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Der Parasit hatte sich endlich aus dem Körper seines Wirts befreit, für den er keine weitere Verwendung mehr hatte, und befand sich wieder in seinem eigenen unter der Treppe auf der Gross-Farm. Er fühlte sich erleichtert und war mit dem zufrieden, was er getan hatte. Die Katze war so weit in den Wald hineingelaufen, bevor sie sich ertränkte, daß sie dort vermutlich kein Mensch finden würde. Staunton würde sich vielleicht über das Verschwinden der Katze wundern – aber Staunton würde nie etwas davon erfahren, weil er ab heute nacht nicht mehr Doc Staunton sein würde, sondern der Wirt des Parasiten.

Der Parasit hatte einen sehr einfachen Plan gefaßt, den er sich überlegt hatte, während er das Faulenzerdasein einer richtigen Katze führte. Er war davon überzeugt, daß er nie aus der Rolle gefallen war; er hatte keinen einzigen Fehler begangen. Stauntons Angebot mit der Pistole hatte ihn einen Augenblick lang gereizt – aber dann hatte er die Absicht erkannt, die der Mann damit verfolgte. Staunton hätte ihn bestimmt nicht erschossen, sondern im Gegenteil unter allen Umständen am Leben erhalten. Wahrscheinlich hätte er die Katze sogar mit Gewalt gefüttert, wenn sie die Nahrungsaufnahme verweigert hätte ...

Aber das lag jetzt alles hinter ihm, und nach dieser Nacht würde er sich völlig in Sicherheit befinden. Er würde von dem einzigen Menschen Besitz ergreifen, der ihm gefährlich werden konnte und gleichzeitig den perfekten Wirt darstellte.

Der Parasit empfand es als so wichtig, möglichst frühzeitig von Staunton Besitz zu ergreifen, daß er sich nicht einmal von einem Tier zu dessen Haus bringen lassen wollte. Mrs. Gross eignete sich besser für diese Aufgabe. Er wollte bis zwei Uhr morgens warten, weil dann vermutlich alle anderen Menschen längst schliefen, und sich von ihr in Stauntons Nähe verstecken lassen. Dann würde sie nach Hause zurückkehren, um dort zu sterben. Am besten durch einen gestellten Unfall – vielleicht durch einen Sturz die Treppe hinunter. Selbstverständlich würde dieser Todesfall wieder Aufsehen erregen, aber das spielte keine Rolle, denn eine Minute nach ihrem Tod würde er von Staunton Besitz ergriffen haben, wodurch jede Gefahr gebannt war. Sollten die anderen sich nur wundern; der Parasit würde sich jedenfalls in Sicherheit befinden.

Er gebrauchte seinen Spürsinn, um sich wieder mit seiner Umgebung vertraut zu machen und etwa eingetretene Veränderungen zu registrieren.

Mrs. Gross befand sich allein in dem Haus. Sie stand in der Küche und sterilisierte Einmachgläser. Im Hof und im Stall hatte sich nichts verändert, aber die drei Kühe standen nicht mehr an ihrem Platz. Ohne Zweifel waren sie auf der Weide. Alles schien in bester Ordnung.

Mrs. Gross verließ das Haus – und stieg über den Parasiten hinweg, als sie die Treppe hinunterging. Er folgte ihr aus reiner Neugier mit seinem Spürsinn, weil er sonst nichts anderes zu tun hatte. Sie ging um den Stall herum und blieb dort stehen. »Jim!« rief sie laut. »Juuhuu, Jim!« Er hörte eine andere Stimme, die ihr antwortete, obwohl er die Worte nicht verstehen konnte.

Dann erinnerte er sich. Das mußte Mr. Kramers Sohn sein, der Mrs. Gross während der Schulferien bei der Arbeit half, wie sein Vater ihr vorgeschlagen hatte.

Er konnte sich Jim vorstellen – schließlich hatte die Katze Pat den Kramers gehört: ein kräftiger Junge in Tommy Hoffmanns Alter. Das war allerdings ein wesentlich besserer Wirt als die ältliche, schwache Mrs. Gross. Aber er würde wohl kaum hier schlafen.

