1 Verschwunden

Tolpan Barfuß war allein. Nachdem er fürs erste alles erkundet hatte, was es auf einem mittelgroßen Schiff wie der Venora zu erkunden gab, hatte sich der Kender in die Kabine zurückgezogen, die er mit Sturm Feuerklinge und Caramon Majere teilte. Dabei entging ihm nicht, daß sein Verschwinden dem Kapitän irgendwie gefiel, dessen laute Flüche und Drohungen ihn bis unter Deck verfolgten. Und das, nachdem Tolpan sich so viel Mühe gegeben hatte, beim Hissen des Hauptsegels behilflich zu sein!

In der Kabine, die eigentlich nur ein schmaler Raum mit drei übereinander stehenden Kojen war, setzte sich Tolpan im Schneidersitz auf den Boden. Mit wippendem Haarknoten wühlte er sein Gepäck und die unzähligen Beutel durch, die er stets bei sich trug, und untersuchte ihren Inhalt, als hätte er ihn noch nie zuvor betrachtet. Sein anpassungsfähiges Gedächtnis versicherte ihm, daß es sich ausschließlich um »Fundsachen« handelte, obwohl er in den meisten Fällen vergessen hatte, wie und wo er sie eigentlich gefunden hatte.

Um ihn herum lagen alle möglichen Sachen ausgebreitet – ein kleines Einhorn aus Porzellan, eine leuchtend bunte Feder, glitzernde Steine und Schmuckstücke, ein knorriges Stück Ast, ein aufgerolltes und verschnürtes Pergament, eine hölzerne Flöte, vergilbte Karten, Lieblingsknöpfe, das bräunliche Abzeichen eines Waldläufers, ein Stück Haut mit strähnigen, grauen Haaren, das Tolpan hegte und pflegte, denn er schwor jeden Eid, daß es ein Andenken an seine phantastische Begegnung mit dem großen, seltenen Wollmammut war…

Ein verschrumpeltes Ding fand er besonders interessant. Tolpan untersuchte es im schwachen Licht der Öllampe, die auf einem grobgezimmerten Brett stand, das unter dem einzigen Bullauge der Kabine an die Wand geschraubt war.

»Hm… das kenn’ ich gar nicht!« grübelte Tolpan, der sein schrumpliges Besitztum betrachtete. »Sieht mir aus wie ein Ogerohr, auch wenn ich mich nicht daran erinnern könnte, eins abgeschnitten zu haben. Ein Ogerohr. Vielleicht hat Flint es mir gegeben, auch wenn ich mich nicht daran erinnern könnte, daß der je einem Oger das Ohr abgeschnitten hat. Ich weiß, daß er einmal einem Oger den Fuß abgehackt hat, aber das ist was anderes.« Er blinzelte das Ding an, ohne sich entscheiden zu können. »Nein, eindeutig ein Ohr.«

Schulterzuckend legte er das Ohr wieder hin und sah weiter seine geliebten Habseligkeiten durch. Ursprünglich hatte er etwas ganz Bestimmtes gesucht, das jetzt offenbar in Gefahr geriet, vergessen zu werden, weil dieser oder jener glitzernde Tand den Kender von seiner Suche ablenkte. Schließlich ging ein entzücktes Lächeln über Tolpans Gesicht, als ihm sein anfänglicher Wunsch wieder einfiel und er nach einer gewöhnlich aussehenden, grünen Glasflasche griff. Sie war klein und rund und hatte einen langen Hals.

»Aha!« rief Tolpan befriedigt aus. Nach kurzer Untersuchung stellte er die Flasche neben die Lampe auf das Brett. Im Lampenschein wirkte sie irgendwie ungewöhnlicher, denn sie glitzerte in allen Regenbogenfarben. Eine Schreibfeder und ein Stück grobes Pergament lagen bereits auf dem Regal, das niedrig und breit genug war, um als Schreibtisch zu dienen.

Voller Stolz auf seine ausgesprochen gute Ordnung ging Tolpan daran, seine Schätze aufzusammeln, um sie wieder in seine diversen Beutel und den Rucksack zu stecken. Er nahm sich fest vor, sich an einem der nächsten Tage hinzusetzen und all seine kostbaren Besitztümer sorgfältig durchzusehen.Oben an Deck saß hinten am Heck Caramon Majere im Schneidersitz zwischen ein paar rauhbeinigen Seeleuten. Überall wo Caramon hinkam, fand er bald Freunde. Er, Sturm und Tolpan hatten die Passage auf der Schaluppe schon vor einigen Tagen gebucht. Obwohl die Venora erst vor zwei Tagen von Osthafen nach Abanasinia in See gestochen war, war Caramon bereits mit jedem an Bord per du, einschließlich des Kapitäns, den er Jhani Murloch nennen durfte. Jetzt, unter dem Himmel des frühen Abends, genoß die schmuddelige Gruppe an Deck das Gefühl zünftiger Kameradschaft und einen Krug Met, der die Runde machte. Die Dämmerung nahte, aber noch erfüllte die untergehende Sonne den Himmel mit hellem, orangerotem Licht. Keine Wolke verdarb den Anblick. Ein leichter Wind hielt die Schaluppe beständig in Bewegung. Keiner der versammelten Matrosen war für die Nachtwache eingeteilt. Sie schienen sich um Caramon zu scharen, weil seine gute Laune und seine Lebensfreude sie anzogen. So lockten sie den muskulösen, jungen Mann weiter aus der Reserve, als der mit seinen zahllosen weiblichen Eroberungen prahlte.

