20


Und dann – geschah nichts. Gar nichts.

Minuten wurden zu Stunden. Doc hatte jetzt seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen; wenn er alles zusammenrechnete, hatte er in den vergangenen achtundvierzig Stunden nicht mehr als bestenfalls drei Stunden geschlafen.

Den größten Teil der Zeit verbrachte er damit, daß er von einem Fenster zum anderen ging und hinausstarrte. Er hätte tausend Dollar für eine kurze Ruhepause in einem bequemen Sessel gegeben, aber trotzdem wagte er es nicht, weil er wußte, wie gefährlich eine solche Pause werden konnte. Wenn er sich überhaupt hinsetzte, benutzte er dazu die Sofalehne oder einen harten Küchenhocker. Gelegentlich trank er eine Tasse Kaffee, aber nur kalten, weil er sich überlegt hatte, daß Wärme einschläfernd wirkte und den Effekt des Koffeins teilweise aufhob.

Der Morgen zog sich in die Länge. Bald mußte Hilfe eintreffen – entweder der Sheriff oder die Staatspolizei; Miß Talley mußte sie spätestens heute morgen verständigt haben, mußte veranlaßt haben, daß jemand sich um ihn kümmerte nachdem er nicht zu ihr gekommen war.

Er konnte nicht mehr sehr lange wach bleiben. Jetzt durfte er sich nicht einmal mehr hinsetzen, ohne daß ihm sofort die Augen zufielen, so daß er sie wieder mühsam aufreißen mußte. Und obwohl er sonst nur mäßig rauchte, hatte er so viele Pfeifen geraucht, daß sein Mund davon brannte. Einige Benzedrintabletten wären jetzt ihr Gewicht in Gold wert gewesen, aber er hatte keine bei sich; im Urlaub wollte er schließlich keine Nacht durcharbeiten.

Es war fast Mittag, und er stand am Wohnzimmerfenster und wünschte sich, den Kopf gegen die kühle Scheibe legen zu dürfen, als er ein Auto kommen hörte.

Er nahm die Schrotflinte und öffnete die Haustür, blieb aber im Flur stehen, um dem Sheriff, oder wer es sonst sein mochte, von dort aus Feuerschutz zu geben.

Dann bog das Auto in den Hof ein. Ein Volkswagen – und Miß Talley saß allein darin.

Er winkte ihr verzweifelt zu, weil er hoffte, daß sie wenden und so schnell wie möglich fortfahren würde ...

Aber sie fuhr weiter und achtete dabei nur auf den toten Hirsch und die vollgefressenen Bussarde, die träge aufflogen. Sie stellte den Motor ab, bevor sie zur Haustür hinübersah und Doc erkannte.

»Miß Talley!« rief er sie an. »Fahren Sie sofort wieder in die Stadt zurück! Rufen Sie bei der Staatspolizei an, und ...«

Zu spät. Er hörte Hufschläge – ein Stier raste die Straße entlang und war nur noch fünfzig Meter von dem Volkswagen entfernt. In diesem Augenblick erkannte Doc instinktiv die Chance, die sich ihm damit bot. Wenn er den Stier außer Gefecht setzen konnte, ohne ihn dabei tödlich zu verwunden ...

Er rief Miß Talley zu, daß sie in ihrem Auto bleiben solle, rannte in den Hof hinaus und hob die Schrotflinte. Wenn er die Entfernung richtig schätzte und niedrig genug hielt, um nur die Beine zu treffen ...

Doc zielte gut, aber in der Aufregung schoß er etwas zu früh. Die Schrotladung traf den Stier, ohne ihn ernsthaft genug zu verletzen. Er stieß ein wütendes Brüllen aus und stürmte nun auf Doc, anstatt auf den Volkswagen los. Der zweite Schuß – aus nur fünf Meter Entfernung abgefeuert – mußte wirksamer sein, wenn Doc sein Leben lieb war. Glücklicherweise war er es auch; der Stier brach in die Knie zusammen und fiel auf die Seite.

Doc riß die Tür des Volkswagens auf. »Beeilen Sie sich, Miß Talley! Schnell in das Haus! Im Augenblick haben wir nichts zu befürchten, aber der nächste Angriff kommt bestimmt bald.«

Er rannte neben ihr her. Die Schrotflinte war leergeschossen, die Munition lag auf dem Tisch im Wohnzimmer. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sah nach oben. Dort kreiste ein großer Vogel – aber wenn er sie angreifen sollte, war er zu spät aufgetaucht. Doc schloß die Haustür hinter sich.

