8 Der Gebrochene

Etwas griff nach Sturm. Schwach schaute der Solamnier mit benebeltem Blick nach oben. Er merkte, daß er hochgezogen wurde.

Als nächstes nahm er wie durch einen Nebel wahr, daß er neben Caramon auf dem Boden eines kleinen Bootes lag. Seinem Freund hingen die Kleider in Fetzen vom Leib, sein Körper war von verkrusteten Wunden bedeckt. Die wenige Haut, die unversehrt geblieben war, war von der Sonne zu einem kräftigen Bronzeton gebrannt worden. Sturm starrte den jungen Krieger an, der die Augen geschlossen hatte. Erleichtert stellte der Ritter fest, daß sein Kamerad gleichmäßig atmete. Dann verlor Sturm das Bewußtsein.

Ein knorriger, alter Fischer namens Lazaril hatte die beiden aus der See gefischt, ihre Fesseln durchgeschnitten und sie in sein Boot geworfen.

Jetzt betrachtete sie der drahtige, gebeugte Fischer nachdenklich. Er stützte sein Kinn in die Hand. Lazaril hatte gehofft, heute morgen ein paar Aale zu fangen, die er dann auf dem freien Markt in Atossa, einer Stadt an der Nordküste von Mithas, verkauft hätte. Aber wenn er es richtig anstellte, konnten diese beiden Menschen ihm das Zehnfache einbringen.

Sie sahen allerdings schrecklich aus – halbtot. Er mußte sie erst waschen, so gut er das vermochte. Also zog er seine Lederjacke aus und legte sie auf den Kleineren, dessen Hemd fortgerissen war. Und er versuchte, ihnen Gesicht und Wunden abzuspülen. Sie hatten jede Menge Verletzungen, doch damit kam Lazaril zurecht. Sie konnten sich schließlich nicht wehren. Vielleicht war ihr Schiff versenkt oder von Piraten überfallen worden. Das war Pech für sie, aber ein Glücksfall für Lazaril.

Die zwei Freunde wachten kurz auf, denn sie mußten würgen, als Lazaril ihnen klares Wasser in den Mund goß und sie dann zwangsweise mit etwas Trockenfisch fütterte. Der Größere, den er zuerst aus dem Meer gezogen hatte, blickte ihn mit fragenden Augen an, schluckte aber trotz seiner Benommenheit hungrig, bis er wieder bewußtlos wurde. Der andere schien in noch schlimmerem Zustand zu sein. Lazaril konnte nur wenige Bissen in ihn hineinstopfen.

Mit schneller Hand flickte der Fischer notdürftig ihre Kleider und rieb dann ihre Haut mit einem Allzweckbalsam ein, um den Sonnenbrand zu lindern. Anschließend sahen die beiden Halbertrunkenen fast wieder normal aus. Nun, nicht ganz, aber fast.

»Du hast deine wahre Bestimmung verpaßt, Lazaril«, sagte sich der Fischer mit stolzem Kichern. »Du hättest die Heilkunst erlernen sollen.«

Der Fischer griff nach den Rudern und legte sich in die Riemen. Er ruderte kräftig gegen den leichten Wind an und war nach einer Stunde in Sichtweite des kleinen Hafens von Atossa.

Keiner der beiden Gefährten war wieder zu Bewußtsein gekommen. Das wäre auch zuviel erwartet gewesen. Als sie sich dem Hafen näherten, zog Lazaril eine Plane über die beiden reglosen Gestalten, damit keiner seiner Konkurrenten seine ungewöhnliche Fracht mitbekam. Am Hauptpier entdeckte der alte Fischer einen Gassenjungen, dem er ein Kupferstück versprach, wenn er losrannte und den Minotaurus holte, der als Hafenmeister angestellt war.

In dem kleinen Hafen war jede Menge los. Menschliche Piraten und Söldner machten mit den bulligen Stiermenschen Geschäfte, die die Insel regierten. Armselige Sklaven – zumeist Menschen, aber auch ein Häuflein aus anderen Rassen – schulterten ihre Lasten unter der Aufsicht von Minotauren, die herrisch über die Docks stolzierten und bei der erstbesten Gelegenheit boshaft die Peitsche schwangen.

Ein eindrucksvoller Minotaurus mit wilden Augen und spitzen Hörnern kam zum Steg, während der Gassenjunge hinter ihm sich sputen mußte, um mitzuhalten. Lazaril gab dem Jungen sein Kupferstück und scheuchte ihn geschäftig fort. Der Minotaurus verschränkte die Arme und wartete mit strengem, ungeduldigem Blick auf seinem tierhaften Gesicht. Lazaril bedachte ihn mit einem schlauen, offenen Grinsen.

Diesen Minotaurus kannte Lazaril vom Sehen, obwohl er sich bisher immer Mühe gegeben hatte, um den Hafenmeister von Atossa einen großen Bogen zu machen. Er hieß Vigila und war vom König selbst eingesetzt. Alle Fischer und anderen, regelmäßigen Hafenbesucher kannten seine Brutalität und die eiserne Hand, mit der er den kleinen Hafen führte. Er war es, der auf den Docks Recht sprach, den Zoll für den König kassierte – von dem er einen Teil für sich behielt – und für das erforderliche Kontingent Sklaven sorgte. Mit ihm mußte Lazaril verhandeln.

