12 Die Grube des Untergangs

Früh am Morgen vor ihrem Aufbruch nach Atossa trank Tolpan die doppelte Dosis seines Tranks. Er sagte, er fände allmählich Gefallen an dem Geschmack – milchig, einen Tick süßlich –, so daß es für Fesz kein Problem darstellte, ihm alles einzuflößen.

Weil er den Kender gut kannte, wurde Dogz dazu ausersehen, sie auf der Reise von Lacynos nach Atossa und von dort aus weiter nach Karthay zu begleiten. Er sollte Tolpan bewachen.

»Nun, sagen wir lieber, als Leibwächter«, hörte Tolpan Fesz zu Dogz sagen.

Dogz stieß Tolpans neues Verhalten ab, denn er benahm sich weniger wie ein Kender als einfach böse. Der riesige Minotaurus versuchte, sich der Aufgabe durch Betteln zu entziehen, aber Fesz bestand auf Dogz’ Begleitung.

»Er hält dich für seinen Freund«, sagte Fesz weise und fügte hinzu: »Außerdem ist das ein Befehl.«

In einem halben Tag brachten sie die Strecke nach Atossa mit einer königlichen Kutsche hinter sich, die von schlanken, schwarzen Pferden gezogen wurde. Gleichermaßen zur Schau wie zum Schutz donnerte ein Trupp komplett bewaffneter Minotaurensoldaten neben ihnen her und wirbelte Staubwolken auf. Die Straße war steinig und voller Schlaglöcher, so daß Minotauren und Kender wiederholt in ihren Sitzen durchgerüttelt wurden.

Durch die Fenster der Kutsche sah Tolpan kahle Wüste. Mit dem Lärm, dem Staub, der glühenden Hitze und der langweiligen Landschaft war es wirklich keine angenehme Reise, fand Tolpan. Obwohl er es lustiger fand als Fesz und Dogz, in seinem Sitz auf und ab zu hopsen.

Sie kamen zur Mittagszeit an und wurden mit viel Pomp begrüßt. Die Abordnung begrüßte Fesz so, wie es einem hohen Würdenträger zukam. Die Minotaurendelegation betrachtete Tolpan mit sichtlicher Neugier. Dogz stand mit finsterem Gesicht im Hintergrund.

Ein Minotaurus mit eindrucksvollen Abzeichen, der von einem Menschensklaven begleitet wurde, begann um Fesz herumzuschwänzeln. Er lud ihn zu einem Ehrenbankett ein. Aber Fesz, der schon wegen der heißen, lauten, durch und durch unangenehmen Reise schlechtgelaunt war, bestand darauf, auf der Stelle den gefangenen Menschen zu sehen – den, der nicht entkommen war.

»Ja, auf der Stelle! Oder es rollen Köpfe!« ergänzte Tolpan in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

»Das ist er«, knurrte Dogz. »Das ist einer der Männer vom Schiff.« Fast schuldbewußt fügte er hinzu: »Wahrscheinlich hätten wir ihn gleich umbringen müssen, anstatt ihn über Bord zu werfen.«

»Natürlich hättet ihr das«, sagte Tolpan etwas eingeschnappt. »Jetzt schau dir nur an, was der für eine Aufregung verursacht hat. Wenn ihr mich gefragt hättet, hätte ich gesagt: ›Umbringen und fertig.‹ Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen – besonders wenn’s ums Töten geht, wie ich immer sage. Natürlich war ich damals noch nicht richtig böse, also hätte ich vielleicht nicht gerade ›Umbringen und fertig‹ gesagt. Aber im nachhinein hast du absolut recht, Dogz.«

»Wie heißt er nochmal?« fragte Fesz, der den Kopf schief legte und den Menschen ansah.

Sie standen vor Sturm Feuerklinges Kerkerzelle. Sturm saß mit dem Gesicht zu ihnen auf einem Stuhl. Seine Hände waren hinter dem Stuhl mit einem Seil zusammengebunden. Der Mann aus Solamnia war voller Wunden und Blutergüsse, denn er war wohl erst kürzlich verprügelt worden. Aber die Minotaurenwachen hatten offenbar versucht, ihn herzurichten, damit er für den ungewöhnlichen Besuch dieses hohen Gesandten des Nachtmeisters manierlich aussah.

Sturm sah sie finster an. Er war überrascht und anfänglich erleichtert, Tolpan zu sehen, doch der Kender hatte ihn nicht begrüßt und verhielt sich abweisend. Sturm beobachtete verwirrt, wie Tolpan sich in verschwörerischem Flüsterton mit den Minotauren unterhielt. Der Kender verhielt sich wirklich merkwürdig. Der junge Solamnier konnte keinen Blick von Tolpan auffangen.

Was hatte er vor?

Einer der Minotauren war der seltsamste Vertreter dieser Rasse, den Sturm bisher gesehen hatte. Der breite Stiermensch mit den langen Hörnern war offensichtlich ein Würdenträger oder Hohepriester. Er war in Federn und Pelze gekleidet und bewegte sich feierlich, zielstrebig und würdevoll.

Sturm hatte den sicheren Eindruck, daß Tolpan als Kumpan oder Berater des Minotaurus tätig war.