Während er die Schrotflinte nachlud, gab er Miß Talley einen kurzen Bericht der Ereignisse, die sich gestern und heute abgespielt hatten.

»Oh, Doktor!« rief sie aus. »Hätte ich doch nur darauf bestanden, daß der Sheriff ... Ich habe ihn gestern nachmittag angerufen. Er wollte nicht recht glauben, daß Sie Hilfe brauchten, aber dann versprach er mir doch, daß er hinausfahren würde. Ich konnte ihn erst heute morgen wieder erreichen und erfuhr, daß er noch nicht hatte zu Ihnen fahren können – und daß er wahrscheinlich erst morgen Zeit dafür haben würde. Ich nehme an, daß er sich nicht übermäßig beeilen wird, denn er schien meine Besorgnis für ziemlich übertrieben zu halten.«

»Morgen ...« Doc schüttelte den Kopf und machte ein düsteres Gesicht. »Das schaffe ich nie – so lange wach zu bleiben, meine ich. Und wenn ich einschlafe ... Sie hätten nicht kommen dürfen, Miß Talley; jetzt sitzen Sie mit in der Tinte.«

»Glauben Sie nicht, daß wir es in meinem Wagen bis in die Stadt schaffen würden? Wenn ich fahre, damit Sie schießen können?«

»Die Aussichten dafür stehen eins zu hundert, Miß Talley. Erstens stehen hier auf jeder Weide Kühe und Stiere, zweitens lebt in dem Wald genügend Wild – Bären, Hirsche und Wildkatzen – und drittens möchte ich wetten, daß ein einigermaßen schwerer Vogel das Dach ihres Volkswagens glatt durchschlägt, wenn er im Sturzflug herunterstößt. Wann wird man Sie vermissen? Fällt es Ihren Nachbarn auf, wenn Sie heute nicht nach Hause kommen?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Manchmal besuche ich meine Schwägerin in Green Bay und bleibe dann jedesmal über Nacht bei ihr. Meine Nachbarn wissen davon und machen sich bestimmt keine Sorgen um mich. Hätte ich doch nur die Staatspolizei angerufen, anstatt selbst herzukommen! Aber daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«

Staunton machte eine müde Handbewegung. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Miß Talley. Ich habe den ersten Fehler begangen – die ersten beiden Fehler. Ich hätte die eine Nacht nach dem Selbstmord der Katze nicht mehr hier schlafen dürfen – und vor allem nach Jim Kramers Tod nicht noch einmal herkommen sollen, um meine Sachen zu holen. Das war der große Fehler, der mich in diese Lage gebracht hat.« Er gähnte.

»Trinken wir eine Tasse Kaffee. Bisher habe ich ihn kalt getrunken, aber nachdem ich jetzt Gesellschaft habe, möchte ich einen heißen. Ich werde mich sogar hinsetzen und Sie den Kaffee kochen lassen – wenn Sie sich dauernd mit mir unterhalten. Vielleicht fällt uns etwas ein. Wir müssen uns etwas einfallen lassen!«

In der Küche setzte er sich doch lieber nicht auf einen Stuhl, sondern lehnte sich nur gegen die Wand, während Miß Talley Kaffee kochte. Er bestritt den größten Teil der Unterhaltung selbst, weil er mehr zu berichten hatte.

»Der Fremde ...«, unterbrach ihn Miß Talley energisch, als er den unsichtbaren Feind zum erstenmal erwähnte. »Doktor, warum sollen wir nicht zugeben, daß wir gegen ein außerirdisches Wesen kämpfen – oder uns jedenfalls dagegen verteidigen? Was könnte es denn sonst sein?«

»Ein menschlicher Mutant, der sein angeborenes oder erworbenes Talent auf diese Weise mißbraucht.«

»Halten Sie das wirklich für möglich?«

»Nein«, gab Doc zu. »Auch die andere Möglichkeit ist unwahrscheinlich – daß es sich um einen Dämon handelt. Aber ich will mich nicht festlegen, deshalb nenne ich das Wesen ›Feind‹. Streiten wir uns doch nicht um einen Namen, Miß Talley. Wir haben genügend andere Sorgen. Wie stehen zum Beispiel meine Chancen? Ich kann natürlich immer noch hoffen, daß ich mich irre, wenn ich annehme, daß der Feind mich – oder vielmehr uns – hier eingesperrt hält, bis ich endlich einschlafe.«

»Haben Sie einen Vorschlag?« erkundigte sich Miß Talley.

