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Charlotte Garner wachte auf und mußte erst einen Augenblick lang überlegen, wo sie sich befand. Ihr war kalt, denn sie lag im Schatten eines Busches, obwohl sie vor einiger Zeit im warmen Sonnenschein eingeschlafen war. Das bedeutete, daß die Sonne jetzt bereits tief im Westen stehen mußte. Verblüfft hielt sie den linken Arm in die Höhe, um die Uhr ablesen zu können – und war noch mehr verblüfft. Sie hatten fast drei Stunden geschlafen. Selbst wenn sie sofort aufbrachen und sich sehr beeilten, würden sie noch eine halbe Stunde zu spät zum Abendessen nach Hause kommen. Wahrscheinlich machten ihre Eltern sich bereits Sorgen um sie, denn sonst war sie immer pünktlich zu den Mahlzeiten gekommen.

Sie drehte sich rasch auf die Seite, um Tommy zu wecken. Tommy war verschwunden. Aber seine Kleidungsstücke lagen noch an der gleichen Stelle, wo er sie abgelegt hatte. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie, aber dann erkannte sie, was geschehen sein mußte. Tommy war anscheinend kurze Zeit vor ihr aufgewacht und hatte die Lichtung verlassen, weil er eine natürliche Regung verspürte. Sehr weit konnte er sich nicht entfernt haben, denn sonst hätte er sich anziehen müssen. Wahrscheinlich würde er gleich zurückkommen.

Und da er selbst keine Uhr trug, hatte er vielleicht noch gar nicht bemerkt, wie spät es bereits war. Aber Charlotte wußte es nur zu gut. Sie zog sich hastig an und setzte sich dann noch einmal auf die Erde, um ihre Sandalen überzustreifen.

Noch immer kein Lebenszeichen von Tommy. Wenn Charlotte sich auch seinetwegen noch keine Sorgen machte, so wollte sie ihn doch zu größerer Eile anspornen und rief deshalb nach ihm. Er antwortete nicht. Allerdings würde er sich kaum außerhalb der Hörweite entfernt haben – und wahrscheinlich befand er sich bereits auf dem Weg zurück, deshalb antwortete er gar nicht erst. Sie holte einen Kamm aus Tommys Tasche, fuhr sich damit durch ihre kurzgeschnittenen Haare und steckte ihn wieder an seinen Platz zurück.

Von Tommy war nichts zu sehen oder zu hören, und Charlotte empfand eine gewisse Besorgnis. Sie konnte sich jedoch nicht recht vorstellen, was ihm zugestoßen sein mochte. Wieder rief sie nach ihm, diesmal so laut sie nur konnte. »Tommy! Wo bist du? Warum antwortest du nicht? Tommy!«

Sie lauschte angestrengt, hörte aber nur die Blätter in der leichten Brise rascheln, die aufgekommen war. War es möglich, daß Tommy sich einen schlechten Scherz mit ihr erlauben wollte? Daß er ihr einen Schreck einjagen wollte? Nein, das sah ihm wirklich nicht ähnlich.

Aber was konnte ihm zugestoßen sein? Schließlich war es ausgeschlossen, daß er sich sehr weit entfernt hatte, nachdem er nur ein Paar Socken trug. War er etwa ohnmächtig geworden oder hatte er einen Unfall gehabt? Eine Ohnmacht schied aus, denn Tommy war kerngesund. Und ein Unfall – nun, er mußte schwer genug gewesen sein, daß er dabei das Bewußtsein verloren hatte. Wenn er sich nur den Knöchel verstaucht oder sogar ein Bein gebrochen hätte, wäre er immer noch zu einer Antwort fähig gewesen. In diesem Fall hätte er sie wahrscheinlich sogar früher geweckt, indem er nach ihr gerufen hätte. Sie schlief nie sehr fest und wäre bestimmt sofort aufgewacht, wenn jemand ihren Namen gerufen hätte.

Charlotte, deren Besorgnis mit jeder Sekunde wuchs, verließ die Lichtung und arbeitete sich kreuz und quer durch das dichte Unterholz, wobei sie von Zeit zu Zeit Tommys Namen rief.

Eine halbe Stunde später hatte sie den Wald in einem Umkreis von hundert Metern gründlich durchsucht und verspürte nun wirklich Angst um Tommy.

