Obwohl er in dem Sack hin und her geschüttelt wurde, der seinen wiederholten Versuchen widerstand, ein Guckloch hineinzureißen, hatte Caramon nicht das Gefühl, daß er unmittelbar in Gefahr schwebte.
Der Majerezwilling glaubte, daß man ihn von dem Minotaurengefängnis weit fortbrachte, obwohl er nicht ahnte, wer seine Retter waren und warum sie ihn geholt hatten. Er war zwar froh, die Minotauren los zu sein, doch er machte sich Gedanken um Sturm, den er hatte zurücklassen müssen. Ihm wurde klar, daß er sich selbst jetzt in der Gefangenschaft von jemand anders befand. Eigentlich hatte er nur die eine Gefangenschaft gegen eine andere eingetauscht.
Seine Beunruhigung wurde die nächsten zwei Stunden nicht gerade dadurch gemildert, daß er offenbar durch die Luft getragen wurde. Caramon konnte unter sich oder neben sich nichts fühlen. Die einzigen Geräusche, die seine Ohren wahrnahmen, klangen genau wie das stetige Schlagen von Flügeln und das gelegentliche Krächzen eines riesigen Vogels.
Irgendwo im Hinterkopf meinte der junge Krieger sich daran zu erinnern, daß er ein ähnliches Krächzen schon einmal gehört hatte.
Irgendwann hatte Caramon das Gefühl, er würde aus großer Höhe herabsinken, ein Abstieg, der damit endete, daß der Jutesack, in dem er zusammengerollt hing, über steinigen Grund bumste und ratschte. Gleich darauf zog jemand den Sack auf. Auf wackligen Beinen kam Caramon heraus.
Ein atemberaubender Ausblick bot sich ihm.
Er stand auf einem Absatz in einem steilwandigen Canyon, der sich rechts und links außer Sichtweite schlängelte. In den Canyonwänden lagen wie Waben Dutzende von Höhlen, so weit das Auge sehen konnte. Und vor den Höhlen saßen wie zur Begrüßung Hunderte von Angehörigen eines alten, wundersamen Volks, dessen abgelegene Zivilisation nur wenige Menschen bisher hatten sehen dürfen.
Ein Willkommenskomitee dieser phantastischen »Vogelmenschen« stand bei Caramon auf dem Absatz. Sie waren eine Mischung aus Habicht und Mensch, denn sie gingen aufrecht auf langen, sehnigen Beinen, die mit vogelartigen Klauen endeten. Riesige, gefiederte Flügel wuchsen aus ihrem Rücken und waren an Armen und Händen befestigt. Mit wachsender Erregung dachte Caramon, doch, sie sahen genau so aus wie…
… wie der gebrochene Mann unten in der Kerkerzelle. Das war sein Volk! Diese furchtbaren Wunden an seinem Rücken und den Schultern mußten, wie Caramon nun erkannte, die Folge dessen sein, daß die Minotauren ihm die Flügel ausgerissen hatten.
Der Vogelmann unmittelbar neben Caramon war der, der den Zwilling aus der Gefangenschaft gerettet hatte. Er war größer und schlanker als Caramon. Sein bronzefarbenes Gesicht, das sehr menschenähnlich erschien, war von einer wilden Schönheit. Statt Haaren wuchsen ihm weiche, goldene Federn aus dem Kopf. Schöne, braune Stoppelfedern bedeckten seine Brust. Er trug nichts weiter als einen ledernen Lendenschurz.
»Wer bist du?« fragte Caramon seinen Retter.
»In deiner Sprache«, sagte der Vogelmann stolz in der Gemeinsprache, »heiße ich Wolkenstürmer.«
Caramon suchte nach den rechten Worten. »Was seid ihr?«
Wolkenstürmer runzelte die Stirn und trat beiseite, wobei er mit den Flügeln einen der Vogelmenschen hinter sich herbeiwinkte.
Auf Wolkenstürmers Geste hin sah Caramon einen alten Mann vortreten, den er zunächst nicht bemerkt hatte. Andere scharten sich schützend um diesen ehrwürdigen Vogelmann, der auf seinen Klauenfüßen vorschlurfte, um Caramon zu begrüßen. Trotz seines seltsamen Gangs bewegte er sich würdevoll und geschmeidig.
Die Federhaare des alten Vogelmannes waren silberweiß und flossen bis auf seine Brust herab. Die jahrelange Einwirkung der Sonne und der Elemente hatten seinem Gesicht eine dunkle Farbe gegeben, viele Falten darauf hinterlassen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters strotzten Brust und die sehnigen Beine vor Muskeln.
Leicht gebeugt und mit schief gelegtem Kopf näherte sich der Alte Caramon, wobei in seinen klaren, gelben Augen ein warmer Glanz lag. »Wir sind die Kyrie«, erklärte der Alte mit knappen, aber klaren Worten. »Ich bin Arikara – in eurer Sprache Sonnenfeder, der Anführer des Volks, das den Himmel bewohnt.«
»Kyrie?« fragte Caramon.
Sonnenfeder neigte den Kopf und blinzelte Caramon an. »Ein stolzes, langlebiges Volk«, sagte der Kyrieführer leise. »Hast du nie von uns gehört?«
Caramon warf einen Blick auf die vielen hundert gefiederten Kyrie, die ihn aus der Sicherheit ihrer jeweiligen hohen Landeplätze beobachteten. Sie murmelten untereinander, einige zeigten auf ihn. Vielleicht hatte Raistlin die Kyrie einmal erwähnt. Sein Zwillingsbruder las so viele Bücher, daß Caramon kaum mitkam. Der große Krieger schüttelte langsam den Kopf, um Sonnenfeders Frage zu beantworten.
»Das war zu erwarten«, sagte Sonnenfeder, der Caramon eine riesige Schwinge um die Schulter legte und ihn langsam zu einer Höhle führte, die in die Wand des Canyons gegraben war.
