13 Die Insel Karthay

Die beschädigte Castor war dabei, aus der Bucht in die offene See einzufahren. Während er dem Schiff von der Küste aus nachsah, zog Tanis den Sack zurecht, den er auf dem Rücken hatte. Er enthielt ein paar Vorräte, die Kapitän Nugeter ihnen überlassen hatte. Neben ihm stand Flint, der von einem Bein aufs andere trat, um dadurch sein verwundetes Bein möglichst zu entlasten, ohne daß es jemand bemerkte. Kirsig jedoch betrachtete den Zwerg besorgt.

Yuril und die anderen vier Matrosinnen von der Castor, die beschlossen hatten, daß der Dienst auf einem halben Wrack nicht nach ihrem Geschmack war, zogen gerade ihre beiden kleinen Boote den Strand hinauf. Tanis hoffte, daß sie nicht eine unangenehme Arbeit gegen eine schlimmere eingetauscht hatten.

Raistlin stand abseits von den anderen mit dem Rücken zum Meer und musterte das Gelände.

Der schmale, steinige Streifen Strand ging in niedrige Sanddünen über. Dahinter stieg das Land an und bildete ein Labyrinth aus Schluchten und Plateaus. Soweit das Auge reichte, war die Gegend kahl und wenig einladend.

Obwohl es noch Vormittag war, brannte die Sonne heiß und hell vom Himmel. Ein trockener Wind wirbelte den Sand an der Küste auf. Tanis merkte, wie der Staub in seine Kehle drang.

Eine Hand streifte den Arm des Halbelfen. Sie gehörte Raistlin. Der junge Zauberer hatte die unangenehme Angewohnheit, sich so leise zu bewegen, daß es schwer war, ihn im Auge zu behalten.

Raistlin schien von der aufgebrochenen, herben Landschaft wenig abgeschreckt zu sein. »Ich rechne mit zwei Tagesreisen ins Landesinnere, bis wir die Ruinen der alten Stadt erreichen«, sagte der Magier leise zu Tanis. »Glaubst du, daß Flints Bein mitspielt?«

»Sein Bein ist viel besser«, erwiderte Tanis. »Der alte Zwerg hält wahrscheinlich länger durch als wir alle.«

Beide Männer warfen einen Blick auf Kirsig, die sich um Flint bemühte, wohl um ihm eine Salbe für sein Bein anzubieten, während der Zwerg grummelnd versuchte, sie zu verscheuchen. Aber nicht allzu nachdrücklich, wie Tanis feststellte. Er und Raistlin grinsten sich an.

Als Tanis sich wieder umdrehte, schwand sein Anflug von guter Laune. »Raistlin, fragt sich nur: Was ist unser Ziel? Du hast uns nicht gerade viel über den Spruch erzählt, der deiner Meinung nach ein Portal öffnet, um diesen bösen Gott oder was-auch-immer in die Welt zu lassen.«

Raistlin bemerkte nicht nur die Ungeduld, sondern auch den Hauch von Skepsis in Tanis’ Stimme. »Du hast doch bestimmt im Land des Volks deiner Mutter etwas über die alten Götter gelernt«, antwortete der junge Magier, obwohl er wußte, daß jede Anspielung auf Tanis’ gemischte Herkunft den Halbelfen verletzen konnte. Raistlin sah, daß seine Worte getroffen hatten, denn Tanis stieg die Röte ins Gesicht.

»Ich kann nicht schwören, daß der Spruch, den ich entdeckt habe, ein Portal öffnet oder ob alte Götter wie Sargonnas mehr als Sagen sind«, fuhr der Zauberer schroff fort. »Ich weiß allerdings, daß es ein alter und mächtiger Zauberspruch sein müßte. Und ich weiß eines: Wenn die Möglichkeit besteht, daß Sargonnas in diese Welt eintritt, dann ist es an uns, dies um jeden Preis zu verhindern.«

»Was ist mit Sturm und Caramon und Tolpan? Sind die irgendwo auf dieser Insel?« fragte Tanis. »Sind die nicht der Grund, warum wir eine so weite Reise hinter uns haben?«

»Ich kann keinen Zauberstab schwenken, um festzustellen, ob sie hier sind oder nicht«, fauchte Raistlin, »aber du hast gehört, was Kirsig gesagt hat. Die Minotauren schließen Bündnisse mit anderen Rassen. Wenn, wie ich vermute, die Minotauren in ihrem uralten Traum befangen sind, die Welt zu erobern, und dazu Sargonnas holen wollen, damit er ihnen hilft, ist es egal, wo Caramon und die anderen sind. Wir schweben alle in höchster Gefahr.«

Raistlin hielt inne und atmete tief durch. Sichtlich ruhiger fuhr er fort: »Das Jalopwurzpulver war nur eine der benötigten Zauberzutaten. Der Zauber verlangt auch ein akzeptables Blutopfer für Sargonnas. Ich vermute, daß man Caramon, Sturm und Tolpan vielleicht deshalb in diesen Teil der Welt geschleppt hat. Einer von ihnen könnte das benötigte Opfer sein.

Wir haben wenig Zeit. Der Zauber kann nur bei bestimmten Konjunktionen von Sonne, Monden und Sternen stattfinden. Diese Konjunktionen kommen nur alle hundert Jahre einmal vor, und die nächste ist in nur drei Nächten.

