9 Tanis führt Logbuch

Kapitän Nugeter lebte davon, daß er die Castor vermietete, um Ladung, Leute, ganz gleich, worum man bat, durch die Ostmeere zu schiffen, ohne Fragen zu stellen. Tanis, Raistlin, Flint und Kirsig wurden daher kaum von der Mannschaft beachtet, als sie am Morgen an Bord gingen.

Da Tanis eine ereignisreiche Reise erwartete, beschloß er, ein Logbuch zu führen. Zu diesem Zweck erbat und erhielt er vom Kapitän Papier aus dessen Vorrat.

ERSTER TAG

Stürmischer Wind und Schmuddelwetter begrüßten uns, sobald wir die Küstenlinie nicht mehr sehen konnten. Die rötliche See nahm eine schmutzig braune Farbe an, ein Vorzeichen für die vor uns liegenden Gefahren.

Kapitän Nugeter versammelte mich, Flint, Raistlin, die Halbogerin Kirsig und seinen Ersten Steuermann – eine große, breitschultrige hellblonde Frau mit dem Namen Yuril (sie erinnert mich ungemein an Caramon, denn sie ist eine wirklich imposante Gestalt) – in seiner Kabine, um einen Blick auf die Karten zu werfen und die Route abzusprechen.

Obwohl Nugeter ein arroganter Mensch ist, kann man am Verhalten seiner Mannschaft erkennen, daß er sich sowohl ihre Sympathie als auch ihren Respekt erworben hat. Kirsig spricht jedenfalls in hohen Tönen von ihm, hauptsächlich wegen seiner Begegnungen mit ihrem Vater. Seine Kabine ist bescheiden eingerichtet. Sie enthält einen einfachen Schreibtisch, einen Wandschrank mit Sternen- und Seekarten und eine kleine Hängematte.

Als alle da waren, begann Kapitän Nugeter mit der Warnung, daß es keine Garantie gäbe, daß wir unser Ziel, die fernen Minotaurischen Inseln, sicher erreichen würden. »Ich habe das Blutmeer öfter als jeder andere Seefahrer herausgefordert«, erklärte der Kapitän, »aber ich vergesse nie, daß es ein Risiko ist, ein tödliches. Eure Gründe sollten es wert sein, dafür euer Leben aufs Spiel zu setzen.«

Flint wollte etwas sagen, doch Raistlin schnitt ihm das Wort ab. Das gebrochene Bein des Zwergs war sauber verbunden, doch sein Gesicht war grün, und zwar seit man ihn an Bord des Schiffes gehievt hatte. Die unruhige See, der wir seit dem Segelsetzen ausgesetzt waren, hatte seine Vorurteile gegenüber Seereisen bestätigt und sein Leiden verstärkt.

Raistlin versicherte dem Kapitän, daß wir nicht die Absicht hätten, umzukehren. Um dies zu bekräftigen, legte er einen Beutel mit Edelsteinen und Münzen auf den Tisch des Kapitäns. Ihr Wert war beträchtlich. Flint setzte sich mit großen Augen auf. »Das Doppelte«, betonte Raistlin, »wenn wir die Überfahrt in zehn Tagen schaffen.«

Andere Kapitäne halten sich ganz außer Reichweite des äußeren Rings des Mahlstroms inmitten des Blutmeers. Das ist der klügste Kurs, denn wenn ein Schiff in diese mächtige Unterströmung gerät, wird es in die immer engeren Ringe des Strudels gezogen und schließlich in das dunkelrote Wasser hinab, das unablässig dort wirbelt, wo einst die große Stadt Istar lag.

Nugeter schlug vor, den äußeren Ring des Mahlstroms direkt anzusteuern und mit der Strömung zu fahren, ohne in den Strudel zu geraten. Sobald wir nahe genug an den Inseln der Minotauren wären – ungefähr dreihundert Meilen –, würde sich die Castor aus dem tödlichen Sog freikämpfen.

»Das ist der einzige Weg, wie wir die Entfernung innerhalb von zehn Tagen überwinden können«, schloß der Kapitän. »Ansonsten ist es wegen der Strömungen und der Winde eine Reise von mehreren Wochen. Sicherer, aber weitaus langsamer.«

»Hast du das schon je zuvor versucht?« fragte Raistlin eindringlich.

»Nein«, gab der Kapitän schlicht zu.

Nach seiner Antwort lag lastende Stille in der Luft. »Aber es ist machbar«, meldete sich Yuril unerwartet zu Wort. »Ich bin mal mit einem Kapitän gefahren, der es geschafft hat. Es war eine schreckliche Reise. Wir mußten nicht nur mit der Strömung kämpfen, sondern auch gegen den ständigen Sturm, der im Mahlstrom herrscht. Der Tod winkte jeden Augenblick. In den hohen Brechern haben wir viele gute Seeleute verloren. Aber der Kapitän war entschlossen, es zu schaffen. Er hat sein Schiff exakt im richtigen Moment gewendet, so daß wir freikamen. Damit haben wir viel Zeit gespart.«

Neugierig fragte ich sie, was denn aus dem Kapitän geworden sei. Warum segelte sie jetzt mit Kapitän Nugeter?

»Pah«, entgegnete Yuril. »Mein alter Kapitän ist an Land umgekommen, in Blutsicht. An Bord seines Schiffes war er genial, in anderer Hinsicht ein Einfaltspinsel. Da besiegt einer das Blutmeer, nur um sich bei einer gewöhnlichen Kneipenschlägerei erstechen zu lassen!« Sie hielt inne und straffte die Schultern, während sie ihrerseits jeden von uns anstarrte. »Ich segele schon zwei Jahre mit Kapitän Nugeter. Er hat den nötigen Schneid und das Können. Damit ist es machbar.«

Sie stieß den Finger auf die Karte, die auf dem Tisch lag, um zu zeigen, wo das Schiff in den Mahlstrom eintreten würde und wo wir – wenn das Glück uns hold war – wieder ausgespuckt werden würden.

