16


Ein Tag mehr oder weniger spielte tatsächlich keine Rolle, wie er erfuhr, als er am Donnerstag die Gitter bestellten wollte. Hand Purdy, der einzige wirklich gute Schreiner der Stadt, hatte bereits mehr Arbeit, als er in dieser Woche bewältigen konnte. Aber er versprach an einem der nächsten Tage zu dem Haus hinauszufahren, um die Fenster auszumessen und einen Kostenvoranschlag zu machen. Doc hätte sich nach einem anderen umsehen können, aber er wollte Hank den Auftrag geben, weil sie schon mehrmals zusammen Poker gespielt hatten. Schließlich hatte er nicht die Absicht, die Katze für ewige Zeiten eingesperrt zu halten, so daß er ohne weiteres warten konnte.

Er parkte den Kombiwagen vor Miß Talleys kleinem Haus. Sie mußte ihn dabei beobachtet haben, denn sie öffnete die Tür, bevor er sie erreicht hatte.

»Kommen Sie herein, Doktor. Alles bereits fertig. Hier, setzen Sie sich, ich hole gleich meinen Schreibblock.«

»Danke, Miß Talley, aber ich möchte die beiden Briefe doch nicht schon heute diktieren. Ich will noch ein paar Tage lang über die Angelegenheit nachdenken, bevor ich sie abschicke. Und vielleicht erfahre ich in der Zwischenzeit noch etwas, das ich dann gleich in den Briefen erwähnen kann.«

»Wenn Sie wirklich meinen ...« Sie schob einen dicken braunen Umschlag über den Tisch. »Wollen Sie es gleich hier durchlesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, erst später. Aber ich möchte mich ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten, wenn Sie nichts anderes zu tun haben.«

Miß Talley nickte. Er erzählte ihr von der Katze. »Zuerst hatte ich richtig Angst vor ihr.« Er lachte. »Wahrscheinlich war daran vor allem Ihr Gerede von Besessenen und Dämonen schuld. Aber jetzt bin ich völlig anderer Meinung und hoffe sogar, daß sie bei mir bleibt. Sie ist bestimmt völlig normal, Miß Talley.«

»Und Buck war ein völlig normaler Hund, bis er vor Ihren Wagen sprang. Ich finde es nicht richtig, daß die Katze bei Ihnen bleiben soll, Doktor. Sie werden vielleicht darüber lachen – aber ich mache mir wirklich Sorgen deswegen.«

»Alles ist in bester Ordnung, Miß Talley. Ich fürchte, daß wir beide die Sache etwas zu tragisch genommen haben.«

»Möglich, Doktor ... Versprechen Sie mir, daß Sie die Berichte und die Briefe an die beiden Freunde schicken werden, wie Sie es vorhatten?«

Staunton seufzte resigniert. »Schön, dann schicke ich das Zeug eben ab. Aber zuerst möchte ich noch darüber nachdenken.«

»Einverstanden. Diese Woche bin ich jeden Nachmittag zu Hause, wenn Sie also kommen wollen, um die Briefe zu diktieren ...«

An diesem Abend setzte er sich nach dem Essen auf das Sofa im Wohnzimmer. Die Katze lag bereits dort und schnurrte laut, als er sie streichelte.

»Na, gefällt es dir allmählich bei mir, Katze? Rechnen wir einmal nach; jetzt ist Donnerstagabend. Wir müssen uns auf den Tag und die Stunde einigen, wann du deine Wahl treffen kannst. Wie paßt die Montag? Bisher habe ich dich nach dem Mittagessen gefüttert, deshalb werde ich dich am frühen Morgen hinaus lassen – wenn du immer noch hinaus willst. Dann hast du Zeit zum Überlegen, bevor du wieder hungrig bist.

Wenn ich in die Stadt fahren muß, bleibe ich nicht lange und bin jedenfalls bis Mittag wieder zurück, damit ich dich füttern kann, wenn du willst. Einverstanden?«

Die Katze gab keine Antwort, schnurrte aber weiter.

»Damit du dir keine überflüssigen Sorgen machst, will ich dir noch erzählen, daß ich dich von den Kramers geschenkt bekommen habe«, fügte Doc nach einer Pause hinzu. »Keine Angst, sie nehmen dich wieder auf, falls du lieber zu ihnen zurückwillst.