Jetzt laß mich dir eine Karte zeigen, die ich aus einem alten Atlas in Morats Bibliothek abgemalt habe.«

Tanis wartete. Er war überzeugt. Mit Flint und Kirsig, die die heftige Diskussion mitangehört und sich zu ihnen gesellt hatten, betrachtete der Halbelf ein Stück Pergament, das Raistlin hervorgezogen hatte. Es war mit krakeligen Linien und geographischen Symbolen bedeckt. Yuril und die anderen Seefahrerinnen kamen eilig dazu. Alle drängten sich um den jungen Magier.

»Ich glaube, der Zauber wird irgendwo in oder bei den alten Ruinen der Stadt Karthay gesprochen werden«, sagte Raistlin. »Die Stadt wurde während der Umwälzung durch einen Vulkanausbruch zerstört und unter tonnenweise Asche und Lava begraben. Für die Minotauren ist es ein heiliger Ort.« Er zeigte auf eine Stelle der Karte, wo ein Bergzug eingezeichnet war. »Sargonnas ist der Gott der Wüsten, des Feuers und der Vulkane«, fügte er hinzu.

»Der Karte nach müßten wir eigentlich rechtzeitig ankommen, aber die Reise dürfte gefährlich werden. Jedem, dem diese Aussichten nicht zusagen, steht es frei, hierzubleiben und auf uns zu warten.« Dabei sah Raistlin auf, schaute aber nicht Flint an, sondern Yuril und ihre Matrosinnen.

Diese hatten anscheinend schon über das Risiko gesprochen. »Ich habe eine offene Schuld zu begleichen«, meinte die sehnige Yuril, »und meine Freundinnen hier ziehen nicht zum ersten Mal auf Abenteuer aus. Ich spreche für alle, wenn ich sage, daß wir unser Glück mit euch versuchen wollen.« Yuril hatte das voller Stolz gesagt. Eine Hand lag am Griff des Kurzschwerts, das an ihrer Hüfte hing. Man sah die Muskeln ihrer gebräunten Unterarme.

Wir können von Glück sagen, daß sie und die anderen dabei sind, dachte Tanis.

»Diese tote Stadt«, meldete sich Flint, »ist doch sicher gut bewacht, und Sturm und Caramon und der verwünschte Kender ebenso. Was hast du vor, wenn wir dort sind?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Raistlin. »Ich kann es erst sagen, wenn wir wissen, wie viele Soldaten das Gebiet bewachen. Gemeinsam«, fügte er mit einem Blick auf Tanis hinzu, »sollten wir einen Plan ausklügeln können.«

Tanis merkte, wie es ihm eng ums Herz wurde, weil er einmal mehr an Kitiara dachte. Er wandte sich von der Gruppe ab und tat so, als wollte er das unwirtliche Land betrachten.Sie folgten Raistlins Karte und wählten einen Pfad an einem Fluß entlang, der vor langer Zeit vom Dach der Welt zum Meer geströmt war. Jetzt war er ausgetrocknet und hatte nur aufgesprungene, von der Sonne zusammengebackene Erde zurückgelassen.

Der Flußlauf führte durch zahllose Abgründe und Schluchten bergauf und bergab. Nach Möglichkeit hielten sie sich an das staubige Flußbett. Zu anderen Zeiten folgten sie dem trockenen Fluß auf höher gelegenen Pfaden. Dann liefen sie im Gänsemarsch auf schmalen Uferwällen entlang. Den ganzen Tag behielten sie ihren Kurs bei, kamen aber durch das Hoch- und Runterklettern und die vielen Biegungen so unüberschaubar langsam voran, und Tanis fragte sich, welche Strecke sie eigentlich wirklich zurückgelegt hatten. Während sie auf einem der vielen Plateaus eine Pause einlegten, war der Halbelf froh, als er sah, wie weit das Blutmeer hinter ihnen lag, derweil ein gewaltiger Bergzug etwas nähergerückt war.

Das Land wirkte leer – frei von Bewuchs, Tieren, von allem Leben. Der starke, trockene Wind fegte über die höheren Erhebungen, blies ihnen ins Gesicht und trieb ihnen Sand in die Augen und in die Kehle. Über ihnen glühte die Sonne und verbreitete eine Hitze wie in einem Ofen, die höchstens die tiefsten Felsschluchten ausnahm. Wenn sie jedoch plötzlich bergab in kühle Schatten eintauchten, spürten sie den Hauch von etwas Schlimmerem – der bitteren Kälte des Landes bei Nacht.

Am späten Nachmittag war die kleine Gruppe erschöpft und entmutigt. Raistlin und Tanis führten die Reihe an, denn gemeinsam leiteten sie die Gruppe. Flint und Yuril bildeten die Nachhut. Schweigend durchwanderten die Gefährten den Grund einer Schlucht, waren jedoch nicht mehr so zuversichtlich, daß sie den richtigen Weg eingeschlagen hatten.

Ganz plötzlich stießen Raistlin und Tanis hinter einer Biegung auf eine glatte Felswand, die unerklimmbar vor ihnen aufragte. Rechts und links ging es senkrecht fünfzig Fuß in die Höhe. Wieder einmal hatte die Gruppe keine andere Wahl als umzukehren und in den eigenen Fußstapfen zurückzulaufen.

Bis Flint und Yuril aus der Schlucht geklettert waren und Raistlin das trockene, gewundene Flußbett unten wieder sichtete, ging bereits die Sonne unter. Tanis spürte einen ersten Kälteschauer, als Dunkelheit sich über dem Land ausbreitete. Er sah Flint auf den Boden sinken. Sein Gesicht war von Schweiß und Dreck verschmiert. Die meisten der Seefahrerinnen folgten seinem Beispiel sofort.