Mit bescheidener Geste zog der Fischer die Plane weg und enthüllte die beiden Menschen. Erwartungsvoll sah er Vigila an.

»Was?« fragte Vigila höhnisch. »Du hast zwei Menschenkarpfen gefangen, alter Fischer. Warum sollten die mich interessieren?«

Lazaril schluckte und zwang sich zu einem Grinsen. »Eure Exzellenz«, fing er an, denn er wußte nicht, wie man einen Hafenmeister ansprach, »ihre Wunden sind nur oberflächlich. Ich glaube, das sind zwei sehr starke Menschen, die ausgezeichnete Sklaven abgeben, wenn sie erst wieder gesund sind. Jetzt sind sie schwach, aber sie brauchen nur zu essen und zu trinken, dann werden sie wieder stark. Dann können sie gute Arbeit leisten – hart arbeiten bis zum Tod. Das würde Euch doch interessieren, oder nicht?«

Vigila schnaubte zornig, während seine Augen Lazaril zu durchbohren schienen. »Schmeiß sie wieder ins Wasser, alter Fischer. Fang dir etwas, das du dir wenigstens am Abend auf den Teller legen kannst.« Das leise Grollen aus seiner Kehle hätte ein Glucksen sein können.

Lazaril nahm all seinen Mut zusammen und setzte nochmals sein gerissenes Grinsen auf. »Ich glaube, der hier«, der Fischer tätschelte Caramons Schulter, »ließe sich für die Spiele trainieren. Er könnte Gladiator werden; er hätte das Zeug dazu. Trotzdem würde ich ihn Euch als Gladiator günstig verkaufen. Denkt doch, wie erfreut der König reagieren würde, wenn Ihr ihm einen Gladiator übergeben könntet, der aus dem Meer gefischt wurde.«

Vigila schaute nachdenklich drein. Der Hafenmeister fand sichtlich Gefallen an dieser Vorstellung, das sah Lazaril.

»Menschen halten in den Spielen nie lange durch«, sagte der Minotaurus verächtlich.

»Aber«, blieb der Fischer am Ball, der sich insgeheim zu seinem Takt und seinen Verhandlungskünsten beglückwünschte, »sie sind sehr unterhaltsam für die Zuschauer, selbst wenn sie verlieren.«

Caramon und Sturm regten sich und hoben dann beide den Kopf. Nicht zum ersten Mal in den letzten paar Tagen fragten sie sich, wo sie waren. Nach den Tagen, die sie in der rauhen See getrieben waren, konnte sich keiner von ihnen einen Reim auf die Szene machen, die sie vor sich sahen.

Ein alter Fischer mit karottenrotem Haar stand krummbeinig in seinem Boot und redete mit leiser Stimme mit einem riesigen Minotaurus, der vor ihm aufragte. Der Minotaurus trug einen Lederrock und eine ganze Reihe Gurte und Riemen. Er hatte einen riesigen, grobbehauenen Stock dabei. Wie eine Autoritätsperson stand er am Pier, schien jedoch mit dem Fischer zu verhandeln.

Doch ihr Hirn war so vernebelt und das Gespräch zwischen Fischer und Minotaurus wurde so gedämpft geführt, daß Caramon und Sturm nichts verstehen konnten.

Der Hafenmeister warf einen Blick auf die zwei Gefährten, die ihre Köpfe jämmerlich in seine Richtung hoben und dann wieder zurückfielen. Der alte Fischer nickte und strahlte ermutigend.

»Hier, alter Fischer«, grollte Vigila, der in eine Tasche griff und Lazaril eine Handvoll Münzen hinwarf. »Ich nehme dir diese menschlichen Wracks ab. Vielleicht kann ich sie aufpäppeln. Vielleicht auch nicht.« Der Hafenmeister drehte sich um und winkte nach einem Karren.

Ein anderer Minotaurus weit unten am Pier knallte mit der Peitsche. Zwei Menschensklaven begannen, einen großen Karren mit Holzrädern zu dem Hafenmeister zu ziehen.

Lazaril sammelte eifrig seine Münzen auf, von denen einige zu seinem Unglück in das brackige Hafenwasser gefallen waren und auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.

Während Lazaril herumsuchte, spannte Vigila seine Muskeln an, beugte sich vor und hob Caramon und Sturm aus dem Boot, indem er jedem einen kräftigen Arm um die Brust legte. Da sie zu verwirrt waren, um zu zappeln, bekamen die beiden nur mit, wie sie durch die Luft flogen, als Vigila sie hochhob und auf den Karren warf. Sie landeten quer übereinander.

Eine Peitsche knallte, die Menschensklaven drehten um und zogen den Karren vom Pier.

»He! Das sind alles Kupferstücke!« beschwerte sich Lazaril, als der alte Fischer die Münzen zählte, die er aufgesammelt hatte, und bemerkte, daß er betrogen worden war. »Das ist der Sklavenpreis, nicht der Gladiatorenpreis!«

Der alte Fischer stieg eine Sprosse zum Pier hoch. Das war sein zweiter Fehler. Der erste war gewesen, daß er seine Stimme zornig erhoben hatte.

Vigila drehte sich zu ihm um. Seine Augen quollen vor Wut hervor.