Er beschrieb ihr seinen Plan, der daraus bestand, daß er einen der Wirte seines Gegners bewegungsunfähig machen wollte. »Aber«, fügte er hinzu, »es ist nicht leicht, ein größeres Tier mit einer Schrotflinte so zu verwunden, daß es weder weiter angreifen noch Selbstmord begehen kann. Es müßte sich zumindest ein Bein brechen.«

»Haben Sie kein Gewehr?«

»Nur ein Kleinkalibergewehr, das noch draußen im Auto liegt. Ich würde es hereinholen, wenn ich die langen Patronen dafür hätte, aber leider habe ich nur kurze mitgenommen. Außerdem habe ich noch eine Pistole, aber ich bin ein zu schlechter Schütze, als daß ich damit einem angreifenden Tier gegenübertreten könnte.«

Er schüttelte müde den Kopf. »Der Feind scheint etwas von meinem Plan zu ahnen, deshalb benutzt er meistens Vögel. Ein Vogel ist auf jeden Fall tot, wenn er auf den Boden aufschlägt – selbst wenn ich ihn vorher nur leicht verwundet hätte ... Mein Gott, bin ich müde!«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Unterhalten Sie sich mit mir, hören Sie mir zu. Ich bin übrigens in einen Hungerstreik getreten, um wach zu bleiben, aber Sie dürfen ruhig essen, wenn Sie hungrig sind. Der Kühlschrank arbeitet seit gestern nicht mehr, aber in der Speisekammer stehen alle möglichen Konserven.«

Sie schenkte zwei Tassen Kaffee ein und brachte sie an den Tisch. »Danke, vorläufig habe ich noch keinen Hunger. Aber vielleicht sollte ich lieber noch zwei oder drei Kannen Kaffee kochen.«

»Bitte, gern. Weshalb?«

»Nachdem er die Stromversorgung unterbrochen hat, könnte es ihm vielleicht einfallen, auch noch die Gaszuführung zu stören. Und Sie brauchen unbedingt Kaffee, selbst wenn wir ihn beide kalt trinken müssen.«

»Ich glaube nicht, daß er das ohne menschliche Hilfe schaffen könnte. Das Ventil an der Propangasflasche läßt sich nur mit einem Schraubenschlüssel schließen. Aber die Idee ist trotzdem nicht schlecht.«

Miß Talley setzte frisches Wasser auf und kam dann an den Tisch.

»Wie steht es mit dem Wasser? Läßt sich das irgendwie abstellen? Sonst fülle ich lieber ein paar Eimer.«

»Das ist nicht nötig.« Doc erklärte ihr die Wasserversorgung des Hauses. »Die Pumpe, die das Wasser aus dem Brunnen in den Tank auf dem Dach fördert, ist leicht außer Betrieb zu setzen. Aber der Tank selbst ist sehr massiv. Er faßt tausend Liter und muß jetzt noch mindestens halb voll sein.«

Er nahm einen Schluck Kaffee. »Weil wir gerade von Wasser sprechen – ich möchte ein kaltes Bad nehmen und mich umziehen. Eigentlich hatte ich das schon heute morgen vor, aber dann kam immer etwas dazwischen.«

Sie nickte. »Ausgezeichnet. Und ich werde etwas essen, während Sie oben im Bad sind.«

»Einverstanden. Aber Sie müssen ab und zu aus den Fenstern sehen und mich rufen, wenn Ihnen etwas auffällt. Ich nehme meinen Bademantel mit, damit ich sofort kommen kann. Und das erinnert mich daran, daß ...«

Er wollte aufstehen, aber Miß Talley befahl ihm in bester Lehrerinnenmanier, daß er sitzenzubleiben habe, während sie nacheinander durch alle Fenster hinaussah. Sie berichtete, daß ihr keine Veränderungen aufgefallen seien. Nur die Bussarde waren wieder über den toten Hirsch hergefallen. Der Stier schien ihnen noch zu frisch zu sein, denn keiner der Vögel war in seiner Nähe zu sehen.