Die Höhle hatte Caramon vorher nicht gesehen, vielleicht weil die Haut, die den Eingang verhängte, sandsteinfarben war und mit der Felswand verschmolz. Einige der anderen Kyrie folgten ihnen, darunter Wolkenstürmer, sodann ein weiterer alter Mann, dessen Gesicht von Sommersprossen übersät war, und zwei Frauen, die eine älter, die andere jünger, beide in Lederröcken und Hemden, die mit Federn und Perlen verziert waren.
Der Eingang führte in eine geräumige Höhle, die sich zu einer hohen Kuppel wölbte. Heu und Zweige bedeckten den Boden der gestampften Erde. Eine Feuergrube in der Mitte, in der heiße Steine lagen, spendete Wärme. Waffen und Kochgeschirr hingen an der Wand. Pelze, die mehr als ausreichten, um die Kälte der Wüstennacht abzuwehren, waren an der Schwelle gestapelt.
Sonnenfeder nahm die beiden Frauen beiseite und gab ihnen Anweisungen in einer Sprache, von der Caramon kein Wort verstand.
Wolkenstürmer bot Caramon einen Platz an der Feuergrube an. Der andere Alte, den Wolkenstürmer als Drei Weitblick-Augen vorstellte, saß gegenüber dem Besucher. Wolkenstürmer nahm neben Drei Weitblick-Augen Platz.
Sonnenfeder setzte sich voller Tatendrang neben Caramon. Er nahm einen Stock und kritzelte auf dem Boden herum. Caramon brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, daß Sonnenfeder eine grobe Karte zeichnete. »Vor Jahrhunderten bewohnten die Kyrie viele Inseln auf Ansalon«, erklärte Sonnenfeder Caramon. »Wir sind durch die Welt gezogen und nie lange an einem Ort geblieben. Unsere langen Flüge über die Ozeane wurden durch ein magisches Gerät namens Nordstein ermöglicht. Weil wir uns immer mehr auf den Nordstein verließen, verloren wir viele unserer angeborenen Instinkte, einschließlich des Orientierungssinns. Dann verloren wir den Nordstein – er fiel in die Hände unserer erbitterten Feinde, der Minotauren.«
Die weiblichen Kyrie huschten im Hintergrund umher, wo sie offenbar das Essen vorbereiteten. Jetzt tauchte die ältere Frau hinter den drei Kyriemännern und Caramon auf und verteilte Steinbecher mit einer blassen, fleckigen Flüssigkeit. Caramon nahm seine Schale in beide Hände und schlürfte eifrig. Die warme Brühe war mit nichts zu vergleichen, was Caramon je probiert hatte – kräftig, wohlschmeckend und sofort sättigend. Er spürte, wie sie sich in seinem Körper ausbreitete, ihn aufmunterte und seinen Hunger stillte.
Das Gesicht des Kyrieführers verhärtete sich bei den bitteren Erinnerungen, als er mit seiner Chronik fortfuhr. »Mit der Zeit haben wir uns hier gesammelt«, erzählte Sonnenfeder, »die meisten von uns auf der Insel Mithas, andere vereinzelte Clans auf nahen Inseln. Obwohl wir immer noch weit und lange fliegen könnten, überqueren wir die Ozeane nicht mehr. Ohne den Nordstein sind wir in diesem Teil der Welt gefangen. Wir leben hier«, er zeigte um sich, »so gut wir können, so friedlich, wie man es uns gestattet.«
Caramon hatte zahllose Fragen, die er gern gestellt hätte. Mit zweien platzte er sofort heraus: »Was wollt ihr von mir? Warum habt ihr mich aus dem Kerker von Atossa gerettet?«
Wolkenstürmer antwortete, bevor Sonnenfeder zu Wort kam. »Ich habe dich und deinen Freund im Blutmeer halb ertrinken sehen. Ich habe getan, was ich konnte, um euer Schicksal zu erleichtern.«
Caramon riß die Augen auf. »Also du warst das!« rief er aus. »Du hast uns eine Art Brot heruntergeworfen.«
»Das war mein eigener Proviant«, sagte der Kyrie milde.
Spontan streckte Caramon die Hände aus und umfaßte die des Kyrie. »Du hast uns das Leben gerettet«, sagte der Majerezwilling voller Wärme. »Und dann hast du dein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, damit ich aus dem Gefängnis fliehen konnte.« Die Worte des jungen Kriegers entsprangen direkt seinem Herzen. »Damit stehe ich auf ewig in deiner Schuld.«
Wolkenstürmer schien sich bei Caramons ausgedehntem Gefühlsausbruch etwas unbehaglich zu fühlen. Sonnenfeder strahlte. »Wolkenstürmer ist mein Sohn«, sagte der alte Kyrie stolz. Als Caramon den Vogelmann anstarrte, der soviel auf sich genommen hatte, um ihn zu retten, schlug Wolkenstürmer die Augen nieder.
»Ich habe zwei Söhne«, fügte Sonnenfeder hinzu. »Mein Erstgeborener…« Ihm versagte die Stimme. »Mein Erstgeborener, Morgenhimmel, ist der, der… mit dir… im Gefängnis von Atossa festgehalten wurde.« Voller Kummer ließ er den Kopf hängen.
Caramon wußte nicht, was er sagen sollte. Endlich hatte er erfahren, wer der gebrochene Mann war. Seine Gefühle überwältigten ihn. Der Mann war also Sonnenfeders Erstgeborener, Morgenhimmel. Ob Sonnenfeder wußte, wie nah sein Sohn dem Tode war? Wie Morgenhimmel von den Minotauren gefoltert und gequält worden war? Ob Sonnenfeder wußte, wie tapfer und entschlossen sein Sohn war? Wie er selbst in den kurzen Unterhaltungen mit Caramon keine Angst vor seinem Schicksal gezeigt hatte?