Lazaril erstarrte. »Aber das ist nicht der Gladiatorenpreis«, jammerte der Fischer leise. Er wollte zurück in sein Boot. Er wollte hinaus in den Ozean und Aale fangen wie jeden Tag. Doch sein Fuß baumelte nutzlos in der Luft, als er die Leitersprosse verfehlte.

Vigila senkte den Kopf und stürmte auf den Fischer los, um den alten Mann auf seinen spitzen Hörnern aufzuspießen. Als er den Kopf wieder hob, bellte der Hafenmeister wütend und drehte sich dann mehrmals herum, ehe er den Kopf schließlich wieder senkte und den Körper abschüttelte, so daß er weit hinaus aufs Wasser flog.

Lazaril zuckte und schlug um sich, als er durch die Luft segelte. Dann landete er im Wasser, wo er sich nicht mehr rührte. Möwen schossen hinunter, um am Körper des alten Fischers zu picken.

Der Gassenjunge, der hinter einem Faß Schutz gesucht hatte, kroch vor, um ein paar der Kupfermünzen aufzusammeln, die der Fischer hatte fallen lassen. Er warf Lazarus Leiche keinen Blick mehr zu. Solche Gewaltausbrüche waren im Hafen von Atossa nichts Ungewöhnliches. Vor Vigila mußte man sich hüten. Diejenigen, die es überhaupt mitbekamen, hielten nur kurz inne und fuhren dann mit Kauf und Verkauf, Streit und Kampf fort, als wäre nichts geschehen. Keiner beachtete den Vorfall weiter.

Das wäre auch unklug gewesen.Zur gleichen Zeit, zu der Tolpan in seiner Zelle in der Minotaurenhauptstadt Lacynos gefoltert wurde, sperrte man Sturm Feuerklinge und Caramon Majere keine dreißig Meilen weiter in der kleinen Stadt Atossa ins Gefängnis.

Da sie erleichtert waren, dem sicheren Tod im Blutmeer entgangen zu sein, verzichteten Sturm und Caramon auf Widerstand. Um ehrlich zu sein, hatten sie auch weder die Kraft noch den wirklichen Willen dazu.

Nachdem man sie in eine schmutzige Zelle – eine von Dutzenden in dem unterirdischen Kerker von Atossa – geworfen hatte, sanken die beiden Freunde auf dem Steinboden zusammen. Sie verschliefen den Rest des Tages und die sich anschließende Nacht, und als sie erwachten, aßen sie voller Gier. Minotaurenwachen gaben Schüsseln mit Fleisch und Wasser aus riesigen Eimern aus, die sie von Zelle zu Zelle schleppten. Trotz des unappetitlichen Geruchs und der Farbe des Fleisches beklagten sich Caramon und Sturm nicht. Noch nie waren sie so hungrig gewesen.

Am zweiten Abend waren sie soweit, daß sie sich aufsetzen und miteinander reden konnten. Obwohl ihnen die Kleider in Fetzen von ihren dreckigen Körpern hingen, die überall von dem zeugten, was sie durchgemacht hatten, konnten Caramon und Sturm auf die Kraftreserven der Jugend zurückgreifen. Sie erholten sich erstaunlich schnell.

»Nach dem, was ich mitbekommen konnte, und aufgrund des Aussehens unserer Wärter, glaube ich, daß wir auf der Insel Mithas sind«, sagte Sturm zu Caramon, als die beiden sich an jenem Abend mit leiser Stimme unterhielten. »Irgendwie sind wir mit der Venora über Tausende von Meilen von der Straße von Schallsee an den äußeren Rand des Blutmeers getrieben. Und der, der diese unglaubliche Tat vollbracht hat, hat aus irgendeinem Grund Tolpan gefangengenommen und uns über Bord geworfen, damit wir umkommen.« Sturm schwieg, denn er dachte an die Tage, in denen sie durch das aufgewühlte, tückische Blutmeer getrieben waren. »Was uns auch hier erwarten mag, wir können von Glück sagen, daß wir noch am Leben sind. Das Blutmeer gibt nicht viele Schiffbrüchige wieder her.«

»Und was meinst du«, fragte Caramon langsam, »was aus Tolpan geworden ist?«

Sturm schüttelte traurig den Kopf.

An ihrem dritten Morgen in der Zelle kamen zwei viehisch aussehende Minotauren und starrten sie an. Einer von ihnen trug Abzeichen, die offiziell wirkten, und hörte zu, wie der andere leise grollend sprach, der dabei abwechselnd auf Caramon und Sturm deutete.

»Sieh nur, wie schnell sie sich von ihren Wunden erholt haben. Sie sind sehr starke Kämpfer. Wenn wir ihnen Zeit lassen, zu gesunden und wieder zu Kräften zu kommen, können sie uns bei den Spielen unterhalten. Wenn sie nicht zu Gladiatoren taugen, können wir sie immer noch in die Sklavengruben werfen.«

Caramon starrte sie teilnahmslos an. Er fühlte sich schwach und zerschlagen und konnte sich sowieso nicht zusammenreimen, wovon die Rede war. Was machte es schon, was aus ihm werden würde, Minotaurensklave oder ein zum Untergang verurteilter Gladiator, hier, Tausende von Meilen von Solace entfernt?

