aber das macht nichts. Bring die Flasche zu Raistlin Majere aus Solace, dann gibt er dir mindestens fünfzig Kupferstücke dafür, vielleicht sogar mehr, denn er ist großzügig und schert sich sowieso nicht um Geld. Frag im Ort herum. Da kennt ihn fast jeder.

Schöne Grüße,

dein Tolpan Barfuß aus Kenderheim,

neuerdings aus Solace«

Geschwind steckte Raistlin den Korken wieder auf die Flasche und ließ sie wieder in den Falten seines Umhangs verschwinden. Der Magier warf einen Blick auf Flint und Tanis, um ihre Reaktion zu beobachten. »Die Magie steckt mehr im Korken als in der Flasche«, erklärte ihnen der junge Zauberer gnädig.

Flint, den die Vorstellung von Tolpan in der Flasche immer noch begeisterte, konnte nur verwundert den Kopf schütteln.

»Wo hast du sie her?« Mit zusammengekniffenen Augen wiederholte Tanis seine vorherige Frage.

»Ein Glücksfall«, erwiderte Raistlin. »Ein ehrenhafter Trödler hat sie in der Nähe der Docks aus dem Wasser gezogen, als er in einem kleinen Hafen namens Rachebucht an der Küste von Abanasinia landete. Nachdem er sie entkorkt und die Botschaft gehört hatte, beschloß er, mich aufzusuchen. Er wollte sowieso in diese Gegend, aber zum Glück ist er direkt nach Solace gekommen. Er ist gestern eingetroffen und hat im Gasthaus Zur Letzten Bleibe nach mir gefragt. Otik hat ihm den Weg beschrieben, und«, betonte der Magier, »ich habe dem Trödler fünfundsiebzig Kupferstücke gegeben, nur um zu beweisen, daß der Kender recht hatte.«

»Fünfundsiebzig Kupferstücke!« rief der geizige Zwerg.

»Die Flaschenpost ist wirklich etwas Besonderes«, stimmte Tanis zu, der aufstand, um sich zu räkeln. Er blickte über den Krystallmirsee und erinnerte sich an ein Picknick, das er einst mit Kitiara an dessen Ufer erlebt hatte. »Aber ich verstehe nicht, warum du deswegen an Gefahr glaubst. Das war doch bloß Tolpan auf einem Schiff, der einen seiner ewig langen Briefe geschrieben hat. Der Teil mit dem kräuterkundigen Minotaurus ist etwas seltsam, aber – «

»Der Trödler hatte noch etwas zu berichten«, warf Raistlin ein. »Er ist selbst in Osthafen gewesen, wo in den Docks darüber geredet wurde, daß die Venora in einem ungewöhnlich plötzlichen und heftigen Sturm verschwunden ist. Der Trödler ist viele Male zwischen Südergod und Abanasinia in See gestochen, darum kennt er Kapitän Murloch vom Sehen, und er schwor, daß er ein paar Matrosen des Kapitäns in den Tavernen von Rachebucht hat trinken sehen. Und sie bezahlten ihre Zeche mit Minotaurengeld.«

»Eigenartig«, stimmte Tanis zu, der sich mit den Fingern durch die rötlichbraunen Haare fuhr.

»Noch eigenartiger«, fügte Raistlin hinzu, »ist, daß die Leiche von Kapitän Murloch im Laufe der Woche an den Felsen angespült wurde. Sein Körper war aufgetrieben, das Gesicht unkenntlich. Er war angefressen und von komischen Verbrennungen und Stichen bedeckt. Trotzdem erkannte die Besatzung ihren Kapitän und lief in Windeseile auseinander.«

Tanis setzte sich schwerfällig. Flint runzelte die Stirn.

»Es ist über sieben Wochen her, seit die Venora Osthafen verlassen hat«, ergänzte Raistlin bedeutsam.

»Woher willst du wissen, daß das nicht eine Art Trick oder einer von Tolpans Streichen ist?« bellte Flint argwöhnisch. »Wie kannst du diesem Trödler trauen?«

»Das ist kein Trick!« antwortete Raistlin ungeduldig. »Der Trödler wollte sich nur die Kupfermünzen verdienen. Das konnte ich sehen. Er hat es gut gemeint. Die Flaschenpost an sich war ihm gleichgültig.«

Flint seufzte. Er stand auf und ließ einen Stein über die Oberfläche des friedlichen Krystallmirsees flitschen. Siebenmal setzte er auf. Nicht schlecht, fand der Zwerg mit einem gewissen Stolz.