»Kargod hat die besten Frauen von allen Häfen auf Krynn«, versicherte gerade ein vierschrötiger Seemann mit Schnurrbart.

»Sie sind sehr stattlich, das stimmt«, gab einer seiner Gefährten zurück, der blinzelnd die Augen zusammenkniff. Er stieß ein verächtliches Lachen aus. »Ich hab’ sie lieber schlank und lebhaft, und dann ist man in Treibgut besser bedient.«

»Ravinia werd’ ich nie vergessen«, sann Caramon, der vom Trinken bereits eine sehnsüchtige Stimme bekam. Die Seefahrer schienen bei seinen Worten aufzumerken. »Kennt ihr das Schankmädchen Ravinia aus Osthafen?« Einer der Männer grunzte bestätigend. »Mit ihren Küssen hat sie gegeizt«, beklagte sich Caramon, um dann eine effektvolle Pause einzulegen. »Aber mit meinen war ich großzügig!«

Brüllendes Gelächter erhob sich auf diese Bemerkung hin. Caramon warf den Kopf zurück und stimmte mit ein. Er lachte so sehr, daß ihm die Tränen aus den Augenwinkeln liefen. Man reichte ihm den Metkrug, und er nahm einen tiefen Schluck, bevor er ihn weiterreichte. Der Krug machte unter den übrigen sechs überraschend schnell die Runde und landete wieder in Caramons Händen.

Erfreut über den Eindruck, den er schinden konnte, strich sich Caramon die goldbraunen Haare aus den Augen und nahm einen weiteren, tiefen Schluck. Ihm war gar nicht aufgefallen, daß er schon eine Weile der einzige war, der aus dem Krug trank.

Sturm Feuerklinge, der oben auf dem Vordeck stand, beachtete das dröhnende Gelächter kaum. Mit gefalteten Händen lehnte der junge Mann, der unbedingt Ritter von Solamnia werden wollte, gedankenverloren über der seitlichen Reling des Schiffes und starrte ins dunkler werdende Wasser. In Sturms klaren, braunen Augen spiegelte sich kein Licht.

Lange Minuten verharrte er fast regungslos. Man hätte ihn mit einer Statue verwechseln können. Als ungeselligster der drei Kameraden an Bord der Venora behielt Sturm seine Gedanken in einer Weise für sich, die man hätte für arrogant halten können – was nicht nur einmal auch geschehen war. Doch im abendlichen Zwielicht wirkte das einsame Profil von Sturm weniger arrogant als abwesend, fremd nicht nur gegenüber Unbekannten, sondern auch gegenüber seinen Freunden.

Seit die Reise begonnen hatte, brütete er nur noch vor sich hin. Sturms Leben hatte einst auf einem Schiff eine dramatische Wende erfahren. Als Kinder waren er, seine Mutter und ihr Gefolge aus dem alten Schloß der Familie in Solamnia geflohen. Seinen Vater hatten sie zurückgelassen, denn er sollte mit der wütenden Bevölkerung fertigwerden, die sich gegen die Ritterschaft erhoben hatte.

Obwohl er damals so jung gewesen war, daß er sich kaum noch an die Geschichte erinnerte, war diese Erfahrung deutlich in sein Bewußtsein eingeprägt, denn seine Mutter hatte die Geschichte immer wieder erzählt. Das Bild seines Vaters, der sie – wenn auch um ihrer eigenen Sicherheit willen – von ihrem Zuhause fortschickte, war seiner Seele für immer eingebrannt. Schon früh hatte Sturm gelernt, welchen schmerzvollen Preis die Ehre fordern konnte. Heutzutage war der Orden der Solamnier nur bei wenigen hoch angesehen, doch Sturm wollte unbedingt den edlen Idealen seines Vaters entsprechen und Eid und Maßstab befolgen.