Doc nickte. »Ich glaube nicht, daß wirklich etwas passieren wird. Der Feind wartet geduldig – solange wir keinen Ausbruchsversuch unternehmen. Er hat bisher noch nicht in das Haus einzudringen versucht, obwohl das einfach genug gewesen wäre. Jedes größere Tier könnte eine der beiden Türen aufbrechen, wenn ich es nicht vorher erschieße.«

»Oder ein Mensch. Seltsam, daß er diese Gelegenheit noch nicht genützt hat.«

»Dazu hat er keinen Grund, da er mich offenbar nicht umbringen will, wenn ich nicht zu fliehen versuche. Eigentlich wäre mir ein Mensch sogar lieber, denn den könnte man leichter bewegungsunfähig machen.«

»Doktor, als ich in den Hof fuhr ... woher wußten Sie da ... daß ich nicht ... der Feind war? Sie hätten mich ohne weiteres ins Bein schießen können.«

Er lachte. »Daran habe ich nie gedacht. Jedenfalls wirkte der Stier, der hinter Ihnen auftauchte, überzeugend genug. Außerdem wußte ich, daß der Feind nicht zwei Wirte zu gleicher Zeit kontrollieren kann.« Er stand auf und unterdrückte ein Gähnen. »Ich gehe jetzt baden, Miß Talley. Keine Angst, ich schlafe nicht ein.«

Er ging nach oben und kam eine halbe Stunde später einigermaßen erfrischt zurück. Sie setzten sich ins Wohnzimmer und unterhielten sich. Doc bestand darauf, ab und zu selbst aus den Fenstern zu sehen, anstatt Miß Talley diese Aufgabe zu überlassen. Er erklärte ihr, daß sonst die Gefahr bestand, daß er während ihrer Abwesenheit am Tisch einschlief.

Später nahm er noch ein kaltes Bad; er hatte das Wasser in der Wanne gelassen, nachdem ihm eingefallen war, daß fünfhundert Liter nicht für sehr viele Vollbäder ausreichten.

Das zweite Bad half kaum noch; er wäre fast in der Badewanne eingeschlafen und erkannte klar, daß er die Grenze seiner körperlichen Leistungsfähigkeit erreicht hatte.

Als er wieder nach unten kam, sprach er mit Miß Talley darüber und bat sie, eine Schüssel voll Wasser und ein Glas zu holen. Dann sollte sie sich ihm gegenübersetzen und ihm ein Glas Wasser ins Gesicht schütten, wenn er die Augen schloß. Sie holte das Wasser und brachte ein Handtuch mit, damit er sich notfalls wieder abtrocknen konnte.

Innerhalb der nächsten Stunde mußte sie von dem Wasser Gebrauch machen. Beide Male hatte er mitten im Satz zu sprechen aufgehört und den Kopf sinken lassen. Unterdessen war es sechs Uhr; in einer Stunde würde die Dunkelheit hereinbrechen. Doc bezweifelte, daß er noch so lange wach bleiben konnte – aber bestimmt nicht länger.

Nachdem er sich das Gesicht abgetrocknet hatte, stand er schwankend auf. »Miß Talley«, sagte er, »so geht es nicht mehr; selbst auf Reißnägeln würde ich früher oder später einschlafen. Wir müssen uns zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden. Beide sind auch für Sie gefährlich, deshalb sollen Sie entscheiden.

Nummer eins – ich breche jetzt auf, solange es noch hell genug ist, um die nächste Farm zu erreichen, auf der es ein Telefon gibt. Ich nehme die Schrotflinte mit und lasse Ihnen die Pistole hier. Vielleicht schaffe ich es; vielleicht überschätzen wir die Gefahr. Dann sorge ich für Ihre Rettung – einige Wagen mit Staatspolizisten sollten ausreichen ... Und wenn ich es nicht schaffe, müssen Sie ...«

»Nein«, unterbrach ihn Miß Talley energisch. »Wenn Sie gehen, gehe ich mit. Wir können auch mit dem Wagen fahren. Warum wollen Sie zu Fuß gehen?«

»Weil dabei keine Gefahr besteht, daß ich einschlafe. Außerdem kann ich so den Luftraum beobachten. Wie gesagt – ein schwerer Vogel würde vermutlich glatt das Dach Ihres Wagens durchschlagen. Aber die zweite Möglichkeit besteht nicht darin, daß Sie mich begleiten, denn das wäre keine echte Alternative, sondern daraus, daß ich hier in diesem Raum auf dem Sofa schlafe – nachdem Sie mich gefesselt haben. In der Küche liegt eine fünfzehn Meter lange Wäscheleine, die für diesen Zweck genügen müßte.