»Sturm Feuerklinge«, sagte Tolpan, der verächtlich ausspuckte, was er sich von den Minotauren abgeguckt hatte. »Er hält sich für einen Ritter von Solamnia, aber in Wirklichkeit ist er keiner – nur ein weiterer trauriger Fall von fehlgeleitetem Ehrgeiz, wenn ihr mich fragt. Das ist eine lange Geschichte, und ich weiß nicht genau, ob ihr Näheres wissen wollt, aber soweit ich weiß, geht es bei seinem Vater – «

»Ich will ihn mir näher ansehen«, unterbrach Fesz ihn grollend.

Die Minotaurenwache hinter ihm gehorchte eilig. Die Tür wurde geöffnet, und Tolpan und Fesz betraten die Zelle.

Dogz wartete vor der Zelle, denn ihm war die ganze Situation gleichgültig.

Fesz näherte sich Sturm und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Tolpan tat dasselbe. Er hoffte, Fesz würde bemerken, wie gut er jede Bewegung des Minotaurus nachahmte. Der Kender schob sein Gesicht direkt neben das von Sturm und legte den Kopf schief, genau wie der Minotaurenschamane das tat.

Da er bereits gelernt hatte, daß es in diesem Gefängnis ein Fehler war, impulsiv zu handeln, beschloß Sturm zu schweigen. Vielleicht würde er so einen Hinweis darauf bekommen, welches Spiel der unberechenbare Kender spielte.

»Ein großer Fehler«, sagte Tolpan verächtlich. »Offensichtlich haben sie den Kerl gefoltert, was eine phänomenale Zeitverschwendung ist. Er würde lieber sterben, als seinen Ehrenkodex brechen. Dasselbe gilt für Kitiara, falls ich es noch nicht erwähnt habe. Zeitverschwendung, sie zu foltern. Nur hat das in ihrem Fall nichts mit Ehre zu tun. Ist bloß reine Sturköpfigkeit. Wenn wir nach Karthay kommen, können wir das dem Nachtmeister sagen, falls er es noch nicht selbst herausgefunden hat. Hat er aber wahrscheinlich, wo er doch der Nachtmeister ist und so.«

Sturm hörte aufmerksam zu. Was plappert dieser Kender da über Kitiara, Karthay und jemanden namens Nachtmeister?

»Es ist vor allem dann eine Zeitverschwendung, Sturm zu foltern, wenn ihr nichts anderes machen wollt, als hauen und treten und ein bißchen schneiden. Sturm entstammt einer langen Reihe von traditionellem solamnischen Unsinn, und auf normale, körperliche Folter reagiert er nicht wie andere Menschen. Also, wenn du mich fragst, ich würde etwas Einfallsreicheres anstellen.«

Fesz ging hinter dem Gefangenen auf und ab. Der Minotaurenschamane holte mit weiten Nüstern tief Luft. Er senkte den gehörnten Kopf. Fesz hatte Sturm bereits vergessen. Er prägte sich den noch wahrnehmbaren Geruch des anderen Menschen ein. Dessen, den sie Caramon nannten. Raistlins Bruder.

Tolpan langte in seinen Beutel und wühlte darin herum. Er zog eine kleine Schere heraus. Mit der freien Hand ergriff er ein Ende von Sturms langem, herunterhängenden Schnurrbart.

»Das ist es, was ich tun würde«, schrie er triumphierend, während er ein Ende von Sturms Schnurrbart abschnitt. Sturm zuckte zusammen, sagte aber nichts. Wütend funkelte er den Kender an.

»Ja!« Stolz hielt Tolpan die braune Haarsträhne in die Luft, um sie Fesz zu zeigen. »Ja, das ist es, was ich Folter nenne! Diese Solamnier sind sehr stolz auf ihre Schnurbärte. Oh, ja, sehr stolz!«

Mit breitem Grinsen trat er an Sturm heran. »Das wollte ich schon lange machen«, verspottete der Kender den jungen Solamnier. »Ja, sehr, sehr lange! Du glaubst, du bist so groß und mächtig, bloß weil du dir einen langen, trübsinnigen Schnurrbart wachsen lassen kannst. Tja, das konnte ich auch, wenn ich wollte. Ich konnte einen Schnurrbart haben, langer als ein Haarknoten. Ich – «

»Ich möchte sehen, wo der Kyrie gefangengehalten wird«, knurrte Fesz und schnitt Tolpan das Wort ab, »und wo der andere Mensch vor seinem Verschwinden zum letzten Mal gesehen wurde.«

»Ja, Exzellenz!« sagte die Wache, die loseilte, um sie zu führen. Die Wache packte den Kender an den Schultern und steuerte ihn aus der Zelle. Der böse Tolpan verrenkte sich im Griff des Minotaurus, um Sturm über die Schulter zuzukreischen: »Und ich glaube, du denkst, wir sind den ganzen Weg hierhergekommen, bloß um dich zu sehen, Herr Trübseliger Schnurrbart! Hah! Wir sind bloß gerade zufällig auf dem Weg nach Karthay, wo wir eine Verabredung mit dem Nachtmeister haben und einen großen, fetten, wichtigen Zauberspruch sagen wollen, der Sargonnas in diese Welt einlaßt. Und hab’ ich schon erwähnt, daß kein anderer als Kitiara Uth Matar schon dort gefangen sitzt, so daß wir noch wichtigere Leute zu foltern haben als dich…«

Sturm preßte die Lippen aufeinander.

Die Minotaurenwache ging einen Gang entlang. Fesz, der Tolpan vor sich her stieß, folgte ihr.