Wie ein Widerschein seiner düsteren Gedanken türmte sich am Horizont ein Wolkenberg auf. Scharfer, kalter Wind kam auf, der Sturm aus seinen Gedanken riß. Er bemerkte die Wolkenmasse augenblicklich, jedoch ohne ihr besonderes Interesse zu schenken. Unbeteiligt wie ein Kind stellte er vielmehr fest, daß sie aussah wie ein großes, fliegendes Wesen mit ausgebreiteten Flügeln und langen Klauen. Die Wolke schien das Wasser vor sich aufzuwühlen. Als er weiter in die Richtung sah, wurde Sturm bewußt, daß die Wolkenmasse sich bedrohlich auftürmte. Rasch kam sie näher und würde schon in wenigen Minuten das Schiff erreicht haben.

Sturm setzte sich in Bewegung, trat von der Reling zurück und warf einen Blick auf das hintere Deck, das immer noch vom dröhnenden Gelächter der Mannschaft widerhallte. Er mußte Kapitän Murloch finden, damit der das Schiff auf einen Sturm vorbereitete. Dann wollte er nach Caramon und Tolpan sehen.Unter Deck war Tolpan währenddessen äußerst beschäftigt gewesen, denn er hatte sorgfältig seinen magischen Brief an Raistlin Majere, Caramons Zwillingsbruder, aufgesetzt. Raistlin würde sicher begeistert sein! Tolpan hatte schon lange auf diese Gelegenheit gewartet – nun ja, wenigstens seit dem Abend, an dem sie an Bord der Venora gegangen waren, als der Inhalt eines seiner Beutel verrutscht war und die magische Flasche sich ihm in die Seite gebohrt hatte.

Erst da hatte er sich an die magische Flasche erinnert, die er vor ein paar Jahren bei einem Händler in Sanction gegen Perlen und Parfüm eingetauscht hatte. Oder vielleicht war es auch bei einer Kusine in Kenderheim gewesen. Es war schon sooo lange her.

Jedenfalls hatte man Tolpan versichert, daß er die Flasche in den weitesten Ozean schleudern konnte, damit sie irgend jemand irgendwo in Ansalon eine Botschaft übermittelte. Das war genau wie die verblüffenden Kunststücke, die immer in den Geschichten auftauchten, die sein Onkel Fallenspringer erzählt hatte, und jetzt war genau die richtige Gelegenheit, die magische Flasche auszuprobieren. Raistlin, der praktisch selbst ein Zauberer war – er hatte sich zwar noch nicht der Prüfung unterzogen, würde das jedoch schon bald tun –, machte eine so ausgefallene Möglichkeit der Verständigung bestimmt Spaß. Wer weiß? Der junge Magier würde vielleicht sogar bei dem griesgrämigen, alten Zwerg, Flint Feuerschmied, wegen Tolpans Einfallsreichtum und seiner absoluten Zuverlässigkeit ein gutes Wort für ihn einlegen.

Aber bei Raistlin mußte man äußerst genau abwägen, was man schrieb – oder sagte –, überlegte Tolpan, während er mit der Feder über dem zerknitterten Stück Pergament saß. Raistlin hatte oft schlechte Laune und war manchmal richtig grantig. Eine Nachricht in einer magischen Flasche war womöglich genau das Richtige, um ihm ein Lächeln zu entlocken – vorausgesetzt, es war eine gut geschriebene Mitteilung.

Minutenlang starrte Tolpan das unbeschriebene Blatt vor sich an. Seine Stirn war gerunzelt, der Haarknoten hielt ungewöhnlich still. Schließlich begann Tolpan zu schreiben:

Lieber Raistlin!

Ist das nicht erstaunlich? Ich schreibe dir von Bord des guten Schiffs Venora… jedenfalls war es bis jetzt ein gutes Schiff (seit zwei Tagen und zwei Nächten). Caramon ist oben…

Das strich Tolpan wieder durch.

Caramon ist auf Deck, wo er sich mit seinen neuen Freunden, den Matrosen, amüsiert, und Sturm wandert wohl auch dort herum und wälzt tiefsinnige Gedanken. Du kennst ja Sturm. Nun, ich denke, du kennst auch Caramon. Hei, Tanis!

Dieser Brief soll dir mitteilen, was geschehen ist, seit wir in Südergod angekommen sind. Wir haben die zweitägige Reise die Küste hinunter ohne Zwischenfall hinter uns gebracht. Unser kleiner Ausflug war erfolgreich. Der kräuterkundige Minotaurus, der das Jalopwurzpulver verkauft hat, das du für deine Forschungen zu dem seltenen Spruch brauchst, war genau da, wo Asa es gesagt hatte. Ich hatte diesbezüglich nie Zweifel, denn wie alle Kender kennt sich Asa bestens mit Karten aus, und im Kräutergeschäft weiß er wirklich Bescheid. Keine Sorge. Ich habe das Jalopwurzpulver sicher in einem meiner Beutel.