Yuril sagte, der äußere Ring des Blutmeers läge bei günstigem Wind und ohne Zwischenfälle ungefähr drei Tage entfernt.

»Wie lange werden wir in diesem… Mahlstrom sein?« fragte Kirsig etwas kläglich.

»Zwei Tage und zwei Nächte«, erwiderte Yuril. »Wenn wir auf Kurs bleiben.«

Raistlin schien über der Karte zu grübeln. Ich wartete auf seine Entscheidung.

Flint flüsterte mir kummervoll zu: »Meinst du nicht, wir sollten die langsamere und sichere Methode in Betracht ziehen? Wir haben doch wirklich keinen Beweis, daß Sturm, Caramon und Tolpan unmittelbar in Gefahr sind.«

Raistlin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Flint sah zu Boden und zupfte an seinem Bart.

Ich wußte, daß mein alter Freund nicht weniger um die anderen besorgt war als Raistlin und ich. Ich klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte: »Dadurch kommen wir schneller von diesem Schiff runter.« Dann sprach ich mich für den Plan aus.

Raistlin nickte zustimmend, und Kirsig überraschte mich mit einer Umarmung. Ich wagte keinen erneuten Blick auf Flint, denn ich wußte, daß der Zwerg, der sich seiner vorherigen Bemerkung schämte und wütend war, auf einer Seereise festzusitzen – noch dazu mit einem gebrochenen Bein –, mich finster anfunkeln würde.

Bei Einbruch der Nacht wurde die Castor von starken Windstößen gebeutelt. Finsternis legte sich über das Wasser. Die See war kalt und schwarz und aufgewühlt. Keine Sterne schmückten den Nachthimmel. – Wir sind drei Tage vom Sog in den Mahlstrom entfernt, daher dürfte es meiner Phantasie entspringen, wenn ich schon jetzt den beständigen, stärker werdenden Zug verspüre.

ZWEITER UND DRITTER TAG

Häufige eigenartige Flauten wechseln mit starkem Wind, Hagel und Regen. Wir haben in diesem Teil des Meeres keine anderen Schiffe gesichtet. Selbst bei Flaute wird unser Schiff in nördliche Richtung gezogen.

Habe ich die Castor beschrieben?

Es ist ein Zweimaster mit zwei Segeln und Ruderbänken, die nur bei Windstille bemannt sind. Zur Mannschaft gehören ungefähr zwei Dutzend Seeleute, mindestens zur Hälfte Frauen. Alle sind Menschen und betrachten Flint und besonders Kirsig mit einigem Erstaunen, obwohl sie auf ihren Reisen schon Ogern begegnet sein müssen.

Ein paar aus der Mannschaft haben schwarze Haut, da sie von entfernten Inseln im Norden stammen, und ich beobachte sie mit vergleichbarer Neugierde. Besonders die Frauen, denn sie sind schön anzusehen, dabei aber gut trainiert und offensichtlich seefest. Sie tragen Lederkleider und Sandalen und können genausogut die Masten erklettern und die Segel einholen wie jeder Matrose.

Meistens reden sie in ihrer eigenen, rauh klingenden Mundart, obwohl fast alle von ihnen auch die Umgangssprache sprechen.

Keiner aus der Mannschaft trägt Waffen, und bisher hatten wir noch keinen Grund, welche zu benutzen. Achtern gibt es einen kleinen Waffenschrank, in dem Schwerter, Armbrüste, Bolzen, Öl, Rüstungen und der gesamte Brandyvorrat des Schiffes aufbewahrt werden.

Yuril bewegt sich ganz selbstverständlich in der Mannschaft. Wenn sie ein Kommando brüllt, rennen die anderen los, um es auszuführen. Sie hat den Bau von vier zusätzlichen Seitenrudern beaufsichtigt, die einfach gemacht sind und wie Riesenflossen aussehen. Es war Kapitän Nugeters Idee, sie gleich unter der Wasseroberfläche beidseitig an den Enden des Schiffs anzubringen. Wenn wir den trügerischen Randbezirk des Blutmeers befahren, sollen sie die Castor stabilisieren und, wie wir hoffen, durch die schlimmsten Böen führen, die ganz sicher vom Mahlstrom her kommen werden.

Mit den Extrarudern kommt ein ausgeklügeltes System aus Seilen und Winden an Deck, die an Holzblöcken festgemacht sind, welche wiederum auf das Deck genagelt wurden. Zwei Matrosen haben sich freiwillig gemeldet, an der Seite des Schiffes baumelnd den Kopf unter die krachenden Wellen zu stecken, damit die zusätzlichen Ruder sicher befestigt sind. Am Abend erhielten sie Sonderrationen, und ihre Kameraden ließen sie hochleben.

Kapitän Nugeter steht mit hoch erhobenem Kopf über allem. Er sagt sehr wenig, und es ist fast, als ob Yuril das Kommando hätte. Aber er schilt sie, wenn sie langsam ist, und lacht laut, wenn sie ihm als Antwort eine Beleidigung an den Kopf wirft.

Abgesehen vom Hauptdeck und der Kapitänskabine hat die Castor eine kleine Kombüse mit Trinkwasser und Vorräten, den Waffenschrank, das untere Deck mit den Ruderbänken, die Mannschaftsunterkünfte (welche die Mannschaft abwechselnd nutzt) und einen Frachtraum. Soweit ich weiß, haben wir nichts dabei außer Nahrungsmittel, Reparaturmaterial und die bereits erwähnte Waffensammlung.

Neben dem Frachtraum ist eine Gefängniszelle, die seit unserem Aufbruch in Ogerstadt leer steht, und eine kleine Kabine für den Steuermann, in der Yuril schläft – falls sie einmal schläft. Sie scheint rund um die Uhr an Deck zu sein. Wenn der Kapitän selber schläft, ist sie Auge und Ohr für ihn.

Zum Glück gibt es vier kleine Kabinen für Passagiere, je eine für Raistlin, Flint, Kirsig und mich. Sie sind schlicht eingerichtet, jede mit Hängematte, Bank, Fenstertruhe und Tisch.