Raistlin warf neben ihm einen Blick auf die Karte. Er drehte das Pergament in den Händen, um irgendwie herauszufinden, welches der beste Weg war.

»Der alte Fluß teilt sich immer wieder und ändert die Richtung«, sagte der junge Magier erschöpft.

»Deine Karte muß hundert Jahre alt sein«, sagte Tanis. »Wer weiß, wie viele Erdrutsche und Erdbeben es seitdem hier gegeben hat?«

Raistlin sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich glaube nicht, daß einer von uns heute noch weiter kommt«, meinte der Halbelf leise mit einem Wink auf die Gruppe, die hinter ihnen zusammengesunken war.

»Ich habe dir gesagt«, erklärte der Zauberer scharf, »daß es schwerwiegende Folgen haben kann, wenn wir nicht innerhalb von zwei Tagen in Karthay sind.«

»Vielleicht sind die Zwillingsmonde später in der Nacht so hell, daß wir ein gutes Stück schaffen«, sagte Tanis diplomatisch. »Aber hier und jetzt wäre es das beste, wenn wir Rast machen und essen. Außerdem meine ich, ich hätte tagsüber ein paar Gruben von Ameisenlöwen gesehen, und da wollen wir doch kaum im Dunkeln hineinstolpern.«

Flint war hinter ihm aufgetaucht. »Gruben von Ameisenlöwen?« fragte der Zwerg besorgt. »Ich stimme Tanis zu. Laßt uns hier das Nachtlager aufschlagen.«

Raistlin zögerte.

»In einer der Schluchten wäre es geschützter«, fügte Flint hinzu, »aber wir wären auch leichter anzugreifen.« Tanis nickte.

Mit einem tiefen Seufzer gab Raistlin nach. Sein blasses, abgespanntes Gesicht verriet plötzlich starke Erschöpfung. Tanis war ziemlich sicher, daß der junge Zauberer nicht mehr lange durchgehalten hätte.

Jeder war froh über diese Entscheidung.

Als die Nacht hereinbrach, fiel die Temperatur immer weiter ab. Der Wind wurde bitterkalt. Sie lagerten hinter ein paar Felsen. Obwohl die Felsen gegen den beißenden Wind nur einen armseligen Schutz boten, hatten sie einen anderen Vorteil, wie Flint auffiel. »Im Dunkeln wird es jedem Angreifer schwerfallen, zu unterscheiden, was Stein ist und was lebendig«, sagte der Zwerg, »und wir werden doppelt so viele erscheinen, wie wir wirklich sind.«

Yuril meldete sich freiwillig zur abendlichen Jagd, aber Tanis schlug ihr Angebot aus. »Es ist schon zu dunkel«, erklärte Tanis. »Wenn überhaupt jemand jagen geht, dann ich, da ich nachts sehen kann. Aber selbst wenn ich etwas erlegen würde, könnten wir es nicht kochen. Raistlin und ich sind uns einig, daß wir kein Feuer machen sollten, bis wir ganz sicher sind. Auf diesem hohen Plateau wäre ein Feuer wie ein Leuchtturm.«

Die kleine Gruppe drängte sich im Windschatten der Steine zusammen. Tanis ging von einem zum anderen, um den Proviant zu verteilen, den er trug – kleine Stücke Brot, Trockenfrüchte und eine halbe Tasse Wasser für jeden. Sie waren den ganzen Tag an keinem Bach, keiner Quelle vorbeigekommen, wo Tanis seinen Wasserschlauch hätte auffüllen können. Als er bei Flint ankam, bemerkte Tanis, daß Kirsig nicht wie üblich an der Seite des Zwergs war.

»Wo ist Kirsig?« fragte der Halbelf irritiert.

»Keine Sorge«, raunzte der Zwerg. »Die ist weggehuscht, um irgendwas zu machen, nachdem du dich übers Feuer ausgelassen hast. Jetzt habe ich wenigstens mal meine Ruhe.«

Erschrocken über diese Neuigkeit blickte Tanis auf das dunkle Plateau hinaus, sah jedoch keine Spur von der Halbogerin. Trotz seiner Proteste spähte auch Flint nervös in die anbrechende Nacht. Da kam Kirsig herangetrottet. Sie hatte eine dicke Tasche dabei.

»Hallo, ihr Süßen. Ihr habt euch doch keine Sorgen um mich gemacht, oder?« fragte sie und kniff Flint in die Wange. »Ich dachte bloß, da wir nicht soviel Grünzeug dabei haben, sollte ich mal sehen, was ich ausgraben kann. Und ich hab’ gegraben!« Triumphierend hielt sie die Tasche hoch.

»Schmackwurzeln«, verkündete Kirsig. Sie streckte ihnen den Sack entgegen und bestand darauf, daß jeder etwas von seinem Inhalt nahm. Tanis griff hinein und wählte das kleinste Exemplar, das er finden konnte. Die Schmackwurzel war grün, fleischig und feucht. Von der Konsistenz her ähnelte sie einer rohen Kartoffel. Tanis knabberte an einem Ende der Wurzel.

Sie schmeckte süß und besänftigte seine Kehle beim Schlucken mit willkommener Feuchtigkeit.

»Das Beste auf der Welt, wenn man mitten in der Wüste festsitzt, sagte mein Papa immer«, schwatzte Kirsig, während sie die Schmackwurzeln verteilte.