Dabei sprang Tolpan auf und tätschelte sicherheitshalber einen der Beutel auf der Koje, wobei seine Blicke wachsam hin und her jagten. Tolpan sah oder hörte nichts Besonderes. Seine Ohren nahmen kein anderes Geräusch wahr als das friedliche Knarren des Schiffs und das Rascheln seiner eigenen Bewegungen. Mit wiedergewonnener Sicherheit setzte er sich wieder an das improvisierte Schreibpult unter dem Bullauge und widmete sich erneut seiner magischen Botschaft.

Du hast vielleicht schon erraten, daß dies eine magische Flasche ist. Ich habe sie während der Zeit meiner Wanderlust schlau und ehrlich erworben (glaube ich), und als ich sie vor ein paar Tagen wieder entdeckt habe, dachte ich, ich könnte doch dir und Tonis und Flint einen Brief schreiben. Hei, Flint! Du hast bestimmt schon gedacht, ich hätte dich vergessen! Wenn alles gut geht, wird dieser Brief von einem braven Fischer aus dem Meer gefischt, der schlauerweise seine Bedeutung erkennt und ihn gegen eine großzügige Belohnung zu dir nach Solace bringt. Die Flasche wird ihre Botschaft nämlich – mit meiner Stimme – jedem sagen, der sie entkorkt. Kannst du dir das vorstellen? Ach, ich wette, inzwischen kannst du es.

Jedenfalls kehren wir auf dem erwähnten Schiff nach Abanasinia zurück und müßten in ein oder zwei Wochen in Solace ankommen, je nachdem, wie oft wir anhalten, um uns auszuruhen und Spaß zu haben. Und du weißt, wie oft Caramon anhalten und ausruhen und Spaß haben will, darum wird dieser Brief bestimmt früher ankommen als wir! Hier hielt Tolpan inne, um sich am Kinn zu kratzen. Das war ein guter Anfang. Er kaute auf dem Ende seiner Feder herum, bevor er sie wieder ins Tintenfaß tauchte.

Jedenfalls war die Mission ein Erfolg. Besonders Caramon hat die Stadt dort in der Nähe gefallen, Hyssop heißt sie – auch hiermit hatte Asa recht –, und Caramon hat dort einen Haufen neuer Freunde gewonnen, besonders weibliche. Sturm hat Caramon hin und wieder Gesellschaft geleistet. Sonst hat er die Docks und den Hafen von Hyssop erforscht, der viel kleiner ist als der Osthafen, aber sauber und freundlich. Sie kriegen nicht oft Besuch von weither. Ich glaube, Sturm hat die fremde Stadt Spaß gemacht, aber bei Sturm ist so was schwer zu sagen.

Ich habe mich nach Kräften bemüht, ein Auge auf die beiden zu haben, und habe auch selbst einige Erkundungsgänge unternommen. Hyssop hat viele kleine Krämerläden, aber die meisten Besitzer haben wohl noch nie einen Kender gesehen. Immer wenn ich ein Geschäft betrat, haben sie sich dermaßen aufgeregt, daß Sturm schließlich vorschlug – nein, er hat richtig darauf bestanden –, daß ich bei ihm bleibe und mich vom Marktviertel fernhalte.

Aber es gibt auch ein paar seltsame, unerklärliche Dinge, die unterwegs geschehen sind, die ich dir gerne berichten möchte. Das ist der eigentliche Sinn dieses Briefes, denn ich würde bestimmt keinen magischen Brief für eine langweilige Reise verschwenden.

Der Kräuterladen des Minotaurus war mit nichts zu vergleichen, was ich je gesehen hätte. Zunächst mal lag er in einer Höhle, und ohne Asas Karte könnte man sie niemals finden. Dazu war der kräuterkundige Minotaurus so höflich und entgegenkommend wie überhaupt möglich. Er hat auch nicht so gestunken, wie die meisten von ihnen es normalerweise tun. Sturm hat gesagt, er hätte an dem Stiermann sogar Seifenduft wahrgenommen. Sein Name ist – oder vielleicht sollte ich sagen »war«, aber damit greife ich mir selber vor – Argotz.