Raistlin verbringt freiwillig viel Zeit allein in seiner Kabine. Ich vermute, der junge Majere sammelt seine Kräfte für die Strapazen, die vor uns liegen. Die wenigen Male, die ich ihn an Deck sah, wirkte er nachdenklich. Sicher sorgt er sich um seinen Bruder.

Flint hat ebenfalls den größten Teil der ersten drei Tage in seiner Kabine verbracht, allerdings unfreiwillig, denn er ist durch sein verletztes Bein etwas lahmgelegt. Ich bin nicht sicher, ob er bei seiner Abneigung gegen Wassermassen unglücklich ist, so festzusitzen; bei Flint ist das schwer zu sagen. Selbst wenn er unendlich glücklich ist, murrt er ja unentwegt.

Kirsig hat Flints Bein gut behandelt. Die Schwellung ist zurückgegangen und die Verfärbung verblaßt. Es hat sich herausgestellt, daß sie ein paar nützliche Kenntnisse im Heilen besitzt. Ich glaube, bis wir den äußeren Ring des Mahlstroms erreicht haben, wird mein Freund wieder laufen können.

Kirsig lehnt es ab, von Flints Seite zu weichen. Sie ist völlig vernarrt in ihn. Sie streichelt seine Haare und seinen Bart und nennt ihn ihren »hübschen Zwerg«. Je nachdrücklicher er sie loszuwerden versucht, desto fester klammert sie sich an ihn.

Die anderen an Bord stehen der Halbogerin nicht so ablehnend gegenüber. Gestern (am zweiten Tag) ist einer der Seeleute von einer hohen Rahe gefallen und hat sich eine häßliche Wunde zugezogen. Er blutete heftig aus der Seite. Kirsig wurde an Deck gerufen, und sie hat die Wunde mit nichts als einer Nähnadel sauber geschlossen. Bis dahin hatte Yuril die Halbogerin eher mit amüsierter Gleichgültigkeit betrachtet. Jetzt fällt mir auf, daß sie Kirsig – im Gegensatz zu anderen – morgens begrüßt und sich ihr respektvoll nähert.

VIERTER TAG

Das Wasser ist so unheilschwanger wie der Himmel. Hier, im äußeren Ring des Blutmeers, ist seine Farbe ein dunkles Blutrot. Die Wellen rollen in langen Wogen.

Raistlin hat erklärt, daß die Farbe des Wassers von der roten Erde der fruchtbaren Felder stammt, die einst die Stadt Istar umgaben. Seit Istar bei der Umwälzung zerstört wurde, wirbelt der Mahlstrom, der hier fließt, unablässig diese Erde auf, die das Wasser rot färbt und dem Blutmeer seinen Namen gibt, so daß alle an das Schicksal der berühmten Stadt erinnert werden, die darunter begraben liegt.

Als Kapitän Nugeter das mitbekam, hat er die Nase gerümpft und gesagt, die Farbe des Meeres käme vom Blut der vielen tausend Menschen, die eingeschlossen wurden und ertranken, als die Götter ihren Zorn an der Stadt Istar ausließen.

Flint ist jetzt auf und humpelt herum; sein Bein wird kräftiger. Er kam mittags zu uns an Deck, als sich auf dem Schiff Unruhe ausbreitete. Die Matrosen standen in Grüppchen zusammen, zeigten aufgeregt nach vorn und stritten über die Vorzeichen in Meer und Himmel.

Einer aus der Mannschaft, ein kräftiger, weitgereister Mann, beharrt darauf, daß man in dieser Gegend im Himmel über dem Blutmeer schon Drachen gesichtet hat. Als seine Kameraden nachbohrten, gab er zu, daß er noch nie zuvor so nah am äußeren Ring gesegelt war und daß es sich um Erzählungen aus den Tavernen von Blutsicht handelte.

Die anderen verhöhnten ihn, nachdem er dies eingestanden hatte, aber mir fiel auf, daß Raistlin ihm aufmerksam zugehört hatte. Auf seinem gespannten Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck.

»Drachen!« schnaubte Flint. »Als nächstes kriegen wir was von Djinns zu hören, die drei Wünsche erfüllen!«

Später am Nachmittag befanden wir uns im Griff einer starken Strömung, die uns nach Nordwesten zog. Kapitän Nugeters Anweisungen lauteten, jede Gegenwehr zu lassen, die Segel einzuholen und mit dem Strom zu gleiten. Die erste Schicht der Mannschaft nahm ihre Positionen an der Reling ein. Kleine Gruppen waren eingeteilt, an einem der Anker oder den Rudern oder den zusätzlichen Steuerrudern zu bleiben. Aber sie hatten den Befehl, vorläufig nichts zu tun, sondern das Schiff vom äußeren Ring ansaugen zu lassen.

Die Castor wurde immer schneller mitgerissen. Der Himmel über uns hatte sich so verdüstert, daß es schwer zu sagen war, ob Tag oder Nacht herrschte, wenn man seinen Augen vertrauen wollte. In der Luft knallten Donnerschläge, Blitze zuckten, und hin und wieder traf uns peitschender Regen.

Kapitän Nugeter nahm das Ruder in die Hand. Wir alle sahen ihn auf dem Achterdeck stehen und das Ruder heftig hin und her werfen, um die Bewegung des Schiffes auszugleichen und es nicht in den Strudelring hineinziehen zu lassen. Was auch immer die Mannschaft zu tun hatte, wir alle warfen verstohlene Blicke auf den Kapitän, denn wir wußten, daß hinter dem Strudelring die See der Schrecken liegt, jener Ort, wo Istar unter dem grimmigen Blutmeer ruht. Kein Seefahrer soll sich je hinter den Strudelring gewagt haben und zurückgekehrt sein, um davon zu berichten.