Raistlin war gleich nach Tanis gekommen und griff zu. »Ich habe schon von Schmackwurzeln gelesen«, sagte der junge Magier, der die exotische Wurzel eifrig probierte. »Die Pflanze heißt auch Wüstenbalsam und hat schon vielen Reisenden das Leben gerettet, die in trockenen Gegenden gestrandet sind. Aber es überrascht mich, daß jemand bei Nacht welche finden und ausgraben kann.« Bei einem Blick auf Flint sah Tanis, daß der graubärtige Zwerg strahlte wie ein Lehrer, dessen Lieblingsschüler seine Sache gut gemacht hat.

Die Schmackwurzeln vertrieben fürs erste den Trübsinn, der sich bei Einbruch der Dunkelheit unter den Wanderern ausgebreitet hatte. Jeder aß sich satt, und trotzdem hatte Kirsig für den kommenden Tag noch eine Tasche übrig. Nach diesem Abendessen gingen alle daran, sich bestmöglich auf eine unruhige Nacht auf kaltem, hartem Boden vorzubereiten. Wolken zogen vor die Sterne. »Ich übernehme die erste Wache«, meldete sich Tanis freiwillig.

»Ich würde auch gern die erste Wache nehmen«, erklärte Raistlin zur Überraschung von Tanis und Flint. »Ich bin noch nicht müde genug zum Schlafen«, meinte der Magier, »und ich könnte in der Stille meine Gedanken ordnen.«

Tanis zögerte kurz. Dann zuckte er mit den Achseln. Nachdem er sich jedoch einige Minuten herumgewälzt hatte, stellte er fest, daß er ebenfalls nicht schlafen konnte. Er stützte sich auf einen Ellbogen, dann setzte er sich auf. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, so daß er mehr sehen konnte als die Auras, die seine normale Nachtsicht ihm zugestand.

Raistlin lehnte an einem Felsen und blickte in den Himmel. Die Haare fielen ihm ins Gesicht. Der junge Magier schien ganz in Gedanken zu sein.

Tanis zuckte zusammen, als ein lautes Grollen die Stille durchbrach. Dann mußte er lächeln, da es nur Flints Schnarchen war, das heute abend von Kirsigs verstärkt wurde. In den Schnarchpausen drang ein Rascheln wie von Sandpapier oder von einem kleinen Nachttier, das über den Boden huscht, an sein Ohr.

Tanis hob abrupt den Kopf. Raistlin tat dasselbe, wie er sah. Das sandpapierartige Wispern war lauter geworden, bis es nicht mehr vom Boden, sondern oben vom Himmel zu kommen schien. Tanis sah nichts, bis er ein schweres Gewicht auf seine Schultern fallen spürte. Dazu kam das Gefühl, erstickt zu werden. Er versuchte, einen Warnruf auszustoßen, doch beim Einatmen fühlte sich sein Mund so an, als wäre er voller Federn. Als er nach dem Messer an seinem Gürtel greifen wollte, merkte er, daß er die Arme nicht bewegen konnte, denn sie waren an seine Seiten gedrückt. Scharfe Krallen piekten in seinen Hals.

Erstickte Geräusche von außerhalb seines Federkokons verrieten ihm, daß die anderen in derselben prekären Lage steckten. Plötzlich erklang über seinem Kopf eine klare, melodische Stimme, die in der Gemeinsprache sagte: »Das sind keine Stiermenschen. Sie sind mehr wie du und dein Freund.«

Der Federkokon ging auf, und eine Fackel vor Tanis’ Gesicht blendete den Halbelfen kurzfristig. Tanis sah sich in einer kraftvollen Umarmung gefangen.

»Tanis, der Halbelf! Ich wußte nicht, ob ich dich je wiedersehen würde. Und Raistlin, mein Bruder!«

Jetzt war der Magier an der Reihe, sich in Caramons feste Arme schließen zu lassen.

Raistlin lächelte breit. »Wir haben erwartet, einen Gefangenen zu finden, Bruder, keinen Häscher«, meinte der junge Zauberer. »Aber wie ich Tanis schon sagte, ich habe damit gerechnet, daß wir dich irgendwie wiederfinden würden – am Leben und wohlauf.«

Die Zwillinge standen Seite an Seite. Caramon hatte seinen starken Arm um die schmalen Schultern seines Bruders gelegt. Im flackernden Licht der einzelnen Fackel staunte Tanis nicht zum ersten Mal, wie die Majerezwillinge zugleich so ähnlich und doch so verschieden sein konnten. In diesem Augenblick wurde der Unterschied von dem federbesetzten Lederriemen verstärkt, den Caramon um den Kopf trug. Dazu die Federn, die aus seinen Schultern zu sprießen schienen, aber zweifellos nur an seine Tunika genäht waren.

Als er sich im flackernden Fackelschein umsah, kam es Tanis so vor, als ob denen, die Caramon begleiteten, auch Federn wuchsen. Tanis blinzelte. Der Halbelf war sich nicht ganz sicher, aber diese großen Wesen – sie waren mindestens einen Kopf größer als Caramon, und der war schon über sechs Fuß groß – schienen statt Armen Flügel zu haben!

Flint, der zu ihm trat, blickte die Neuankömmlinge mißtrauisch an und stellte die naheliegende Frage: »Willst du uns nicht deinen Freunden vorstellen oder ihnen wenigstens sagen, daß sie uns nicht als Feinde anzusehen brauchen?« fragte der Zwerg Caramon mit einem nervösen Blick auf die gefiederten Wesen.

