12


Doc Staunton hatte den Morgen damit verbracht, daß er längere Aufzeichnungen über die beiden Selbstmorde und die damit verbundenen Phänomene machte. Trotzdem war er nicht ganz damit zufrieden, denn diese Aufzeichnungen allein waren nicht genug.

Andererseits wußte er, daß er eine Menge Arbeit vor sich hatte, wenn er alles niederschreiben wollte, denn er hatte keine Schreibmaschine mitgebracht und konnte auch auf einer Maschine nicht sehr viel schneller schreiben. Nach der ersten halben Stunde spürte er bereits die ersten Anzeichen eines Schreibkrampfes, obwohl er bisher nur drei Seiten geschrieben hatte. Und insgesamt würden es wohl vierzig oder fünfzig Seiten werden, wenn er alle Ereignisse detailliert wiedergeben wollte – ganz abgesehen von den dazugehörigen Schlußfolgerungen.

Aber irgendwie mußte er alles festhalten, solange er sich noch an Einzelheiten erinnern konnte. Er überlegte deshalb, ob er nicht nach Green Bay fahren sollte, um dort ein Tonbandgerät zu mieten oder zu kaufen. Aber diese Apparate waren ihm verhaßt, weil er gewöhnlich beim Diktieren auf und ab ging. Und dann mußte er jemand finden, der den diktierten Text abschrieb, deshalb war es vielleicht einfacher, wenn er sich gleich nach einer Stenotypistin umsah.

Wahrscheinlich mußte er auch dazu nach Green Bay fahren, aber zunächst konnte ein Versuch in Bartlesville nicht schaden. Aber an wen konnte er sich dort wenden? Vielleicht an Ed Hollis, den Herausgeber des Clarion? Doc kannte ihn, weil er bereits zweimal mit ihm Poker gespielt hatte. Ja, Hollis war der richtige Mann für diesen Zweck, denn er kannte unter Umständen sogar jemand in Wilcox.

Hollis hackte auf einer alten Underwood herum, als Staunton kurz vor Mittag in sein Büro kam. »Einen Augenblick, Doc«, sagte er und schrieb den angefangenen Satz zu Ende. »Was verschafft mir die Ehre? Spielen Sie heute abend mit?«

»Ich komme gern, Ed. Aber ich wollte Sie eigentlich etwas anderes fragen. Wissen Sie jemand in Bartlesville, der ein Diktat aufnehmen und es dann abschreiben kann?«

»Klar. Miß Talley. Miß Amanda Talley.«

»Arbeitet sie tagsüber? Hat sie nur abends Zeit?«

»Im Augenblick nicht, weil sie Englischlehrerin ist. Im Sommer macht sie nur zwei oder drei Wochen Urlaub und bleibt den Rest der Zeit hier und nimmt Gelegenheitsarbeiten an.

Unter anderem auch Buchhaltung. Wenn einer der Geschäftsinhaber nicht mehr weiter weiß, bringt sie ihm seine Bücher wieder in Ordnung.«

»Stenographiert sie schnell?«

»Aber sicher«, beteuerte Ed. »Früher war sie schließlich Lehrerin für Stenographie, Maschinenschreiben und Buchführung in einer Handelsschule, bevor sie hier an die Oberschule kam. Das ist jetzt schon lange her, aber sie ist nicht aus der Übung gekommen.«

»Klingt ideal«, gab Doc zu. »Wissen Sie zufällig, ob sie jetzt Zeit hat?«

»Nein, aber ich kann sie anrufen.« Ed Hollis griff nach dem Hörer, ließ den Arm aber wieder sinken. »Wieviel Arbeit haben Sie zu erledigen? Eine Stunde oder eine Woche oder was?«

»Ungefähr vier Stunden Diktat, vielleicht etwas länger. Und dann einen oder zwei Tage zur Übertragung in die Maschine.«

Hollis nickte und wählte eine Nummer. »Miß Talley? Ein Freund von mir möchte etwas diktieren und es dann abschreiben lassen. Haben Sie Zeit ... Ausgezeichnet, einen Augenblick.«