Mir fiel auf, daß Kirsig loslief, um Yuril zu unterstützen, die von Posten zu Posten gehen mußte, um die Seeleute zu beruhigen. Die Halbogerin hüpfte neben der größeren, muskulöseren und hübscheren Frau entlang, was einen seltsamen Kontrast ergab. Die Seeleute hatten ihren Spaß an ihrem irgendwie komischen Auftreten, doch sie tat ebensoviel wie Yuril, um die Disziplin aufrechtzuerhalten.

Flint und ich liefen zu leeren Ruderbänken, um unsere Muskelkraft einzusetzen, falls Not am Mann war. Ich muß sagen, daß Flint seine Angst vor der See tapfer bezwungen hat, und obwohl sein Gesicht in dieser Situation weiß wurde, stand er bereit, um zu helfen, wo er nur konnte.

Raistlin klammerte sich an einen großen Mast. Zwar wurde er vom böigen Wind durchgerüttelt, doch er war entschlossen, dazubleiben und zu beobachten, was auch geschehen mochte.

VIERTER TAG: ABEND

Als es noch finsterer wurde, wußten wir, daß die Nacht hereingebrochen war, und mit ihr kam das volle Ausmaß des Schreckens. Der Himmel zerbarst vor Donnern, die See schien von den Blitzschlägen in Flammen zu stehen, und eisiger Regen prasselte seitlich auf uns herunter. Die Wellen türmten sich hoch nach oben, um dann gewaltsam über den Decks zusammenzuschlagen. Einmal hörten wir Schreie, um später zu erfahren, daß ein unglücklicher Seemann über Bord gegangen war. Das Schiff tanzte wie verrückt herum, und in der Schwärze der Nacht gab es keine Möglichkeit, die Castor sicher auf Kurs zu halten. Der Wind heulte hinter uns, vor uns, um uns herum, einfach nicht einzuschätzen. Yuril hatte den Kapitän abgelöst und stand am Ruder, als das Schlimmste begann. Bald gesellte sich Nugeter zu ihr, und die beiden bemühten sich, das Rad davon abzuhalten, sich wie verrückt zu drehen. Sie schrien sich an und verfluchten sich und alle Elemente, während sie im verzweifelten Bemühen, das Schiff zu halten, das Steuerruder umschlangen.

Die fortwährenden Windstöße trieben Eisregen auf das Vorder- und Achterdeck. Es mußte geschöpft werden. Am schlimmsten war, daß durch den Sturm, das Schöpfen und die Unsicherheit die ganze Nacht keine wirkliche Ruhe und kein Essen möglich war. Beide Schichten arbeiteten nebeneinander her, obwohl sie müde, kalt bis in die Knochen und voller Furcht waren.

Ich stritt mit Raistlin herum, weil ich darauf bestand, daß es letztlich besser wäre, wenn er sicher unter Deck bliebe. Er wollte nicht hören. Am frühen Morgen jedoch, als der Sturm etwas abflaute und einige von uns eilig eine Mütze Schlaf nahmen, sah ich, daß er an seinem Platz zusamengesunken war.

Kirsig half dem jungen Zauberer eilig nach unten in seine Kabine. Flint und ich folgten bald darauf, denn wir zitterten im Wind und im Regen. Von meiner Kabine aus konnte ich Raistlin hören, der sich in unruhigem Schlaf murmelnd hin und her warf.

Wir schliefen alle unruhig, denn die Irrfahrt des Schiffes ließ unsere Angst wachsen.

FÜNFTER TAG

Tag und Nacht wird das Wetter schlimmer und die Gefahr, in der wir schweben, größer. Nach kurzer Pause kehrte der Sturm mit voller Wucht zurück. Riesige Wellen klatschten auf das Schiff, und heftiger Regen durchnäßte uns bis auf die Haut. Wir mußten uns jedes Wort in die Ohren schreien, wegen des krachenden Donners.

Obwohl Nugeter am Ruder ausharrte, konnte ich mir nicht vorstellen, daß seine Bemühungen irgendwelche Auswirkungen hatten. Die Castor schien wie ein Korken in der Gischt herumgeworfen zu werden. Der Angriff des Blutmeers ließ uns taumeln wie Betrunkene.

Das brodelnde Chaos ließ nicht nach. Am späten Nachmittag erklärte Kapitän Nugeter mit brennenden, rotgeränderten Augen, daß wir in den Strudelring geraten waren. Jetzt, sagte er, war es zwingend notwendig, daß wir den Griff der Strömung durchbrachen und die Castor irgendwie wieder nordöstlich in den äußeren Ring lenkten.

Sonst würden wir in den Mahlstrom gezogen werden.

Nugeter befahl Yuril, von Deck zu gehen. Sie mußte nach unten gehen und schlafen. Bisher hatte sie sich geweigert, sich von irgend jemandem in ihre Arbeit reinreden zu lassen. Allein hielt der Kapitän bis zum Abend die Stellung. Ich werde nie vergessen, wie er an jenem Tag beim Steuern ein herzhaftes Seemannslied schmetterte, das ich noch nie von jemand anderem gehört hatte. Seine unerschütterliche Zuversicht im Kampf mit dem Schiff schien die anderen Seeleute anzustecken, die trotz der Härte der Elemente nicht von ihren Posten wichen.

Der Kapitän beorderte einige aus der Mannschaft an die Ruder und andere ans kleinste Segel. Bestärkt durch Nugeters laute Befehle, gelang es der Mannschaft irgendwie, die Castor in den äußeren Ring zurückzuhieven.

Gegen Mittag tauchte Raistlin an Deck auf. Obwohl er offenbar immer noch müde und erschöpft war, wirkte er dennoch aufgeregt. Ich sah, daß seine Stärke und Entschlossenheit zurückgekehrt waren. Ich fragte ihn, wie lange wir das noch aushalten mußten.

»Meiner Schätzung nach haben wir ungefähr einhundertfünfzig Meilen geschafft«, antwortete der junge Zauberer. »Das heißt, daß wir weitere einhundertfünfzig vor uns haben, bevor wir versuchen, aus dem äußeren Ring auszubrechen, und ins Nördliche Blutmeer gelangen.«

»Noch eine Nacht und ein Tag«, schätzte Kirsig, die hinter dem Majerezwilling aufgetaucht war.