Es war Dogz, der stehenblieb und Sturm anstarrte. Der Minotaurus rieb sich betreten das Kinn, denn er fand, er hatte die beiden Menschen wirklich toten sollen, als er ihnen zum ersten Mal begegnet war. Nächstes Mal würde er es besser wissen. Jetzt steckte er bis zu seinem dicken Stiernacken in Dingen, die er nicht verstand. Seufzend folgte Dogz Tolpan, Fesz und der Minotaurenwache.

Sturm blieb mit einem halben Schnurrbart zurück und grübelte herum, was eigentlich los war.

Die drei Minotauren und Tolpan hielten auf das hinterste Ende des einen, schwach erleuchteten Gangs zu, wo ein einzelner Gefangener hinter Gittern steckte. Er war an einer Seitenwand angekettet.

Dieser Gefangene, erklärte Fesz Tolpan unterwegs, war ein Kyrie, einer der legendären Vogelmenschen, die in abgelegenen Gebirgsregionen von Mithas lebten. Die Kyrie waren eingeschworene Feinde der Minotaurenrasse und gerieten nur selten in Gefangenschaft.

»Dein früherer Freund, Caramon, hatte eine Vertrauensstellung, denn er brachte den anderen Gefangenen Wasser und Essen«, bemerkte Fesz. »Zuletzt wurde er vor der Zelle des Kyrie gesehen. Dann ist er spurlos verschwunden – wie durch Zauberei.«

Wenn er über Raistlin reden würde, Caramons Zwillingsbruder, stellte Tolpan mit weiser Miene fest, dann mußten sie alles Mögliche in Betracht ziehen. Unsichtbarkeitszauber, Zeitreisen, selbst eine Flucht in Gestalt eines Tausendfüßlers. Aber da es um Caramon ging, war der Kender sich sicher, daß keine Magie im Spiel war.

»Dieser Raistlin muß ein sehr mächtiger Magier sein«, knurrte Fesz beeindruckt.

»Ja, sehr mächtig«, stimmte Tolpan zu. Insgeheim fügte er für sich hinzu: Obwohl er eigentlich noch kein richtiger Magier ist. Laut sagte er: »So mächtig wie überhaupt einer. Ich würde nicht einmal zu raten wagen, wie mächtig, denn noch während ich mir die Zeit zum Raten nehme, würde Raistlin wohl einen oder zwei neue Sprüche lernen und noch mächtiger werden!«

Als sie an der Zelle des Kyrie ankamen, war Tolpan enttäuscht und verärgert. Außer den Beinen, die entschieden vogelähnlich waren, sah der Gefangene nicht gerade wie ein Vogelmensch aus. Der Kyrie war übel geschlagen worden, und seine Arme hingen schlaff an den Seiten herab. Ein armseliger Anblick.

Ein leises Zucken verriet Tolpan, daß der Kyrie am Leben war, aber nur gerade so eben. Vom äußeren Anschein her hätte er genausogut tot sein können.

Als Dogz sich vorbeugte und Tolpan zuflüsterte, daß die häßlichen, vereiterten Wunden auf dem Rücken des Kyrie die Stellen waren, wo man ihm die Flügel herausgerissen hatte, ging der Kender in die Luft.

»Was?« schrie Tolpan, der sich zu der Wache umdrehte und den Stiermenschen mehrmals kräftig gegen die knubbeligen Kniescheiben trat. »Da habe ich die Chance meines Lebens, kann einmal einen Blick auf einen Kyrie werfen, und ihr mußtet den Mann praktisch totschlagen und ihm die Flügel ausreißen? Hach, ohne Flügel sieht er doch praktisch aus wie ein Mensch – und dazu sind wir von Atossa hierhergefahren? Ihr hättet wenigstens warten können, bis – «

Fesz zog Tolpan von der erstaunten Wache fort, die dem Kender im ersten Impuls am liebsten eins auf den Kopf gegeben hätte, ehe sie es sich besser überlegte.

Der Wächter ging ein Stück den Gang hoch. Dogz folgte ihm, um ihm ruhig und mit gesenkter Stimme zu erklären, daß der Kender auf Geheiß des Schamanen einen gesinnungsverändernden Trank eingenommen hat. Solches Benehmen war zu erwarten und wurde sogar gutgeheißen.

Nachdem Fesz Tolpan beruhigt hatte, warf er einen Blick auf den bewußtlosen Kyrie. Dann studierte er das Innere und Äußere der Zelle. Langsam glitten seine Augen über den Boden, die Wände und die Decke. Er kniete sich hin und betastete mit seinen riesigen, starken Händen den festen Steinboden. Er ließ seine Finger über die Ritzen der Seitenwand gleiten. Er legte den Kopf schief, schloß die Augen und lauschte auf ungewöhnliche Geräusche. Dann schlug er sie wieder auf. Ein Stirnrunzeln legte sich über sein Gesicht.

»Das haben wir alles auch gemacht«, sagte die Minotaurenwache verdrossen zu Dogz. Die beiden standen immer noch ein Stück entfernt. »Wir haben auch nichts gefunden.«

Der Schamane riß die Hörner hoch, die beinahe die Decke berührten. Fesz warf der Wache einen vernichtenden Blick zu. Als der Wächter bemerkte, daß man seine Worte gehört hatte, schlug er die Augen nieder und starrte auf seine Füße.

Fesz trat zurück, um Tolpan suchen zu lassen.