Schweigen senkte sich über den Raum, das dann vom kläglichen Weinen der einen Frau gebrochen wurde.
»Wir wissen, wie die Minotauren Morgenhimmel behandeln«, sagte Sonnenfeder leise. »Wir wissen, daß er fast zu Tode gefoltert wurde. Wir haben wenig Hoffnung, ihn jemals wieder als freien Mann unter uns zu sehen.«
Es war, als hätte der Anführer der Kyrie Caramons Gedanken gelesen. Als er Caramons fragenden Blick bemerkte, zeigte Sonnenfeder auf seinen Kopf, und Caramon erinnerte sich an das, was der gebrochene Mann über Telepathie gesagt hatte.
»Aber warum konntet ihr nicht deinen Sohn statt meiner befreien?« fragte Caramon ernst.
»Mein Sohn ist immer angekettet«, erwiderte Sonnenfeder mit unbewegter Stimme, »außer wenn man ihn essen läßt. Sonst würde er sich umbringen. Soviel wissen die Minotauren über die Kyrie, auch wenn sie sonst wenig über uns wissen. Für einen Kyrie ist es eine Schande, lebend gefangen zu werden.«
Caramon trank von seiner Brühe. Es kam ihm nicht gerecht vor. Er war frei, während Morgenhimmel im Gefängnis gequält und geschlagen wurde. »Vielleicht«, schlug der Menschenkrieger vor, »wenn wir das Verlies stürmen…«
»Das wäre Selbstmord für alle Beteiligten«, warf Drei Weitblick-Augen ein, der sich erstmals äußerte. Das Gesicht des Alten war düster. »Wir sind ein mutiges Volk, aber wir sind keine Dummköpfe.«
»Was ist mit dem Tunnel?«
Wolkenstürmer rümpfte die Nase. »Der Tunnel ist zu eng. Es würde Stunden dauern, durch den Tunnel auch nur eine kleine Angreifertruppe in das Gefängnis zu schleusen, und eine schnelle Flucht wäre unmöglich. Wir müßten mit einem Dutzend Wachen fertigwerden, dazu mit den Ketten und Riegeln in der Zelle meines Bruders. Wir haben darüber lange nachgedacht. Wir haben es besprochen und keine Lösung gefunden.«
Der Kyrie runzelte die Stirn. Ein Schatten verdüsterte sein Gesicht. »Nein, für meinen Bruder gibt es kein Entkommen. Er ist verloren.«
Von den anderen Kyrie kam murmelnde Zustimmung. Caramon saß lange still. »Warum martern sie ihn?« fragte der junge Mann aus Solace laut.
»Wir sind seit Hunderten von Jahren mit den Minotauren verfeindet«, antwortete Sonnenfeder. »Mit der Zeit haben wir uns in diesen und anderen abgelegenen Bergen gesammelt und leben weitab von den minotaurischen Städten. Obwohl wir die Täler durchstreifen, um Nahrung zu sammeln und kleine Tiere zu jagen, ziehen wir uns immer hierher zurück. Die Stiermenschen sind zwar für Schlachten zu Land und zu Wasser gerüstet, aber sie sind zu dumm, um die Berge zu erkunden. Sie können nicht auf die hohen Gipfel klettern und uns vertreiben. Für sie sind wir ein feindliches Volk mitten in ihrer Heimat. Für uns sind sie die Pest. Während sie entschlossen sind, uns zu jagen und zu vernichten, haben auch wir uns geschworen, sie zu töten, wo auch immer sie unseren Weg kreuzen. In den letzten Monaten«, fuhr Sonnenfeder fort, »sind Minotaurentruppen in unser Territorium eingedrungen und wurden bei der Suche nach unseren Horsten kühner. Die Stiermenschen haben ein paar unserer kleineren, weiter draußen liegenden Siedlungen überfallen. Die Krieger wurden bezwungen, unsere Frauen und Kinder scharenweise niedergemetzelt. Es heißt, daß sie in einigen Fällen von fliegenden Schuppenwesen unterstützt wurden, die das Gelände vorher erkundeten und Waffen und Vorräte transportierten.«
»Drachen?« Jetzt war Caramon derjenige, der die Nase rümpfte. »Jeder weiß, daß es keine Drachen auf Ansalon gibt. Das sind Ammenmärchen, Sagen.«
»Keine Drachen«, mischte sich Wolkenstürmer ein. »Fliegende Wesen, wie es sie früher nicht gab.«
Caramon sah ungläubig aus.
»Natürlich haben wir keinen Beweis«, sagte Sonnenfeder. »Es gibt keine überlebenden Augenzeugen. Die Minotauren haben alle Kyrie getötet und alles verbrannt. Sie haben nur verbrannte Erde hinterlassen. Sie machen selten Gefangene.« Er hielt inne, gönnte sich einen Schluck heiße Brühe und fuhr fort, wobei er seine Worte sorgfältig wählte und seine Gefühle beherrschte. »Mein Sohn, Morgenhimmel, ist eine der Ausnahmen. Er wurde in einem Vorposten gefangen, den er befehligte. Sie erkannten, daß er von hohem Rang ist, möglicherweise von edler Herkunft. Von ihm wollten sie etwas über unsere Stärke, unsere Gebräuche und Rituale und die Lage unserer Zufluchtsstätten erfahren.«
Der Monolog schien Sonnenfeder erschöpft zu haben, denn sein Gesicht wurde schlaff, und er ließ die Schultern sinken. Er setzte seine Tasse Brühe ab, faltete dann die Hände und nickte Wolkenstürmer zu.