»Wo ist Flint?« fragte ich sie.

»Da drüben.« Die Halbogerin zeigte stolz auf einen Mast, wo Flint im Sitzen völlig durchnäßt mit mürrischem, aber entschlossenem Gesicht eines der Seile festhielt, die die Seitenruder hielten.

FÜNFTER TAG: ABEND

Eine Nacht, die uns an die Grenzen unseres Durchhaltevermögens brachte. Der Wind heulte, als er die See in einen schwarzen Vorhang aus blendendem Sprühregen verwandelte. Der Donner krachte pausenlos, und einmal trafen Blitzkugeln das Deck, fällten einen Nebenmast und brachen den Hals des armen Seemanns, der darunter stand. Wir mußten uns an Stangen und Haken binden, um nicht in das tobende Wasser gespült zu werden. Keiner schlief. Selbst eine kurze Pause wurde durch brutale Unterbrechungen unmöglich gemacht – ein Blitzschlag, ein Donnergrollen, peitschender Regen oder etwas Hartes, das der unaufhörliche Wind uns ins Gesicht schleuderte.

Immer noch klammerten sich Kapitän Nugeter und Yuril am Ruder fest.

SECHSTER TAG

Zwei Mitglieder der Mannschaft haben wir im Kampf mit dem Blutmeer verloren. Der Rest sehnt sich angesichts der Aussichten auf das nicht enden wollende Unwetter fast danach, sich dem wütenden Mahlstrom, zu ergeben.

Raistlin ist fast den ganzen Tag erschöpft in seiner Kabine geblieben. Flint wurde mit tiefliegenden Augen und triefnassen Brauen von Yuril nach unten geschickt, als sie seine Benommenheit bemerkte.

Gegen Mittag flaute der Sturm kurz ab. Inzwischen wußten wir schon, daß es anschließend einen furchtbaren, neuen Ausbruch geben würde.

In der Stille hörten wir Stöhnen, Schreie und gackerndes Lachen, das vom Wind herangetragen wurde. Das Schiff begann, sich mit erschreckender Geschwindigkeit zu drehen. Es war schlimmer als alles, was wir bisher erlebt hatten.

Die Mannschaft stand fast hysterisch da und zeigte ins aufgewühlte Wasser. Ich sah nichts, aber sie erzählten von grausigen Dingen – grinsenden Fratzen, Klauenhänden und spitzen Hörnern –, die gegen das Schiff stießen, damit es sich um sich selbst drehte.

Yuril befahl ihnen laut, an ihre Posten zurückzukehren. Kapitän Nugeter selbst war ebenfalls kreidebleich vor Entsetzen, doch seines rührte nicht von Einbildungen her.

»Wir sind zu weit! Wir sind im Strudelring und nähern uns der See der Schrecken!« schrie er mit angstverzerrtem Gesicht. »An die Ruder! Werft den Anker! Fertigmachen – «

Seine Stimme ging in dem sich erhebenden Tosen fast unter. Ein roter Nebel erhob sich aus dem Meer, trieb über das Deck und drang durch die Ruderlöcher herein. Kleine, rote Blutteufel mit ledrigen, fledermausartigen Flügeln, gegabelten Schwänzen und gekrümmten Hörnern erhoben sich aus dem Nebel und schwärmten die Masten hoch, um an der Takelage zu zerren und Seile zu lockern. Ihre Haut war dunkelrot wie das Blutmeer selbst, ihre langen Zähne glänzten weiß.

Mit ihrem Gekicher, Geschrei und Getobe entfesselten sie eine Panik auf dem Schiff.

Einige Männer rannten los, um gegen die Männchen zu kämpfen, doch der Kapitän rief ihnen zu: »Ihr Dummköpfe, das sind Illusionen!«

Illusionen, na gut, aber im nächsten Augenblick sah ich, wie zwei von ihnen einen Seemann packten und über Bord warfen.

Ich konnte Raistlin ausmachen, der auf der Treppe zu unseren Kabinen stand. Er senkte den Kopf, bewegte die Hände und murmelte einen Spruch. Zu meinem Erstaunen verschwanden die Klabautermänner, obwohl der rote Nebel blieb. Gleich darauf war der junge Magier nicht mehr zu sehen. Kaum einer hatte mitbekommen, was er getan hatte.

In der Zwischenzeit brach der Sturm mit aller Wucht wieder los.

Flint kämpfte sich zu mir durch. So entsetzt hatte ich ihn noch nie erlebt. »Was sollen wir machen?« schrie er.

Einen Augenblick lang war ich unsicher. »Da!« schrie ich. Wir sahen, wie sich Yuril mit ein paar anderen Seeleuten abmühte, den schweren, klauengleichen Anker zu lösen, was durch den heftigen Wind und den Regen um so schwieriger war. Wir liefen hin und landeten neben Kirsig, die sich zu einem Grinsen zwang, als sie ihre ganze Kraft in die Arbeit einbrachte.

Ich merkte, wie unter uns die Ruder zu ziehen begannen, aber ich hörte auch, wie einige von ihnen in der Wucht der Strömung und der Wellen zerbrachen.

Das Schiff tanzte wild hin und her. Einige von uns, einschließlich mir, fielen aufs Deck.

»Jetzt!« rief Kapitän Nugeter.

Nachdem wir wieder standen, gelang es uns, den Anker über die Seite zu hieven. Das dicke Seil spulte sich so schnell ab, daß einer der Matrosen einen Eimer Wasser darüber ausleerte, damit es sich nicht entzündete. Minutenlang sackte es in blutrotes Wasser und erreichte fast das Ende des Rads, ehe es endlich den Grund traf.

Erstaunt rief Yuril aus: »Noch nie habe ich von einer solchen Tiefe gehört!«

Wie Kapitän Nugeter erwartet hatte, stabilisierte der Anker das Schiff kurzfristig. Aber wegen des Winds und des Sturms zerrte die Castor am Ankerseil und drohte es durchzureißen.