Der Kender brannte darauf, sich zu beweisen. Er hatte Fesz genau beobachtet. Zuerst starrte Tolpan den Kyrie an. Dann untersuchte er das Innere der Zelle, wobei seine Augen argwöhnisch hin und her schweiften. In dem schwachen Licht konnte man kaum viel erkennen. Dann sah er sich im Gang vor der Zelle um. Er kniete auf dem Boden nieder und tastete nach allem Ungewöhnlichen. Er fuhr mit den Fingern an den Wänden entlang. Wie Fesz senkte er den Kopf, schloß und öffnete seine Augen und bemühte sich zu lauschen.

Er glaubte, er hätte irgendwo ein Rascheln gehört.

»Hat Caramon irgend etwas hinterlassen… auch nur den leisesten Hinweis?« fragte Tolpan.

»Nichts«, murmelte die Minotaurenwache weiter oben im Gang. »Nur die zwei Eimer, die er getragen hat. Sie standen auf dem Kopf.«

Fesz beobachtete den Kender genau.

Tolpan lief im Kreis, bis er wieder vor der Zelle stand. Er sah Fesz an. Er schaute wieder zu dem Kyrie. Langsam wanderte sein Blick zur Decke, die noch höher war als Caramon Majere – wenn auch nicht viel.

Ungefähr zwei Eimer und eine Armlänge höher, schätzte Tolpan.

»Ich glaube – «, setzte Tolpan an.

»Ja?« fragte Fesz begierig.

»Ich glaube«, erklärte der Kender mit lauter Stimme, »wir sollten Sturm Feuerklinge bestrafen!«

»Sturm Feuerklinge bestrafen?« wiederholte Fesz. Der Gesandte des Nachtmeisters klang verwirrt.

»Es geht ums Prinzip«, erklärte Tolpan noch lauter. »Das Prinzip ist, daß Sturm gewußt haben muß, daß Caramon einen Fluchtversuch plante, und da er sich weigert, uns zu helfen – «

»Wir haben bereits unser Bestes getan, es aus ihm herauszuprügeln«, warf die Wache vom Gang her ein.

»Euer Bestes!« fuhr der Kender hoch. »Du hast die Unverfrorenheit, mir zu sagen, ihr hättet euer Bestes getan?«

Dogz schnaubte, hielt aber den Mund. Obwohl die Minotaurenwache nicht übermäßig rasch lernte, erkannte sie, daß sie besser nichts mehr sagen sollte.

Tolpan drehte sich zu Fesz um, den er höchst feierlich fragte: »Gibt es irgendwelche minotaurischen Hinrichtungsarten, die wirklich einmalig sind?«

Fesz überlegte gründlich, denn er war entzückt, daß Tolpan seine Phantasie solchen wertvollen Zielen zugewandt hatte. »Nun«, antwortete der Schamane langsam, »die Grube des Untergangs ist ein besonders grausames Schauspiel, dem ich selbst – bevor ich aus Ergebenheit gegenüber dem Nachtmeister nach Karthay ging – immer gern zugeschaut habe.«

»Die Grube des Untergangs?« sinnierte der Kender. Tolpan gefiel der Klang.

»Ein Todestanz um höllische Löcher mit feuriger Flüssigkeit«, erläuterte der Minotaurenschamane kurz. »Eine Einrichtung, die um so demütigender ist, weil sie zur Unterhaltung von Horden von Zuschauern aufgeführt wird, die von einer Galerie aus zusehen.«

Tolpan riß die Augen auf. »Die Grube des Untergangs!« schrie er höhnisch. »Das ist es! Das ist die Strafe, die ich diesem arroganten Solamnier verpassen würde!«

»Das einzige Problem ist allerdings«, grollte Fesz, »daß wir innerhalb von drei Tagen in Karthay sein müssen.«

»Drei Tage!« wiederholte Tolpan laut, wobei er jedes Wort deutlich betonte. »Warum können wir den alten Sturm dann nicht morgen früh in die Grube des Untergangs stecken und mittags die Segel setzen?«

»Es spricht nichts dagegen«, stimmte Fesz zu. »Aber wir müssen rasch alle Vorbereitungen treffen.«

»Gut«, sagte der Kender. »Ich würde es als persönliches Privileg ansehen, Zeuge zu werden, wie Sturm bekommt, was er verdient. Außerdem bin ich unendlich neugierig auf Gruben aller Art, ob des Untergangs oder einfach – «

Fesz hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.

Nach einem bedauernden, letzten Blick auf den Kyrie und einem hastigen Blick zur Decke eilte Tolpan dem Schamanen nach.

Der gebrochene Mann zuckte.

Dogz schnaubte.

Als Tolpan an dem Minotaurenwächter vorbeikam, blieb er stehen, um ihm einen festen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen.Am nächsten Morgen drängten sich hundert Stiermenschen in der kleinen, halbkreisförmigen Galerie an der einen Seite der Grube des Schicksals.

Schnaubend und stampfend zeigte das Minotaurenpublikum seine Ungeduld, während es auf die Ankunft der Beamten wartete, ohne die der Kampf auf Leben und Tod – zwischen dem hiesigen Champion, einem gnadenlosen Stiermann namens Tossak, und dem gefangenen Menschen, Sturm Feuerklinge – nicht beginnen durfte.

In einer zeremoniellen Prozession begleiteten ein Dutzend Beamte und der Gefängnisleiter Dogz, Tolpan und Fesz beim Betreten der Arena. Sie nahmen in einem abgetrennten Teil der Galerie Platz. Die Zuschauer verrenkten sich die Hälse, um den ungewöhnlichen Anblick eines Kenders nicht zu versäumen. Wie es dem Anlaß gebührte, saß Tolpan kerzengerade und schaute so finster drein, wie er konnte.