Erstens kann sich unsere Schlußfolgerung über die Gefahren des Einschlafens als falsch herausstellen; vielleicht haben wir uns beide geirrt. Und zweitens wäre der Feind völlig hilflos, wenn er von mir Besitz ergreift, da ich gefesselt bin, so daß ich nicht Selbstmord begehen kann. Dann könnten Sie nach Bartlesville fahren und Hilfe holen, ohne dabei gefährdet zu sein.«

»Aber – wie sollte denn diese Hilfe aussehen, wenn Sie ...«

»Das müssen wir uns später überlegen. Aber Sie brauchen sich nicht zu beeilen, nachdem Sie die Statt erreicht haben. Setzen sie sich mit dem FBI in Verbindung und versuchen Sie mit Roger Price oder Bill Kellermann zu sprechen. Beide sind mit mir befreundet und werten Ihnen am ehesten Glauben schenken. Können Sie die Namen behalten, oder soll ich Sie Ihnen aufschreiben?«

»Roger Price oder Bill Kellermann; ich werte sie nicht vergessen. Aber wie weiß ich, daß ich ohne weiteres nach Bartlesville fahren kann? Wenn Sie wieder aufwachen und sich unbedingt selbst befreien wollen – oder so ähnlich?«

»Richtig. Und wenn nicht, dann müssen Sie sich auf andere Weise Gewißheit verschaffen. Nehmen Sie die Schrotflinte mit und gehen Sie vor die Tür – und warten Sie darauf, ob Sie angegriffen werden. Nein, das brauchen Sie doch nicht zu riskieren. Warten Sie einfach hier, bis der Sheriff morgen auftaucht. Das ist sicherer; ich hätte gleich daran denken sollen. Ich bin so müde, daß ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.«

»Einverstanden«, sagte Miß Talley. »Das ist bestimmt die beste Lösung.«

»Dann hole ich die Wäscheleine.«

Miß Talley ging mit ihm in die Küche und nahm ein Messer aus der Schublade, um die Leine zerschneiden zu können.

Doc legte die Pistole und die Munition für die Schrotflinte auf das Kaminsims. Dann lehnte er die doppelläufige Flinte in die Ecke neben der Tür. »Bewahren Sie das alles außerhalb meiner Reichweite auf«, ermahnte er Miß Talley. »Das Messer ebenfalls, nachdem Sie die Leine zerschnitten haben. Fesseln Sie zuerst meine Hände hinter meinem Rücken, bevor ich mich niederlege, damit Sie die Füße zusammenbinden können.« Er drehte sich um und hielt ihr die Hände hin, damit sie mit der Arbeit beginnen konnte.

»Hören Sie, Miß Talley«, fügte er noch hinzu, »riskieren Sie nichts, wenn ich etwa verrückt spielen sollte und mich befreien will. Versetzen Sie mir einen kräftigen Schlag auf den Kopf, damit ich das Bewußtsein verliere. Aber nicht so fest, daß Sie mich dabei umbringen – sonst könnte es Ihnen passieren, daß der Feind von Ihnen Besitz ergreift, wenn Sie nicht wachbleiben können, bis der Sheriff kommt.«

Miß Talley verknotete die Wäscheleine. »Wissen Sie ganz bestimmt, daß dies weniger gefährlich ist, als wenn wir gemeinsam die Stadt zu erreichen versuchen?«

»Beschwören kann ich es selbstverständlich nicht, aber ich vermute es. Bestimmt ist es sicherer für Sie – und wahrscheinlich nicht gefährlicher für mich.«

»Wenn Sie meinen ... Ist der Knoten so fest genug?«

»Ausgezeichnet. Sie haben ihn an die Stelle gemacht, wo ich ihn unmöglich mit den Fingern erreichen kann. Schön, dann lege ich mich also jetzt hin. Hoffentlich bleibe ich so lange wach, bis Sie meine Beine gefesselt haben.«

Er schaffte es mit letzter Kraft. Ein prüfender Blick auf Miß Talleys Arbeit, dann seufzte Doc zufrieden und sank zurück. Eine Sekunde später war er eingeschlafen.