Sturm stand auf und steckte sein Gesicht zwischen die Gitterstäbe. Er funkelte die beiden Minotauren an. »Gern würde ich auf der Stelle gegen einen von euch antreten«, sagte der junge Solamnier zornig, »wenn ihr mich auch nur einen Moment hier rauslassen würdet! Ich werde nie ein Sklave, und was eure Gladiatorenkämpfe angeht – pah!« Er spuckte in ihre Richtung.

Einen Augenblick später hatte der Minotaurus mit den Insignien auch schon ausgeholt und Sturm mitten ins Gesicht geschlagen, bevor der Solamnier sich sicher hinter die Stäbe zurückziehen konnte. Mit blutender Lippe taumelte er zurück.

»Der da ist ziemlich dumm«, polterte der hochrangige Minotaurus, »aber wir werden ihm seine Dummheit schon austreiben.« Mit seiner riesigen, behaarten Hand rieb er sich das Kinn und betrachtete dabei die zwei Gefährten.

»Laß den da«, der Minotaurus zeigte auf Caramon, »beim Füttern und Eimerleeren helfen. Als Belohnung«, sagte er höhnisch grinsend, »weil er seinen Mund gehalten hat. Im Gegensatz zu seinem Freund soll er Gelegenheit haben, sich zu strecken und seine Muskeln aufzubauen, und wenn die Zeit kommt, daß er um sein Leben kämpfen muß, lebt er vielleicht etwas länger.«Am nächsten Morgen wurden die Gefährten unsanft von den Minotaurenwachen geweckt. Eine Wache hielt Sturm ein Schwert an die Kehle, während die andere Caramon aus der Zelle heraus winkte. Man reichte Caramon zwei riesige Eimer mit Fleisch und Wasser und wies ihn an, jedem der Gefangenen in den Zellen eine Portion davon zu geben. Die dunklen, feuchten Gänge gingen in alle vier Himmelsrichtungen auseinander.

Als Caramon unter dem Gewicht der Eimer schwankte, merkte er, wie sehr ihn sein Abenteuer im Meer geschwächt hatte. Die Minotaurenwachen lachten über Caramon, als er sich abmühte, die Eimer anzuheben und dann den vorgegebenen Weg entlangstolperte. Eine der Wachen kehrte an ihren Posten zurück, während die andere mit gezücktem Schwert hinter Caramon her trottete, um sicherzugehen, daß der lächerliche Mensch das tat, was man ihm befohlen hatte.

Drei Stunden lang wanderte Caramon durch die Kellergänge und füllte die Tröge, die vor den Gefängniszellen standen. Von innen konnten die Gefangenen ihre Hände ausstrecken und Nahrung und Wasser schöpfen.

Es waren sowohl minotaurische als auch menschliche Gefangene, wie der Zwilling überrascht feststellte. Trotz der Demütigung durch die Gefangenschaft starrten die gefangenen Minotauren Caramon voll bitterer Verachtung an. Obwohl er ihnen brachte, was sie lebensnotwendig brauchten, war Caramon für sie nur ein Angehöriger der minderwertigen Rasse Mensch.

Die meisten Gefangenen waren Abtrünnige, Piraten oder Schlimmeres. Manche waren so müde, krank oder verletzt, daß sie nicht einmal reagierten, wenn Caramon ihr Essen brachte. In mindestens einem Fall war Caramon sich sicher, daß der Gefangene, der einsam in einer Ecke zusammengekugelt lag und von Insekten bekrabbelt wurde, längst tot war. Er sagte dies der Minotaurenwache, die immer in der Nähe war, um ihn zu beobachten.

Der Wächter reagierte gleichgültig, sah allerdings näher hin und schrieb etwas in ein ledergebundenes Buch, das an seiner Seite hing.

Am hintersten Ende des einen Gangs lag eine einzelne Zelle, die mehrere hundert Fuß von ihrem nächsten Nachbarn entfernt war. Das war der seltsamste Fall von allen. Eine elende Gestalt war an der Innenwand so festgezurrt, daß sie aufrechtgehalten wurde und weder sitzen noch liegen konnte. Der Körper wirkte gebrochen. Der Kopf hing herunter. Der Mann mußte seine ganze Kraft zusammennehmen, um aufzuschauen, als Caramon taumelnd mit den Fleisch- und Wassereimern zu ihm kam.

Caramon konnte in der schwach erleuchteten Zelle kaum etwas sehen, doch er erkannte, daß der Mann einen ovalen Kopf hatte. Seine Augen waren winzige, schwarze Löcher. Eiter und Blut quollen ihm aus Schultern und Rücken, als ob man ihm etwas Lebenswichtiges abgerissen hätte. So wie er da hing, sah er nicht so aus, als ob er überhaupt noch am Leben sein könnte, doch beim Anblick von Caramon brachte er ein neugieriges, tapferes Lächeln zustande.

Caramon fragte sich, wie der gebrochene Mann herkommen sollte, um sein Fleisch zu essen und sein Wasser zu trinken. Nachdem er die Eimer abgestellt hatte, zögerte der Krieger.