Das rhythmische Knarren des Schiffes veränderte sich plötzlich. Sein sanftes Schaukeln wurde durch einen plötzlichen Ruck unterbrochen. Ein Windstoß riß die Luke über dem Schreibplatz auf. Tolpan sprang auf und spähte hinaus, denn er freute sich über die Ablenkung. Gut! Ein Sturm zog auf! Tolpan hatte noch nie einen Sturm auf einem Schiff erlebt. Ganz sicher würde das faszinierend und lustig sein. Er setzte sich wieder hin und kritzelte schneller, um fertig zu werden, damit er dann an Deck gehen und den Sturm betrachten konnte.Sturm war gerade zum Hinterdeck aufgebrochen, als die ersten Hagelkörner ihn mit der Wucht tausend kleiner, gezielter Geschosse trafen. Das Deck hob sich unter seinen Füßen, und er rutschte auf den Eiskörnern aus, fand jedoch das Gleichgewicht wieder. Sturm blickte auf und sah, daß die drohende Wolkenmasse so schnell über sie gekommen war, daß der Himmel plötzlich überall schwarz war. Über ihm zuckten Blitze. Flammen züngelten auf dem Mast der Venora. Sturm hielt sich an der Reling fest, stemmte sich gegen den Wind und begann, sich zum Posten des Kapitäns im Heck zu ziehen.

Einen Augenblick später war Sturm fast geblendet von dem prasselnden Regen, der mit brutaler Kraft auf ihn eintrommelte. Als er mit einer Hand seine Augen schützte und mit der anderen die Reling umklammerte, kam Sturm kaum noch vorwärts.

Was er sah, als er das Heck erreichte, ließ es ihm flau im Magen werden. Eine Gruppe Matrosen bildete vor ihm eine Traube. Sie bemühten sich verzweifelt, ein kleines Boot in das aufgewühlte Wasser herunterzulassen. Sturm kämpfte sich zu ihnen durch. Da hob sich das Schiff, und er fiel zurück. Bis er sich mühsam wieder aufgerichtet hatte, waren das Beiboot und die Seeleute an der Seite verschwunden.

Unter Sturms erstaunten Blicken sprangen zahlreiche andere Besatzungsmitglieder der Venora von Bord, um sich zu retten. Sie hielten so etwas wie schnell erdachte Rettungswesten in den Händen. Als er die Reling erreicht hatte, über die sie gesprungen waren, spähte Sturm hinunter, konnte jedoch nichts sehen als die dunklen Wellen, die gegen das Schiff schlugen.

Daß sie einfach desertierten, zeugte von Feigheit, war aber auch eigenartig. Erwarteten die Deserteure etwa, in der rauhen See besser davonzukommen als an Bord der vom Sturm umhergeworfenen Venora? War das eine Art Meuterei? Sturm blickte zum Steuerdeck hoch, wo normalerweise Kapitän Murloch persönlich stand. Aus Sturms Verblüffung wurde Wut und Angst. Murloch war nicht da. Niemand hielt das Steuerrad, das sich drehte wie wild.

Wirklich eigenartig. Kapitän Murloch schien nicht zu den Menschen zu gehören, die ihre Pflichten vernachlässigen. Sturm hatte ihn persönlich unter den Seefahrern ausgewählt, deren Schiffe in Eastport lagen. Murlochs trauriges, faltenreiches Gesicht deutete auf Erfahrung hin. Tolpan hatte dem Kapitän den Spitznamen »Walroß« verpaßt, denn seine langen Zähne ragten bis über die Unterlippe heraus.

Ein gewaltiges Krachen ließ Sturm nach oben blicken. Mit der eigentümlichen Grazie eines Ballettänzers brach die obere Hälfte des Masts der Venora ab und kippte langsam in die aufgewühlte See. Niemand hatte daran gedacht, die Segel zu raffen, solange der Sturm nahte, und jetzt war niemand mehr da, der sich um dieses letzte Fiasko kümmern konnte.

Sturm erschrak, als ihm seine Gefährten einfielen. Er fing an, sich an der Reling entlang hinter die kleine Kajüte zu ziehen, wo er Caramon zuletzt beim Trinken mit ein paar Seeleuten gesehen hatte. Das Deck der Venora tanzte unter seinen Füßen wild auf und ab. Das Schiff drehte sich so schnell im Kreis, daß Sturm schwindelig wurde. Wind und Regen umpeitschten ihn und machten einen ohrenbetäubenden Krach.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit sprang Sturm schließlich von der Reling zu der kleinen Kajüte und zog sich daran nach hinten, wo er etwas Schutz vor dem Anprall des Sturms fand.

Entsetzt schüttelte Sturm den Kopf angesichts dieses Anblicks: Caramon lag ausgestreckt und mit verträumt geschlossenen Augen auf dem Deck. Neben ihm kullerte ein umgekippter Krug hin und her. Betrunken, dachte Sturm entnervt. Sturm hatte einen ausgesprochenen Respekt vor den Kampfkünsten und der Tapferkeit seines Freundes entwickelt, wußte aber bei sich ganz genau, daß Caramon einfach zu großmütig war, als daß man sich immer auf sein Urteil verlassen könnte. Doch dieser Fehler, zu diesem speziellen Zeitpunkt, erschien beinahe unverzeihlich. Und wo waren seine Zechkumpane? Sie hatten Caramon eindeutig im Stich gelassen.