Sturm und Caramon – diese großen Kerle waren wirklich nicht viel mehr als hochgeschossene Bengel. Man konnte nicht damit rechnen, daß sie sich vernünftig verhielten, überlegte Flint. Schließlich hatte er sich mit ihnen stundenlang in den Wäldern um diesen See hier – und in ganz Solace –, herumgetrieben, weil er ihnen die Gesetze des Waldes beibringen wollte. Willige Schüler, das schon, aber einmal mit Tolpan zusammen, und…

»Gut, dann sind sie eben ein paar Wochen überfällig«, sagte Flint vorsichtig. »Ich verstehe nicht, was die ganze Aufregung soll.«

Raistlin wurde ernst. »Es gibt da noch etwas… etwas, das mir viel früher hätte auffallen müssen. Ihr wißt doch, daß ich zufällig mit Tolpan zusammen war, als sein Freund Asa ihm erzählte, daß es in Südergod einen kräuterkundigen Minotaurus gäbe, der in seinem Laden Jalopwurzpulver verkaufte.

Obwohl diese Information so unwahrscheinlich erschien, hörte ich genau zu, weil ich gerade in einem von Morats Zauberbüchern auf einen alten Spruch gestoßen war. Das Papier war teilweise schon zerbröselt, so daß ich nicht mehr alle Sätze entziffern konnte, aber der Spruch hat mich gefesselt.«

Tanis sah Raistlin prüfend an. Wie damals, als er die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, dachte der Halbelf, daß Raistlin bei seinem Bericht etwas für sich behielt.

»Ich wußte, daß man für den Spruch Jalopwurz brauchte«, fuhr Raistlin fort, »und daß es Jalopwurz hierzulande kaum gibt. Das war die Gelegenheit, etwas davon zu bekommen. Sturm und Caramon boten sich an, Tolpan auf der Reise nach Südergod zu begleiten, der etwas für mich holen wollte.«

»Und?« hakte Flint ein, der allmählich fand, daß Raistlin neuerdings furchtbar umständlich wurde. Der Zwerg wußte genau, was es mit diesem Was-auch-immer-Pulver auf sich hatte, und kannte die Gründe, die zu der Reise nach Südergod geführt hatten. Er zielte und warf einen weiteren Stein. Neunmal setzte er auf, wie der Zwerg befriedigt feststellte.

Raistlin legte die Fingerspitzen aneinander und starrte die beiden durchdringend an, was Tanis irritierte. »Nachdem ich Tolpans Nachricht erhalten habe, bin ich gestern nach Teichgrund gelaufen, um mich mit dem Zaubermeister zu beraten. Er hat mich an etwas erinnert, daß ich hätte in Betracht ziehen müssen. Jalopwurz kommt in großen Mengen nur auf der Insel Karthay vor, einer abgelegenen, einsamen Ecke der Minotaurischen Inseln. Nach minotaurischem Recht darf es nicht aus dem Reich gebracht oder verkauft werden. Den Minotauren ist Jalopwurz heilig. Das bedeutet, wer auch immer den kräuterkundigen Minotauren getötet hat – «

»Argotz«, erinnerte sich Tanis leise.

»Wer auch immer Argotz getötet hat«, fuhr Raistlin fort, »ist vielleicht auch Sturm, Caramon und Tolpan gefolgt, um auch sie zu töten.«

Tanis sprang auf, weil er auf ein Abenteuer brannte, weil er darauf brannte, etwas zu tun – etwas anderes, als in Solace herumzusitzen. »Dann müssen wir nach Rachebucht, diese Seeleute ausfindig machen und sie zwingen, uns zu erzählen, was aus der Venora geworden ist. Falls nötig, gehen wir nach Osthafen und suchen dort nach Hinweisen.«

Flint blickte seinen Elfenfreund entsetzt an. »Nach Rachebucht… Osthafen?« stotterte der Zwerg. Er sorgte sich um seine Freunde, aber das erschien ihm doch etwas übereilt. Flint hatte mit dem Gedanken gespielt, im Sommer eine Reise zu machen, jedoch zu einem schönen, ruhigen, stillen Ort oben in den Bergen, nicht in die überfüllten, lauten Städte der Küste.

»Nein«, sagte Raistlin schlicht. »Es ist über zehn Tage her, seit der Trödler in Rachebucht war. Und Osthafen würde nichts bringen. Das wäre nutzlos.«

»Raistlin hat recht«, stimmte Flint eilig zu. »Es wäre völlig sinnlos.«

Raistlin machte eine ungeduldige Geste. »Und denkt dran, die Matrosen haben ihr Gelage mit Minotaurengeld bezahlt«, sagte der Magier. »Nein, es wäre sinnlos, nach Westen zu reisen, denn wenn ich recht habe, dann sind mein Bruder und unsere Freunde weit, weit im Osten – und in Gefahr. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich dorthin. Zum Blutmeer und auf die Minotaurischen Inseln.«

»Zum Blutmeer?« erschrak Flint. Aus seinem Gesicht wich alle Farbe. Er mußte sich setzen, um diesen Schock zu verdauen.

»Auf die Minotaurischen Inseln?« fragte Tanis überrascht. »Aber die sind Tausende von Meilen entfernt, das ist eine monatelange, anstrengende Reise über Land. Selbst wenn Sturm, Caramon und Tolpan dorthin gebracht wurden – wenn sie in Gefahr sind, können wir nicht hoffen, rechtzeitig zu kommen.«

»Wie zum Teufel sollten sie in so kurzer Zeit von der Straße von Schallmeer auf die Minotaurischen Inseln gelangen?« fragte Flint befremdet.