»Na los«, knurrte die Minotaurenwache einige Fuß hinter Caramon. »Hin und wieder lassen wir ihn essen. Ansonsten kann er es ansehen und riechen, wie es verfault. Das gehört hier alles zum Service.«

Caramon ließ sich Zeit, während er das Fleisch abmaß und etwas Wasser in den Trog des Mannes schöpfte. Wie erwartet hatte sich die Minotaurenwache müßig umgedreht und war einige Schritte den Korridor heruntergewandert. Der Wächter beobachtete sie nicht mehr genau.

»Warum hat man dich angekettet?« wisperte Caramon leise.

»Damit ich mich nicht selbst töte«, sagte der gebrochene Mann. »Ich ziehe den Tod der Unterwerfung vor.«

»Warum bist du hier?«

»Ich werde verhört«, antwortete der Mann in merkwürdig belustigtem Ton.

»Was hast du getan?«

»Ich gehöre nicht zu ihnen. Das reicht.«

Caramon drehte sich um.

»Warte!« flüsterte der Mann. »Bist du einer von den neuen Menschen?«

Caramon schaute ihn erstaunt an. Er warf einen Blick auf die Wache. Der Stiermensch achtete nicht auf ihn. Er kehrte ihnen den Rücken zu und schlug müßig mit dem Schwert gegen die Wände des Gangs.

Caramon beugte sich zu dem gebrochenen Mann hin. »Was meinst du?«

»Bist du einer von den Menschen, die aus dem Meer gezogen wurden?«

»Ja«, sagte Caramon verwundert. »Woher weißt du das?«

»Pst. Nicht jetzt. Ein andermal.«

Die Minotaurenwache drehte sich um, weil das Warten sie langweilte. »He, du, keine Bummelei! Mach schon!«

Mit einem Nicken verabschiedete ihn der angekettete Mann. Widerstrebend folgte Caramon dem Minotaurus. Seine Arme und Schultern schmerzten vom Tragen der schweren Eimer.Obwohl man sie nicht gezielt beobachtete, beschlossen Caramon und Sturm, sich nur nachts zu unterhalten, wenn es dunkel war. Caramon erzählte Sturm im Flüsterton von dem seltsamen Mann, der in der Zelle angekettet war, und wie er anscheinend von den Menschen gewußt hatte, die man »aus der See gefischt« hatte. Sturm dachte darüber nach, doch er konnte sich nicht vorstellen, wie der Gefangene von ihnen erfahren haben konnte. Er mußte sie mit anderen verwechseln, beschloß der junge Solamnier.

Sehnsüchtig redeten sie von Solace und ihren Freunden, Tanis, Flint und Raistlin, Caramons Zwillingsbruder.

Sie fragten sich, was aus Tolpan geworden war, und warum die Minotauren, die das Wrack der Venora geentert hatten, den Kender lebend haben wollten. Nachdem Sturm mögliche Gründe durchdacht hatte, sagte er, daß Tolpan bestimmt einen schlechten Sklaven abgeben würde, falls er noch lebte. Und als Gladiator gegen minotaurische Gegner hatte er wohl auch wenig Chancen.

»Oh, ich weiß nicht«, widersprach Caramon mit breitem Grinsen. »Wenn die Tolpan mit seinem Hupak losschlagen lassen, hat er durchaus eine Chance.«

Beide mußten kichern, als sie sich vorstellten, wie Tolpan seinen Hupak gegen so einen Stiermenschen einsetzen würde.

Sturm stellte fest, daß es das erste Mal seit über einer Woche war, daß einer von ihnen gelächelt oder gelacht hatte. »Was glaubst du, wie lange es her ist«, fragte er Caramon, »seit wir vom Kapitän der Venora verraten wurden und in diesem Teil der Welt gelandet sind?«

»Ich hab’ nicht mehr mitgezählt. Ich würde sagen, zehn, zwölf Tage.«

»Das klingt ungefähr richtig«, sagte Sturm entmutigt. »Glaubst du, Raistlin und die anderen suchen uns? Glaubst du, wir kommen je hier raus?«

Caramon sah seinen Freund an, weil ihn der trübsinnige Ton überraschte. In der Finsternis konnte er nur gelegentlich einen Widerschein von Sturms Augen sehen. Diesmal war es der Zwilling, der Zuversicht fühlte. Er streckte die Hand aus und berührte den jungen Solamnier an der Schulter. »Vertrau auf die Götter«, sagte Caramon.

»Ja«, wiederholte Sturm. »Vertrau auf die Götter.«

Sie schliefen auf dem Steinboden, so gut es ging, und wärmten sich gegenseitig den Rücken.

Vier weitere Tage und Nächte vergingen mit quälender Langsamkeit. Manchmal hörten sie Geräusche, die so klangen, als würden tote Körper herausgeschleift.

Einmal kam der wichtige Minotaurus mit den Abzeichen zurück, um sie noch einmal zu begutachten. Diesmal war ein knochiger Menschensklave bei ihm, der Lumpen und dicke Sandalen trug. Der Minotaurus sagte nichts, sondern starrte sie nur mit verschränkten Armen abschätzig an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war undurchschaubar. Der Menschensklave scharwenzelte und sabberte zu seinen Füßen herum und murmelte unverständliche Laute. Der Minotaurus streichelte ihm wie einem Hund den Kopf. Schließlich machte der Minotaurus auf dem Absatz kehrt und ging. Der Menschensklave sprang ihm hinterher.

