10 Der böse Kender

Der Trank wirkte wunderbar. Tolpan Barfuß hatte sich eindeutig in einen bösen Kender verwandelt. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Von seinem früheren Haarknoten bis hinunter zu den Zehen war Tolpan durch und durch böse.

Die Minotaurenwachen waren sich nicht so sicher, ob sie Tolpan nicht lieber gemocht hatten, wie er vorher gewesen war, ehe Fesz, der Minotaurenschamane und hohe Gesandte des Nachtmeisters, ihm den Trank verabreicht hatte, der seine Kendernatur verdreht hatte.

Natürlich konnte man sie nicht mehr Tolpans Wachen nennen, jedenfalls nicht mehr im Wortsinn. Nachdem Tolpan vor Bösartigkeit strotzte, hatte man ihn vom Gefangenen zum Ehrengast des Minotaurenkönigs befördert. Er wurde in einem der oberen Stockwerke des Palasts in einem geräumigen, mit Plüsch ausgestatteten Zimmer untergebracht, von dessen Balkon aus er die unten liegende, schäbige Stadt Lacynos überblicken konnte.

Auf der anderen Gangseite lag ein weiteres, noch schöneres und geräumigeres Zimmer für Ehrengäste, das für Fesz reserviert war. Dieser mußte nämlich in Tolpans Nähe bleiben, um ihre noch junge Freundschaft zu festigen. Aus diesem Grund unterhielt er sich häufig mit Tolpan.

Eine kleine Anzahl Minotaurenwachen stand immer noch vor Tolpans Zimmer im Gang. Ihre Anweisung lautete, zu verhindern, daß Tolpan sein Zimmer ohne Erlaubnis und Eskorte verließ, doch sie waren auch angewiesen, sich nicht wie Wachen zu verhalten. Statt dessen sollten sie freundlich sein und die Wünsche des Kenders erfüllen, und sie wagten es tatsächlich nicht, dagegen aufzubegehren.

Der böse Kender war zehnmal so lästig wie der gute zuvor – das heißt, falls jemand Tolpan überhaupt jemals als »gut« bezeichnet hätte. Schlimmer als lästig, so die einhellige Meinung der Minotaurenwachen. Tolpan war von Grund auf – tja, böse.

Da er die Wachen nach Belieben herumkommandieren konnte, sorgte Tolpan dafür, daß sie ordentlich damit zu tun hatten, jeder seiner Launen nachzugehen. Und Tolpan fiel offenbar eine Menge ein, jede Minute des Tages etwas Neues.

In seiner Bosheit hatte Tolpan beschlossen, daß er dreimal am Tag zu genau festgelegten Zeiten ein heißes Bad nehmen wollte. Selbst für die minotaurischen Wachen war es harte Arbeit, die Bäder vorzubereiten und dreimal täglich die Eimer mit heißem Wasser die vielen Stufen zu den besten Gästezimmern hochzuschleppen.

Und Gnade ihnen ihr Gott, wenn das Wasser nicht heiß genug war. In diesem Fall bekam Tolpan einen schrecklichen Wutanfall, schlug ihnen den leeren Eimer auf den Kopf oder stach mit einer Vorhangstange – der besten Stichwaffe, die er zur Verfügung hatte – nach ihren Augen. Oder er beschimpfte sie mit einem erstaunlichen Schwall von Beleidigungen. Manche der Wachen konnten sich kaum noch beherrschen, weil sie Beleidigungen und Befehle von einem Kender hinnehmen mußten. Aber sie nahmen sie hin, und nach dem Schlagen und Stechen und Beschimpfen mußten sie gewöhnlich hinausschleichen und von vorn beginnen und beten, daß das Badewasser dieses Mal heiß genug sein würde.

Weil Tolpan sich ein bißchen langweilte, da er den lieben, langen Tag in seinem Gästezimmer hocken mußte, beschloß er, daß der Raum renoviert und in schöneren Farben gestrichen werden sollte. Das anfängliche Mattweiß gefiel ihm nicht, aber es fiel Tolpan sehr schwer, genau zu sagen, welche Farbe oder welche Farben der Raum haben sollte.

Zunächst befahl er zwei Wachen, sein Zimmer mit einem kräftigen Indigoblau zu streichen – bis Sonnenuntergang. Als er hinterher das kräftige Indigoblau anstarrte, das Boden, Decke und Wände bedeckte, schlief Tolpan fast ein. Also entschied er, daß kräftiges Indigoblau einen Hauch zu einschläfernd sei.

Er befahl denselben beiden Wachen, den Raum mit hellem Karmesinrot zu streichen – bis Sonnenuntergang des nächsten Tages. Die Wachen fluchten und murrten, besonders weil Tolpan nach ihnen stach, ihre Köpfe tätschelte und sie beschimpfte, während sie ackerten, damit sie zur festgelegten Zeit fertig würden.

Das helle Karmesinrot hielt den Kender bei Nacht hellwach. Also beschloß Tolpan, daß der Boden karmesinrot bleiben könnte, wenn man ein paar Teppiche darauf legte – bei Nacht würde er vom Boden sowieso nicht viel sehen –, doch die Wände müßten eine ordentliche Farbe wie Orange haben, während die Decke eine richtig böse Farbe wie Mitternachtsschwarz bekommen sollte.

Weil die beiden Minotaurenwachen ihre Sache bei den ersten beiden Malen so gut – oder auch so schlecht – gemacht hatten, wurden sie nochmals ausgewählt, Tolpans Zimmer neu zu streichen.