Er hielt die Hand über das Mundstück und wandte sich an Staunton. »Sie kann jederzeit anfangen. Aber jetzt ist es schon fast zwölf Uhr. Soll ich ihr sagen, daß Sie um ein Uhr zu ihr kommen?«

»Einverstanden.«

Hollis sprach wieder in den Apparat. »Schön, Miß Talley. Er kommt gegen ein Uhr zu Ihnen ... Er heißt Staunton ... Okay, auf Wiederhören.«

Hollis sah zu Staunton auf. »Ich soll Ihnen noch sagen, was sie normalerweise verlangt.« Er grinste. »Wahrscheinlich hat sie Angst, daß Sie einen Schreck bekommen könnten. Zehn Dollar pro Tag. Oder eineinhalb pro Stunde, wenn es sich um einen kürzeren Auftrag handelt.«

»Völlig angemessen. Wollen Sie nicht mit mir zum Essen gehen, Ed, damit ich ein bißchen Gesellschaft habe?«

»Tut mir leid, Doc, aber heute höre ich bereits um zwei Uhr auf, wenn ich rechtzeitig fertig werde. Ich habe gerade zu Hause angerufen, daß ich dann zum Essen komme.«

Er gab Doc Miß Talleys Adresse und begleitete ihn zur Tür, um ihm den Weg zu zeigen.

Als Staunton gegen ein Uhr die Straße hinunterging, fand er, daß Miß Talley in einem hübschen kleinen Haus wohnte, vor dem ein Volkswagen parkte.

Miß Talley war fast einen Kopf größer als Doc, aber gleichzeitig so schlank, daß sie vermutlich weniger wog als er. Staunton schätzte sie auf etwa sechzig, obwohl sie genauso gut fünf Jahre jünger oder älter sein konnte. Sie wirkte wie eine typische Lehrerin, aber Doc tröstete sich mit dem Gedanken, daß er schließlich nicht die Absicht hatte, sie als Partygirl in seine Dienste zu nehmen.

»Dr. Staunton?« Als er nickte, trat sie in den Flur zurück. »Kommen Sie doch bitte herein.«

»Danke, Miß Talley«, antwortete Doc und betrat das Haus.

»Setzen Sie sich doch, Doktor. Ich hole nur noch meinen Schreibblock und ...«

»Äh – Miß Talley, ich könnte natürlich auch hier diktieren, aber ich möchte doch vorschlagen, daß wir zu mir fahren. Ich wohne ungefähr fünfzehn Kilometer außerhalb von Bartlesville an der Bascombe Road. Wäre es möglich, daß ich Ihnen dort diktiere, wenn Sie die Schreibarbeit hier erledigen können? Es ist nur dumm, daß ich ganz allein dort lebe und ...« Er zuckte mit den Schultern.

Miß Talley lächelte verständnisvoll. »Hier wären wir ebenfalls allein, Doktor, deshalb dürfte das keine Rolle spielen. Ich komme gut ohne Anstandswauwau aus. Aber die Zeit, die durch die Fahrt verlorengeht ...«

»Selbstverständlich«, unterbrach Doc sie, »rechnen wir gleich von jetzt ab. Wenn Sie nur noch Ihren Block und Bleistifte holen ...«

Miß Talley bestand zunächst darauf, in ihrem Wagen fahren zu wollen, statt bei Doc Staunton einzusteigen. Seine Beteuerungen, daß er ohnehin gegen Abend wieder nach Bartlesville zurück müsse, nahm sie als höfliche Lügen (was sie auch waren); aber schließlich überzeugte er sie doch.


Die geschmeidigen, lautlosen Katzen sind hervorragende Wirte mit ihren weichen Pfoten, ihren raschen Bewegungen, ihrem guten Gehör. Sie konnten sich fast überall aufhalten, ohne bemerkt zu werden oder Aufsehen zu erregen.

Mit Hilfe einiger Katzen hatte der Parasit jede Farm zwischen der Gross-Farm und Bartlesville besucht; zwei davon allerdings nur sehr kurz, weil dort bissige Hunde frei im Hof umherliefen. Einer davon hatte die Katze erwischt, die dem Parasiten als Wirt diente.