Jetzt brauchte sie Hilfe, denn allein konnte sie nichts mehr ausrichten. Sie eilte auf den Weg zurück und rannte so schnell in Richtung auf das Haus ihrer Eltern, wie sie drei Kilometer laufen zu können glaubte. Sie war sich darüber im klaren, daß sie ihren Eltern die volle Wahrheit erzählen mußte, denn die Suche nach Tommy würde auf jeden Fall bei seinen abgelegten Kleidungsstücken beginnen. Aber das war jetzt nicht wichtig. Im Augenblick kam es nur darauf an, daß Tommy gefunden wurde.

Sie war erschöpft und atmete keuchend, als sie das Wohnzimmer betrat, in dem ihre Eltern vor dem Radio saßen. Ihr Vater schaltete das Gerät sofort aus und warf ihr einen strengen Blick zu. »Du kommst ja reichlich spät, meine junge Dame! Ich wollte schon ...« Dann bemerkte er ihren aufgeregten Gesichtsausdruck und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was ist los, Charlotte?«

Die Worte sprudelten förmlich aus ihr hervor. Sie wurde nur einmal unterbrochen, als ihre Mutter sie entsetzt zur Rede stellte. »Willst du wirklich sagen, daß du mit Tommy ...« Aber ihr Vater machte eine abwehrende Handbewegung. »Darüber können wir uns später noch lange genug unterhalten. Laß Charlotte erst einmal ausreden.«

Jed Garner erhob sich aus seinem Sessel. »Ich werde Gus anrufen«, meinte er. »Wir müssen sofort nach Tommy suchen. Am besten nimmt er seinen Spürhund Buck mit.«

Er nahm den Hörer ab, wählte Gus Hoffmanns Nummer – Tommys Vater gehörte eine der benachbarten Farmen – und sprach mit ihm.

Gus Hoffmann hörte sich schweigend an, was der andere ihm zu berichten hatte. »Ich komme so schnell wie möglich zu dir hinüber«, versprach er dann und legte auf.

Er blieb noch einen Augenblick vor dem Telefon stehen und überlegte, bevor er in Tommys Zimmer ging und dort eine Socke aus Tommys Wäschesack holte. Er brauchte sie, um Buck auf die Spur des Jungen zu setzen. Der Hund kannte zwar Tommys Geruch gut genug, aber er würde nicht wissen, wonach er suchen sollte, wenn man ihm nicht etwas vor die Nase hielt.

Als nächstes nahm er Bucks Leine von einem Haken in der Küche und steckte sie in die Tasche. Buck war wirklich ein ausgezeichneter Spürhund, aber er hatte einen Fehler – wenn er einer frischen Spur folgte, lief er so weit voraus, daß sein Herr ihn aus den Augen verlor. Deshalb mußte er bei der Arbeit an der Leine gehalten werden.

Hoffmann vergewisserte sich, daß die Laterne genügend Petroleum enthielt, steckte eine Schachtel Zündhölzer ein und verließ das Haus durch die Hintertür.

»Komm, Buck«, sagte er zu dem großen braun-weiß gefleckten Hund, der vor der Hundehütte schlief, die Tommy ihm gebaut hatte. Der Hund stand langsam auf, streckte sich ausgiebig und folgte dann seinem Herrn über die Felder. Die Abenddämmerung brach jetzt rasch herein.

Die Garners erwarteten ihn zu dritt vor ihrem Haus. Jed Garner trug ebenfalls eine Laterne und seine Schrotflinte unter dem anderen Arm.

Die Begrüßung bestand aus einem stummen Nicken. Hoffmann wandte sich an Charlotte. »Seid ihr auf dem Weg gegangen, der kurz hinter der Brücke nach Norden abzweigt?«

»Ja, Mr. Hoffmann. Aber ich komme mit. Ich muß Ihnen und meinem Vater die Stelle zeigen, wo wir ... wo wir eingeschlafen sind. Wo seine Kleidungsstücke liegen.«

»Du gehst nicht mit, Charlotte«, erklärte ihr Vater bestimmt. »Schon allein deshalb nicht, weil du nach deinem Dreikilometerlauf so erschöpft bist, daß du uns nur aufhalten würdest.«

»Buck wird uns zu der Stelle führen«, stimmte Hoffmann zu. »Dann werden wir ihn ein bißchen suchen lassen, bis er die Spur aufgenommen hat. Du hast etwas von drei Kilometern Entfernung gesagt – und der Weg beginnt ungefähr einen Kilometer von hier. Dann sind es also noch zwei Kilometer vom Waldrand ab. Stimmt's?«

Charlotte nickte.