Der böse Kender Tolpan Barfuß hatte den Vorschlag gemacht, Sturm am Abend zuvor mitzuteilen, daß er sich am anderen Tag einem tödlichen Zweikampf zu stellen hatte. Er hatte die Ankündigung ohne Regung hingenommen.

Immerhin wurden seine Fesseln gelöst, und er bekam allerbeste Verpflegung und eine Matte zum Schlafen. Die Minotauren sagten ihm zu, daß er mit der Waffe seiner Wahl kämpfen dürfte. Nachdem er sich die Waffen angesehen hatte, die sie ihm zeigten, wählte Sturm ein langes, dünnes, zweischneidiges Schwert mit schön gearbeitetem Griff. Was immer auch in dem kommenden Kampf geschah, Sturm schwor sich, daß er eine gute Figur machen wollte.

Zerschlagen von der Folter und erschöpft von der Gefangenschaft, versuchte der junge Solamnier, die ganze Situation zu begreifen. Er versuchte zu begreifen, warum Tolpan mit diesen Minotauren gemeinsame Sache machte. Konnte es möglich sein, daß der Kender wirklich mit ihnen im Bunde war? Obwohl er so geschwächt war, lag Sturm die halbe Nacht grübelnd wach, ohne zu einem klaren Ergebnis zu kommen.

Am Morgen fuhr seine Hand gewohnheitsmäßig an seinen Schnurrbart, um nachdenklich daran zu zupfen. Der Solamnier fühlte nur dünne Luft. Betreten rieb sich Sturm die Wange, denn er erinnerte sich an den Hohn des Kenders, als dieser dem jungen Mann den halben Schnurrbart abgeschnitten hatte. Sturm wurde rot. Er war plötzlich sehr wütend, was seine Entschlossenheit zu kämpfen – und gut zu kämpfen – verstärkte.

Innerhalb einer Stunde stand Sturm am Ende eines Tunnels. Er hatte sein Schwert fest in der Hand. Auf ein Signal des Minotaurenwärters lief er den engen Gang entlang. Als er zum Eingang der Grube kam, fühlte er den ersten Schwall warmer Luft.

Beim Betreten des Schauplatzes sah Sturm das, was der Wärter als Grube des Untergangs umschrieben hatte. Es war eine große Senke, die von einer Art unterirdischer Wärmequelle erhitzt wurde. Die unterirdische Lava war am Grund der Schale an die Oberfläche durchgebrochen. Dort brodelte die siedende Lava und rülpste gelegentlich große Blasen sengend heißer Gase aus. Inseln aus schwarzem Gestein ragten aus der feurig heißen Flüssigkeit heraus. Sie waren durch Brücken miteinander verbunden, die sich hoch über die Lavagrube wölbten. Jeder Absturz würde den sicheren Tod bedeuten.

Die Hitze, die von der Lava ausging, versengte Sturm die Haut. Als er sich in der Grube umsah, mußte er gegen die Helligkeit und die durchdringende Hitze die Augen beschirmen.

Er musterte die Menge auf der Galerie auf der anderen Seite der Grube und sah keinen Tolpan zwischen den Minotauren. Das höhnische Geschrei setzte seinen Ohren zu, während der Gestank der Minotaurenmenge seine Nase überwältigte.

Direkt gegenüber von Sturm führte ein weiterer Tunnel in die Arena, dessen Eingang im Schatten lag. Sturm sah, wie eine gehörnte Gestalt in der Finsternis aufragte, die Öffnung erfüllte und dann ins Freie trat.

Sturm schätzte die Größe seines Gegners auf mindestens zwei Meter. Seine Hörner, die seiner Größe einen weiteren halben Meter hinzufügten, waren glänzend gewachst.

Weißblondes Haar strömte bis auf seine Schultern herab und dicker Pelz bedeckte die sichtbaren Stellen seiner Haut. Ein Ohr war von zwei großen Ringen durchbohrt, und die massige Brust bestand nur aus Muskeln.

In einer Hand trug er einen Mandoll – einen eisernen Handschuh der einzigartigen Machart, welche die Minotaurenchampions liebten, mit Stacheln an den Knöcheln und einer Dolchklinge an der Rückseite des Daumens. Die andere Hand umklammerte einen Clabbard mit scharfem Sägerand.

»Tossak! Tossak! Tossak!« stimmte die Menge an.

»Sturm! Sturm! Sturm!« quiekte eine Stimme, deren hohe Tonlage sie von der Minotaurenmenge abhob. Sturm erkannte sie als Tolpans.

Tossak begrüßte die Menge mit arrogantem Nicken. Dann warf der riesige Minotaurus einen wütenden Blick auf Sturm, blähte seine viehische Schnauze auf und stieß eine wilde Herausforderung aus.

Mit einer Schnelligkeit und Behendigkeit, die den Solamnier überraschte, stürmte Tossak auf ihn zu. Geschickt sprang er von einer schwarzen Felsinsel zur anderen, bis er an der Brücke war, die zu Sturm hinüberführte.

Wieder brüllte der Minotaurus seine Herausforderung und fuchtelte dabei zum Nachdruck mit seinem Clabbard in der Luft herum.

»Tossak! Tossak! Tossak!« rief die Menge.