Diesmal hatte Sturm während des Begutachtens seine Zunge im Zaum gehalten, denn er hatte beschlossen, sich seinen Zorn aufzusparen, bis er wirklich eine Chance hatte, zurückzuschlagen.

Caramon war der Glücklichere. Einmal am Tag ließ man ihn aus der Zelle, damit er Wasser und Fleisch an die anderen Gefangenen verteilen konnte. Durch die Arbeit kam er rasch wieder zu Kräften, und die Eimer schienen jeden Tag leichter.

Der Ablauf war immer gleich: Zwei Wachen ließen ihn heraus, dann zog sich die eine wieder auf den Posten am Eingang des Kerkers zurück, während die andere Caramon auf seiner Runde begleitete und immer in der Nähe blieb.

Am Posten waren Tag und Nacht stets mindestens ein Dutzend bewaffnete Minotauren stationiert. Dort hinauszurennen, wäre Selbstmord gewesen. Es schien keine Möglichkeit zur Flucht zu geben.

Am zweiten Tag seiner neuen Arbeit hatte Caramon den gebrochenen Mann wieder gesehen. Er war eindeutig während der Nacht gefoltert worden. Schultern und Rücken bluteten stark.

Schlaff und bewußtlos hing der Mann in seinen Fesseln. Wieder sprach Caramon ihn flüsternd an, doch diesmal erhielt er keine Antwort.

Die Minotaurenwache schrie den Majerezwilling an, sich zu beeilen.

Am nächsten Tag ging es dem gebrochenen Mann kaum besser.

Am vierten Tag hatte das ovale Gesicht aufgeblickt und die Lippen bewegt, doch die Worte, die er sagte, verstand Caramon nicht. Der Mann redete in einer fremden Sprache. Und nachdem er wie im Fieber gesprochen hatte, fiel sein Kopf schlaff herunter.

Caramon und Sturm unterhielten sich in jener Nacht wieder über den gebrochenen Mann. Die meisten anderen Gefangenen waren offensichtlich Abschaum, die üblichen Gefängnisinsassen in jedem beliebigen Kerker. Dieser eine jedoch erweckte in Caramon Mitleid und Neugier. Doch die beiden Gefährten kamen zu keinem Ergebnis, wer der gebrochene Mann sein könnte, oder wie er von ihrem Kommen erfahren hatte.

Am fünften Tag war der Angekettete kräftiger und etwas aufgelebt. Er schien auf Caramon zu warten und winkte ihn näher heran. Der Zwilling blickte über die Schulter zu der Minotaurenwache, die weit hinten im Korridor an die Wand gelehnt auf dem Boden saß. Der Minotaurus wurde nachlässiger. Schließlich war Caramon unbewaffnet und hatte keine Chance zu fliehen.

»Es ist alles bereit«, flüsterte der gebrochene Mann, der seine ganze Kraft zusammennahm.

»Was?« fragte Caramon verwirrt. Überdeutlich schöpfte er langsam Fleisch und Wasser heraus, falls der Wächter gerade hersah. Der Krieger rückte näher, bis er sein Gesicht zwischen die Stäbe stecken konnte. »Woher weißt du von mir und Sturm? Und was ist bereit?«

»Ich habe mit meinen Brüdern gesprochen. Sie können dich hier rausholen.«

Caramons Herz schlug schneller. »Warum mich? Warum nicht dich?«

»Ich sitze fest«, sagte der gebrochene Mann jämmerlich. »Meine Zelle wird nur aufgesperrt, um mich zu verhören und zu schlagen – und hin und wieder zum Essen.« Er nickte zum Trog hin. »Aber mein Volk weiß von dir und deinem Freund. Man hat mir von eurer Ankunft erzählt. Sie werden dir helfen.«

»Warum ich?« wiederholte Caramon.

»Weil du kein Minotaurus bist«, sagte der gebrochene Mann. »Weil du gesandt bist. Aber vor allem«, er brachte ein mattes Lächeln zustande, »weil es machbar ist.«

Als Caramon wieder einen Blick über die Schulter wagte, sah er, daß dem Wächter das Kinn auf die Brust gesackt war. Er döste ein. Dadurch gewann Caramon kostbare, zusätzliche Zeit. »Wie verständigst du dich mit deinem Volk?« fragte der Zwilling. Er mußte vorsichtig sein, doch er gestand sich ein, daß es ihn zu diesem mutigen Gefangenen hinzog.

Unter Schmerzen erhob der gebrochene Mann eine Hand, so weit seine Fesseln es erlaubten, und zeigte auf seinen Kopf. »Telepathie.«

Caramon sah auf. »Telepathie?« wiederholte er zweifelnd.

Der gebrochene Mann nickte. Trotz seiner Zweifel wollte Caramon ihm gern glauben.

»Was ist mit meinem Freund? Was wird aus Sturm?«

Ein langer Moment des Schweigens folgte. »Du wirst ihn zurücklassen müssen«, sagte der gebrochene Mann ernst.

»Das kann ich nicht tun!«

»Du mußt ihn hierlassen.«

»Wann?«

»Morgen.«

Ein Rascheln hinter ihm, verriet Caramon, daß die Wache sich aufgerappelt hatte und in seine Richtung kam.