»Gehen wir«, meinte Hoffmann zu Garner.

»Einen Augenblick, Gus. Warum fahren wir das erste Stück nicht in meinem Wagen? Damit könnten wir Zeit sparen.«

»Aber nicht mit Buck«, antwortete Hoffmann. »Vor Autos hat er eine Heidenangst. Er würde die ganze Zeit hinauszuspringen versuchen und schließlich so aufgeregt sein, daß er keine Spur mehr aufnehmen könnte. Nein, wir müssen zu Fuß gehen. Los, komm schon.«

Die beiden Männer gingen auf die Straße hinaus und in Richtung Norden weiter. Der Mond glänzte hell, so daß sie vorläufig noch ohne die Laternen auskamen. Außerdem war es noch nicht völlig dunkel.

»Was soll die Flinte, Jed?« fragte Hoffmann. »Willst du Tommy damit gleich zum Standesamt treiben?«

»Ach was, daran habe ich nicht gedacht. Ich nehme sie immer mit, wenn ich nachts in den Wald gehe.« Garner machte eine kurze Pause. »Ich habe schon darüber nachgedacht. Falls wir Tommy finden ...«

»Wir werden ihn ganz bestimmt finden.«

»Gut, nachdem wir ihn gefunden haben. Wenn ihm nichts Ernstliches zugestoßen ist, sollten wir die beiden nicht noch ein halbes Jahr warten lassen. Wir haben nicht verhindern können, daß sie verheiratet spielen, deshalb ist es meiner Meinung nach besser, wenn alles seine Ordnung hat. Würdest du es etwa gern sehen, wenn dein erstes Enkelchen allzu früh nach der Hochzeit auf die Welt käme? Ich jedenfalls nicht.«

»Einverstanden«, antwortete Hoffmann kurz.

Sie marschierten schweigend weiter. Dann sahen sie die Scheinwerfer eines Autos, das ihnen entgegenkam, und Hoffmann drehte sich um, nahm den Hund beim Halsband und zog ihn in den Straßengraben. »Warten wir lieber, bis es vorbei ist«, meinte er zu Garner. »Ich möchte nicht, daß Buck vor Schreck fortläuft.«

Als das Auto wieder in der Dunkelheit verschwunden war, setzten die beiden Männer ihre unterbrochene Suche fort.

Bis sie die Stelle erreicht hatten, an der der Weg von der Straße abzweigte, war die Nacht völlig hereingebrochen, so daß sie stehenblieben, um ihre Laternen anzuzünden. Von jetzt ab mußten sie durch den Wald, in dem das Mondlicht nicht hell genug war, um Einzelheiten erkennen zu lassen.

Sie gingen weiter. Garner wandte sich an Hoffmann. »Wo, zum Teufel, kann Tommy nur hingegangen sein? Schließlich hatte er nichts an!«

Hoffmann zuckte mit den Schultern. »Die Fragerei hat keinen Sinn. Suchen wir ihn lieber.«

Einige Minuten später blieb Hoffmann stehen. »Ich schätze, daß wir jetzt ungefähr einen Kilometer von der Straße entfernt sind.«

»Könnte stimmen«, antwortete Garner. »Vielleicht sogar etwas weiter.«

»Dann lassen wir lieber Buck weitersuchen. Es ist möglich, daß Charlotte sich in der Entfernung verschätzt hat, und wir dürfen nicht über das Ziel hinausschießen.«

Er stellte seine Laterne ab, hakte die Leine in das Halsband des Hundes ein und hielt ihm Tommys Socke vor die Nase. »Komm, Buck, such Tommy!«

Der Hund schnüffelte auf dem Weg herum und nahm schon wenige Sekunden später die Spur auf. Die beiden Männer folgten wortlos; Hoffmann trug die Laterne in einer Hand und hielt die Leine in der anderen, Garner ging hinter ihm her. Buck behielt das bisherige Tempo bei, so daß sie ihm ohne Mühe folgen konnten.

Etwa einen Kilometer weiter entfernte Buck sich von dem Weg und beschnüffelte etwas.

Hoffmann beugte sich hinunter. »Eine tote Feldmaus. Zertreten. Komm, Buck, an die Arbeit!« Er zog den Hund wieder auf den Weg zurück.