Das Deck hob sich ruckartig unter Sturms Füßen. Er stemmte sich gegen die Seite der Kajüte, während er abschätzte, wie schwierig es sein würde, Caramon in den geringen Schutz zu zerren, den das Innere der Kajüte zu bieten hatte. Dann mußte er ihn noch wachrütteln. Danach mußte er auch noch Tolpan finden, dachte Sturm finster. Und all das in der Annahme, daß noch genug Mannschaftsmitglieder an Bord waren, um die Venora durch diesen Sturm zu bringen.

Einen Fuß gegen die Kajütwand gestemmt, beugte sich Sturm vor, um seinen Freund zu packen. Obwohl das Deck vom Regen schlüpfrig war, würde es schwierig werden, Caramons Gewicht von der Stelle zu bewegen. Erst da bemerkte Sturm, daß Caramons Waffen fehlten. Bevor er sich über diese merkwürdige Sache Gedanken machen konnte, hörte er einen leisen Schritt. Sturm sah hoch, doch es war zu spät. Der junge Solamnier spürte einen Schlag auf den Kopf. Dann kam ein Gefühl, als würde er in ein tiefes, dunkles, bodenloses Loch fallen, und dabei pfiff der Wind in seinen Ohren.Tolpan war damit beschäftigt gewesen, seinen Brief an Raistlin zu beenden. Als die immer turbulenteren Bewegungen des Schiffes die Öllampe von der Schreibtischplatte rutschen und zerbrechen ließen, war die Kabine plötzlich in Finsternis getaucht. Tolpan sah erwartungsvoll hoch. Gerade noch rechtzeitig konnte er die magische Flaschenpost festhalten, bevor sie vom Tisch rollte.

»Oh… der Sturm. Hab’ ich glatt vergessen«, murmelte der Kender in sich hinein. Schnell rollte er das Pergament zusammen und stopfte es in die Flasche. Er knipste ein Stückchen Korken ab und krümelte es hinein. Dann sah er zu, wie der Brief einen goldenen Glanz annahm, bevor er verschwand. Gemäß den Anweisungen, an die er sich erinnerte, verkorkte er rasch die Flasche und hielt sie hoch. Sie sah aus wie leer.

Auf Zehenspitzen stehend preßte Tolpan sein Gesicht an die Luke. Im schwachen Licht konnte er nicht viel mehr erkennen, als daß es wirklich ein ordentlicher Sturm war. Er öffnete das Bullauge und schmiß die Flasche mit viel Schwung in die Wogen.

Als er von dem Bullauge zurücktrat, neigte sich die Kabine in einem verrückten Winkel, und der Stuhl, auf dem Tolpan gesessen hatte, kippte gegen Tolpans Schienbeine. Lichtblitze erfüllten die Luke mit strahlend weißem Licht, verloschen jedoch fast im selben Moment, in dem sie aufgetaucht waren. Zwischen zwei Donnerschlägen hörte Tolpan etwas anderes oben auf Deck.

Im vergeblichen Versuch, seine schmerzenden Schienbeine zu vergessen, begann Tolpan, in der Kabine herumzuspringen, um seine restlichen Beutel aufzusammeln und in den Rucksack zu stecken. »Wer weiß, was bei so einem Sturm geschieht«, überlegte Tolpan laut. »Hört sich an, als ob es an Deck sogar noch aufregender ist. Sturm und Caramon müssen sich da oben prächtig amüsieren. Ich wette, sie können es gar nicht erwarten, daß ich auch endlich komme.« Er nahm sich noch Zeit, seinen Hupak, die geliebte Waffe der Kender, über den Rücken zu werfen.

Tolpan blieb an der Tür stehen und blickte noch einmal zurück. Ein neuer Blitz an der Luke blendete ihn kurzzeitig.

»Ich frage mich, ob man die magische Flaschenpost auch bei Sturm verwenden kann«, grübelte er. »Ach, was. Zu spät.« Er drehte sich wieder um und hüpfte durch den engen Gang, der von der Kabine zur Treppe führte und dann zum Deck hinauf.

Da er eine warme Begrüßung durch seine Freunde erwartet hatte, war Tolpan enttäuscht, als er niemanden entdeckte. Keine Spur von Sturm oder Caramon oder wenigstens Kapitän Murloch. Mit typischem Kendergeschick gelang es Tolpan, auf dem rollenden Deck sein Gleichgewicht zu bewahren, während er sich umsah. Offenbar war der Hauptmast gebrochen und in die See gestürzt. Die Segel, die noch am Maststumpf hingen, peitschten wild herum. Die Venora drehte sich schwindelerregend schnell. Wo waren Sturm und Caramon, ganz zu schweigen von allen anderen?