Sturm wurde schwindelig. Das alles, die brüllende Hitze, die tobende Menge und der bellende Minotaurus brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Sturm schüttelte den Kopf, um klar zu werden. Dann überraschte der Solamnier jedermann damit, wie schnell er sich bewegen konnte – von Tossak fort.

Mit einem weiten Sprung über eine Felsinsel gelangte Sturm auf eine andere Brücke, wo er Tossak gut im Blick hatte, vor einem unmittelbaren Angriff jedoch in Sicherheit war. Ritterliche Grundsätze umfaßten auch die Vorsicht, schärfte sich Sturm ein, und in diesem Fall erkaufte er sich Zeit, in der er herausfinden konnte, wie er den riesigen Tiermenschen am besten bekämpfen konnte.

Beim Rückzug des Menschen schnaubte Tossak wütend und scharrte mit seinen gespaltenen Hufen im Boden.

»Sturm! Sturm! Sturm!« feuerte Tolpan an.

Sturm riskierte einen Blick auf die Menge. Dort, fast in der Mitte der Menge, saß der Kender zwischen zwei Minotauren eingezwängt. Einer davon war der, mit dem er Tolpan am Vortag gesehen hatte, der Schamane mit seinen Pelzen und Federn.

Tolpan winkte Sturm fröhlich zu.

Noch ehe Sturm wieder auf die Arena achtete, stürmte Tossak los. Wieder sprang er über die dunklen Gesteinsinseln, wobei er die Hitze in der Grube, die Sturms Augen verbrannte, nicht wahrzunehmen schien.

Wieder machte der Stiermann kurz vor Sturm auf der anderen Seite der Brücke halt. Wieder brüllte er seine Herausforderung.

Und abermals drehte sich der Solamnier um und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon. Er sprang über die Inseln und rannte über Brücken, bis er so weit wie möglich von Tossak entfernt war, ohne die Arena zu verlassen.

Die Hitze zehrte an Sturm. Der schweißgebadete Solamnier mußte sich zwingen, aufmerksam zu bleiben. Unter ihm blubberte am Grund der Grube die heiße Lava.

»Tossak! Tossak! Tossak!«

»Sturm! Sturm! Sturm!«

Inzwischen war Tossak davon überzeugt, daß sein Gegner ein Feigling war. Der Minotaurenchampion verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern, was ihm weiteren Jubel von der Menge einbrachte. Er drehte sich um und schlenderte in Sturms Richtung. Diesmal ließ er sich Zeit bei der Überquerung der Inseln und Brücken, bis er auf Waffenlänge von dem Solamnier entfernt an einer kurzen Steinbrücke stand.

Wieder schwang Tossak seine Waffe in der Luft, schrie und gestikulierte.

Die Menge brach in tosenden Jubel aus…

…worauf Sturm über die Brücke angriff. Das Schwert hielt er ausgestreckt vor sich, so daß es auf den Minotaurus zeigte.

Sturm konnte nichts anderes denken als, wie langsam seine Beine sich zu bewegen schienen, wie schwer das Schwert in seinen Händen lag, wie bald nichts mehr eine Rolle spielen würde, weil er tot sein würde. Der Solamnier war nicht gerade in der besten Verfassung, einen Minotauren auf Leben und Tod zu bekämpfen. Nachdem er die Tage im Meer gerade so überlebt und weitere Tage rauher Behandlung im Gefängnis von Atossa verbracht hatte, kam sich Sturm vor, als würde er durch einen von Schlingpflanzen durchwucherten See waten.

Im Augenblick jedoch war er im Vorteil. Da Tossak den Angriff nicht erwartete, weil er vom Gebrüll der Menge abgelenkt war, und gar nicht recht glauben konnte, was Sturm nach seiner vorherigen, scheinbaren Feigheit da tat, reagierte er erst im allerletzten Moment auf seinen Gegner.

Dann schwang der Minotaurus fast reflexartig die Hand mit dem Handschuh und fing Sturms Schlag ab. Der Klang von Sturms Schwert, das auf den eisernen Handschuh traf, hallte durch die Arena. Die Waffe des Ritters fiel zu Boden und rutschte über die Brücke, um zitternd am Rand liegenzubleiben.

Sturm warf sich hinterher, während Tossak ihn nun ernstlich verfolgte. Sturm ergriff das Schwert gerade noch rechtzeitig, um es hochzuschwingen und eine Hüfte von Tossak aufzuschlitzen.

Der Minotaurus schrie vor Wut auf und wich zurück, allerdings nur kurz. Dann stürmte Tossak vor und packte mit seinem Handschuh Sturms Schwert, entriß es dem Griff des Solamniers und warf es über die Seite der Brücke in die Grube, wo es in die feurige Flüssigkeit sank.

Die Menge jubelte zufrieden.

Tossak wischte Blut von seinem Bein und leckte daran, während er Sturm im Auge behielt. Dann näherte er sich dem Solamnier und schwang dabei seinen schweren Clabbard. Sturm kroch eilig vom Rand der Brücke weg. Verzweifelt suchte er einen Ausweg.

Der Minotaurenchampion schwang seinen Clabbard in einem knappen Halbkreis und kam nur wenige Fingerbreit neben Sturms Stirn herunter. Als Tossak wieder ausholte, duckte Sturm sich zur Seite und griff dann von unten so an, daß Tossak auf die Brücke fiel und seinen Clabbard losließ. Bevor der mehr erstaunte als verletzte Tossak reagieren konnte, war es dem Solamnier gelungen, die Waffe über die Seite der Brücke zu treten, wo sie in die Feuergrube rutschte.