Alle Minotaurenwachen beschwerten sich untereinander bitterlich über Tolpan. Warum oder wann auch immer sie das Zimmer des Kenders betraten, höchstwahrscheinlich traf sie ein Wurfgeschoß, oder sie wurden von hinten gepiekst, oder sie stolperten über einen Draht, der quer durchs Zimmer gespannt war. Beleidigungen – die schlimmsten Beleidigungen, die Tolpan sich ausdenken konnte, nämlich Vergleiche mit dummen Kühen und Hornochsen – ergossen sich ununterbrochen über sie. Das Essen wurde zurückgewiesen und ihnen ins Gesicht geworfen.

Dogz, der einzige Minotaurus, dem es gelang, weder gestochen noch beleidigt zu werden, erinnerte sich traurig daran, wie nett der gute alte Tolpan gewesen war, ehe er böse geworden war.

»Tolpan Barfuß ist ein geschätzter Gefolgsmann des Nachtmeisters«, hatte Fesz erklärt. Und die Minotaurenwachen wagten keine Widerrede.

Für Fesz war Tolpans feindseliges, aggressives Verhalten der eindeutige Beweis, daß der Kender böse geworden war. Und falls sein boshaftes Verhalten nicht Beweis genug war, darüber hinaus hatte Tolpan höchst bereitwillig Fesz eine Menge über diesen dünnen, intelligenten Zauberer aus Solace erzählt, der ihn nach Südergod geschickt hatte, um von einem kräuterkundigen Minotauren das seltene Jalopwurzpulver zu kaufen.

Tolpan erzählte Fesz auch alles über seine guten Freunde, Flint und Tanis, den Halbelfen und seinen Onkel Fallenspringer, und wie er, Tolpan, beinahe mal mit einer Hand ein Wollmammut gefangen hätte. Er erzählte ihm von Sturm und Caramon, den Armen, deren Leichen inzwischen bestimmt am Grunde des Blutmeers von den Fischen gefressen wurden. Ein Glück, daß er die blöden Kerle los war, denn sie waren ehrenhaft und rein gewesen und hätten nicht in die neuen Anschauungen des Kenders gepaßt, denen zufolge die Welt dazu da war, überrannt, zerquetscht und erobert zu werden.

Der Kender redete richtig gern von seinen Freunden – »Exfreunden«, wie er sich manchmal korrigierte. Besonders gern redete er über den Zwerg, Flint Feuerschmied. Er redete so gerne über Flint, daß Fesz manchmal einen Arm um den Kender legen und ihn behutsam zu dem Thema Raistlin Majere zurücksteuern mußte, dem Feind der Minotaurenrasse und deshalb, wie Fesz ihn erinnerte, dem Feind von Tolpan.

Raistlin Majere war es, der Fesz am meisten interessierte. Dieser Mensch, der Zauberer werden wollte und der das Jalopwurzpulver gewollt hatte, weil er in einem alten Schriftstück auf einen Zauberspruch gestoßen war.

»Oh, Raistlin ist sehr schlau, ehrlich«, erzählte Tolpan Fesz. »Ein ziemlich guter Zauberer, wenn man bedenkt, daß er die Prüfung noch nicht abgelegt hat, aber frag’ mich nicht, was die Prüfung ist, denn das ist etwas höchst Geheimes, und auch wenn ich mehr darüber weiß als fast jeder andere, verknote ich mir die Zunge, wenn ich nur versuche, es zu erklären. Falls Raistlin herausgefunden hat, wo die Jalopwurz hin ist – also wo ich bin, hier in der Minotaurenstadt –, dann ist er bestimmt schon auf dem Weg hierher. Er will das Pulver bestimmt wiederhaben, und wahrscheinlich will er mich auch retten – hah! Bestimmt kommen Tanis und Flint auch mit. Mann, Flint wird einen Riesenspaß daran haben, wie böse ich bin, bis ich ihn umbringe!

Aber du hast recht, Fesz. Die eigentliche Gefahr ist Raistlin. Ich glaube, wir beide sollten uns lieber ausdenken, wie wir ihn fangen und würgen und erstechen. Und dann können wir vielleicht noch etwas richtig Böses mit seinem toten Körper anstellen, zum Beispiel – ich weiß nicht. Du hast mehr Erfahrung als ich in solchen Dingen. Was schlägst du vor?«

Wenn der Kender wirklich aufgeregt war – wie jetzt –, lief er im Kreis und wippte dabei mit einem unmißverständlich breiten, bösen Grinsen hin und her. Dann war Fesz hochzufrieden. Außerdem war das gewöhnlich die passende Zeit, dem Kender eine neue Dosis von dem Trank zu verabreichen, der ihn böse bleiben lassen würde, solange Tolpan ihn einnahm.

Tolpan war jetzt schon eine Woche ausgesprochen böse. Fesz hatte alles aufgeschrieben, was Tolpan bezüglich Raistlin und der Jalopwurz gesagt hatte, und das Wesentliche davon über den Kanal zum Nachtmeister auf der Insel Karthay geschickt. Obwohl der Kender böse war, war er trotzdem von unersättlicher Neugier erfüllt. Er bettelte Fesz an, ihm zu verraten, wie er sich mit dem Nachtmeister verständigen konnte.

Eines Nachmittags, als der Schamane einigermaßen väterliche Gefühle Tolpan gegenüber verspürte, nahm er den Kender in sein Zimmer mit, um ihm zu zeigen, wo er wohnte.