Caramon grinste breit. »Ich bitte um Verzeihung. Aber ihr braucht keine Angst zu haben.« Er zeigte auf das halbe Dutzend Wesen, die mit ihm eingetroffen waren – die nämlich ihn und Sturm durch die Luft getragen hatten. »Das sind meine Freunde, die Kyrie, ein edles Volk und eingeschworene Feinde der Minotauren. Sie haben Sturm und mich aus dem Kerker gerettet, als wir auf der Insel Mithas eingesperrt waren.«

Er drehte sich etwas und zeigte auf den Kyrie neben Raistlin.

»Wolkenstürmer, das sind mein Bruder Raistlin und meine Freunde, Flint Feuerschmied und Tanis, der Halbelf, aus Solace. Die Frauen kenne ich nicht«, fügte Caramon hinzu. Er warf einen kritischen Blick auf Kirsig und dann einen ausgesprochen anerkennenden Blick auf Yuril und ihre Matrosinnen. »Auch wenn ich mich darauf freue, sie kennenzulernen«, endete er mit einem deutlichen Zwinkern an die statuenhafte Yuril. Sie erwiderte die Geste nicht, kehrte sich aber auch nicht ab.

»Wo ist denn Sturm?« fragte Flint, der nicht bereit war, seine lebenslange Skepsis bezüglich merkwürdiger Rassen einfach so fallenzulassen, bloß weil Caramon es sagte. »Und, auch wenn ich gar nicht sicher bin, ob ich das wirklich wissen will, was ist mit Tolpan?«

»Ich bin hier«, kam eine rauhe Stimme von außerhalb der Reichweite der Fackel. Der Kyrie, Vogelgeist, trat beiseite, um den Blick auf Sturm freizugeben, der sich gerade aufrappelte. Zu seiner großen Beschämung war der Solamnier kurz nach der Landung der Kyrie im Lager der Freunde ohnmächtig geworden. Seit seiner Rettung aus der Grube des Untergangs waren erst eineinhalb Tage vergangen. Sturm hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich von all dem zu erholen, was er durchgemacht hatte – schiffbrüchig, eingesperrt, geschlagen und im Duell fast getötet. Er hinkte zu ihnen.

Flint starrte ihn an. In dem schwachen Licht sah Sturms Gesicht eigenartig schief aus. »Was hast du denn mit deinem Schnurrbart gemacht?« fragte der Zwerg ungläubig.

»Ach was, Schnurrbart. Siehst du denn nicht, daß es dem armen Kerl schlecht geht?« schalt Kirsig, die an Sturms Seite eilte. »Komm her, Süßer, laß mich dir helfen.«

Obwohl er viel zu wohlerzogen war, um vor dem grotesken Aussehen der Halbogerin zurückzuschrecken, sah Sturm Flint fragend an.

»Oh, keine Sorge. Die ist in Ordnung«, sagte der Zwerg schroff. »Und gar nicht so übel als Heilerin.«

Raistlin meldete sich zu Wort. »Sie ist erheblich besser als das, Sturm. Kirsig war während unserer Seereise und unserer bisherigen Wanderung unbezahlbar.« Yuril und die anderen stimmten murmelnd zu. Mit vor Freude rotem Gesicht nahm Kirsig Sturms Hand und führte ihn zu ihrem Gepäck.

»Was machst du eigentlich hier?«

Diese Frage kam Caramon und Raistlin gleichzeitig von den Lippen. Trotz der kalten Nachtluft und trotz der widrigen Umstände mußten die Zwillinge sich angrinsen.

»Ich vermute, daß wir uns lange Geschichten zu erzählen haben. Vielleicht sollten wir erst einmal Feuer machen, um beim Erzählen unsere Knochen zu wärmen«, schlug der Kyrie mit Namen Wolkenstürmer vor.

»Wir haben kein Feuer gemacht, weil wir fürchteten, es könnte verraten, daß wir hier sind«, erklärte Tanis.

»Keine Bange«, versicherte ihm Wolkenstürmer. »Unsere Späher durchstreifen den Himmel über der Insel. Im Westen gibt es nur rauhe, unwirtliche Wüste, weit im Norden einen bergigen Regenwald. Die einzigen Minotauren, die wir gesichtet haben, lagern am Fuß der Gipfel vom Dach der Welt in den Ruinen der alten Stadt Karthay. Auf dem Landweg sind es von hier aus zwei bis drei Tage, für einen Kyrie nur einige Flugstunden.«

Die Kyrie hatten eine kleine Menge Feuerholz und Zunder dabei. Als schließlich ein Feuer brannte, hatten alle bessere Laune. Die gemischte Gesellschaft kauerte sich um die Flammen.

Kirsig machte Wasser heiß, um einen besonderen Tee für Sturm zu brauen, der jetzt, bei Licht betrachtet, blaß und mitgenommen aussah. Caramon hingegen wirkte dünner, aber robuster. Er war immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Jedenfalls war Yuril, die dem jungen Krieger gegenüber saß, augenscheinlich dieser Meinung.

Während Sturm seinen Tee schlürfte, erzählte Caramon von dem Verrat an Bord der Venora, dem Zaubersturm, der ihn mit Sturm und Tolpan über Tausende von Meilen ins Blutmeer versetzt hatte, der Entführung von Tolpan, und wie man sie über Bord geworfen hatte. Über seine und Sturms lange, qualvolle Tortur im Meer ließ Caramon sich nicht weiter aus. Als er aber über ihre Gefangenschaft in Atossa zu reden begann, richtete Raistlin sich auf und hörte besonders interessiert zu.