Miß Talley beobachtete ihn einige Minuten lang. Dann griff sie nach der Schrotflinte und öffnete die Haustür, weil sie feststellen wollte, ob der Feind bereits von Dr. Staunton Besitz ergriffen hatte und ihn nur weiterschlafen ließ. Ein großer schwarzer Vogel stürzte sich auf sie herab, aber sie sah, daß noch Zeit genug war, in das Haus zurückzutreten, anstatt einen Schuß zu wagen, der vielleicht sein Ziel verfehlte. Sie schloß die Tür hinter sich, als draußen etwas Schweres auf die Treppe aufschlug.


Der Parasit war überrascht und verärgert gewesen, als Miß Talley plötzlich auf der Bildfläche erschien. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich in einem Vogel befunden, aber er hatte das Tier rasch auf die Erde stürzen lassen, als er den Volkswagen kommen sah. Dann hatte er von dem Stier Besitz ergriffen und war dem Auto nachgerannt, um es anzugreifen. Staunton hatte ihn daran gehindert, als er absichtlich zu niedrig schoß, um den Stier nur zu verwunden. Deshalb hatte er die Richtung geändert und den Mann attackiert, der nun besser treffen mußte, um sein Leben zu retten.

Aus der Unterhaltung der beiden Menschen, die er von seinem Platz unter der Treppe aus belauschte, hatte er erfahren, daß Miß Talley den Sheriff verständigt hatte. Gewiß, der Sheriff wollte erst morgen kommen, aber vielleicht überlegte er es sich doch und schickte zumindest einen Deputy, der noch heute erscheinen konnte. Der Parasit überlegte, daß es nicht schaden würde, wenn er rechtzeitig davon erfuhr, ob sich ein Auto auf der Straße näherte, um rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Vielleicht war es sogar besser, wenn er den Fahrer des Wagens tötete, bevor dieser die Besatzung des belagerten Hauses verstärkte.

Aus diesem Grund unternahm der Parasit regelmäßige Kontrollflüge über dem Haus und der Straße – so wie Miß Talley und Staunton immer wieder alle Fenster kontrollierten. Nach jedem Flug ließ er seinen Wirt zu Boden stürzen und befand sich sofort wieder in seinem eigenen Körper unter der Treppe.

Von einem dieser Flüge kehrte er eben zurück und wollte seinen Wirt – einen Bussard – auf den Erdboden aufprallen lassen, als zu seiner Überraschung Miß Talley allein, aber mit der Schrotflinte bewaffnet vor der Haustür erschien. Selbstverständlich stürzte er sich sofort auf sie, wobei sein Wirt den Tod fand.

Er befand sich also wieder in seinem eigenen Körper, so wie Miß Talley sich in dem Haus befand, und machte von dort aus die sogar noch überraschendere Feststellung, daß sein zukünftiger Wirt gefesselt auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief. Daß er schlief, war keine Überraschung, wohl aber, daß er an Händen und Füßen gefesselt war!

Ein geschickter Schachzug! Keiner der beiden hatte diesen Plan in den Gesprächen erwähnt, die der Parasit belauscht hatte. Einer von ihnen mußte ihn sich plötzlich überlegt haben, und dann hatten sie ihn ohne Zögern ausgeführt.

Wenn er jetzt von Staunton Besitz ergriff, war er hilflos, bis Stauntons Körper wieder von den Fesseln befreit war. Er überlegte und kam dann zu dem Schluß, daß er es doch wagen konnte. Die Frau konnte Staunton nicht ewig gefesselt halten. Und wenn er jetzt von Staunton Besitz ergriff, konnte er die Zeit gut nützen. Wenn er Stauntons Gedächtnis genauestens untersucht hatte und ihn dann aufwachen ließ – am besten erst gegen morgen früh – konnte er Stauntons Rolle so überzeugend spielen, daß Miß Talley ihn ahnungslos befreien würde. Und dann ... Nun, alle weiteren Einzelheiten ließen sich auch später noch planen, wenn er wartete, bis er Staunton aufwachen lassen konnte.

Er ergriff Besitz von dem Mann.