»He, wie kommt es, daß du einen größeren Raum hast als ich?« fragte Tolpan, der sich beleidigt umschaute. »Du hast auch schönere Bilder und größere Fenster – und zwei Fenster! Ich mag die Farben, die du dir ausgesucht hast – ein einfaches Braun mit Dunkelgrün kombiniert, wie Bäume und Blätter. Erinnert mich nämlich an einen Wald. Diese blöden Minotaurenwachen haben mich mit dem Rot und Blau und Orange ganz durcheinandergebracht. Wenn ich zurückgehe, werde ich ihnen aber meine Meinung sagen!«

Fesz legte den Arm um den zutiefst gemeinen Kender, dem er sich mehr und mehr verwandt fühlte, und führte ihn zum Fensterbrett. Auf dem Fensterbrett stand ein großes, rundes Glas mit ungewöhnlich umfangreichen Bienen mit ausgesprochen langen Stacheln. Laut summend flogen sie im Glas herum.

»Diese äußerst intelligenten Bienen bringen meine Botschaften zum Nachtmeister«, sagte Fesz eindringlich, während er Tolpans Reaktion beobachtete. »Sie können weite Entfernungen überwinden und Nachrichten telepathisch übermitteln. Natürlich«, er zwinkerte Tolpan verschlagen zu, »kann man sie auch für gemeinere Zwecke verwenden, aber am nützlichsten sind sie als schnelle, zuverlässige Nachrichtenüberbringer.«

Zum ersten Mal im Leben war Tolpan sprachlos. Sein Kiefer klappte herunter. Von solchen Tieren hatte er auf all seinen Reisen noch nie gehört.

Schwungvoll schraubte der Schamane den Deckel ab und ließ die Bienen in die Luft steigen. Sie sammelten sich kurz dicht über dem Glas, ehe sie sich zum Schwarm formierten und in östlicher Richtung davonsummten.

»Hui!« rief Tolpan aus. »Als ich aus Südergod zurückkam, habe ich Raistlin eine magische Botschaft geschickt – deshalb weiß er wahrscheinlich, wo wir sind –, aber ich hatte bloß diese blöde, alte Flasche, die ich in den Ozean werfen mußte, und wer weiß, ob sie nicht auf den Grund des Meeres gesunken ist? Wenn ich solche Bienen gehabt hätte, hätte ich… aber wo hätte ich sie aufbewahrt? Ich glaube nicht, daß es eine gute Idee ist, sie in meinem Rucksack mitzunehmen, denn wenn das Glas zerbricht, dann – «

Erfreut über den unablässigen Redefluß von seiten des Kenders schrieb Fesz diese neueste Mitteilung auf, während Tolpan weiterbrabbelte. Das würde in seinen nächsten Bericht an den Nachtmeister kommen.

Bis jetzt hatte der Minotaurenschamane eine ziemlich genaue Beschreibung von Raistlin Majere und dem Halbelfen und dem Zwerg, die ihn wahrscheinlich begleiten würden. Er hatte eine Vorstellung von den Schwächen des jungen Magiers. Verkleidete Meuchelmörder – Minotauren wären zu auffällig – würden nach Solace geschickt werden, falls Raistlin noch dort sein sollte. Aber wenn Raistlin schon auf dem Weg zu den Minotaurischen Inseln war, wäre der Nachtmeister vorgewarnt und bereit. Dieser Raistlin war keine wirkliche Drohung, dessen war Fesz sich sicher. Aber es konnte nichts schaden, wachsam zu sein.

Am achten Tag nach der Verwandlung des Kenders zum Bösen, betrat Fesz Tolpans Zimmer. Er sah verwirrt aus. Er trug ein Pergament mit einer Nachricht, die er selbst niedergeschrieben hatte. Es war eine Botschaft vom Nachtmeister, die die superintelligenten Bienen Fesz gebracht hatten.

Da Tolpan immer glücklich war, seinen Freund zu sehen, hüpfte er herum, um ihn mit dem Begrüßungsritual zu empfangen, das er sich ausgedacht hatte. Dann riß er dem Schamanen die Botschaft aus der Hand:

Haben an der Küste eine einzelne Frau gefangengenommen. Sie ist gut bewaffnet, offenbar eine Kriegerin. Sie weigert sich, mir ihren Namen zu sagen oder wie und warum sie hierhergekommen ist. Wir halten sie fest. Ich vermute, daß sie diejenige ist, auf die wir gewartet haben. Frag den Kender, ob er weiß, wer sie sein könnte.

Der Nachtmeister

»Die Bienen haben heute diese Nachricht gebracht«, sagte Fesz, der seine Stierstirn nachdenklich in Falten legte. »Hast du eine Ahnung, wer diese Frau sein könnte?«

Tolpan mußte nicht sehr lange darüber nachgrübeln. »Oh, das muß Kitiara sein!« rief er aus. »Obwohl ich keine Ahnung habe, wie sie so schnell nach Karthay gekommen ist.«

»Wer ist Kitiara?«

»Kitiara Uth Matar«, sagte Tolpan. »Habe ich dir noch nichts von ihr erzählt? Tja, ich vergesse sie meistens, weil sie nur Raistlins Halbschwester ist. Ich will nicht witzeln, aber wenn sie jetzt hier ist, kann das nur heißen, daß Raistlin sie verständigt hat, also kann er auch nicht weit sein…«

Fesz kritzelte alles mit, so schnell er konnte.Fesz und Tolpan wurden so gute Freunde, daß sie sich manchmal am späten Nachmittag in einen Karren, der von Menschensklaven gezogen wurde, setzten und verschiedene Stellen in Lacynos besichtigten. Diese freundschaftlichen Ausflüge versetzten Tolpan immer in gesprächige Stimmung, wie Fesz feststellte – nicht, daß dazu viel vonnöten gewesen wäre. So erfuhr der Minotaurenschamane immer mehr über den künftigen Zauberer Raistlin.