»Zuerst hatten uns die Minotauren wohl gefangengenommen, um Sklaven aus uns zu machen. Oder wir sollten zu ihrem Spaß als Gladiatoren kämpfen«, erzählte Caramon.

»Aber nachdem die Kyrie Caramon gerettet haben, kamen ein paar hochrangige Minotauren und stellten Fragen«, warf Sturm mit leiser Stimme ein. »Sie kannten deinen Namen, Raistlin – und auch Kitiaras – und erwähnten einen gewissen Nachtmeister. Das Seltsamste daran war, daß Tolpan bei ihnen war und ihnen zu helfen schien.«

»Tolpan?« fragte Flint ungläubig. »Ich habe den kleinen Kender nie für einen Helden gehalten, aber daß er gemeinsame Sache mit den Minotauren macht, die dich gefangenhalten – vielleicht haben sie ihn nur unter irgendeiner Drohung mitgeschleppt, damit du glaubst, er würde ihnen helfen. Um deinen Widerstand zu brechen.«

»Keiner hat Tolpan zu irgend etwas gezwungen«, erwiderte Sturm bitter. »Er hat ihnen freiwillig die Feinheiten der Folter erklärt. Außerdem war es Tolpan Barfuß, der meinen Schnurrbart abgeschnitten hat!« Sturm schwieg, um seinen Zorn zu beherrschen. »Und was viel schlimmer ist: Es war Tolpan, der vorgeschlagen hat, daß ich ein Duell auf Leben und Tod in der Grube des Untergangs kämpfen sollte. Nach allem, was ich mitbekommen habe, bevor unsere Freunde, die Kyrie mich retteten, glaube ich, daß die Minotauren Kitiara irgendwo auf dieser Insel gefangenhalten. Deshalb sind wir hierhergekommen, ohne überhaupt zu ahnen, daß ihr in der Nähe seid.«

»Wir versuchen, jede ungewöhnliche Truppenbewegung der Minotauren im Auge zu behalten«, fügte Wolkenstürmer hinzu. »Vor einigen Monaten haben wir beobachtet, daß sie in den Ruinen der alten Stadt Karthay ein Lager aufgebaut haben. Jetzt sieht es so aus, als würden mit jeder Woche mehr Stiermenschen dort eintreffen.«

Raistlin war inzwischen so aufgeregt, daß er aufgestanden war und umherlief, während Caramon, Sturm und Wolkenstürmer ihre Geschichte erzählten.

»Der Nachtmeister muß damit rechnen, daß wir bereits hier sind«, warf Raistlin ein. »Das ist nicht gut. Und jetzt wissen wir, daß sie Kitiara haben. Das ist eine noch schlimmere Nachricht. Was du nicht weißt, Caramon, ist, daß die Minotauren sich hier versammelt haben, um einen mächtigen Zauber zu wirken, der einen ihrer bösen Götter in unsere Welt einlassen soll. Und für diesen Spruch braucht man einen Nichtminotauren als Opfer.«

»Wer ist dieser Nachtmeister?« wollte Flint wissen.

Tanis hatte gerade dieselbe Frage auf den Lippen.

»Er ist ihr oberster Schamane«, antwortete Raistlin. »Der Nachtmeister ist der, der den Spruch sagen würde, um das Portal für Sargonnas zu öffnen.«

Caramon und Sturm wirkten befremdet. Raistlin erklärte ihnen und den Kyrie rasch alles, was ihm, Tanis und Flint geschehen war – die magische Botschaft, die er von Tolpan erhalten hatte, der Besuch beim Orakel und die Reise durch das Portal nach Ogerstadt, die Flucht mit Kirsig aus Ogerstadt, ihre ereignisreiche Reise über das Blutmeer bis zu ihrer Ankunft auf der Insel Karthay.

»Der Grund unseres Kommens«, erläuterte der junge Magier, »ist, daß ich beim Stöbern in der Bücherei auf einen alten Spruch gestoßen bin. Der Spruch hat mich nicht mehr losgelassen, und ich hatte Tolpan bereits losgeschickt, um eine seltene Zutat dafür zu kaufen, das Jalopwurzpulver. Erst danach wurde mir die volle Tragweite meines Handelns bewußt. Der Spruch, der gerade vorbereitet wird, würde den bösen Herrn der Finsteren Rache, Sargonnas, in die Welt der Materie einlassen. Unterstützt von meinem Zaubermeister habe ich weiter geforscht und kam zu dem Schluß, daß der Spruch vom Nachtmeister der minotaurischen Nation auf der Insel Karthay gesprochen werden müßte.

Kirsig hat uns gesagt, daß die Stiermenschen Bündnisse mit den Ogern und anderen schändlichen Rassen schließen. Ich fürchte, das ist Teil ihres Plans, Sargonnas in unsere Welt zu holen und alles für die Eroberung Ansalons in die Wege zu leiten.«

»Sargonnas«, zischte Wolkenstürmer. »Du hast also schon von ihm gehört?« fragte Raistlin. »Eine Kyrielegende berichtet von einem Sargonnas, einem riesigen, roten Kondor, der unser Volk vor vielen Generationen heimgesucht hat. Er überredete einen unserer wankelmutigsten Edlen, dem Kondor den heiligsten Gegenstand unserer Nation, den Nordstein, auszuliefern. Damit konnten die Kyrie einst zwischen allen Inseln und Landmassen der Welt navigieren, anstatt in dieser kleinen Ecke im ständigen Krieg mit unseren Feinden, den Minotauren, festzusitzen«, erklärte Wolkenstürmer. »Wenn Sargonnas auf seine Wiederkehr hofft, ist das eine sehr schlechte Nachricht für mein Volk. Wir werden euch mit allem helfen, was in unserer Macht steht.«

Einen Augenblick schwieg alles, denn die enorme Aufgabe, die vor ihnen lag, bedrückte die Gruppe. Was machen wir jetzt? Diese Frage lag jedem auf der Seele.