»He!« hörte er das mittlerweile vertraute Knurren. »Was redet ihr beide da?«

Caramon ergriff die Eimer und fuhr herum, so daß er dem Minotaurus unmittelbar gegenüberstand. »Genau wie die anderen«, sagte er, wie er hoffte, mit einer Spur Ärger in der Stimme. »Beklagt sich über das Essen.«

Argwöhnisch blickte die Minotaurenwache Caramon an und musterte dann kurz den gebrochenen Mann. Zufriedengestellt versetzte der Minotaurus Caramon einen Schubs zum Gang hin. Der Krieger stolperte, fing sich aber und trottete ohne einen Blick zurück den Gang entlang. Hinter sich konnte er den Minotaurus gehen hören.

»Er mag das Essen also nicht, ja?« grunzte der Minotaurus. »Tja, wir lassen ihn nur zur Belohnung essen, und irgendwie kommt es mir so vor, daß er heute den ganzen Tag angekettet bleibt!«Später am Abend sprachen Caramon und Sturm über das Geschehene. Keiner von beiden verstand es, und keiner hielt es für möglich, entkommen zu können.

»Jedenfalls«, sagte Caramon stur, »gehe ich nicht ohne dich.«

»Du hast keine Wahl«, gab Sturm eindringlich zurück. »Wir haben keine Wahl. Wenn einer von uns frei ist, kann der andere hoffen. Ich würde gehen, wenn ich du wäre.«

»Wirklich?« fragte Caramon skeptisch.

»Ja«, log Sturm.

Caramon dachte lange angestrengt nach. »Wenn ich auf irgendeine Weise fliehen kann, dann schwöre ich, daß ich zurückkomme und dich hole.«

Sturm gab seinem Freund einen warmen Händedruck.Am nächsten Tag kamen die Minotaurenwachen wie gewöhnlich zur Essenszeit, um Caramon herauszulassen. Der Majerezwilling hievte die beiden schweren Eimer mit Fleisch und Wasser hoch und begann mit seinem üblichen Rundgang. Er schleppte die Eimer durch die muffigen Gänge des Gefängnisblocks. Er gab gut acht, alles wie gewöhnlich zu machen, damit die Minotaurenwache, die ihn aus einiger Entfernung halbherzig beobachtete, keinen Verdacht schöpfte. Caramon hatte keine Ahnung, womit er rechnen mußte, doch er war entschlossen, für jede Möglichkeit offen zu bleiben.

Nachdem Caramon zwei Stunden lang den Gefangenen Essen gebracht hatte, begann die Wache, weiter zurückzubleiben, denn sie vertraute darauf, daß Caramon seine Pflichten ordentlich erfüllte.

Als Caramon schließlich am hinteren Ende des Gangs ankam, wo der gebrochene Mann eingesperrt war, war der Minotaurus weit zurück. Er hatte sich auf den Boden gehockt, wo er zum Zeitvertreib nach Ungeziefer stach, das ihm in die Quere kam.

Caramon drehte sich der Magen um, als er sah, daß der gebrochene Mann wieder gefoltert und geschlagen worden war. Aus seinen Wunden strömte Blut. Es sah aus, als hätte man ihm den Rücken aufgerissen. Sein Gesicht war von schwarzen und blauroten Blutergüssen übersät.

Der Krieger setzte die beiden Eimer ab und lief hin. Er steckte das Gesicht zwischen die Stäbe.

Der Angekettete hob leicht das Kinn, doch seine Augen waren zugeschwollen. Sein Blick wanderte in Caramons Richtung.

Unten im Gang stach die Minotaurenwache scheinbar selbstvergessen nach einem weiteren Tier am Boden.

»Was – «, setzte Caramon mit viel zu schrillem Flüstern an, das er schnell unterdrücken mußte, ehe ein Wutschrei daraus wurde.

»Nur das Übliche, mein Freund«, keuchte der gebrochene Mann mit brüchiger, schwacher Stimme.

»Warum quälen sie dich so?«

»Ich bin keiner von ihnen. Das ist genug.«

Mitleidig und beschämt senkte Caramon den Kopf. Dadurch fiel sein Blick erstmals auf die Füße des Mannes. Seine langen Beine endeten in vogelartigen Klauen. Der Majerezwilling sperrte erstaunt den Mund auf.

»Keine Zeit für lange Erklärungen«, keuchte der gebrochene Mann. »Schnell! Stell rechts von der Tür die Eimer übereinander. Nein… da! Richtig. Sie müssen fest stehen. Jetzt steig oben drauf!«

Caramon schaute zweifelnd drein.

»Schnell!«

Ohne zu wissen warum, tat Caramon, was ihm gesagt wurde. Er kletterte auf die übereinanderstehenden Eimer. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, daß die Wache immer noch durch ihr kleines Spielchen mit dem Ungeziefer abgelenkt war.

»Was wird aus dir?« fragte Caramon zögernd.

»Wenn ich Glück habe, darf ich endlich sterben.«

Dann hörte Caramon, wie sich Stein über Stein schob. Er blickte nach oben und sah, daß eine dicke Platte aus der Decke über seinem Kopf beiseite geschoben war.

»Streck die Hände aus!«

Während er es tat, warf Caramon einen letzten Blick auf seinen Retter. Das Gesicht des gebrochenen Mannes glänzte einen Augenblick triumphierend auf, ehe sein Kinn wieder auf die Brust sackte.