Aber andererseits schien es bedeutungslos, daß er diese beiden Farmen hatte auslassen müssen, denn auf allen anderen hatte er nichts Wissenswertes erfahren. Dann hatte er in der Stadt sein Glück versucht, wobei er zunächst dem Radiomechaniker einen Besuch abgestattet hatte, weil dieser logischerweise als Wirt in Frage kam. Aber der Mann hatte sich als ungeeignet erwiesen – er wußte zu wenig und war zudem noch zu knapp bei Kasse, um sich frei bewegen zu können.

Gegen Abend erinnerte der Parasit sich an den kleinen Mann namens Staunton, der sich so für den Selbstmord des alten Siegfried Gross interessiert hatte. Nachdem in Bartlesville anscheinend nichts mehr von Bedeutung zu erfahren war, konnte es vielleicht nicht schaden, wenn er sich zunächst mit diesem Mann beschäftigte, der allem Anschein nach ebenfalls an der Bascombe Road wohnte.

Der Parasit ließ die Katze die Stadt auf dieser Straße verlassen, aber das Tier taumelte und stürzte bereits nach wenigen Kilometern; seine Pfoten bluteten, es war völlig erschöpft und ausgepumpt. Der Parasit stellte fest, daß die Katze wahrscheinlich einige Tage brauchen würde, bis sie sich völlig erholt hatte. Deshalb zwang er sie wieder auf die Füße und ließ sie querfeldein laufen, bis sie schon nach wenigen hundert Metern tot zusammenbrach.

Früh am folgenden Morgen ergriff er von einer grauen Katze Besitz, die auf einer der umliegenden Farmen lebte. Zunächst untersuchte er ihr Gedächtnis und stellte dabei fest, daß einige der Farmen nicht in Frage kamen, sondern daß Staunton noch weiter außerhalb der Stadt wohnen mußte. Dann beobachtete er jedes Haus sorgfältig und blieb dabei möglichst nahe an der Straße, um Staunton zu sehen, falls er in die Stadt fahren sollte.

Gegen elf Uhr geschah dieser Zufall tatsächlich, als die Katze auf dem Weg zur nächsten Farm über die Felder lief. Aus Osten näherte sich geräuschvoll ein alter Wagen, in dem der Parasit Staunton erkannte. Also mußte der Mann ziemlich am Ende der Straße wohnen. Andererseits kaum auf einer Farm, denn er wirkte nicht wie ein Farmer. Der Parasit ließ deshalb die nächsten Häuser aus und machte sich auf den Weg zu dem alleinstehenden Haus, von dem Tommy Hoffmann gewußt hatte, daß es nur zeitweise bewohnt war.

Ja, dort waren im Hof Reifenspuren zu sehen – wo Staunton anscheinend sein Auto stehenließ, weil keine Garage vorhanden war – und andere Anzeichen, daß hier jemand lebte. Aber hatte Staunton das Haus für immer verlassen?

Glücklicherweise schien es hier keinen Hund zu geben, so daß die Katze das Haus von allen Seiten betrachten konnte. Durch eines der Kellerfenster drang das Arbeitsgeräusch eines Motors und das Summen eines Generators. Das bedeutete, daß Staunton noch nicht abgereist war, sondern zurückkommen würde. Aber wohnte er hier allein, oder befand sich noch jemand in dem Haus?

Die Katze schlich um das Gebäude, ohne einen Zugang zu finden. Einige der Fenster im Erdgeschoß standen zwar offen, aber jeweils nur einen schmalen Spalt weit.

Der Parasit sah ein, daß er auf Stauntons Rückkehr warten mußte, um seine Untersuchung fortsetzen zu können. Aber in der Zwischenzeit sah er sich auf der ehemaligen Farm um, wobei er möglichst außer Sicht blieb, falls doch jemand in dem Haus zurückgeblieben sein sollte. Dann zog er sich in das hohe Gras hinter einem Schuppen zurück, um dort zu warten. Er ließ seinen Wirt schlafen, denn es war zwecklos, wenn er ihn jetzt überanstrengte und sich dann einen neuen suchen mußte. Außerdem würde die Katze sofort aufwachen, wenn sich ein Auto näherte.