»Bringst du ein paar Maiskolben mit, Jim?« rief Mrs. Gross jetzt. »Ich koche sie uns zum Mittagessen. Und vielleicht auch drei oder vier Gurken, wenn du an dem Beet vorbeikommst.«

Dann ging sie wieder in die Küche zurück.


Jim Kramer richtete sich auf, fuhr sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn und kam quer über das Feld auf das Haus zu. Er war groß und kräftig, etwa in Tommys Alter, und hatte Tommy gekannt, obwohl sie nicht eigentlich befreundet gewesen waren. Sie hatten völlig verschiedene Zukunftspläne gehegt, was diese Tatsache erklärte. Tommy wollte nur Farmer werden, aber Jim wollte höher hinaus und studieren. Vielleicht Maschinenbau oder auch Chemie, wenn er damit mehr Geld verdienen konnte. Wahrscheinlich aber doch Maschinenbau, denn auf diesem Gebiet war er besonders begabt, was er dadurch bewies, daß er sämtliche Maschinen auf der Farm seines Vaters pflegte und notfalls reparierte.

Aber in der Zwischenzeit arbeitete er auch gern auf einer Farm und war über diese Gelegenheit froh, weil er sich dadurch etwas Geld für sein Studium verdienen konnte. Sein Lohn war nicht allzu hoch, aber trotzdem angemessen. Und er arbeitete ganztägig, denn schon nach wenigen Tagen hatte sich herausgestellt, daß er seine gesamte Arbeitskraft auf der Gross-Farm einsetzen mußte, um das Land vor dem Verwildern zu bewahren. Sein Vater hatte dies ebenfalls eingesehen und keine Einwände dagegen erhoben.

Jim schnitt ein halbes Dutzend große Maiskolben ab, überlegte einen Augenblick und nahm noch zwei mit. Er kannte seinen Appetit und schätzte, daß Mrs. Gross nicht mehr als zwei essen würde, während er sechs vertragen konnte. Dann suchte er noch ein paar schöne Gurken aus und brachte alles zusammen in die Küche zu Mrs. Gross.

»Warte, Jim«, sagte sie, als er wieder gehen wollte. »Du kannst gleich hierbleiben, denn es lohnt sich nicht, wenn du noch einmal hinausgehst, bevor wir essen. Vielleicht ruhst du dich ein bißchen aus, du hast schwer gearbeitet.«

»Danke, gern«, antwortete er. »Ich bin drüben in der Scheune, wenn Sie mich suchen.«

»Warum willst du dich ins Heu legen, wenn im Wohnzimmer ein bequemes Sofa steht?«

Jim nickte zustimmend und ging in das Wohnzimmer hinüber. Dort setzte er sich auf das Sofa, zog die Stiefel aus, um die Polster nicht zu beschmutzen, und streckte sich aus. Er war nicht richtig müde, aber eine Viertelstunde Schlaf konnte nicht schaden. Jim gehörte zu den Glücklichen, die zu jeder Tageszeit und an jedem Ort einschlafen können, um bereits nach zehn Minuten völlig erholt aufzuwachen.

Er schloß die Augen und schlief – und spürte den kurzen Kampf kaum, der sich in seinem Innern abspielte.

Er blieb ruhig liegen – aber der Parasit untersuchte bereits sein Gedächtnis, um sich auf die Rolle vorzubereiten, die er als Jim Kramer zu spielen hatte. Wenigstens einen Tag lang.

»Alles fertig, Jim«, rief Mrs. Gross aus der Küche. »Bist du wach?«

»Klar«, antwortete er. »Ich komme gleich.« Er zog sich die Stiefel an und band die Schuhbänder zu.

Dann stand er auf und ging an die Küchentür. »Mmm, das riecht aber gut«, stellte er fest.

»Setz dich. Iß, solange alles noch heiß ist.«

Nach dem Essen ging Jim zu seiner Arbeit zurück und zupfte den ganzen Nachmittag weiter Bohnen. Morgen sollten sie in die Stadt zur Sammelstelle gebracht werden, von wo aus sie in die Konservenfabrik transportiert wurden. Aber – das wußte der Parasit genau – bestimmt nicht von seinem gegenwärtigen Wirt, morgen um diese Zeit würde Jim Kramer bereits tot sein.

Gegen Abend trieb er noch die Kühe von der Weide in den Stall und melkte sie. Dann war er für heute fertig und ging nach Hause.