»Sie haben nichts aus ihm herauspressen können«, spie Wolkenstürmer aus, »und das werden sie auch nicht, ganz gleich, wie grausam sie ihm zusetzen. Morgenhimmel wird seinen letzten Atemzug tun, ohne ihnen auch nur seinen Namen zu verraten.«
Caramon blickte in Wolkenstürmers mattschwarze Augen, die grimmig und schicksalsergeben schauten wie die seines Bruders, des Gebrochenen. Sonnenfeder streckte den Arm aus und berührte seinen Sohn am Handgelenk. Die ältere Kyriefrau kam herüber und flüsterte Sonnenfeder etwas ins Ohr. Der alte Kyrie nickte.
»Und was ist mir dir, mein Sohn?« fragte Drei Weitblick-Augen sanft, um das Schweigen zu brechen. »Wie heißt du? Was ist dir zugestoßen?«
Caramon erzählte es ihnen, ohne etwas auszulassen. Die Reise nach Südergod, der magische Sturm, die Gefangennahme von Tolpan, was Sturm und er im Meer durchgemacht hatten, ihre Gefangenschaft. Obwohl die Kyrie sich außerordentlich für die Rolle interessierten, die die Minotauren in Caramons seltsamer Geschichte spielten, konnten sie wenig dazu beitragen, das Geheimnis zu klären, warum das minotaurische Königreich sich dermaßen mit einem einzelnen Kender oder gar dem Kraut, der Jalopwurz, beschäftigte.
»Außer«, betonte Drei Weitblick-Augen, »vergeßt nicht das eine. Die Jalopwurz kommt auf Mithas und Karthay häufig vor, in anderen Teilen der Welt jedoch sehr selten, wenn überhaupt. Und wie andere Dinge auf Mithas erklären die Minotauren sie zu ihrem heiligen Eigentum und messen ihr bestimmten rituellen Nutzen zu.«
Sonnenfeder nickte weise.
Die Zeit verstrich. Jetzt brachte die junge Kyriefrau, deren Gesicht atemberaubend schön und deren rote Haare goldgetupft waren, Tassen und Schalen und stellte sie vor Caramon und die anderen.
Dem Beispiel der Kyrie folgend, tauchte Caramon seine Finger in ein Becken mit kaltem Wasser. Nach dem Waschen trocknete er sich die Hände ab. Aus den Schüsseln wählte er Nüsse, Beeren und Salat aus. Die ältere Frau tauchte hinter seinen Schultern auf und füllte ihm einen Haufen kleiner, roher Fleischwürfel auf den Teller.
Nachdem alle eine Weile gegessen hatten, sagte Wolkenstürmer: »Ein Posten hält sich ständig im Tunnel auf. Er bewacht Morgenhimmel, weil er trotz allem hofft, daß sich die Umstände ändern. Wir haben nur wenig mit ihm gesprochen, immer heimlich. Es wäre unklug, ein Risiko einzugehen. Wenn es Morgenhimmel möglich ist, spricht er mit uns. Selbst wenn die Minotaurenwachen ein paar Worte mitbekommen, verstehen sie unsere Muttersprache nicht, so daß sie es für Delirium halten. Auf diese Weise konnten wir Morgenhimmel von den zwei Menschen erzählen, die gefangengenommen und in den Kerker gebracht worden waren. Nachdem wir es mit ihm besprochen hatten, beschlossen wir, deine Befreiung zu riskieren.«
»Warum?« fragte Caramon nachdenklich.
»Zum einen habe ich gesehen, wie du dich meinem Bruder gegenüber verhalten hast«, antwortete Wolkenstürmer.
»Du hast mich gesehen?«
»Ich war im Tunnel. So nahe bei meinem Bruder konnte ich durch seine Augen sehen, durch die Steinwände hindurch. Mein Herz schlägt im gleichen Rhythmus wie seins. Mein Kopf teilt seine Gedanken. Ich hörte deine Worte und sah dich und glaubte, daß du ein guter, mitfühlender Mensch bist.«
Caramon schwieg. Er dachte an seinen eigenen Bruder, Raistlin. War es nicht auch so mit ihm und Raist? Daß sie mitunter durch die Augen des anderen sehen konnten? Daß auch ihre Herzen wie eines schlugen?
»Wir haben wenig Erfahrung mit Menschen«, warf Sonnenfeder diplomatisch ein. »Ich selbst habe in meinen dreihundert Jahren auf dieser Erde noch nie einen von Angesicht zu Angesicht gesehen.«
»Dreihundert Jahre!« rief Caramon aus. Der junge Krieger wußte, daß Zwerge und Elfen lange lebten, aber Sonnenfeder war bereits dreimal so alt, wie Caramon je werden konnte.
»Ja«, gab Sonnenfeder schmunzelnd zu. »Ich bin alt und nicht mehr ganz auf der Höhe. Wenn ich nicht mehr bin, wird es an Wolkenstürmer sein – «
»Vater!« rief Wolkenstürmer, der den Arm hochriß und eine ärgerliche Geste machte.
Die Kyriefrau sah betroffen aus. Drei Weitblick-Augen senkte den Blick. Sonnenfeder zog eine schuldbewußte Miene.
»Wolkenstürmer hat recht«, sagte der Anführer der Kyrie. »Es ist nicht recht, von Morgenhimmel zu reden, als wäre er bereits tot. Morgenhimmel ist der Erstgeborene und rechtmäßige Erbe der Herrschaft. Aber – « Seine Stimme brach.
Drei Weitblick-Augen wechselte eilends das Thema. »Die meisten Menschen, die wir kennen«, sagte Drei Weitblick-Augen freundlich, »sind Räuber oder Sklaven. Aber unsere Legenden erzählen, daß Menschen klug, einfühlsam und treu sein können. Außerdem war es uns das Risiko wert, die Stiermenschen zu beschämen. Die Nachricht einer Flucht aus ihren Gefängnis in Atossa wird sie tief entehren.«
»Werden sie nicht Morgenhimmel bestrafen?« sorgte sich Caramon.