Flint stand daneben und hielt eines seiner kurzen Beile bereit. Als Kapitän Nugeter »Jetzt!« schrie, schlug der Zwerg zu und durchtrennte das Ankertau mit einem sauberen Hieb. Die Spannung des Seils war so stark, daß das Schiff jetzt praktisch mehrere hundert Fuß durch die Luft sprang und so dem Sog entkam.

Zur selben Zeit waren Yuril und ich bei den Matrosen auf dem Achterdeck angelangt, die die Extraruder bereithielten.

Gerade als das Schiff herunterkrachte und bevor es wieder in der Strömung gefangen werden konnte, ließen wir die neu gebauten Ruder los. Bei einem Blick über die Seite konnte ich sehen, wie sie ins Wasser fielen und wie Delphine hinter dem Schiff hertanzten.

»Jetzt!« schrie Kapitän Nugeter wieder über das Toben des Sturms.

Ich merkte, wie die Rudermannschaft mit vereinten Kräften pullte, und diesmal sauste das Schiff aus eigener Kraft in nordöstliche Richtung. Indem jeder verfügbare Seemann und jede Frau an den Rudern saß, hielt die Mannschaft die Castor auf Kurs Nordost und schob sie weiter und weiter vom gefährlichen Kern des Blutmeers weg.

SIEBTER UND ACHTER TAG

Das Schlimmste war vorbei. Jetzt hielten wir über Feuerwasser auf Mithas und Karthay zu. Die Seeleute feierten ihren Sieg über den Mahlstrom. Seltsam wild sahen sie aus mit ihren salzverkrusteten Lippen und den Tangfetzen in den Haaren.

Kapitän Nugeter ließ jedem von uns eine Ration Brandy als eine Art Belohnung zukommen.

Das Schiff hatte überraschend wenig Schaden genommen, wenn man bedachte, welch eine Schlacht wir hinter uns hatten. Ein Mast und eine Reihe Ruder waren gebrochen. Teile, die der Sturm herumgeweht hatte, hatten einige Segel zerfetzt, obwohl sie aufgerollt gewesen waren. Kirsig machte sich beim Nähen nützlich, und auch ich kenne mich damit etwas aus. Gemeinsam flickten wir die Segel. Die Männer rissen sich gerne ihre Hemden vom Leib, um grobe Flicken zu liefern.

Ein paar Matrosen durchstreiften das Schiff und kümmerten sich um Lecks, die aber alle harmlos waren.

Flint setzte sich in den Kopf, einen Ersatzanker zu bauen, der reichen mußte, bis die Castor wieder einen Hafen anlief. Nachdem er Bleistücke und anderes weiches Metall aus dem Schiff zusammengesucht hatte, schmolz er alles in einem riesigen Topf zusammen und konnte es zu einem gesprenkelten Senkgewicht hämmern, das Yuril zufriedenstellend fand. Der neue Anker wurde an die Stelle des alten gelegt.

Die Wellen waren weiterhin hoch und stürmisch. Das Wasser hatte sich nur leicht geklärt; es hatte immer noch jene beunruhigende, rostrote Farbe. Obwohl es harte Arbeit war, die Castor zu reparieren und auf Kurs zu halten, fühlten wir uns alle sehr erleichtert.

Wir hatten starken Rückenwind. Über uns schien eine Sonne, die täglich heißer wurde. Am Himmel bildete sich Dunst, der nicht weichen wollte.

ACHTER TAG: ABEND

Raistlin ist über Tag in seiner Kabine geblieben und läuft nachts an Deck auf und ab. Flint und ich haben festgestellt, daß er uns nicht alles gesagt hat, was ihn beschäftigt.

Heute nacht, es war eine schwarze, Sternenlose, bedrückende Nacht, fand ich ihn auf dem Vorderdeck, wo er stand und in die unruhige See hinausstarrte. Als er mich hinter sich hörte, drehte er sich um und schenkte mir ein leises Lächeln – wenig ermutigend, aber ausreichend für mich, seine Andacht kühn zu unterbrechen.

»Du mußt dich sehr um Caramon sorgen«, fing ich freundlich an.

Zu meiner Überraschung zog der junge Magier eine Augenbraue hoch, als läge ihm dieser Gedanke völlig fern. »Caramon«, sagte er zu mir mit seiner üblichen Schroffheit, »kann für sich selber sorgen. Wenn er nicht in der Straße von Schallmeer umgekommen ist, bin ich ziemlich sicher, daß wir ihn irgendwo in diesem verwünschten Teil von Krynn finden werden. Es ist wahrscheinlicher, daß er uns rettet, als daß wir ihn retten.«

»Aber ich dachte«, setzte ich an, »wir hätten den ganzen Weg zurückgelegt, weil du glaubst, daß er von Minotauren gefangengenommen wurde.«

»Ja… teilweise«, sagte Raistlin. Er wollte etwas anderes sagen, hielt dann inne, vielleicht um seine Gedanken zu sammeln, vielleicht um einfach den Mantel enger um sich zu schlingen und die nächtliche Kälte abzuhalten. »Aber«, fuhr er kurz darauf fort, »es gibt wichtigere Dinge zu bedenken als das Schicksal meines Glückspilzes von Bruder. Da wäre noch der Grund, warum er entführt wurde, und dann dieses seltene Kraut, die Jalopwurz.« Sein Tonfall war sehr ernst. In der Dunkelheit konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.

Ich kam näher, weil ich ihm das Geheimnis entlocken wollte.

»Was also ist es, Raistlin?« fragte ich. »Welchem Zauber jagen wir über Tausende von Meilen hinweg nach?«

Er drehte sich zu mir um und musterte mich durchdringend. Er schien meine Frage erst zu überdenken, denn er ließ sich mit der Antwort Zeit: »Der Spruch, auf den ich gestoßen bin, kann nur von einem hohen Kleriker des Minotauren gesprochen werden. Es ist ein Spruch, der ein Portal öffnet und den Gott der Stiermenschen, Sargonnas, Diener der Takhisis, in die Welt einläßt.«

Jetzt war es an mir, schweigend zu überlegen. Als Magier glaubte Raistlin an die Götter des Guten, die Götter der Neutralität und die Götter des Bösen, deren höchste Göttin Takhisis war. Obwohl ich in meinem Leben sowohl Gutes als auch Böses gesehen habe, war ich mir wegen der Götter nicht so sicher wie der junge Magier. Sargonnas war ein Gott, über den ich wenig wußte.