»Ich weiß nicht, wie«, gestand Raistlin. »Wahrscheinlich durch irgendwelche hochentwickelte Magie. Aber wenn sie leben, dann sind sie dort. Davon bin ich überzeugt. Und ich werde dorthin gehen und versuchen, sie zu finden. Das einzige, was ich wissen will, ist, ob ihr mitkommen wollt?«

»Wie?« fragte Tanis erneut. »Wie können wir denn hoffen, eine solche Entfernung zu überwinden?«

Die Augen des Magiers glitzerten aufgeregt. »Als ich mit Morat sprach, hat er mir von einem Orakel erzählt, das am Düsterwald lebt und ein Portal kennt, das uns in wenigen Augenblicken nach Ogerstadt an die Küste des Blutmeers bringt.«

»Ogerstadt!« murmelte Flint untröstlich.

»Dort müssen wir uns einschiffen, um über das Blutmeer zum Minotaurischen Königreich zu kommen.«

»Oh, nein!« Flint riß die Arme hoch. »Ich fahre über kein Blutmeer! Ich weiß alles über das Blutmeer!« Er wies über den friedlichen Krystallmirsee. »Vielleicht«, fuhr er fort, »aber nur vielleicht würde ich über den Krystallmirsee fahren, um meine Freunde zu retten, aber vielleicht auch nicht. Es würde von meiner Stimmung abhängen und davon, welche Freunde es gerade wären. Aber du kriegst mich nicht in ein Boot, das über das Blutmeer fährt, ganz egal welches Portal oder welche Freunde oder wieviel Kupferstücke du einem gerissenen, wandernden Trödler gegeben hast!«

Raistlin achtete nicht auf den graubärtigen Zwerg, der theatralisch herumstapfte und dabei gegen Steine und Baumstümpfe trat. Prüfend sah er Tanis an. Der Halbelf wiegte sich unter Raistlins Blick betroffen hin und her. Tanis ahnte, daß der Magier mehr wußte, als er ihnen mitteilte, aber sein eigentliches Ziel bezweifelte er nicht. Er wußte, wenn Raistlin glaubte, Sturm, Caramon und Tolpan wären in Schwierigkeiten, dann waren sie es auch.

Nach langem Schweigen stand Tanis auf und streckte zum Zeichen seines Einverständnisses die Hand aus. »Sie würden für uns ihr Leben aufs Spiel setzen«, sagte der Halbelf ernst, »und das schulden wir ihnen auch.«

Raistlin nickte ihm dankbar zu.

»Was ist mit Kit?« fragte Tanis, dem sie plötzlich einfiel. »Meinst du nicht auch, einer von uns sollte versuchen, sie zu benachrichtigen?«

»Ich habe ihr bereits eine Botschaft geschickt«, sagte Raistlin. »Mach dir keine Gedanken um Kitiara. Wenn sie zu uns stoßen kann, wird sie das auch tun.«

»Aber wo ist sie?« drängte Tanis. »Vielleicht könnte ich – «

Raistlin schnitt ihm mit einem Blick das Wort ab.

Flint stand finster am Ufer, wo er einen sauber gerundeten, flachen Stein in der Hand hielt. Er schleuderte ihn über das Wasser. Der Stein schlug einmal, zweimal auf, dann sank er. Ein böses Omen, da war er sich sicher.

Der kräftige Zwerg kam zu Raistlin und Tanis herüber, die seine Entscheidung erwarteten. Er blickte beiden ins Gesicht. Er war davon überzeugt, zwei Trottel vor sich zu sehen.

Dann streckte er seinen kräftigen, rechten Arm aus und legte seine knorrige Hand über die von Tanis und Raistlin. »Ich möchte nur eines klarstellen«, grollte der Zwerg den Zauberer an. »Ich mache das für Sturm und für deinen Bruder, nicht für diesen verdammten Kender!«Raistlin hatte ihnen aufgetragen, Proviant, Waffen, Kleider, Kletterausrüstung und andere wichtige Dinge einzupacken. Flint bekam in dieser Nacht wenig Schlaf, packte seinen Reisesack immer wieder ein und aus, schärfte Axt und Messer und murmelte vor sich hin, was für ein Dummkopf er war. Kurz vor der Dämmerung klopfte es an der Tür. Breit grinsend und reisefertig stand Tanis da. Wieso war der Halbelf so verdammt guter Laune, fragte sich Flint.

Sie sollten Raistlin an einer Biegung der Straße treffen, die aus Solace heraus führte. Als er aus der Tür rannte, fiel Flint noch etwas ein. Er eilte wieder zurück und holte ein Stück Rinde. Mit einem Stück Holzkohle kritzelte er etwas darauf und hängte das Schild an die Tür, bevor er und Tanis in die graue Morgendämmerung liefen.

Auf dem Schild stand: »Auf der Jagd – Rückkehr unbestimmt.«

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