»Sie werden meinen Bruder niemals hinrichten«, sagte Wolkenstürmer grimmig. »Sie werden ihn am Leben erhalten, solange sie können.«
Nachdem das Mahl vorüber war, holte die Kyriefrau Pfeifen, Kautabak und eine Schüssel mit dicken, aufgeschnittenen Stücken einer gummiartigen Wurzel heraus. Wolkenstürmer wählte eine Pfeife mit langem Stiel, füllte sie mit etwas aus einem Beutel und saugte sinnend daran. Drei Weitblick-Augen kaute Tabak. Sonnenfeder griff nach der Wurzel, und Caramon schloß sich ihm aus Gründen der Höflichkeit an.
Draußen war es dunkel und still geworden. Die ältere Frau ging in der Höhle herum. Sie griff nach einigen kleinen Kugeln an der Wand, die durch ihre Berührung magisch entzündet wurden und ein blaßblaues Licht von sich gaben.
Caramon kaute auf der Wurzel herum, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Sie hatte einen milden, angenehmen Geschmack. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Sein Körper schmerzte, und sein Geist ebenso.
Beim Kauen strömte ein Kitzeln durch seinen Körper. Caramon merkte, wie sich seine Muskeln entspannten. Sein Geist schwebte frei herum. Er fühlte sich nicht mehr müde und traurig. Seine Gedanken wanderten zu Raistlin. Er fragte sich, wo sein Zwillingsbruder war und ob Raist irgendeine Ahnung hatte, wo Caramon steckte.
Er machte sich Sorgen um seinen Bruder. Kitiara hatte ihm eingebleut, daß es seine Sache war, sich um seinen Zwillingsbruder zu sorgen, auch wenn Caramon wußte, daß Raistlin sich im Moment wohl ebenso viele Gedanken um ihn machte. Caramon hoffte von Herzen, daß er für diese Kyrie ein guter Vertreter der Menschheit war, da sie wie Sonnenfeder nie zuvor einen Menschen kennengelernt hatten. Bestimmt hätte Raistlin die Lage besser begriffen und wäre ein eindrucksvollerer Vertreter der Menschen gewesen.
Caramon dachte an Tolpan. Armer Tolpan. Wahrscheinlich war der Kender tot. Was konnten die Minotauren von ihm gewollt haben? Etwas Dunkles, Unangenehmes, da war sich Caramon sicher. Tolpan war nicht im Gefängnis gewesen, auch nicht in Atossa, sonst hätten die Kyrie ihn bestimmt bemerkt, überlegte Caramon. Kender übersieht man nicht so leicht.
Der junge Krieger sah sich unter den Kyrie in der Höhle um, die ihm zunickten. Er fragte sich, ob sie seine Gedanken lesen konnten. Im gleichen Augenblick war es fast so, als könnte er ihre lesen. Er spürte ihre tiefe Verzweiflung wegen Morgenhimmel und zugleich das Störrische, Unverwüstliche an diesem Volk. Sie waren eine bemerkenswerte Rasse. Es erfüllte ihn mit Stolz, als Gast bei den alten Kyrie zu sein.
Caramons Gedanken wandten sich Sturm zu. Sturm hätte sich hier oben in den Bergen weniger wohl gefühlt, trotz des guten Essens und dieser angenehmen Wurzel zum Nachtisch – nicht solange sein Freund Caramon derjenige war, der im Gefängnis zurückgelassen worden war.
Die Minotauren würden ihre Verärgerung vielleicht nicht an Morgenhimmel auslassen, erkannte Caramon urplötzlich. Aber sie würden vielleicht – wahrscheinlich – Sturm foltern.
»Ich muß zurück«, erklärte der Mann aus Solace plötzlich, wodurch er die Kyrie erschreckte, denn er brach die harmonische Stille, die in der Höhle geherrscht hatte. Caramon machte ein entschlossenes Gesicht. »Ich muß zurück und meinen Freund Sturm retten.«
Die Gesichter um ihn herum waren voller Ablehnung. »Das wäre unklug«, sagte Sonnenfeder.
»Dumm«, sagte Wolkenstürmer, der seine Pfeife hinlegte.
»Ich – ich – « Caramon versagte die Stimme. Er war nicht so beredsam wie sein Bruder. »Ich muß zurück«, wiederholte Caramon. »Sturm Feuerklinge würde gewiß versuchen, mich zu retten. Kein Risiko würde ihn davon abhalten, keine hundert, ach was, tausend Minotauren. Er würde es als Gebot der Ehre ansehen. Ich kann nur versuchen, genauso zu handeln wie er.«
»Aber wie kommst du in das Gefängnis?« fragte Drei Weitblick-Augen voller Mitgefühl. »Und, was wichtiger ist, wie kommst du heraus?«
Caramon hatte darauf keine Antwort. Er wandte sich an Wolkenstürmer. »Du sagst, ihr habt die ganze Zeit einen Posten im Tunnel?«
»Ja«, erwiderte Wolkenstürmer. »Tag und Nacht.«
»Dann werde ich seine Berichte anhören, achtgeben und warten. Ich werde eine Gelegenheit finden. Selbst, wenn sich nichts ändert, muß ich trotzdem etwas unternehmen.«
Alles schwieg still. Caramon sah Sonnenfeder an, denn er wartete, daß der Kyrieführer etwas sagte. Das Gesicht des Alten war ausdruckslos.
»Ich gehe mit dem Menschen!« sagte Wolkenstürmer unvermittelt.