»Bis zum Morgen können wir überhaupt nichts tun«, beantwortete Tanis die unausgesprochene Frage. »Versuchen wir also, ein wenig zu schlafen.«Jetzt bestand die Gruppe aus acht Menschen, dazu einem Zwerg, einem Halbelfen, einer Halbogerin und sechs Kyrie. Weitere Kyrie kundschafteten Teile der Insel aus, aber am Morgen hatte erst einer das Lager erreicht. Das machte sieben Kyrie. Raistlin machte es Mut, daß die Kyrie die anderen in zwei Schichten an einen Ort nahe des Lagers des Nachtmeisters in der Ruinenstadt fliegen konnten. Erst würden die Kyrie Raistlin, Tanis, Caramon, Sturm und Yuril bringen. Nach kurzer Rast würden sie dann Flint, Kirsig und die Matrosinnen holen.

Trotz des Zeitaufwands für das zweimalige Hin und Her würde die Reise viel weniger Zeit beanspruchen als der Marsch über Land. Die Gefährten würden einen Tag vor der Himmelskonjunktion, die Raistlin für grundlegend wichtig für den Spruch hielt, am Rand der Ruinenstadt eintreffen.

Flint, der bereits das Blutmeer hinter sich hatte, hatte es nicht eilig, von den gefiederten Vogelmenschen durch die Lüfte getragen zu werden, ganz gleich, wie edel oder freundlich sie sich Caramon und Sturm gegenüber verhielten. »Mir macht es nichts aus, mit den ganzen Frauen hierzubleiben«, sagte der Zwerg. »Macht mir gar nichts aus. Erstmal will ich zusehen, wie ihr alle auf Himmelsfahrt geht, und wenn ihr nicht hinunterfallt oder abstürzt oder von der Sonne gebraten werdet, dann komme ich nach, keine Sorge.«

»Ich lasse dich ungern zurück«, sagte Tanis.

»Keine Sorge«, scherzte Flint. »Schließlich paßt Kirsig auf mich auf.«

Tanis lächelte. »Ja«, gab der Halbelf zu. »Ich glaube, sie kann es bald mit Lolly Ockenfels aufnehmen.«

»Das ist das letzte Mal, daß ich versuche, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen, Tanis Halbelf!« explodierte Flint und wurde knallrot. »Kein Respekt! Du hast keinen Respekt vor mir!« Flint zeterte weiter, während Tanis und die anderen abhoben.Die Kyrie hatten Zeit gehabt, für ihre Passagiere Geschirre aus Leder und Seilen herzustellen. Die starken Klauen der Vogelmenschen würden die Geschirre packen und die Menschen so tragen. Das war nicht die anmutigste Art zu fliegen, wie Tanis fand – an den Schultern aufgehängt und mit baumelnden Beinen. Aber es mußte reichen.

Ein Kyrie namens Herz des Sturms trug den Halbelfen. Stundenlang schlugen seine großen Schwingen stetig weiter, während unter ihnen das Land vorbeizog. Manchmal konnte Tanis einen Blick auf die anderen erhaschen, aber zu anderen Zeiten war die Kyrieformation in den Wolkenbänken nicht zu sehen. Tanis war glücklich über den Schatten vom Herz des Sturms, denn wieder brannte die Sonne vom Himmel.

Als sie sich dem Dach der Welt näherten, rückten die Kyrie enger zusammen und flogen tiefer. Wolkenstürmer, der Caramon trug, schlug einen weiten Bogen nach Westen und landete auf einem hohen Plateau, von dem aus man im Osten die Ruinenstadt überblicken konnte, während im Westen der Vulkan Weltendach schlummerte. Die Kyrie legten nur eine kurze Pause ein. Sie warteten, bis Tanis und die anderen ihre Geschirre abgelegt hatten, und brachen dann wieder auf, um die zu holen, die sie zurückgelassen hatten.

Die alte Stadt, die nur wenige Meilen entfernt lag, sah wie eine graue, pockennarbige Mondlandschaft aus. Aus dieser Entfernung konnten die Gefährten keinen Hinweis darauf erkennen, daß dort jemand lebte – nur geborstene Türme und meilenweit von Lava überkrustete Ruinen. Weiter im Norden ragte das Dach der Welt auf, ein dunkler, drohender Wall, das seinen Schatten über die Ruinen von Karthay warf.

Raistlin brach das ehrfürchtige Schweigen der Gruppe, die den Anblick betrachtete. »Yuril, du wartest hier mit Sturm auf die anderen«, entschied der Zauberer. »Caramon, Tanis und ich erkunden die unmittelbare Umgebung, damit wir sicher sind, daß keine Minotauren in der Nähe sind. Vielleicht finden wir auch etwas zum Abendessen.«

Yuril nickte kühl. Während die anderen einen Pfad hinunterliefen, begann sie, an einem Stein ihr Schwert zu wetzen. Sturm, der immer noch nicht ganz bei Kräften war, streckte sich neben ihr auf der Erde aus.