Natürlich folgten den beiden immer eine oder zwei Minotaurenwachen, die ein Stück zurückblieben. Nicht nur aus Achtung vor dem Protokoll, sondern weil sie nicht wollten, daß Tolpan Steine nach ihnen warf oder ihnen anderweitig zusetzte.

Durch diese Ausflüge lernte Tolpan die ganze Stadt kennen. Besonders gefielen ihm die bösen, stinkenden Orte wie die Sklavengruben und die Arena für die Spiele.

Rund um die Stadt lagen zahlreiche Sklavengruben. Es waren tiefe Löcher, die in den Boden gegraben worden waren, um als primitive Unterkunft für die vielen tausend Sklaven zu dienen, die tagtäglich ihre Arbeit in Lacynos verrichteten. Tagsüber bewohnten nur jene Sklaven – meist etwa hundert – diese Gruben, die zu krank oder zu jung zur Arbeit waren. Diese Zahl wuchs bei Nacht auf etwa siebenhundert pro Grube an, wenn die Sklaven, die nach dem harten Tagwerk noch am Leben waren, zurückkehrten.

Die Ränge der Sklaven setzten sich hauptsächlich aus Gefangenen der minotaurischen Piraten zusammen, die von berufsmäßigen Sklavenhändlern verkauft wurden. Manche waren auch für ihre Verbrechen eine Zeitlang eingelocht. Hin und wieder gab es einen unglückseligen Elfen oder einen entehrten Minotaurus, aber keinen Kender. Tolpan stellte fest, daß Menschen in Lacynos eine unterdrückte Rasse waren.

Dutzende von Minotaurenwachen standen um den Rand jeder Grube herum. Der einzige Zugang war eine breite Rampe, über welche die Sklaven zu sechst oder zu siebt nebeneinander jeden Morgen herauf marschierten und abends wieder hinunter. Zum Schutz vor Aufständen war die Grube von mehreren Stützmauern umgeben. Diese konnten zum Einsturz gebracht werden, woraufhin sich tonnenweise Erde über den rebellierenden Mob ergießen würde.

Von einer Sklavengrube, die Tolpan besichtigte, war er sehr beeindruckt. Er lobte ihren genialen Aufbau und stellte viele Fragen.

»Falls ich je nach Solace zurückkehre«, erklärte er Fesz, fügte aber schnell hinzu, »nicht, daß ich das wirklich möchte, denn ich amüsiere mich hier in Lacynos wirklich prächtig. Aber falls ich je nach Solace zurückkehre, wäre es doch eine prima Idee, so eine Sklavengrube wie die hier mitten in der Stadt anzulegen. Ihnen allen eine Lektion erteilen. Natürlich liegt Solace oben in den Baumkronen, und rein praktisch gesehen weiß ich nicht recht, ob man oben in den Bäumen eine Grube einrichten kann. Das wäre ein kleineres Problem, an dem ich noch arbeiten muß. Aber diese Sklavengruben gefallen mir wirklich gut!«

Der Kender stand auf einem Laufgang und beobachtete gerade eine Gruppe Sklaven, von denen einige offenbar krank oder verwundet waren, denn sie lagen zusammengekrümmt auf dem Boden. Andere schubsten und prügelten sich. Er sah einen breitschultrigen Menschen mit zerfetzten solamnischen Kleidern, der sich stolz einen Weg durch die Bewohner bahnte. Am anderen Ende der Sklavengrube sah er eine Klerikerin, die sich kniend um einen der am Boden liegenden Sklaven kümmerte.

Eine der Minotaurenwachen kam zu nahe, und Tolpan hob den Ellbogen, wodurch er ihn versehentlich über das Geländer stieß. Der Minotaurus stürzte fünfzig Fuß tief in die Grube. Die Sklaven stoben auseinander, als er heruntersauste und mit einem ekelhaften Krachen aufkam.

»Huch! Verzeihung«, sagte Tolpan, der Fesz treu anschaute. »Ich hatte mich bloß gerade gefragt, wie es sich wohl anhört, wenn ein Minotaurus nach so einem langen Sturz auf dem Kopf landet.«

Der nachsichtige Fesz erwiderte das böse Lächeln des Kenders.

Die Arena ihrerseits war architektonisch phantastisch, auch wenn die Spiele für Tolpans Geschmack als Unterhaltung ein wenig langweilig waren. Tausende von Sklaven hatten unter der Peitsche geschuftet, um das riesige, steinerne Gebäude mit den hohen Mauern, den eindrucksvollen Eingängen und den bequemen Zuschauerreihen zu errichten. Viele tausend weitere waren bei den barbarischen Wettkämpfen auf der gestampften Erde der Arena umgekommen, die alle zwei Monate stattfanden und alle Einwohner der Stadt anzogen. Die Minotauren waren ganz versessen auf ihren Nationalsport: zuzusehen, wie zwei Gladiatoren zum Kampf auf Leben und Tod gegeneinander antraten.

Tolpan und Fesz verbrachten einen sonnigen Nachmittag in einer Privatloge, die für den König und seine Gäste reserviert war. Die Loge lag direkt gegenüber der Eingangsrampe, die von den Katakomben heraufführte, welche als Warteraum für die Gladiatoren dienten.

Menschenpack kämpfte gegen Menschenpack. Beide Kämpfer trugen enge Kleider und grausame Waffen. Beide waren schnell und stark.