Die Menge knurrte vor Aufregung.

Tossak sprang auf die Beine. Er heulte vor Wut und Demütigung, als er auf Sturm zustampfte, der fast taumelnd zurückwich.

Ein schwerer Schlag traf den Solamnier ins Gesicht und schlug ihn nieder. Ein Tritt ließ ihn wegrollen. Er fing sich gerade rechtzeitig am Rand der Brücke ab. Sturm versuchte, wieder aufzustehen, doch Tossak war genau neben ihm. Der Minotaurus schloß seine schwere Hand um einen von Sturms Knöcheln und hob ihn derart hoch, daß der junge Solamnier über den Rand der Lavagrube baumelte.

Während Sturm sich vergeblich wand und mit den Armen fuchtelte, sah er unten nichts als wogende Lava.

Glühende Hitze umfing Sturm.

Tossak hob triumphierend den Kopf, als er seine baumelnde Beute der Menge vorführte. Sein Tiergesicht sprang zu einem höhnischen Grinsen auf. Er holte tief Luft und stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus.

Die Menge brüllte zurück.

Der Minotaurenkämpfer hob die Hand mit dem Handschuh und löste den Dolch aus, der an der Rückseite seines Daumens verborgen lag. Die scharfe, gekrümmte Klinge schnappte auf. Tossak schickte sich an, dem Leben seines unfähigen Gegners mit einem letzten Stich ein Ende zu setzen.

Tolpan hatte das Duell voller Faszination beobachtet. Aber etwas fehlte bei der ganzen Sache, fand er, etwas, das die ungleiche Chancenverteilung wettmachen würde. Der Kender rutschte auf seinem Platz hin und her und erwartete ungeduldig eine unerwartete Wendung.

Tossak hielt Sturm mit einer Hand hoch und ließ ihn über den Rand der Brücke baumeln. Gleich würde er ihn fallen lassen. Als der riesige Minotaurus die tödliche Klinge am Daumen seines Mandollhandschuhs öffnete und der Menge zu verstehen gab, daß Sturm dem Tode nahe war, bemerkte Tolpan einige Schatten, die über die Arena flogen.

Der Rest der Menge bemerkte sie zur selben Zeit.

Auch Tossak.Eine exakt gezielte, gekrümmte Keule traf Tossak auf den Arm, der Sturm hielt, während eine zweite, diesmal dornenbespickte, ihm ins Gesicht geschlagen wurde.

Um an seine frischen Wunden zu greifen, ließ Tossak Sturm los.

Sturm stürzte auf die glühende Lava zu. Doch eine Gestalt sauste unter ihn und fing ihn auf. Der benommene Solamnier spürte, wie er aufwärts getragen wurde.

Überall herrschte Chaos, die Minotauren waren außer sich.

Fesz, der mit offenem Mund dastand, war zutiefst erschüttert. Das konnte nur ein böses Omen sein, diese zweite Flucht eines Menschen, und diesmal so kurz vor dem Zeitpunkt, den der Nachtmeister für das Kommen von Sargonnas angesetzt hatte.

Tolpan hüpfte herum. Ihm gingen fast die Augen über angesichts dieses Spektakels. »Da ist er!« rief er Dogz und Fesz zu und zeigte auf eine starke Gestalt mit langen, braunen Haaren, die in den Klauen des einen Kyrie hing. »Das ist der Kerl, von dem ich euch erzählt habe – das ist Caramon!«

Eine Minotaurenwache rannte auf die Angreifer zu und schwang mit beiden Händen einen Dreizack in einem weiten Kreis in der Hoffnung, einen der verhaßten Vogelmenschen zu treffen.

Zwei Dornenkeulen trafen ihn gleichzeitig. Der Minotaurus stürzte und sank mit einem entsetzlichen Schrei in die Lavagrube, während die Vogelmenschen aus der Arena brausten und zum Himmel aufstiegen.

Blut strömte aus den Wunden, die für immer Narben auf Tossaks Gesicht hinterlassen würden. Der Minotaurus stand auf der Brücke und schüttelte die Faust mit dem Handschuh gegen den Himmel.Der Nachtmeister auf Karthay machte sich wegen der wachsenden Anzahl unheilverkündender Vorzeichen allmählich Gedanken.

Er hatte bereits entschieden, daß es Zeitverschwendung wäre, die Menschenfrau zu foltern. Außerdem lag ihm gar nicht so viel daran, sie zu quälen.

Er hatte viel wichtigere Pläne mit ihr. Sie würde als Köder für die anderen Menschen dienen, die in der Gegend gesichtet worden waren. Wenn das nicht klappte, würde sie bei dem Spruch für Sargonnas von Nutzen sein – als Blutopfer.

Die junge Frau hatte ihnen wirklich zu schaffen gemacht, seit beobachtet worden war, wie sie um das Lager des Nachtmeisters in den vulkanischen Ruinen der einst berühmten Stadt Karthay herumschlich.

Obwohl sie höchstens halb so groß war wie ein durchschnittlicher Minotaurus, hatte sich die Menschenfrau nicht schlecht geschlagen. Einem Minotaurus hatte sie mit dem Schwert den Hals durchbohrt, und einem anderen hatte sie die Hand abgeschlagen, bevor sie gefaßt worden war. Nachdem die schlanke, dunkelhaarige, laut fluchende Frau ins Lager geschleppt worden war, hatte sie sich geweigert, dem Nachtmeister auch nur das Geringste über sich oder ihr Vorhaben zu verraten.