Selbst so weit von der Stadt entfernt lag noch schwarze Asche auf dem Boden. Eine halbe Meile weiter gabelte sich der Pfad. Raistlin rieb sich das Kinn, als er dastand und beide Möglichkeiten in Betracht zog. Beide Wege führten bergab.

»Hier lang«, zeigte Caramon.

»Nein«, sagte Tanis, der auf den anderen Weg zeigte. »Hier lang.«

»Ich gehe da lang«, sagte Raistlin und wählte den Weg, auf den Tanis gewiesen hatte, »und ihr zwei probiert den anderen Pfad aus.«

Sowohl Caramon als auch Tanis waren entgeistert, daß Raistlin allein gehen wollte, aber keinem von ihnen fiel ein passender Einwand ein. Der Magier starrte sie kühl an.

»Nun?« fragte er nach.

»Meinst du – meinst du nicht, wir sollten zusammenbleiben?« stammelte Caramon.

Tanis nickte zustimmend.

»Es wäre besser, beide Richtungen zu überprüfen«, sagte Raistlin.

»Nur…«, sagte Tanis.

»Nur was?« fragte Raistlin mit finsterem Blick.

»Wir sollten nur übereinkommen«, meinte der Halbelf, »daß wir uns in zwei Stunden wieder hier treffen.«

» Einverstanden.«

»Ruf uns, wenn du etwas siehst«, fügte Caramon hinzu.

»Natürlich«, sagte Raistlin gereizt.

Mit gemischten Gefühlen sahen Tanis und Caramon, wie Raistlin allein losging. Dann seufzten sie einträchtig und nahmen den anderen Weg.

Die beiden hatten Glück. Caramon tötete eine fette Schlange, aus der man eine Suppe kochen konnte, und Tanis fand ein paar eßbare Nüsse an einem struppigen Busch, der sich an die Felsen klammerte. Sie fanden keine Spur von Minotauren oder anderen Feinden. Nachdem sie den Pfad eine Stunde lang erkundet hatten, kehrten sie um. Über eine Stunde warteten sie am verabredeten Ort, aber Raistlin tauchte nicht auf. Besorgt kletterten sie zu dem Platz hoch, wo Sturm und Yuril warteten, denn sie hofften, der Magier wäre während ihrer Abwesenheit zurückgekehrt. Aber Raistlin war nicht dort.

Gerade jetzt kamen die restlichen Kyrie mit Flint, Kirsig und den Matrosinnen. Flint war kreideweiß und fluchte unablässig. Kirsig behauptete, sie hätte noch nie etwas Aufregenderes erlebt. Die Matrosinnen nahmen alles gelassen hin. Sie waren erfahrene Reisende, und wenn das Blutmeer sie nicht umgebracht hatte, nun, dann würden sie wohl kaum während eines Flugs mit den Kyrie sterben.

»Habt ihr von oben meinen Bruder Raistlin gesehen?« fragte Caramon Wolkenstürmer besorgt.

»Nein«, sagte Wolkenstürmer stirnrunzelnd. »Ist er denn nicht hier bei euch?«

»Nein«, erwiderte Caramon aufgeregt. Wütend trat der Krieger gegen einen Stein. »Das hätte ich wissen müssen«, murmelte Caramon. Finster hockte er sich auf einen Felsen.

Flint sah Tanis fragend an. Der Halbelf zuckte mit den Schultern. »Caramon hat recht«, sagte Tanis mürrisch. »Wir hätten es wissen müssen.«

Wolkenstürmer ging zu Caramon und setzte sich neben ihn auf den Boden. »Ist dein Bruder in Sicherheit? Ist er allein losgezogen? Was glaubst du?«

»Ich glaube«, sagte Caramon kläglich, »daß mein lieber Bruder sich weggeschlichen hat, um auf eigene Faust etwas gegen diesen Nachtmeister zu unternehmen. Ich hoffe bloß, er bringt sich dabei nicht um.«

»Tja«, trieb Flint sie an, »Raistlin hat gesagt, der große Zauber findet morgen abend statt. Was also wollen wir bis dahin unternehmen?«

Lastendes Schweigen breitete sich aus.

»Ich hatte die Vorstellung«, sagte Tanis leicht beschämt, »daß Raistlin sich etwas ausgedacht hatte. Falls er nicht zurückkommt, müssen wir erraten, was es war – oder uns selbst etwas ausdenken.«

»Er kommt nicht zurück«, sagte Caramon niedergeschlagen.

»Dann müssen wir entsprechend handeln«, bestimmte Wolkenstürmer. Der Kyrie teilte seine Krieger ein. Die Hälfte sollte den Himmel durchstreifen, die Ruinenstadt auskundschaften und nach Möglichkeit mit den anderen Kyrie Kontakt aufnehmen, die die Insel absuchten. Diese sollten sich dringend der Hauptgruppe anschließen. Drei Kyrie sollten zurückbleiben, Wache halten und im Lager helfen.

»Wir müssen bei Einbruch der Nacht zurück sein«, wies Wolkenstürmer Vogelgeist an, der erster Kundschafter war, »oder spätestens bis Sonnenaufgang. Wie wir es auch anstellen, wir müssen morgen angreifen.«

Kirsig, Yuril und die Matrosinnen fingen an, das Lager aufzuschlagen. Flint, Sturm, Tanis und Caramon sahen, wie die anderen sich pflichtbewußt an die Arbeit machten. Dann sahen sie einander betreten an. Die Gefährten versuchten, ihre Angst um Raistlin zu vergessen, und packten mit an.

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