Sonnenfeder wirkte schockiert. »Das kannst du nicht, mein Sohn! Du hast bereits zuviel riskiert. Du mußt nicht nur deine eigene Zukunft bedenken, sondern auch die Zukunft der ganzen Rasse.«
Wolkenstürmers Augen blickten hart und stur. »Ich gehe kein Risiko ein, das du nicht selbst auf dich nehmen würdest – wenn du nicht so ein alter Knochen wärst.« Obwohl Wolkenstürmers Worte den Vater wie Schläge trafen, glänzten Sonnenfeders Augen unmißverständlich vor Stolz. »Ich bewundere diesen Caramon«, sagte Wolkenstürmer. »Ich würde gern seinem Freund helfen, so wie ich ihm geholfen habe.«
Caramon schüttelte Wolkenstürmer die Hand. Diesmal legte der Kyrie seine andere Hand in solidarischer Gebärde auf die Caramons.
Drei Weitblick-Augen meldete sich zu Wort. »Wenn Wolkenstürmer geht, sollten andere, die Lust haben, mit den Minotauren zu kämpfen, Gelegenheit bekommen, sie zu begleiten. Der Mensch sollte in die Kriegergemeinschaft gebracht werden.«
Wolkenstürmer erschien bei diesen Worten dankbar. Obwohl Caramon nicht wußte, was die Kriegergemeinschaft war, überraschte ihn die Inbrunst in den Worten des alten Vogelmanns.
Lange Minuten starrten sich Sonnenfeder und Wolkenstürmer von Vater zu Sohn an. »Du mußt tun, wozu es dich treibt«, sagte Sonnenfeder schließlich schweren Herzens. Der Anführer der Kyrie seufzte. »Aber tue nichts Unüberlegtes – und heute nacht tust du gar nichts. Einverstanden? Also, es ist Schlafenszeit. Zeit, uns im Schlaf die Dinge zu erträumen, die wir zu tun hoffen.«
Auf dieses Zeichen von Sonnenfeder verließen Drei Weitblick-Augen und die junge Kyriefrau die Höhle. Wolkenstürmer zögerte, nickte Caramon freundlich zu und ging dann ebenfalls. Sonnenfeder legte Caramon seinen gefiederten Arm um die Schulter, als der Majerezwilling aufstand, um zu gehen.
»Du schläfst hier«, sagte Sonnenfeder. Er zeigte in die Ecke, wo die alte Kyriefrau noch dabei war, einen dicken Stapel Pelze aufzuschichten.
»Aber das ist dein Haus«, wandte Caramon ein, »und ich habe dir nichts als Leid gebracht.«
Sonnenfeder schüttelte den Kopf. »Du hast nichts gebracht, das nicht schon vor deiner Ankunft hier gewesen wäre«, sagte der alte Kyrie. »Und solange du bei uns bleibst, wünsche ich, daß du diese Höhle als dein Zuhause ansiehst. In den Bergen sind die Nächte kalt, und du bist an das Klima nicht gewöhnt.«
Caramon machte den Mund auf und wollte protestieren, aber Sonnenfeder hob abwehrend die Hand. »Ich bin überall bei meinem Volk willkommen«, sagte der Kyrieführer, »und brauche mich nicht um einen Platz zum Schlafen und Essen zu sorgen. Und in manchen Nächten ziehe ich sogar den offenen Himmel vor.« Sein dunkles Gesicht verzog sich zu einem verknitterten Lächeln. »Auch wenn ich ein alter Knochen bin.«
Caramon hatte keine Einwände mehr. In Wahrheit war er froh über die behagliche Höhle.Die nächsten paar Tage lebte Caramon wie die Kyrie in dieser Höhlenstadt an den steilen Klippen, welche die tiefen Täler hoch im Norden von Mithas säumten.
Der größere, schlankere Wolkenstürmer konnte Caramon leicht mit seinen Klauenfüßen von Plateau zu Plateau tragen. Wo er auch hinkam, war Caramon der Neugierde der Kyrie ausgesetzt, auch wenn er unweigerlich herzlich empfangen wurde. Während vor allem die Frauen in ihrer Kyriesprache über ihn schwatzten, benutzte der Großteil der Vogelmenschen in seiner Gegenwart die Gemeinsprache. Ihre Gastfreundschaft war überwältigend. Viele von ihnen schienen die Geschichte seiner Flucht und seine Beziehung zu Morgenhimmel bereits zu kennen.
Manche der Kyriehöhlen waren so groß, daß sie ein Dutzend Familien beherbergen konnten, wie Caramon bemerkte, während andere Familien lieber für sich allein in sonnenerhellten Mulden am Fuß der Klippen lebten. Die gelegentlichen Holzbalken und Leitern, die Caramon sah, waren von meilenweit her durch die Luft geschleppt worden, wie Wolkenstürmer ihm erzählte. Holz wuchs in dieser Höhe nicht und war ein rechter Luxus und daher ein Statussymbol.
Die zähen, schlauen Kyrie hatten sich zum Überleben einzigartig auf ihre Umgebung eingestellt, die bei Tag heiß und ausgedörrt war, bei Nacht kalt und trocken. Regenwasser war kostbar. Der wenige Regen wurde in Becken am Grund des Canyons aufgefangen, wohingegen nur eine kleine Menge oben in den Höhlenstädten aufbewahrt wurde, wo die Feuchtigkeit wegen der unablässigen Einwirkung von Sonne und Wind rasch verdunstete. Die Kyrie hatten in den Felsboden Bewässerungskanäle gegraben und Dämme errichtet. Die Kanäle waren tief, damit weniger Wasser der Sonne ausgesetzt war, und schmal, damit man sie in kalten Nächten abdecken konnte.
Eselhasen, Wildkaninchen, Maultierhirsche und kleine Nager versorgten die Kyrie mit Fleisch. Die Männer, denen diese Pflicht auferlegt war, gingen täglich auf die Jagd. Obwohl die Kyrie kein Bauernvolk waren, besaß jede Familie einen kleinen, bewässerten Garten. Der Garten ergänzte ihre Mahlzeiten mit Kaktusfeigen, Nüssen, Bohnen und Samen. Bei Streifzügen durch die Täler sammelten sie wildes Getreide. Als schlanke, drahtige Rasse aßen die Kyrie wenig – nur eine Hauptmahlzeit am Tag.