Und dann machte er eine neue Erfahrung – nicht der Art nach, aber in bezug auf die Intensität. Jedes Lebewesen, von dem er bisher Besitz ergriffen hatte, hatte sich zumindest Sekundenbruchteile lang dagegen gewehrt. Die Gegenwehr war kurz in den Fällen, wo es sich um ein Tier handelte; etwas heftiger, aber trotzdem nicht sehr ausdauernd bei den drei Menschen – den beiden Schuljungen und dem alten Farmer.

Auch dieser Kampf unterschied sich eigentlich nicht von den vorhergegangenen, aber er dauerte um Sekunden länger – und Staunton verlor nicht sofort die Beherrschung über seinen Körper. Er brachte es sogar fertig, sich mit einer geradezu übermenschlichen Anstrengung halbwegs aufzurichten und die Worte hervorzustoßen: »Unter den Stufen. Ein Ding wie ...«

Aber dann war alles vorüber; der Parasit war Sieger.


Doc Staunton ließ sich zurücksinken und atmete tief, bevor er die Augen öffnete. Er sah Miß Talley an, die neben dem Sofa stand und ihn anstarrte. »Ich muß wohl schlecht geträumt haben, Miß Talley«, meinte er beiläufig. »Wahrscheinlich war ich zu übermüdet. Habe ich im Traum etwas gesagt?«

Miß Talley antwortete erst nach einer kurzen Pause. »Ja, Sie haben etwas gesagt, Doktor – wenn Sie wirklich Dr. Staunton sind. Ich wiederhole: ›Unter den Stufen. Ein Ding wie ...‹ Das war alles. Wovon haben Sie geträumt?«

»Mein Gott, Miß Talley, wie soll ich das noch genau wissen! Oder doch – es war irgend etwas mit einem Stier, der ... Ach, ja, ich habe geträumt, daß ich von einem wütenden Stier verfolgt wurde und mich unter der Treppe vor dem Haus verstecken wollte – im Traum hatte ich keine Waffe. Jetzt kann ich wohl wieder einschlafen, ohne schlecht zu träumen, hoffe ich jedenfalls.« Er schloß die Augen.

»Dr. Staunton, Sie haben mir selbst erzählt, daß Sie das gesamte Haus von oben bis unten durchsucht haben, weil Sie glaubten, daß der Feind sich darin verborgen halten könnte. Dazu gehört auch der Raum unter der Treppe. Außerdem sagten Sie nicht ›Treppe‹, sondern ›Stufen‹. Drei Stufen führen vor dem Haus zur Tür hinauf; vor der Hintertür sind es noch einmal drei. Ich werde jetzt darunter suchen. Solange es draußen noch hell ist.«

»Miß Talley, das ist doch lächerlich! Ich habe nur schlecht geträumt und ...«

Aber er sprach ins Leere. Miß Talley öffnete bereits die Haustür und hatte die Pistole und die Schrotflinte mitgenommen. Und die Taschenlampe, falls es unter den Stufen bereits zu dunkel war.

Sie sah sich nur einmal kurz um, obwohl sie nicht glaubte, daß ein Angreifer auftauchen würde, und bückte sich dann, um den Hohlraum unter den Stufen mit der Taschenlampe auszuleuchten. Auf den ersten Blick war nichts zu erkennen, aber vielleicht mußte sie den Boden aufgraben, nachdem sie zunächst unter den anderen drei Stufen gesucht hatte. Sie ging um das Haus herum.

Auch dort war nicht gleich etwas zu erkennen, aber dann zeigte sich eine Stelle im Lichtschein der Taschenlampe, an der die feuchte Erde etwas dunkler erschien – als sei sie festgeklopft worden. Und dann – der Abdruck einer menschlichen Hand!

Sie achtete nicht darauf, daß ihre Kleidung schmutzig wurde, sondern ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch halb unter die Stufen, bis sie den dunkleren Fleck mit einer Hand erreichen konnte. Die Erde lag dort nur locker aufgehäuft und ließ sich leicht bewegen. Sie fühlte – etwas. Es hätte der Panzer einer Schildkröte sein können, aber Schildkröten graben sich nicht auf diese Weise ein. Miß Talley kroch rückwärts aus dem Hohlraum heraus und nahm dabei dieses Etwas mit. Es sah wirklich wie der Panzer einer Schildkröte aus, obwohl es weder Öffnungen für Kopf, Beine noch Schwanz aufwies ... Und auf den zweiten Blick wirkte es entschieden – fremdartig.