Er mußte nicht so lange warten, wie er befürchtet hatte. Schon eine halbe Stunde später nahmen die empfindlichen Ohren der Katze das Geräusch eines fahrenden Wagens wahr, der sich von der Straße her näherte. Es war Stauntons Auto, und Staunton saß am Steuer, aber neben ihm saß eine Frau. Eine große, schlanke, ältliche Frau.

Der Parasit erkannte sie sofort, denn er verfügte über Tommy Hoffmanns Gedächtnis und seine Erinnerungen. Diese Frau war niemand anders als Miß Talley, Tommys ehemalige Englischlehrerin. War sie Stauntons Bekannte? War er ebenfalls Lehrer? Dann erkannte er, daß sie einen Schreibblock in der Hand trug und erinnerte sich daran, daß Miß Talley gelegentlich als Stenotypistin oder Buchhalterin arbeitete, um ihr Einkommen aufzubessern. Staunton mußte sie mitgebracht haben, damit sie für ihn arbeiten konnte. Das war ausgezeichnet; wenn er ihr Briefe diktierte, brauchte der Parasit ihn dabei nur zu belauschen, um einiges über ihn in Erfahrung zu bringen.

Nachdem die beiden das Haus betreten hatten, rannte die Katze von einem Fenster zum anderen, um festzustellen, in welchem Raum sie sich aufhielten. Sie hörte sie – ihre Stimmen, aber nicht jedes einzelne Wort – in einem Raum an der Rückseite des Gebäudes. Dann duckte sie sich zum Sprung auf das Fensterbrett. Von dort aus würde sie das Gesprochene verstehen, ohne daß jemand sich über ihre Anwesenheit wunderte, wie sie aus Erfahrung wußte. Und wenn die Leute Katzen mochten, würde man sie vielleicht sogar hineinlassen, wie Willie Chandler es getan hatte.

Er versuchte den Sprung und mußte feststellen, daß ungefähr zwanzig Zentimeter bis zum Fensterbrett fehlten. Die verdammte Katze war einfach zu klein. Jede andere, die er bisher gehabt hatte, hätte diese Höhe ohne weiteres geschafft. Einen Augenblick überlegte der Parasit bereits, ob er sich nicht eine andere suchen solle – aber diese andere befand sich vielleicht einige Kilometer weit entfernt und konnte erst hier sein, wenn Staunton zu Ende diktiert hatte. Nein, diese Möglichkeit schied vorläufig aus.

Er ließ die Katze an die Hintertür laufen und ihr Ohr dagegen legen; die Tür war zu dick, so daß er wieder nur Stimmen, aber keine Worte verstand.

Noch einmal langsam um das Haus. Im ersten Stock stand ein Fenster weit offen. Und jetzt sah er auch, daß die Zweige eines Baumes – oder jedenfalls einer davon – bis fast an das Fenster reichten. Dieser eine ragte etwas höher, aber unter dem Gewicht der Katze würde er sich wahrscheinlich genügend durchbiegen, um den Sprung in das offene Fenster zu ermöglichen.

Die graue Katze kletterte auf den Baum und arbeitete sich bis zu diesem Zweig vor. Ja, von hier aus konnte sie das Fenster erreichen. Aber zuerst warf sie einen Blick in das Zimmer und vergewisserte sich, daß die Tür offen stand, so daß er den Raum wieder verlassen konnte.

Er sprang. Vom Fensterbrett aus sah er zurück und bemerkte, daß er wie vermutet nicht mehr auf dem gleichen Weg zurück konnte. Der Zweig war wieder nach oben geschnellt und war jetzt zu weit vom Fenster entfernt. Aber zu; Not ließ sich bestimmt ein anderer Ausweg finden; Staunton würde wohl kaum sämtliche Fenster im Erdgeschoß dauernd geschlossen halten.

Er rannte in den Flur hinaus und schlich dann leise die Treppen hinunter und durch die Diele, an die sich die Küche anschloß. An einer Stelle befand sich eine kleine Nische – der ideale Horchposten.

Die Tür eines Kühlschranks wurde zugeschlagen, und dann verstand er, was in der Küche gesprochen wurde.

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