Caramon fragte Wolkenstürmer nach den magischen, blauen Kugeln, die nachts für Beleuchtung innerhalb der Höhlen sorgten. Es gab sie überall. Wie Wolkenstürmer erklärte, hatten viele Kyrie gewisse magische Kräfte. Als Volk waren sie vor allem für ihre Fähigkeit bekannt, mit den Tieren reden und sie bezaubern zu können. Aber von den magisch Begabten waren die am angesehensten, die das Wetter vorhersagen oder beeinflussen konnten. Auf jeden Fall waren die blauen Lichtkugeln ein sehr einfacher Zauber, wie Wolkenstürmer sagte.
Während die Männer auf die Jagd gingen, waren die Frauen damit beschäftigt, zu töpfern, Lederkleider zu nähen und Muscheln zu schnitzen. Während Menschen ihre Sachen gern in Beuteln oder Rucksäcken tragen, hängten sich viele der Kyrie kleine Körbe um den Leib. Diese konnten alles enthalten, von Trockenfrüchten über Erbstücke der Familie bis hin zu kleinen Waffen. Die traditionelle Waffe, die in keinen Korb paßte, war eine gebogene, aus Holz geschnitzte Keule, der Treffer. Viele Männer, die jagen gingen, hatten sowohl Pfeil und Bogen als auch ihren Treffer dabei.
Caramon fiel auf, daß unter den jungen Männern ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Sie flogen hinreißend, diese jungen, starken Kyrie. Wie große Adler, die rasch vorankamen, wenn sie mit ihren breiten Flügeln schlugen. Manche kamen mit den toten Tieren über den Schultern direkt von der Jagd. Andere waren offenbar Späher und Botschafter.
Die Späher und Botschafter erstatteten Wolkenstürmer direkt Bericht. Einige zeigten auf Caramon und sprachen schnell in ihrer Kyriesprache. Manche der jungen Vogelmänner sahen ihn hochnäsig an, und Caramon kam es so vor, als ob sie in ihrer Sprache mit Wolkenstürmer stritten.
Obwohl Caramon Wolkenstürmer bedrängte, ihm zu sagen, was sie ihm mitteilten, wich Sonnenfeders Sohn ihm aus. Caramon hielt das für sein königliches Vorrecht, aber er machte sich Gedanken um Sturm und wollte wissen, ob und was der Kyrie über den Solamnier berichtet hatte. Mehr als einmal bat Wolkenstürmer den Menschenkrieger, Ruhe zu bewahren.
Nach vier Tagen bei den Kyrie hatte sich Caramon gut ausgeruht und war schlanker, kräftiger und kein bißchen geduldig.
»Wo liegt denn Atossa von hier aus?« fragte Caramon Wolkenstürmer, als sie einmal auf dem Absatz standen, wo er ursprünglich angekommen war.
Wolkenstürmer zeigte nach Süden. »Hundert Meilen.«
»Ich könnte zurückgehen und als Posten im Tunnel warten«, drängte Caramon.
Wolkenstürmer legte dem besorgten Krieger eine Hand auf die Schulter. »Nein, mein Freund«, wiederholte er. »Bald. Dein Freund ist am Leben. Mein Bruder ist am Leben. Aber du mußt Geduld haben. Wir müssen noch warten, bis etwas geschieht.«
In dieser Nacht lag Caramon in der Höhle, die Sonnenfeder ihm überlassen hatte, auf dem Rücken und wartete auf den Schlaf, als Wolkenstürmer ihn holen kam.
Caramon zuckte zusammen, als der Sohn von Sonnenfeder eintrat. Sein Kyriefreund war merkwürdig bemalt und mit Perlen und Muscheln geschmückt. Wolkenstürmer holte eine Augenbinde heraus. Obwohl Caramon sich dabei unwohl fühlte, ließ er sie sich von dem Kyrie vor die Augen binden, so daß er nicht sehen konnte, wohin er gebracht wurde.
Dann hatte Caramon das inzwischen vertraute Gefühl, angehoben und durch die Luft getragen zu werden, diesmal jedoch nur über eine kurze Strecke. Als die Augenbinde abgenommen wurde, befand sich Caramon in einer anderen Höhle mit einem Dutzend Kyriemänner, die wie Wolkenstürmer aufgemacht und geschmückt waren. Einige von ihnen hatte er bereits kennengelernt. Andere hatte er noch nie gesehen.
Sie saßen im Schneidersitz im Kreis. Als sich Caramon, geführt von Wolkenstürmer, zu der Gruppe gesellte, stand einer der Kyrie auf, kam zu ihm, bemalte sein Gesicht mit aschgrauen Zickzacklinien und legte ihm den zeremoniellen Feder- und Edelsteinschmuck um. Caramon wußte, daß dieser Kyrie Wolkenstürmers Freund war. Er hieß Vogelgeist.
Die Vogelmenschen reichten sich die Hände und begannen ein Lied in ihrer Kyriesprache. Caramon wurde zwischen zwei Kyrie gesetzt, die er nicht kannte. Als er sich umschaute, bemerkte er, daß Wolkenstürmer verschwunden war. Die Kyrie faßten seine Hände. Obwohl der junge Krieger keine Ahnung hatte, was die Kyrie sangen, fühlte sich Caramon von ihrem feierlichen Ritual angezogen.
Das Singen dauerte lange. Caramon merkte, wie er allmählich davon eingelullt wurde. Als er die Augen aufriß, sah er, daß auch die anderen ihre Augen geschlossen hatten. Die Kyrie hatten sich gezielt in Trance versetzt. Jemand hatte Räucherstäbchen angezündet, und ein durchdringender Geruch, der von Rauchkringeln begleitet wurde, erfüllte die Höhle.