Weil er hinter sich eine Bewegung bemerkte, wirbelte Tolpan herum und stand Kapitän Murloch gegenüber… das alte Walroßgesicht. Der Kapitän grinste den Kender an, wodurch seine gelben Zähne über den Unterkiefer ragten. Urgh, dachte Tolpan. Trotz der bedrängten Lage seines Schiffes hatte der Kapitän sich seine gute Laune erhalten können.

»Hei, Kapitän Murloch«, schrie Tolpan gegen den Wind und den Regen an, der ihm ins Gesicht peitschte. »Ganz schön stürmisch hier. Ich wette, das Schiff hat wirklich zu kämpfen. Ich bleibe hier oben und helfe. Ich hab’ so etwas schon auf vielen Schiffen mitgemacht… nun ja, eigentlich, nicht allzu viele. Sieben bis neun, neben diesem hier. Aber Sturm und Caramon können auch gut mithelfen. Wißt Ihr, wo sie sind? Ein Glück, daß unser Freund Flint nicht mit ist, denn…«

Tolpan kam Kapitän Murloch ein paar Schritte näher, damit dieser ihn auch ganz sicher hören konnte. Irgendwie schien das grinsende Gesicht des Kapitäns gar nicht zu reagieren. Verwirrt und abgelenkt wie Tolpan war, entging ihm bis zuletzt, daß der Kapitän den Arm hochschwang und mit der Keule zuschlug.

»Verdammter Kender! Die schwatzen einem noch mitten in einem Hurrikan die Ohren voll«, murmelte Kapitän Murloch. Immerhin hatte die Keule des Kapitäns dem Kendergeschwätz ein Ende gesetzt. Tolpan lag bewußtlos zu Murlochs Füßen. Der Kapitän packte ihn am Haarknoten und zerrte ihn zu dem, was vom Hauptmast noch geblieben war. Unter den zerfetzten Segeln lagen die bewußtlosen Körper von Caramon und Sturm.

Kapitän Murloch zog die schlaffen Körper näher an den Mast und begann, sie genauso anzubinden, wie man es ihm gesagt hatte. Er arbeitete, so schnell es in diesem furchtbaren Sturm möglich war. Als er schließlich fertig war, blieb er einen Augenblick stehen, um seine Arbeit zu begutachten. Schwere, schwarze Wolken ballten sich oben am Himmel zusammen. Die Planken der Venora knirschten laut.

Kapitän Murloch hatte seinen Teil des Geschäfts erfüllt. Die großzügige Bezahlung, die er erhalten hatte, würde ihn reichlich dafür entschädigen, daß er sein Schiff verlor und sein Leben aufs Spiel setzte. Wie viele alte Seebären liebte Murloch sein Schiff und bedauerte den Verlust. Die Venora war ihm fast so lieb wie sein Leben.

»Tja, altes Mädchen, wir hatten eine gute Zeit«, murmelte der Kapitän und leckte sich dann die Lippen.

Murloch bückte sich und zog einen dicken Korkring aus einer Falltür am Mast. Er schlüpfte hinein und band ihn mit einem Seil am Bauch fest. Nach einem letzten Blick auf die drei bewußtlosen Körper und dann in das dunkle, aufgewühlte Wasser, kletterte er über die Reling und ließ sich in die rauhe See fallen.

Es war ihm gelungen, durch die hohen Wellen zu kraulen und mehrere hundert Fuß zwischen sich und das Schiff zu bringen, bis sich die zornige Wolke, die über der Venora lauerte, auf das Schiff herabsenkte. Dabei spie sie feurige Blitze und Hagel aus.

Dann begann die Wolke, sich mit schrecklichem, brausenden Getöse zu heben und die Venora mitzutragen. Aus der Ferne konnte Murloch kaum noch Bug und Heck seines Schiffes ausmachen, als die Venora sich wie immer schneller um sich selbst drehte und in den Wirbelsturm gesaugt wurde.Einen halben Tag später erspähte der verräterische Kapitän Murloch, der sich von der Strömung treiben ließ, in der Ferne die Küste von Abanasinia. Er war fast zu Hause.

Trotz seines Hungers und der Müdigkeit tröstete ihn die Aussicht, für den Rest des Lebens ein reicher Mann zu sein.

Von dem Rettungsring aus Kork getragen, der genau um seinen Leib reichte, begann Kapitän Murloch wieder zu schwimmen. Mit kräftigen Stößen bewegte er sich auf die Küstenlinie zu.

Ein merkwürdiges Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit nach oben. Die Sonne war so hell und heiß, daß er eine Hand an die Augen legen mußte. In der Luft schienen Punkte zu tanzen.