Tolpan konnte sie partout nicht auseinanderhalten. Er konnte kaum seine müden Augen offenhalten, als ihr unbarmherziger Zweikampf scheinbar stundenlang andauerte.

Jubelnde, kreischende, höhnische Minotauren und Menschenpiraten füllten das Kolosseum bis zum letzten Platz. Es war eine festliche Atmosphäre. Manche der Stiermenschen wurden von Frauen und Kindern begleitet. Jeder jubelte dem zu, auf den er gewettet hatte.

Einer der Gladiatoren war dem Angriff des anderen ausgewichen, schlug ihm seinen Schild ins Gesicht und stieß sein Langschwert durch seinen Hals. Das Publikum grölte und verlangte, daß der Verlierer geköpft werden sollte. Der siegreiche Mensch gehorchte. Dann stolzierte er in der Arena herum und unterhielt die Menge, indem er den bluttriefenden Kopf nach oben hielt.

»Überhaupt«, gähnte Tolpan, »da fällt mir etwas ein. Ich hätte wirklich gern meinen Hupak wieder. Das ist meine einzige richtige Waffe, und außerdem ist er für mich von persönlichem Wert.«

»Wo ist denn dein Hupak?« knurrte Fesz fürsorglich.

»Er war an meinem Rucksack«, erklärte Tolpan, »bis alles, was ich hatte, beschlagnahmt wurde. Ich hätte ihn wirklich gern zurück.«

»Hättest du nicht auch gern den ganzen Rucksack zurück?« fragte Fesz.

»Na klar.«

Den ganzen nächsten Tag verbrachten sie in der Werft. Tolpan fand das sehr interessant. Er konnte deutlich erkennen, daß sich die Minotauren eifrig auf einen großen Krieg oder so etwas vorbereiteten. Überall lag stapelweise Bauholz. Hunderte von Menschensklaven, die von grimmigen, waffenstarrenden Minotauren beaufsichtigt wurden, rannten eifrig wie Ameisen durch die Gegend. Sie arbeiteten mit Werkzeugen wie Breitbeil, Säge und Bohrer.

»Bei Nacht geht die Arbeit weiter«, erklärte Fesz. »Die Werft wird dann von Fackeln erhellt. Wir müssen für Sargonnas bereitstehen, wenn er Einlaß in diese Welt erhält.«

Tolpan nickte. Er wußte bereits alles, was Fesz und der Nachtmeister und das minotaurische Königreich im Sinn hatten. Fesz hatte es ihm Stück für Stück erzählt, während Tolpan Fesz von Raistlin Majere erzählt hatte.

Die Jalopwurz war Teil eines geheimnisvollen Zauberrituals, den der führende Schamane der Minotauren sprechen wollte, um ein Portal zu öffnen und den bösen Gott in die Welt der Materie einzulassen. Sargonnas würde das minotaurische Königreich bei seinem erklärten Ziel führen, die minderwertigen Rassen Ansalons – also alle, die keine Minotauren waren – zu unterwerfen.

So wie Fesz es Tolpan erzählt hatte, mußte der Spruch an einem ganz bestimmten Tag gesagt werden, wenn Sonne, Monde und Sterne in ganz bestimmten Winkeln am Himmel standen.

»Sehr bald«, hatte Fesz gezischt. »Sehr, sehr bald.«

Da Tolpan selbst böse war, war er natürlich äußerst aufgeregt, daß ein böser Gott kommen würde. Er hoffte, er könnte Sargonnas kennenlernen. Das war einer der Gründe, warum sich der Kender so sehr um die Freundschaft mit Fesz bemühte.

»Bist du sicher, daß die Minotauren ohne Unterstützung die ganze Welt erobern können?« fragte Tolpan unschuldig, während ein besorgter, nachdenklicher Ausdruck über sein Gesicht glitt. Er sah sich auf der Werft um, wo zahlreiche Kriegsschiffe der Fertigstellung entgegensahen. Sie waren ziemlich eindrucksvoll, aber es gab so viele Menschen und Zwerge und Elfen und Kender und Gnome und andere Rassen da drüben auf dem Festland. Vielleicht saßen die Minotauren schon so lange auf ihren abgelegenen Inseln fest, daß sie gar keine Ahnung hatten, welche enorme Gegnerschaft sich ihnen entgegenstellen würde.

»Sehr klug von dir, Tolpan«, sagte Fesz, der seine Stimme zu einem leisen Grollen senkte und vorsichtshalber einen Blick über die Schulter warf. »Nein. Obwohl wir eine mächtige Rasse sind, brauchen und suchen wir Verbündete. Wir haben vorsichtige Abkommen mit den Ogern und ihren Meeresvettern, den Orughi, getroffen. Wir haben diplomatischen Kontakt mit den Trollen aufgenommen, obwohl das eine so chaotische Rasse ist. Auch zu bestimmten Barbarenstämmen. Es gibt auch bestimmte andere, ähm, Elemente, die du nicht kennen dürftest – ich darf nicht über sie sprechen, aber sie werden sehr wichtig für unsere vereinten Truppen sein, wenn der Eroberungsplan gutgeht.«

»Was ist mit den Kendern?« fragte Tolpan ein klein wenig verstimmt. »Meinst du nicht, die Kender könnten auch etwas beisteuern?«

»Ja, natürlich«, sagte Fesz etwas aus dem Konzept gebracht. »Ich weiß nicht, warum ich die Kender ausgelassen habe. Kender könnten sehr hilfreich sein, wenn sie alle ungefähr so sind wie du. Wir wissen allerdings sehr wenig über Kender und hatten sie bisher in unsere Überlegungen nicht einbezogen.«