Ganz plötzlich hörte das Singen auf, und aus einer dunklen Ecke kam Wolkenstürmer mit einer großen, schweren Holzkiste wieder zu ihnen. Vorsichtig stellte er sie in die Kreismitte. Alle verfolgten jede seiner Bewegungen, als sich der Kyrie bückte, den verriegelten Deckel öffnete und – Caramon hielt die Luft an – einen seltenen Meeresdrachen herauszog.
Der Meeresdrache war groß. Mit seinem echsenartigen Kopf, der dicken, dunklen Schale, den Schwimmhäuten an den Zehen und den umfangreichen, paddelähnlichen Flossen ähnelte er einer Riesenschildkröte. Caramon wußte, daß diese wilden Tiere, die keine echten Drachen waren, dafür berüchtigt waren, Schiffe anzugreifen. Sie wurden selten lebend gefangen. Obwohl sie sowohl Luft als auch Wasser atmen konnten, überlebten sie auf dem Trockenen nicht lange.
Wolkenstürmer hielt ihn hoch und überreichte ihn mit theatralischer Geste Vogelgeist, der Caramon gegenüber saß. Der Kopf des Meeresdrachen peitschte herum, seine mächtigen Kiefer schnappten in die Luft. Minutenlang hielt Vogelgeist den Meeresdrachen über seinen Kopf, wobei er sang und murmelte, während das ungezähmte Tier mit aller Kraft bemüht war, sich seinem Griff zu entwinden und ihn anzugreifen.
Vogelgeist gab den Meeresdrachen an Wolkenstürmer zurück, der ihn dem nächsten Kyrie reichte. So ging es im Kreis herum, bis Wolkenstürmer das Tier zu Caramon brachte. Die anderen beobachteten ihn eindringlich. Aus der Nähe war das Meerestier abstoßend. Es kreischte, peitschte mit dem Schwanz, stieß mit dem Maul zu. Caramon zögerte einen Augenblick und nahm Wolkenstürmer den Meeresdrachen ab.
Er folgte dem Beispiel der anderen und hielt den Meeresdrachen über seinen Kopf, schwieg aber, während die anderen Kyrie für ihn sangen. Der Majerezwilling hielt das Tier hoch, bis ihm die Arme wehtaten. Dann nahm er ihn herunter und gab ihn Wolkenstürmer zurück.
Wolkenstürmer sah Caramon in die Augen und gab den Meeresdrachen an den nächsten Kyrie weiter.
Nachdem der Meeresdrache die Runde gemacht hatte, wurde der Gesang lauter, während Wolkenstürmer das Tier in der Mitte des Kreises auf den Boden drückte. Er zog ein langes, scharfes Messer heraus, und als das Tier sich im Bemühen zu fliehen herumwarf, stieß Wolkenstürmer ihm wieder und wieder das Messer in den Rücken, um die Schale zu durchbohren. Vogelgeist eilte mit einer Schale hin, mit der er das Blut und die Körpersäfte des Meerestiers auffing.
Nach einer Weile lag das Tier still. Einer der Kyrie brachte den toten Körper zurück in die Kiste und zog diese zur Seite.
Wieder wandte sich Wolkenstürmer zuerst Vogelgeist zu. Diesmal reichte er seinem Freund das Messer. Vogelgeist nahm das Messer und schnitt sich quer über den Unterarm, so daß Blut aus der Wunde tropfte. Wolkenstürmer fing etwas Blut in der Schale auf, nahm Vogelgeist dann die Schale ab und gab sie im Kreis weiter.
Einer nach dem anderen schnitten sich die anderen und ließen ihr eigenes Blut in die Schale mit den Körpersäften des seltenen Meeresdrachen tropfen.
Als das Messer bei Caramon ankam, sah er auf und begegnete wieder Wolkenstürmers Blick. Ohne zu wissen warum, aber im Vertrauen auf die Rituale dieser guten, ehrenvollen Rasse der Vogelmenschen, schnitt sich Caramon in den Unterarm. Da er unerfahren war, geriet ihm der Schnitt ziemlich tief, und nachdem Blut in die Schale gesprudelt war, mußte er die Hand auf den Arm drücken, um den Blutfluß zu stoppen.
Wolkenstürmer vollzog das Ritual als letzter.
Alles schwieg jetzt. Niemand sang mehr. Keiner rührte sich.
Wolkenstürmer kniete in der Mitte des Kreises. Er trank als erster aus der Schale. Er wollte sie Vogelgeist reichen, hielt dann jedoch noch einmal inne. Der Sohn von Sonnenfeder, Bruder von Morgenhimmel, Erbe der Herrschaft über die Kyrie, drehte sich um und brachte die Schale Caramon Majere.
Um ehrlich zu sein, wurde Caramon ganz schlecht bei dem Gedanken, diese Mischung zu trinken, aber bisher hatte er alles mitgemacht. Er würde tun, um was man ihn bat. Nachdem er die Schale mit beiden Händen umfaßt hatte, setzte er die lauwarme Flüssigkeit an die Lippen und würgte etwas davon herunter.
Als er aufblickte, entdeckte er Anerkennung in Wolkenstürmers Augen. Im Kreis sah er nickende Gesichter.
Die Schale ging im Kreis herum.
Caramon war nicht der einzige Krieger, dem in jener Nacht beim Meeresdrachenritual schlecht wurde. Minuten nach dem Trinken der Blutmischung war er hinausgerannt, um sich in der Dunkelheit mehrfach zu übergeben.
Hinterher erklärte Wolkenstürmer Caramon mit trockenem Grinsen, daß das nicht als unehrenhaft galt. Caramon hatte sich gereinigt und würde jetzt als einer von ihnen angesehen werden. Als Ehrenmitglied – denn er war kein Kyrie – ihrer Kriegergemeinschaft.