Plötzlich hörte Kapitän Murloch auf zu paddeln und starrte entsetzt nach oben. Was wie Punkte ausgesehen hatte, war in Wahrheit ein kegelförmiger, fliegender Insektenschwarm. Als er voller Panik hinschaute, erkannte er, daß sie über ihm flogen und sich mit ihm weiter bewegten. In diesem Moment neigte sich der Schwarm und schoß nach unten.

Es waren riesige Bienen – Hunderte, Tausende davon. Summend, tanzend, stechend. Kapitän Murloch streckte vergeblich einen Arm hoch, um sie zu verscheuchen. Der Arm war rasch mit zornigen Tieren bedeckt.

Der Schrei, der aus Kapitän Murlochs Mund drang, entsprang reiner Hilflosigkeit. Die Riesenbienen schwärmten in seinen Mund hinein, bedeckten sein Gesicht, suchten nach seinen Augen und Ohren. Sie formten einen lebenden Teppich über Kapitän Murloch, in dem sie zuckten und summten, während sie ihren tödlichen Auftrag vollbrachten.

Innerhalb von Sekunden hörte sein Herz auf zu schlagen. Die Bienen flogen zur Sonne hoch.

Das Gesicht des Kapitäns im Meer war eine rote, aufgedunsene Maske. Schwarz und aufs Fünffache ihrer normalen Größe geschwollen, hing ihm die Zunge aus dem Mund. Die Arme lagen schlaff und nutzlos im Wasser. Kapitän Jhani Murloch trieb auf die Küste zu.An einem einsamen, zerklüfteten Ort – salzverkrustetes Land, von der Sonne ausgedörrt, vom Wind ausgetrocknet, von einer ungastlichen See umgeben – beugte sich Tausende von Meilen weit fort eine breite Gestalt nach vorn, um die Zeichen aus den schimmernden Gegenständen zu lesen, die sorgsam auf dem hohen Tisch eines Felsplateaus zusammengestellt waren.

Er hatte einen halben Tag klettern müssen, um von seinem Lager im trockenen, verwüsteten Tiefland hierher zu gelangen. Dennoch nahm er diesen Aufstieg zweimal die Woche auf sich, um mit den Göttern zu sprechen – besonders mit einem von ihnen.

Die große Gestalt hob den Kopf und beobachtete, wie das Mittagslicht von dem farbigen Glas, den Prismen, den Kristallen und den silbernen Spiegelscherben zurückgeworfen wurde.

Etwas weiter entfernt standen seine drei vertrautesten und am meisten eingeweihten Adepten. Man nannte sie einfach die Hohen Drei. Der, den sie jetzt betrachteten, war einst selbst einer der Drei gewesen. Jetzt war er ihr unbestrittener Anführer. Unausweichlich würde ihm eines Tages einer von ihnen nachfolgen und die heiligen Pflichten erfüllen.

Hinter den Hohen Drei standen im Kreis zwischen geborstenen Felsen und zerklüfteten Steingebilden Dutzende niedriger Akolythen mit monströsen, verzerrten Gesichtern und brutalen, mörderischen Waffen, die in der Sonne glänzten. Ihre tierhaften Gesichter verrieten kein Gefühl; die riesigen, runden Augen starrten dumpf und wie in Trance geradeaus.

Hinter den Akolythen waren Wachen und Soldaten zu Dutzenden aufgereiht, alle ebenso loyal wie schauerlich. Sie warteten nur auf ein Zeichen ihres Anführers.

Was ihnen auch aufgetragen wurde, sie würden es tun. Sie lebten nur, um dem Nachtmeister zu dienen.

Der Nachtmeister umrundete die schimmernden Glasstücke und betrachtete dabei jedes einzelne von ihnen, weil ihn das Glimmen und Tanzen des Lichts faszinierte. Er beschattete seine dicken Brauen mit der Hand, um zur Sonne und zum vor Hitze weißen Himmel hochzusehen und sich dessen zu vergewissern, was er beobachtet und erfahren hatte.

Federn und Fell baumelten von seinem großen, gehörnten Kopf. Glöckchen klingelten bei seinen Bewegungen. In seinen riesigen Händen trug er einen langen, dünnen Weihrauchstab, der Rauch und schwindelerregend süßen Duft von sich gab. Der Nachtmeister trat von einem Teil zum anderen, um die Zeichen auszulegen.

Es mußten noch gewisse Vorkehrungen getroffen werden. Man mußte mit Renegaten und Schwarzhändlern fertig werden. Vorräte mußten verwaltet werden. Es durfte nichts schiefgehen, wenn der Spruch gesagt wurde.

Sargonnas wartete.

Der Nachtmeister blickte tief in die Lichtmuster im bunten Glas und wußte, daß es bald soweit sein würde.

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