Tolpan plusterte sich auf. »Ich könnte vielleicht mit der Rasse der Kender verhandeln«, sagte er. »Schließlich bin ich in Kenderheim nicht ganz unbekannt. Jedenfalls war ich das, als ich das letzte Mal dort war, und das war, hm, vor zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren – vor meiner Zeit der Wanderlust. Mein Onkel Fallenspringer ist selbstverständlich eine viel, viel bekanntere Person.« Tolpan runzelte die Stirn, als ihm etwas einfiel. »Obwohl ich nicht sicher bin, daß Onkel Fallenspringer mitmacht, denn der ist ziemlich brummig seinen Freunden gegenüber. Mit seinen Feinden geht er allerdings auch nicht gerade freundlich um.« Der Kender dachte einen Augenblick nach. Dann hellte sich seine Miene auf. »Aber da ich schon eine ganze Weile nicht mehr dort war, ist es ziemlich wahrscheinlich, daß Onkel Fallenspringer nicht mehr in Kenderheim wohnt und somit keinerlei Problem mehr darstellt!«

»Gut«, knurrte Fesz wohlüberlegt. »Ich werde darauf achten, dem Nachtmeister alles über die Kender und ihre, ähm, Einsatzmöglichkeiten mitzuteilen.«

»Sag ihm, daß es meine Idee war«, strahlte Tolpan.

Fesz nickte und schrieb das auf.

Als sie von der Werft zurückkamen, wartete Dogz mit einer Botschaft des Königs. Dogz gab Fesz die Nachricht. Tolpan jedoch sah er nicht einmal an. Der Minotaurus schlug die Augen nieder, als würde er sich für seinen Kenderfreund schämen.

Tolpan reckte den Hals, um mitzulesen:Zwei Menschen bei Atossa gefangen. Einer von ihnen auf unerklärliche, vielleicht magische Weise entkommen. Vielleicht ist er der Raistlin, den ihr sucht? Sofort dem Obersten Kreis mitteilen.

Der König Fesz sah Tolpan fragend an.

»Hm«, sagte der Kender. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, daß es Raistlin ist. Da steht, es sind zwei Menschen. Raistlin ist nur einer. Abgesehen davon ist Flint ein Zwerg und Tanis ein Elf – nun ja, ein Halbelf, aber er wird nicht so gern an sein menschliches Erbe erinnert. Darum glaube ich nicht, daß es Raistlin ist.«

Fesz legte seine bullige Stirn in Falten.

»He, warte mal!« fügte Tolpan aufgeregt hinzu. »Vielleicht sind es Sturm und Caramon. Das sind zwei Menschen. Sie müßten tot sein, und ich glaube nicht, daß sie zaubern können, aber vielleicht hat Raistlin Caramon ein paar Tricks beigebracht, als sie klein waren, oder so. Ich wette, sie sind es. Oh, Mann! Sturm und Caramon sind am Leben. Ich frage mich, wer von ihnen geflohen ist.«

»Sturm und Caramon«, knurrte Fesz. »Das sind die zwei Männer, die ins Blutmeer geworfen wurden.«

»Stimmt.«

»Mal angenommen, sie leben noch«, überlegte der Minotaurenschamane. »Warum hätte Raistlin Caramon das Zaubern beibringen sollen, als sie noch Kinder waren?«

»Ich weiß nicht«, antwortete der Kender. »Außer vielleicht, weil sie Zwillingsbrüder sind.«

»Sie sind Brüder?« Fesz brüllte regelrecht. Selbst Dogz zuckte zusammen. Fesz mußte seine Stimme senken und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Du hast mir nie erzählt, daß Raistlin einen Bruder hat!«

Der Kender zuckte mit den Achseln. »Du hast mich nie gefragt. Außerdem dachte ich doch, Caramon sei tot, du nicht? Macht es etwas aus, ob Raistlin einen Bruder hat? Ich habe dir schließlich gesagt, daß er eine Schwester hat. Na ja, eigentlich eine Halbschwester, wenn man es genau – «

»Warte!« Fesz hielt eine Hand hoch. Dann nahm er mit einem tiefen, müden Seufzer seine Schreibfeder heraus und begann, etwas auf ein Stück Pergament zu kritzeln. Er hielt inne, dachte nach und sah auf Tolpan herunter. »Bevor wir weitermachen«, sagte er mit außerordentlichem Bemühen um Geduld, »hat Raistlin noch weitere Schwestern oder Brüder, von denen du bisher noch nichts gesagt hast?«

»Nein«, sagte Tolpan gereizt. Er wußte nicht recht, warum Fesz so aufgebracht war. »Jedenfalls nicht, daß ich wüßte.«

»Nur Kitiara und Caramon.«

»Mhmm.«

Fesz schrieb etwas auf und steckte den Zettel in die Tasche.

»Ich frage mich, welcher geflohen ist, Sturm oder Caramon…« murmelte Tolpan.

»Wir müssen nach Atossa und es herausfinden«, erklärte Fesz.

Tolpan grinste glücklich über das ganze Gesicht.

»Nachdem ich vor dem Obersten Kreis gesprochen habe«, fügte der Minotaurenschamane hastig hinzu.

»Der Oberste Kreis… hui!« rief Tolpan aus. »Ich habe noch nie einen ganzen Kreis von Obersten Sonstwers kennengelernt. Ich kann es kaum erwarten!«

Von hinten legte Dogz dem Kender seine schwere Pranke auf die Schulter.