Erst durch sein ausgezeichnetes Spionagenetz fand der Nachtmeister heraus, daß sie die Halbschwester des jungen Magiers Raistlin aus Solace war – Kitiara Uth Matar. Und wenn Kitiara auf Karthay war, würde Raistlin Majere auch bald kommen.

Kitiara wurde in Sichtweite des Lagers in einer Art Zelle festgehalten, einem großen Käfig aus Holzlatten, den die Minotauren aus Lacynos für Tiere hergebracht hatten. Zunächst war sie unendlich lästig gewesen, denn sie fauchte und spuckte dauernd die Minotauren an, die bei ihr Wache hielten. Jetzt hatte der Nachtmeister Kitiara mehrere Tage hungern lassen, worauf sie sich allmählich etwas beruhigte.

Es war nicht Kitiara Uth Matar, die dem Nachtmeister Sorgen machte.

Es war das Gefühl – wie ein Stein in seinem Herzen –, daß etwas gewaltig schieflief. Zuerst waren da der Kender und seine beiden menschlichen Begleiter, die das Jalopwurzpulver von dem Verräter Argotz gekauft hatten. Mit Argotz hatte er abgerechnet, und der Kender war gefangengenommen und in einen Verbündeten verwandelt worden. Fesz verbürgte sich für die Ergebenheit von Tolpan Barfuß und war mit ihm auf dem Weg nach Karthay.

Die beiden Menschen hätten im Blutmeer ertrinken müssen, hatten jedoch irgendwie überlebt und waren im Gefängnis von Atossa aufgetaucht. Unglücklicherweise hatte der Nachtmeister davon zu spät erfahren. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise, die die Gefängnisbeamten noch immer nicht durchschauten, war einem der Menschen die Flucht geglückt. Das war Raistlins Zwillingsbruder, Caramon. Das allein war schlimm genug.

Jetzt kam die Nachricht, daß auch der andere Mensch entkommen war – auf erstaunliche Art. Nachdem der Möchte-Gern-Ritter von Solamnia zum Tod in der Grube des Untergangs verurteilt worden war, hatten die Kyrie diesen Sturm Feuerklinge im letzten Moment durch einen Luftangriff gerettet. Trotz aller Bemühungen der minotaurischen Soldaten waren die Kyrie nach Norden geflohen, in ihren verborgenen Schlupfwinkel in den Bergen.

Die Nachricht von Fesz besagte, daß der böse Kender, Tolpan Barfuß, schwor, er hätte gesehen, daß Caramon Majere die waghalsige Rettungsaktion bei Tageslicht befehligt hatte.

Die beiden Menschen, Caramon und Sturm, mußten eine Art Bündnis mit den Vogelmenschen geschlossen haben, den erklärten Feinden der Minotauren.

Das war wirklich beunruhigend, wie der Nachtmeister fand.

Auch dem Obersten Kreis wurde bei den Berichten von diesen Geschehnissen unwohl. Dazu kam, daß sich die Orughi zierten, große Truppen dem Kommando der Minotauren zu unterstellen. Die Ogerstämme hatten geradeheraus gesagt, daß sie nicht an dem Versuch der Versklavung der Welt teilnehmen würden, bis sie den Beweis für die Existenz von Sargonnas gesehen hatten.

Auch auf andere Partner konnte er sich nicht mehr richtig verlassen.

Der Nachtmeister bückte sich und ließ graue Vulkanasche durch seine Finger rieseln. Er war von einer eingeäscherten Stadt umgeben, deren Treppen nirgendwo hinführten, deren Säulen nichts mehr trugen. Ein langer Tisch und ein Stuhl standen am flackernden Feuer. Ein Regal enthielt Bücher, aber auch Becher mit Spruchingredienzien.

Das Zimmer war eher eine Ansammlung von Möbeln als ein Zimmer, denn es hatte weder Wände noch Türen noch eine Decke. Es lag offen unter dem schwarzen, abweisenden Himmel in der Mitte der Ruinen.

Dieser Teil der alten Stadt war einst der Eingang zur großen Bibliothek gewesen. Jetzt war es nichts als kaltes, vulkanisches Gestein.

Der Nachtwind zog durch die Federn und Glöckchen des Nachtmeisters. Er warf einen Blick auf die Menschenfrau in ihrem Holzverschlag. Obwohl Kitiara tagelang nichts gegessen hatte, war sie voller Energie und lief ruhelos in ihrem Gefängnis umher.

Der Nachtmeister sah zu seinen höchsten Akolythen hinüber, den zwei Mitgliedern der Hohen Drei, die hiergeblieben waren, als Fesz nach Mithas abgereist war. Sie drängten sich aneinander und schliefen, nur durch eine Decke geschützt, im Sitzen.

Minotaurensoldaten patrouillierten um das Lager herum.

Seufzend blickte der Nachtmeister zum Himmel, auf die Monde und die Sterne.

Noch drei Tage, zwei Nächte.

Es waren nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung. Noch ein paar Stunden eisiger Kälte, bis nach Sonnenaufgang die gnadenlose Hitze wiederkehren würde. Der Nachtmeister machte sich Sorgen, doch er vertraute weiter auf Sargonnas. Nachdem er sich in seinen Mantel gewickelt hatte, legte sich der Nachtmeister auf den kalten Boden und schlief sofort fest ein.

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