Vielleicht merkte Raistlin meine Zurückhaltung, jedenfalls wandte er sich seufzend ab. »Das ist noch nicht alles«, sagte er. »Dieser Spruch kann nur bei bestimmten Konjunktionen von Mond und Sternen gesprochen werden. Es ist ausgesprochen umständlich, alles vorzubereiten. Das kann nur heißen, daß die Stiermenschen ein Ziel haben, das wichtig genug ist, um Sargonnas’ Hilfe anzurufen. Morat glaubt – und ich stimme ihm zu –, es müsse sich um einen Plan für die Eroberung ganz Ansalons handeln.«

»Aber das würde den Minotauren doch nie allein gelingen, ganz gleich, wie viele sie sind oder wie gut organisiert«, wandte ich ein.

»Richtig«, sagte Raistlin. »Aber wenn sie nun Bündnisse mit unüblichen Verbündeten schließen – mit den bösen Rassen des Meeres oder den Ogern zum Beispiel?«

»Sie sind zu arrogant«, wehrte ich ab, »diese Rasse würde niemals Bündnisse schließen.«

»Das ist vielleicht nicht wahr«, sagte Kirsig, die aus den Schatten trat. Die Halbogerin hatte die Angewohnheit, sich an einen heranzuschleichen, aber Raistlin hegte eine merkwürdige Sympathie für sie und schien sich nicht an ihrer Gegenwart zu stören. Auch nicht an der offensichtlichen Tatsache, daß sie uns belauscht hatte.

»Das könnte einiges von den seltsamen Dingen erklären, die in den letzten paar Monaten in Ogerstadt vor sich gingen«, fuhr Kirsig fort.

»Was denn?« fragte Raistlin interessiert.

»Delegationen – ganze Galeeren – von Minotauren kamen zu Besuch, um mit den verschiedenen Ogerstämmen zu verhandeln. Das ist höchst ungewöhnlich. Ich habe noch nie zuvor von Freundschaft zwischen Ogern und Minotauren gehört. Normalerweise war es nämlich gerade umgekehrt: tödliche Feindschaft.«

»Verstehst du, was ich meine?« sagte Raistlin zu mir, als er sich umdrehte und die Hände um die Reling schloß. Er starrte auf das dunkle Wasser und den noch dunkleren Himmel. »Caramons Schicksal ist meine geringste Sorge!«

NEUNTER TAG

Am frühen Morgen dachte einer der Matrosen, er hätte im Wasser neben dem Schiff eine Bewegung gesehen. Alle waren auf der Hut, weil sie wußten, daß in diesen fremden Gewässern alles vorkommen konnte.

Gegen Mittag wurde das Tier wieder gesichtet – eine riesige, graue, schlüpfrige Form, die der Castor zu folgen schien. Bei dem heißen, drückenden Wetter kamen wir nur langsam voran, und das Tier paßte sich unserer Geschwindigkeit an. Seine schlängelnden Bewegungen wirkten beinahe träge. Es blieb so tief unter der Oberfläche, daß wir nichts Genaues erkennen konnten, außer, daß es etwa so groß und lang war wie das Schiff selbst.

Am späten Nachmittag hatte das seltsame Wesen uns bereits ein Dutzend Meilen weit verfolgt, ohne aufzutauchen. Diese Zurückhaltung machte uns gleichmütig. Einige Matrosen der Castor waren unter Deck, während andere auf ihren Posten dösten, als das Ding plötzlich seinen Kopf hob und angriff.

Ich war mittschiffs, als ich hochsah und einen langen, gekrümmten, schlangenartigen Körper erblickte, der sich auf uns stürzte.

Sofort wußte ich, was es war: Ein Nacktkiemer, eine Riesennacktschnecke des Meeres, die in dieser Gegend selten ist. Ich wich gerade rechtzeitig hinter eine Vorratskiste zurück, denn die Schnecke schlug mit ihrem aufgerissenen Maul aufs Achterschiff und spie gleichzeitig einen dicken Strom ätzenden Speichels aus.

Die Castor schwankte. Jeder, der stand, stürzte hin, jeder, der schlief, schreckte hoch. Eine aus der Mannschaft hatte keine Zeit gehabt, der sauren Spucke auszuweichen. Sie schrie und wälzte sich auf dem Deck, weil der Schmerz unerträglich war. Ein anderer bemerkte den Nacktkiemer nicht rechtzeitig und wurde verschlungen.

Wer den Angriff gesehen hatte, schrie um Hilfe, und die anderen kamen mit Waffen angerannt, die im Vergleich zu dem enormen Körper des Nacktkiemers lächerlich winzig aussahen. Kapitän Nugeter rannte von unten herauf und schrie Befehle. Yuril hatte am Ruder gestanden. Jetzt hockte sie neben mir und starrte das Ungeheuer entsetzt an.

Unter unseren Augen hob die Riesenschnecke ihren häßlichen, tentakelbewehrten Kopf so hoch, daß wir ihren tödlich weißen Unterleib sehen konnten, und warf sich dann aufs Deck. Sie benutzte ihren Körper wie einen Rammbock. Holz splitterte in alle Richtungen auseinander. Der Nacktkiemer war halb an Deck, halb in der See. Das Schiff legte sich gefährlich schief.

Minutenlang tauchte der Kopf der Riesenschnecke unter Deck, wo wir ihn nicht sehen konnten. Grauenhafte, schlürfende Geräusche und die Schreie der Seeleute, die in ihrem Quartier gefangen waren, zeigten, in welchem Blutrausch das Tier schwelgte.