»Es tut mir wirklich leid, Tolpan, mein Freund«, sagte Fesz mit großem Ernst, »aber ich muß allein gehen. Der Oberste Kreis wäre nicht glücklich darüber, wenn ich einen Kender mitbrächte.«Um einen großen, runden Eichentisch im größten Saal des Palastes saßen acht grimmige, gehörnte Minotauren – neun, wenn man den König mitzählte, der zu dieser dringlichen Versammlung aus seiner Hauptresidenz in der südlich gelegenen Stadt Nethosak angereist war. Während die anderen nur verstimmt aussahen, sprühte der wilde König vor mörderischer Wut, die er kaum in Schach halten konnte. Der König hatte andere wichtige Dinge vorgehabt und schätzte es gar nicht, seine Pläne ändern zu müssen.

Im Uhrzeigersinn links vom König ging die Reihe der acht Mitglieder des Obersten Kreises mit Inultus los, der die Miliz und die Polizei der Minotauren befehligte. Er war mit Emblemen und Abzeichen, die seinen Rang verrieten, nur so gepflastert. Neben ihm saß Akz. Sein Spitzname war Attacca, doch niemand wagte es, ihm diesen ins Gesicht zu sagen. Er war der Befehlshaber über die minotaurische Marine. Akz haßte Inultus und umgekehrt. Ihre Feindschaft war bekannt, doch sie waren gezwungen, zum Besten des Königreichs politisch zusammenzuarbeiten. Akz trug nichts auf seiner breiten, muskulösen Brust. Seine Kleidung bestand einzig aus einem juwelenbesetzten Lederstreifen, der seine kräftigen Lenden umgürtete.

Neben Akz saß der Älteste unter ihnen, ein runzliger Minotaurus mit grauweißen Haarbüscheln namens Victri. Er war der Vertreter der ländlichen Minotauren, die das Land bestellten und in den wenigen fruchtbaren Gegenden der Inseln einsame Staatshöfe verwalteten. Obwohl die meisten Krieger, die etwas auf sich hielten, die Bauernminotauren verachteten, waren diese für die Wirtschaft und Stabilität der Inseln lebenswichtig. Außerdem hatte Victri am längsten im Obersten Kreis gedient. Jeder kannte seinen Ruf als ehrenhafter, weiser Mann. Abgesehen davon war Victri ein kühner Krieger, der sich in der Schlacht hervorgetan hatte. Da er wie ein Landmann gekleidet war, trug Victri mehr Kleider als jedes andere Mitglied des Obersten Kreises, einschließlich eines schweren Schals über seinen breiten Schultern.

Neben Victri saß Juvabit, ein Historiker und Gelehrter in einer Gesellschaft, die Gelehrsamkeit nicht besonders wertschätzte. Obwohl er nach minotaurischen Maßstäben ein gebildeter Mann war, konnte man Juvabit mit seiner häßlichen Schnauze, den gekrümmten Hörnern und den gespaltenen Hufen äußerlich nicht von den anderen unterscheiden. Das einzige, was auf seine Stellung hinwies, war eine Quaste aus dünnen Goldfäden, die ihm über eine Schulter baumelte. Sie symbolisierte den Orden des Königs, die höchste Auszeichnung des Staates, und Juvabit war der einzige Anwesende, der sich diese verdient hatte. Das machte Juvabit allerdings höchstens noch überheblicher als die übrigen, denn er war davon überzeugt, daß die anderen Mitglieder des Obersten Kreises Schafsköpfe waren. Er hielt sich nicht nur für klüger als jeden anderen, sondern glaubte, daß er sich auch im Zweikampf gegen jeden behaupten konnte.

Neben Juvabit räkelte sich Atra Cura, dessen umfangreiche Gestalt über den großen Holzstuhl hinausquoll, auf dem er saß. Atra Curas Aufgabe war die Überwachung der menschlichen und minotaurischen Piraten, die durch die umliegenden Meere streiften. Sie mußten nämlich einen Anteil ihrer Beute an den König abführen – und einen Anteil dieses Anteils an ihn selbst. Außerdem hielt er die rivalisierenden Piratenbanden auseinander. Man konnte Atra Cura zu Recht als den wildesten und mörderischsten Piraten von allen bezeichnen. Als einziger unter den Minotauren des Obersten Kreises war er in grelle, bunte Farben gekleidet, die mit prächtigen Edelsteinen verziert waren. Atra Cura stellte auffällige Waffen zur Schau, darunter zahlreiche Säbel und Messer, die an seinem Gürtel steckten.

Die einzige Frau, Kharis-O, war die gewählte Anführerin einer Bande nomadischer Minotaurenfrauen, dem Clan der Anderen. Sie verachteten die Männer und lebten abseits der Städte. Ihr Clan, der auf jeder der minotaurischen Hauptinseln und selbst auf den meisten kleineren Anhänger hatte, hielt sich abseits von den organisierteren Bereichen der Gesellschaft, doch niemand bezweifelte seine Loyalität gegenüber der minotaurischen Rasse. Im Krieg konnte man auf sie zählen, und ihre Tollkühnheit in der Schlacht entsprach in jeder Hinsicht der der männlichen Krieger. Nichts an Kharis-Os ausgesprochen häßlichem Gesicht deutete auf ihre Weiblichkeit hin. Nicht einmal ihre Kleidung gab irgendwelche Hinweise. Sie trug enge Lederhosen unter einem kurzen Lederhemd und dicke, mit Nägeln beschlagene Sandalen. Sie starrte jeden am Tisch finster an, sagte aber nichts.