Rauhe, starke Hände zogen Caramon hinauf.Die schwere Platte rutschte langsam wieder an ihren Platz.

Caramon sah nichts als Finsternis und eine kaum erkennbare, sich bewegende Gestalt. Er wurde in einen niedrigen Tunnel gedrängt. Halb kriechend, halb krabbelnd versuchte der kräftige Majerezwilling rasch vorwärtszukommen. Der – oder das – vor ihm drehte sich alle paar Schritte um und kreischte ihm in einer nichtmenschlichen Sprache etwas zu. Es war ein hoher, befehlender Ton, der ihn vorwärts drängte, obwohl Caramon keine Ahnung hatte, was er bedeutete.

Die Person oder das Wesen huschte geschickt durch den niedrigen Tunnel, blieb jedoch so weit vor ihm, daß Caramon nichts Genaues erkennen konnte.

Caramon zerkratzte sich Kopf und Rücken an den Steinen. Wurzeln und Spinnweben streiften sein Gesicht. Seine Gelenke schmerzten von der gebückten Haltung.

»He!« flüsterte Caramon. »Wer bist du? Wo gehen wir hin?«

Das Schemen vor ihm hielt einen Moment an, drehte sich um und kreischte Caramon etwas zu. Dann lief es weiter, wobei es noch an Tempo zuzulegen schien. Caramon konnte nichts weiter tun, als hinter ihm durch den dunklen Tunnel zu kriechen.

Hin und wieder kamen sie an Stellen, wo der Tunnel sich gabelte, und wenn Caramon die Gestalt aus den Augen verloren hätte, hätte er nicht gewußt, welchen Weg er nehmen sollte. Er erkannte, daß er den Rückweg niemals finden würde, selbst wenn er aus irgendeinem Grund zum Gefängnis zurückkehren wollte.

Nachdem sie auf diese Weise eine mühsame Stunde hinter sich gebracht hatten, begann der Tunnel, langsam aufwärts zu führen. Caramon folgte weiter der Gestalt vor sich, die Halt für die Füße suchte, sich an Wurzeln klammerte und sich emporzog. Der Krieger, dem von der ungewohnten Anstrengung alles wehtat, wünschte, sie könnten einen Augenblick ausruhen.

Schließlich merkte Caramon, wie der Boden unter seinen Füßen steiler anstieg. Als er sich hochzog, gelangte er aus der Erde in helles Sonnenlicht. Es war so lange her, seit er die Sonne gesehen hatte, daß er geblendet war. Ehe Caramons Augen sich an das Licht gewöhnen und seine Retter erkennen konnten, wurde ihm ein Jutesack über den Kopf geworfen, den jemand an seinen Füßen zusammenzog. Dann fiel Caramon um.

Aber er traf nicht auf dem Boden auf, denn im gleichen Augenblick hatte Caramon das sichere Gefühl, festgehalten, hochgehoben und durch die Luft getragen zu werden.

Der Minotaurenwächter, der bei der einfachen Aufgabe versagt hatte, Caramon zu bewachen, wurde am nächsten Morgen hingerichtet.

Der Minotaurus mit den hochrangigen Abzeichen kam wieder in den Kerker herunter und ging Caramons Weg ab, während sein hündischer Menschensklave neben ihm hersprang. Der Minotaurus lief nachdenklich die Gänge auf und ab und sah sich alles an. Vor der Zelle, an der die Wache Caramon angeblich zum letzten Mal gesehen hatte, blieb er stehen. Er betrachtete den armseligen Insassen der Zelle, der kaum noch am Leben war, und starrte Wände, Boden und Decke an.

Obwohl er ein sehr intelligenter Minotaurus war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie der Mensch, den man auf eine glorreiche Zukunft als Gladiator vorbereitet hatte, entkommen war. Wo konnte er hin sein?

Er und sein minotaurischer Berater ließen ihre Enttäuschung an dem anderen Menschen aus, dem mit dem Namen Sturm. Sie schlugen ihn blutig, um zu erfahren, wie sein Kamerad verschwunden war. Vielleicht schlugen sie Sturm ein bißchen zu fest, denn das Gesicht des Menschen schwoll derart an, daß er nicht einmal dann etwas hätte sagen können, wenn er es gewollt hätte. Auf jeden Fall hätte er sowieso nicht viel sagen können, denn Sturm wußte nichts darüber, wo Caramon war oder wie er entkommen war.

Nachdem sie ihn zusammengeschlagen hatten, entschied der minotaurische Offizier, daß der mit dem Namen Sturm wahrscheinlich keine Ahnung hatte, sonst hätte er geredet. Bei näherer Betrachtung war es wohl das Beste, Sturm erneut gesund zu pflegen und ihm das beste Essen und Wasser zu bringen.

Mit etwas Glück würden sie nach all dem Ärger dennoch wenigstens einen Gladiator bekommen.

Mit einem tiefen Seufzer diktierte der Minotaurus seinem kriecherischen Menschensklaven dann einen Bericht. Der Bericht würde in die Hauptstadt Lacynos zum König persönlich geschickt werden. Es war zwar unangenehm, doch es war seine Pflicht, einen so ungewöhnlichen Vorfall wie eine Flucht aus dem Kerker von Atossa zu melden.

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