Der Jim Kramer, der an diesem Abend mit seinen Eltern am Tisch saß, war vielleicht etwas stiller als sonst, aber trotzdem keineswegs verändert. Seltsam war nur die Art und Weise, wie er seinen Abend verbrachte, denn nach dem Essen holte er sich ein zehnbändiges Lexikon aus dem Bücherschrank und begann darin nachzuschlagen. Sein Vater sah ihm über die Schulter und stellte fest, daß der Junge die Eintragungen über »Radar«, »Elektronik« und »Datenverarbeitung« las.

»Willst du doch lieber Elektrotechnik anstatt Maschinenbau oder Chemie studieren, Jim?« fragte er.

»Ich will mich nur ein bißchen darüber informieren, Dad«, antwortete sein Sohn. »Das Gebiet ist ganz interessant und bestimmt aussichtsreich. Vielleicht versuche ich es damit, wenn ich daraus schlau werde.«

»Hm, gar nicht dumm. Aber du hast doch noch ein ganzes Jahr Zeit, mein Junge.«

»Stimmt, aber ich muß mir überlegen, welche Fächer ich im letzten Jahr Oberschule nehmen will. Und die Schule fängt nächsten Monat wieder an ...«

Mr. Kramer zuckte mit den Schultern. »Okay, Jim. Das kannst du selbst am besten entscheiden; du weißt mehr darüber als ich.«

»Noch etwas, Dad. Kann ich morgen früh ein paar Stunden lang den Lieferwagen haben?«

»Von mir aus; ich brauche ihn nicht. Aber wie steht es mit deiner Arbeit bei Mrs. Gross?«

»Keine Angst, ich kann für sie arbeiten und trotzdem etwas für mich erledigen. Morgen soll ich eine Ladung Bohnen für sie nach Bartlesville bringen und bei der Sammelstelle abliefern. Aber mit dem Auto kann ich in derselben Zeit nach Green Bay und zurück fahren, die ich sonst brauchen würde, um mit Pferd und Wagen nach Bartlesville zu kommen. Und in Green Bay bekomme ich bestimmt mehr für die Bohnen – und kann etwas für mich besorgen.«

»Das wäre?«

»Ich möchte nur in die Stadtbücherei und ein paar Bücher ausleihen. In dem Lexikon hier muß ich an verschiedenen Stellen nachschlagen und habe trotzdem keinen einigermaßen zusammenhängenden Text. Ein wirklich gutes Fachbuch über die Grundlagen der Elektrotechnik wäre bestimmt besser.«

»Das sehe ich ein, Jim. Wenn du in der Bücherei kein Glück hast, gehst du einfach in eine Buchhandlung. Ich bezahle dir das Buch – auch mehrere.«

»Vielen Dank, Dad. Ich nehme an, daß ich in der Bücherei ein Fachbuch darüber finde, aber wenn das nicht klappt, nehme ich dich bestimmt beim Wort.«

Er stellte das Lexikon an seinen Platz zurück. Der Parasit, der den gedruckten Text durch Jim Kramers Augen wahrgenommen hatte, konnte jetzt jede Seite auswendig, die der Junge anscheinend nur überflogen hatte. Später wollte er das Gelernte in aller Ruhe auswerten.

Den Rest des Abends verbrachte Jim damit, daß er die letzte Ausgabe der Zeitschrift Popular Mechanics las, die er abonniert hatte. Seine Eltern gingen schon gegen zehn Uhr zu Bett, aber er hatte sie allmählich davon überzeugen können, daß er weniger Schlaf brauchte; deshalb blieb er wie üblich noch eine Dreiviertelstunde länger auf. Kurz vor elf aß er noch etwas – ebenfalls wie üblich – und ging dann die Treppe hinauf in sein Zimmer. Aber er schlief nicht, sondern zog nur die Schuhe aus und blieb ruhig auf dem Bett liegen, bis er auf dem Leuchtzifferblatt seiner Uhr sah, daß es halb drei war. Dann schlich er sich aus dem Haus, wobei er seine Schuhe in der Hand trug.