»Flint!« schrie ich plötzlich.

»Pst!« sagte der Zwerg. »Ich bin genau hinter dir.«

Das war er, und Raistlin und Kirsig auch. Alle sahen staunend zu, wie die Riesenschnecke wieder den Kopf hob und noch einmal aufs Schiff knallte. Das Deck kippte steil nach oben. Mit jedem Angriff des Nacktkiemers neigte sich die Castor bedenklicher.

»Sie frißt sich durch das Schiff«, sagte Raistlin.

»Die fressen alles«, sagte Yuril, »Pflanzen, Aas, Müll – alles.«

Vor unseren Augen sprang eine dunkelhaarige, kurzhaarige Frau aus der Mannschaft mit einem Angriffsschrei auf den Rücken der Riesenschnecke und stach mit ihrem scharfen Schwert zu. Aber die Nacktschnecke hatte eine dicke, gummiartige Haut, und die ansehnliche Klinge verursachte kaum eine Wunde. Der Nacktkiemer unterbrach seinen Angriff auf die Castor und brachte mit erstaunlicher Geschmeidigkeit seinen Kopf herum, packte die tapfere Matrosin mit dem Mund, zerfleischte sie und warf ihren Körper dann viele hundert Schritt weit in den Ozean.

Ohne einen besonderen Plan stürmten Flint, Kirsig, Yuril und ich auf das Tier ein und stachen zu. Wir landeten nur ein paar harmlose Treffer. Andere Seeleute schlossen sich uns an. Die Riesenschnecke drehte und wand sich und warf dabei mehrere Seeleute zu Boden und bedeckte einen mit ihrem ätzenden Speichel. Wir konnten sie eigentlich nur beschäftigen und uns Mühe geben, außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben.

Ich sah, daß Raistlin am anderen Ende des Schiffs an etwas arbeitete. Er drehte sich um und rief nach Flint.

Der Zwerg eilte zu ihm hin: Gemeinsam bückten sie sich und begannen, etwas zu uns und zu der Riesenschnecke zu zerren. Als noch zwei Matrosen hinliefen, verließ Raistlin Flint und rannte zum Ruder, wo Kapitän Nugeter damit beschäftigt war, das schief liegende Schiff unter Kontrolle zu behalten.

Raistlin beriet sich kurz mit Nugeter, welcher dem jungen Zauberer zunickte.

Jetzt konnte ich sehen, daß Flint und die Seeleute den Anker auf uns zu schleppten. Kirsig, Yuril und ich liefen hin, um ihnen beim Hochheben zu helfen. Dann warfen wir ihn auf ein Zeichen von Flint zum Kopf der Riesenschnecke.

Wie Raistlin gehofft hatte, machte der Nacktkiemer – der nicht für seine Intelligenz bekannt ist – den Mund weit auf für das, was wir in seine Richtung stießen. Im letzten Moment ließen wir los und eilten in Sicherheit.

Ein fast überraschter Ausdruck glitt über das rudimentäre Gesicht der Schnecke, als Kapitän Nugeter das Ruder scharf herumwarf und von ihr fortsteuerte. Durch die plötzliche Bewegung rutschte sie vom Deck zurück in die See. Flints Anker zog sie rasch in die Tiefe, bis wir nichts anderes mehr von ihr sahen als die Luftblasen, die an die Oberfläche blubberten.

Nach dem Angriff mußte die Castor dringend repariert werden. Drei Matrosen waren tot, woran uns nur die Blutflecken auf dem Deck erinnerten, und Flint mußte sich an die Arbeit machen, einen weiteren Anker aus Metallresten herzustellen.

ZEHNTER TAG

Kapitän Nugeter sagt, wir sind nur noch einen halben Tag von der Küste von Karthay entfernt, selbst bei dem langsamen Tempo, das wir jetzt vorlegen müssen. Die Castor ist ein halbes Wrack. Nur pausenloses Rudern hält uns über Wasser, was für die Mannschaft, die nach all den Ereignissen halbiert ist, sehr anstrengend ist. Flint, Raistlin, Kirsig und ich helfen aus.

Obwohl die Reise über das Blutmeer an Geschwindigkeit jede Hoffnung erfüllt hat, sagt der Kapitän, daß er nicht sicher ist, ob der Preis den Schaden an seinem Schiff und die Verluste seiner Mannschaft ausgleicht.

»Ich werde nicht versuchen, in Karthay zu landen«, hat Kapitän Nugeter erklärt. »Ich gehe kein weiteres Risiko ein. Ich gebe euch ein kleines Boot, in dem ihr an Land rudern könnt. Damit könnt ihr euch noch glücklich schätzen.«

Trotz Kirsigs besten Überredungskünsten weigert sich Kapitän Nugeter, von dieser Haltung abzurücken.

Raistlin hat ihm den doppelten Preis gezahlt und ihn nicht wegen der Landung bedrängt. Der Kapitän hat seinen Teil der Abmachung mehr als erfüllt, meint Raistlin, und hat sich bei ihm bedankt.

Kirsig hat die Absicht geäußert, uns zu begleiten. Flint hat versucht, es ihr auszureden – vergeblich. Sie besteht darauf, daß sie ihren »hübschen Zwerg« nicht verlassen will.

Überraschender ist, daß Yuril verkündete, daß sie auch Lust hatte, sich uns anzuschließen. Kapitän Nugeter stritt heftig mit ihr, jedoch erfolglos. Yuril sagt, sie verdankt uns ihr Leben – mindestens zweimal –, und sie will uns helfen, unsere Aufgabe zu erfüllen. Der Kapitän wirkte ebenso traurig wie wütend über diese Entscheidung. Nicht zum ersten Mal kam es mir so vor, als ob diese beiden füreinander einmal mehr als Kapitän und Steuermann waren.

Drei Matrosinnen, die alle mehr Yuril als Kapitän Nugeter ergeben waren, sagten, auch sie würden mitkommen.

Damit sind wir acht, und der wütende Nugeter mußte uns zwei kleine Boote zusagen.

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