Die letzten beiden Mitglieder des Obersten Kreises waren Bartill und Groppis. Bartill war der Anführer der Architekten- und Baugilde und daher einer der mächtigsten Minotauren im Reich. Jeder mußte aufpassen, es sich nicht mit ihm zu verderben.

Groppis, der Bartill in der Debatte unweigerlich unterstützte, war der Schatzkämmerer und in der Hierarchie genauso unerläßlich wie Bartill. Es war Groppis, der die Steuern einsammelte, Beutegut hortete und eine genaue Übersicht über den Staatsschatz führte. Er durfte auch eigenmächtig über die Gehälter bestimmen.

Der neunte war der König selbst, der bereits vierzehn Jahre regierte. Der König legte die Arroganz seines Amtes und die entsprechende körperliche Überlegenheit an den Tag. Um seinen Rang zu behalten, stellte sich der König jedes Jahr in der Arena des Kolosseums seinem stärksten Herausforderer zum Zweikampf. Der gegenwärtige König behauptete seine Position seit vierzehn Jahren mit eiserner Hand, indem er jeden, der ihn herausforderte, mit den Hörnern rammte, erstach, erdolchte oder mit bloßen Händen erwürgte. Der schmale, mit kleinen Diamanten besetzte Silberreif um seine Stirn, Symbol seiner Herrschaft, würde erst dann an den nächsten König weitergegeben werden, wenn er dereinst geschlagen sein würde.

Der König und die übrigen Mitglieder des Obersten Kreises starrten Fesz an, denn sie wollten wissen, wie es mit den Plänen des Nachtmeisters voranging und ob die ungewöhnlichen Nachrichten aus Atossa einen Rückschlag bedeuteten.

»Ich werde morgen persönlich nach Atossa fahren«, erwiderte Fesz mit fester Stimme, »und von dort aus nach Karthay, um dem Nachtmeister bei den abschließenden Vorbereitungen zu helfen.«

»Ist dieser Mensch, der entkommen ist, der geheimnisvolle Magier, den ihr gesucht habt?« fragte Akz, der Marinekommandant. »Ich werde meine Flotte erst mobilisieren, wenn ich ganz sicher weiß, daß nichts das Vorhaben des Nachtmeisters verhindern kann, Sargonnas in die Welt zu lassen.«

»Wir haben den Nachtmeister und seine Pläne äußerst großzügig unterstützt«, stellte Schatzmeister Groppis fest.

»Ich für meinen Teil«, warf Atra Cura, der Vertreter der Piraten ein, »glaube natürlich dem Nachtmeister und vertraue ihm, aber ein paar aus dem losen Bündnis meiner Gefolgschaft haben ihren eigenen Kopf und verlangen mehr als mein Wort, wenn sie weitermachen sollen.«

Die anderen nickten und murmelten zustimmend.

Fesz ließ sich mit seiner Antwort lange Zeit. Er legte die Hände auf den Tisch und schlug die Augen nieder, um sie unter gesenkten Lidern hervor anzustarren. Seine Augen glühten, seine Miene war voller Wut, doch es gelang ihm, sich zu bezähmen und tief durchzuatmen.

»Ich bin einer der drei erwählten Schamanen des Nachtmeisters«, sagte Fesz mit leisem, drohendem Grollen. »Eure lächerlichen Ängste entehren alle Minotauren und euren Rang als Mitglieder des Obersten Kreises. Der Nachtmeister hat euch mitgeteilt, daß er einen bemerkenswerten Zauber wirken will, um Sargonnas, den Herrn der finsteren Rache, in die Welt einzulassen. Für diesen Spruch wurde viel Geld ausgegeben und viel vorbereitet. Und alles wird nach Plan ablaufen, wenn in genau vier Tagen am frühen Abend die Sterne im Zenit stehen und die Himmel sich vereinen.«

Mehrere Mitglieder des Obersten Kreises hielten die Luft an. Bisher hatte der Nachtmeister nie genau verraten, wann er den Zauber wirken würde. Daß Fesz den genauen Tag und die Stunde nannte, hatte den beabsichtigten Effekt, daß alle Sorgen und Einwände der versammelten Führer sich in Luft auflösten.

»Was ist mit dem entflohenen Gefangenen?« fragte der König.

»Ich glaube nicht, daß es sich bei ihm um diesen Raistlin handelt«, antwortete Fesz respektvoll, »aber ich werde auf meinem Weg nach Karthay in Atossa Halt machen und mich vergewissern.«

»Wo ist dann dieser Raistlin?«

»Das weiß ich nicht«, gab Fesz zu. »Vielleicht kommt er auch gar nicht. Vielleicht haben wir ihn weit überschätzt. Auf jeden Fall glaube ich, daß Raistlin Majere höchstens ein kleines Ärgernis darstellt, eine Mücke auf dem Arsch eines Mammuts.«

Die acht Mitglieder des Obersten Kreises grinsten, als Fesz den alten minotaurischen Vergleich benutzte.

Der König wirkte zufrieden. »Was ist mit dem Kender?« wollte er wissen. »Steht er noch unter dem Einfluß des Gesinnungstrunks?«

Fesz nickte. »Allerdings«, knurrte Fesz, »und er hat sich als wirklich hilfreicher Verbündeter erwiesen. Ich habe vor, ihn nach Atossa und Karthay mitzunehmen. Ich hoffe, ich kann den Nachtmeister überzeugen, daß er bei dem Ritual eine Rolle bekommt.«

Der König sah ihn skeptisch an.

»Keine Sorge«, sagte der Minotaurenschamane. »Vor meiner Abreise werde ich sicherstellen, daß die Dosis des Tranks verdoppelt wird.«

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