Draußen schien der Mond, was einerseits vorteilhaft war, weil Jim dadurch besser sehen konnte, aber andererseits den Nachteil hatte, daß er selbst gut zu sehen war. Und das mußte er unbedingt vermeiden. Wenn er morgen auf der Fahrt nach Green Bay einen Unfall hatte – der Parasit wollte noch so lange warten, weil Jim nachts nicht ums Leben kommen konnte, ohne beträchtliches Aufsehen zu erregen –, durfte es nicht geschehen, daß später jemand berichtete, er habe Jim Kramer in der Nacht vor seinem Tod da und da gesehen. Er schlich sich an die Gross-Farm heran, holte den Körper des Parasiten unter der Treppe hervor und verwischte sorgfältig alle Spuren.

Dann verbarg er den Körper unter dem Hemd, damit niemand erzählen konnte, er habe etwas getragen, falls er doch beobachtet wurde, und machte sich auf den Weg zu Stauntons Haus. Dabei umging er alle Farmen in der Nachbarschaft in einem weiten Bogen, so daß er unverhältnismäßig lange brauchte, bis er das dunkle Gebäude vor sich liegen sah. Auch hier führte eine Treppe zu der Hintertür hinauf, unter der er den Körper des Parasiten versteckte. Dabei gab er sich besondere Mühe, um nach Möglichkeit keinerlei Spuren zu hinterlassen.

Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, ging er nach Hause zurück und schlich sich in sein Zimmer hinauf. Auftrag ausgeführt. Diesmal zog er seinen Schlafanzug an, weil seine Mutter zum Wecken hereinsehen würde, und brachte dann das Bett so in Unordnung, als habe er wirklich darin geschlafen. Kurze Zeit später kam seine Mutter an die Tür und rief nach ihm. Er antwortete mit verschlafener Stimme und setzte sich gähnend auf.

Auch beim Frühstück gähnte er einige Male ausgiebig, bis seine Mutter ihn fragte, ob er denn am vergangenen Abend später als gewöhnlich zu Bett gegangen sei. Jim schüttelte den Kopf und log ihr vor, daß er aus irgendeinem Grund nicht habe einschlafen können und erst gegen Morgen wirklich geschlafen habe.

»Vielleicht machst du dir zu viele Sorgen um deine Berufswahl«, meinte sein Vater. »Aber, Jim, wenn du tatsächlich nur so wenig geschlafen hast, sehe ich es nicht gern, daß du nach Green Bay fährst; du könntest am Steuer einschlafen. Warum legst du dich nicht noch ein paar Stunden ins Bett? Ich kann Mrs. Gross sagen, daß du heute nur nachmittags Zeit hast. Ihr macht es bestimmt nichts aus, und du kannst nach dem Mittagessen fahren.«

Jim gähnte wieder. »Danke, Dad, aber das ist wirklich nicht notwendig; es wird schon besser werden, wenn ich an der frischen Luft bin.«

Eine halbe Stunde später hatte er Bartlesville hinter sich gelassen und befand sich auf der Fahrt nach Green Bay. Er hatte darauf geachtet, daß Mrs. Gross ihn gähnen sah, während er die Bohnen auf die Ladefläche des Lieferwagens schaufelte. Wenn sowohl seine Eltern, als auch Mrs. Gross aussagen konnten, daß er an diesem Morgen besonders schläfrig gewesen sei, dann würde es nur eine Erklärung für den tödlichen Unfall geben – am Steuer eingeschlafen.

Schließlich entschied er sich für den Pfeiler einer massiven Betonbrücke, die er nach etwa zehn Minuten erreichen würde. Ein Frontalzusammenstoß mit einem entgegenkommenden Wagen war vielleicht sicherer, aber dabei würde zumindest der Fahrer des anderen Wagens ebenfalls den Tod finden. Folglich schied diese Möglichkeit aus – obwohl der Parasit keinerlei Mitleid mit Menschen empfand –, denn dadurch würde es noch mehr Gerede über den Unfall geben.

Die Brücke tauchte auf, und er steuerte mit über neunzig Stundenkilometern auf den Pfeiler zu. Der Aufprall reichte völlig aus.

Eine Zehntelsekunde später befand der Parasit sich bereits wieder in seinem eigenen Körper unter der Treppe hinter Stauntons Haus.

Es war fünf Minuten nach neun Uhr.

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