»Charlotte hat mir davon erzählt – als wir auf dich warteten«, erklärte Garner. »Es schien nicht weiter wichtig, deshalb habe ich es nicht erwähnt. Aber immerhin beweist es, daß wir nicht mehr weit von der Stelle entfernt sind.«

»Was hat sie dir von einer Feldmaus erzählt?«

Garner berichtete. »Komisch, daß eine Maus sich so benehmen sollte«, fügte er dann hinzu. »Und wenn sie wirklich die Tollwut hatte? Sie hat Charlotte nicht richtig gebissen, sondern nur gezwickt; aber Tommy mußte sie von seinem Hosenbein abstreifen. Wenn er sich dabei an einem Zahn verletzt hätte, ohne es gleich zu bemerken, würde das erklären, wieso ...?«

»Ach was, Jed, du weißt doch selbst, wie unwahrscheinlich das ist. Selbst wenn Tommy sich angesteckt haben sollte, würde es Tage dauern, bis die Krankheit ausbricht – und außerdem nicht in dieser Form.« Hoffmann rieb sich nachdenklich das Kinn. »Trotzdem werde ich mir Tommys Hände genau ansehen, nachdem wir ihn gefunden haben. Wenn er den kleinsten Kratzer daran hat, müssen wir auf dem Rückweg die Maus mitnehmen, um sie auf Tollwut untersuchen zu lassen. Komm, Buck, die Suche geht weiter.«

Etwa dreißig Schritte weiter verließ der Hund wieder den Weg, aber diesmal blieb er nicht nur stehen, um etwas zu beschnüffeln. Er zog weiter an der Leine und führte die beiden Männer durch das dichte Unterholz. Hoffmann bog die Zweige zur Seite und hielt die Laterne hoch.

»Hier ist die Stelle«, sagte er dabei. »Die Kleidungsstücke liegen noch immer da.« Er trat in die Lichtung hinaus, Garner folgte ihm. Sie sahen zu Boden.

»Verflucht noch mal«, sagte Hoffmann. »Ich hatte gehofft, daß ...« Er unterbrach sich mitten im Satz. Er hatte gehofft, daß die Kleidungsstücke sich nicht mehr hier befinden würden, daß Tommy zurückgekommen sei, nachdem Charlotte nach Hause gerannt war. Jetzt mußte er annehmen, daß sein Sohn sich noch immer im Wald aufhielt – völlig nackt und vielleicht sogar in einer Lage, in der er dringend Hilfe benötigte. Hoffmann hatte jetzt zum erstenmal richtig Angst. Die Kleidungsstücke wirkten so ... so leer. Bis zu diesem Augenblick hatte er das Geschehene wie einen schlechten Traum empfunden, jetzt wurde es zu einem Alptraum.

Buck beschnüffelte zuerst Tommys Kleidungsstücke und dann das niedergedrückte Gras an der Stelle, wo der Junge gelegen hatte. Dann zerrte er wieder an der Leine und wandte sich in eine andere Richtung. Hoffmann folgte ihm. »Komm, Jed«, sagte er über die Schulter zurück. »Buck hat die Spur wieder aufgenommen.«

»Soll ich Tommys Sachen mitnehmen?« fragte Garner.

Hoffmann zögerte einen Augenblick. »Ja, vielleicht ist es besser«, gab er dann zurück. »Wenn wir ihn finden, kann er sie gleich anziehen, ohne daß wir noch einmal hierher müssen.«

Er wartete und hielt den Hund zurück, bis Garner die Kleidungsstücke zusammengesucht hatte und sich ihm wieder anschloß.

Dann ging es weiter in die Richtung, die Buck bestimmte. Zunächst noch einmal auf den Weg zurück, dann quer durch den Wald nach Nordwesten.

Buck zerrte jetzt heftig an der Leine. Die Spur war nicht nur frischer, sondern ein Mann, der Socken trägt, hinterläßt auch einen deutlicheren Geruch als einer, der Schuhe anhat. Auf dem Weg waren auch noch andere Menschen gegangen, deren Spuren nicht immer deutlich von Tommys zu unterscheiden waren. Diese Schwierigkeiten traten jetzt nicht mehr auf.

»Langsam, Buck«, mahnte Hoffmann, als die beiden Männer dem Hund durch den Wald folgten.

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