Sie ließ es entsetzt fallen, hielt die Mündung der Pistole dagegen und drückte ab.

Im Wohnzimmer schrie Dr. Staunton laut auf. Sie ließ die Pistole fallen, vergaß die Schrotflinte mitzunehmen und rannte um das Haus herum auf den Eingang zu.

Doc war vom Sofa heruntergerollt, aber er lag ruhig da und lächelte zufrieden. »Sie haben es geschafft, Miß Talley!« rief er ihr entgegen. »Das war er – unsere Wissenschaftler werden sich freuen, wenn sie zum erstenmal ein außerirdisches Lebewesen untersuchen können. Ein Gehirn in einem Panzer, sonst nichts. Nicht einmal Verdauungsorgane; er nahm seine Nahrung durch Osmose auf.

Binden Sie mich noch nicht los, Miß Talley. Dagegen wäre zwar nichts einzuwenden, aber Sie wissen es noch nicht sicher. Lassen Sie mich ausreden. Mein Gott, was ich Ihnen alles erzählen könnte! Alles ist so aufregend wichtig, daß ich wahrscheinlich nie wieder schlafen werde.«

Er seufzte. »Armer kleiner Fremder. Er wollte nur nach Hause – aber wir Menschen hätten darunter zu leiden gehabt, wenn es ihm gelungen wäre. Sehen Sie, Miß Talley, er hatte wirklich von mir Besitz ergriffen, aber der Kampf dauerte lange genug, so daß ich noch ein paar Worte hervorstoßen konnte, die Sie glücklicherweise richtig interpretierten.« Er schüttelte sich, als er daran zurückdachte. »Aber gleichzeitig lernte ich alles, was er jemals gelernt hatte, und verfüge jetzt über sein gesamtes Wissen.«

»Stammte er von einem anderen Planeten in unserem Sonnensystem?« fragte Miß Talley.

»Nein, von dem Planeten einer sehr weit entfernten Sonne, von dem wir uns immer fernhalten werden. Möchten Sie wissen, was ich noch alles gelernt habe, Miß Talley?«

Sie brauchte nicht einmal zu nicken; ihr Gesichtsausdruck war Antwort genug.

»Eine neue Wissenschaft, von der die Menschen bisher nicht einmal zu träumen gewagt hätten«, antwortete Doc langsam. »Raumfahrt ohne Anstrengungen. Wir können unsere Raketen verschrotten; sie sind in Zukunft überflüssig. Mit dem, was ich jetzt weiß, werden die Menschen innerhalb eines Jahres im Weltraum sein und ihn innerhalb von zwei Jahren erobert haben. Auf allen dazu geeigneten Planeten – auch außerhalb unseres Sonnensystems – werden menschliche Kolonien entstehen; die Entfernung spielt keine Rolle. Wir können zum Beispiel einen Planeten von Alpha Centauri genauso leicht erreichen wie den Mond.

Und noch etwas, Miß Talley, jeder wird es können, nachdem erst einmal feststeht, daß ein Planet bewohnbar ist! Miß Talley, wollen Sie mit mir kommen und mir helfen, während ich das alles in Gang bringe?

Und später – sagen wir in drei oder vier Jahren –, würden Sie dann mit mir ein paar Planeten besuchen wollen? Ein kleiner Abstecher zum Mars oder zur Venus, wo wir uns nicht lange aufhalten würden, weil wir Raumanzüge tragen müßten – und dann überallhin, wo es Planeten vom Erdtyp gibt, auf denen man auch ohne derartige Hilfsmittel auskommt ... Wohin möchten Sie zuerst, Miß Talley?«

Sie glaubte ihm, aber sie hätte ihn vermutlich auch dann losgebunden, wenn sie noch Zweifel gehabt hätte. Zuerst die Beine, dann rollte Doc sich auf die Seite, damit sie den Knoten hinter seinem Rücken lösen konnte. Er setzte sich auf.

Dann wiederholte er seine Frage, die Miß Talley vor Aufregung nicht beantwortet hatte, und fügte hinzu: »Einverstanden, Miß Talley?«

Sie nickte heftig, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Aber Doc hätte ihre Antwort ohnehin nicht mehr gehört, denn er lag lang ausgestreckt auf dem Sofa – und schlief fest. Er schnarchte leise.


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