Ja, ich kenne dich und weiß auch, daß du eigentlich Pat heißt. Vielleicht hätte ich den Namen beibehalten, wenn einer deiner Brüder mitgekommen wäre. Den hätte ich Patachon genannt. Pat und Patachon, ein edles Paar, obwohl du dann eigentlich ein Kater sein müßtest. Aber das ist unwichtig. Wen ziehst du vor, die Kramers oder mich?«

Er stand auf und rückte sich einen bequemen Sessel vor das Sofa. Dann starrte er die Katze an.

»Katze, warum hast du dich vor mir versteckt? Warum bist du durch das Fenster im ersten Stock in das Haus gekommen?

Wußtest du denn nicht, daß eine Katze das nie getan hätte? Warum hast du dich nicht von Anfang an so benommen, wie du dich seit heute vormittag benimmst?«

Die Katze streckte sich, rollte sich wieder zusammen und schloß die Augen.

»Katze!« sagte Staunton scharf. Das Tier öffnete die Augen und sah ihn an.

»Katze, du hast nicht zu schlafen, wenn ich mit dir spreche. Das ist äußerst unhöflich. Katze, du hast doch früher in der Nähe der Gross-Farm gelebt. Hast du ihre Katze gekannt? Die große schwarze Katze, die in der Nacht Selbstmord beging, in der sich auch Mr. Gross umbrachte? Behaupte nur nicht, es sei kein Selbstmord gewesen! Wie kommt eine Katze sonst dazu, einem bissigen Hund vor die Nase zu laufen, den sie doch gesehen haben muß! Warum dieser Selbstmord? Und wenn es keiner war – was war es dann?«

Die Katze hatte wieder die Augen geschlossen, aber Doc spürte, daß sie keineswegs schlief.

»Und in der gleichen Nacht beging auch eine Eule Selbstmord. Was weißt du darüber? Und noch früher – in Verbindung mit Tommy Hoffmanns Tod – verursachte eine Feldmaus ihren eigenen Tod. Offenbar mit Absicht. Und ein Hund ebenfalls. Wußtest du, daß ich ihn überfahren habe? Und daß er sich am Straßenrand versteckt hatte, bis mein Auto nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, um dann genau vor die Räder zu laufen? Ich könnte beschwören, daß er das absichtlich getan hat – denn schließlich war bekannt, daß er sich vor Autos fürchtete.

Zwei Menschen und vier Tiere – das wissen wir bestimmt. Selbstverständlich hätte ich davon gehört, wenn noch mehr Menschen Selbstmord begangen hätten; aber wie viele Tiere in freier Wildbahn können es unbeobachtet getan haben, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten, für den sie jemand oder etwas gebraucht hatte?«

Vor dem Fenster zirpten Grillen, Hunderte von Grillen. Stauntons Gedanken schweiften einen Augenblick ab, als er sich überlegte, wie seltsam es doch war, daß man nur die Pausen zwischen den Zirplauten zu messen brauchte, um daraus die augenblickliche Temperatur bestimmen zu können. Mindestens ebenso genau wie mit einem gewöhnlichen Thermometer.

Die Natur gab dem Menschen viele Rätsel auf. Man brauchte nur an die Lemminge zu denken, die zu manchen Zeiten in Scharen ans Meer zogen und sich hineinstürzten. Kollektiver Irrsinn? Oder wußten die Lemminge mehr, als die Menschen je erfahren werden?

Er wandte sich wieder an die Katze. »Katze«, fragte er, »weshalb haben diese anderen Tiere Selbstmord begangen? Wenn du Ähnlichkeit mit ihnen hast, warum versuchst du es dann nicht ebenfalls? Oder hast du nur keine Gelegenheit dazu, weil ich dich eingesperrt halte? Einen Augenblick, das werden wir gleich feststellen.«

Doc stand auf und ging an den Schrank im Flur, in dem er seine Angelgeräte und Waffen aufbewahrte. Kurze Zeit später kam er mit einer Pistole und einer Zielscheibe zurück, stellte die Scheibe gegen die rückwärtige Wand des Wohnzimmers und setzte sich wieder in den Sessel. Die Katze hob den Kopf, als er die Pistole durchlud.

»Hör zu, Katze«, sagte er dabei, »probieren wir es doch einmal. Wenn du nur hinauswillst, um dort Selbstmord begehen zu können, dann werde ich dir die Mühe abnehmen. Du brauchst dich nur genau vor die Zielscheibe dort drüben zu setzen, dann bist du alle Sorgen los.«

Die Katze sah ihn schläfrig an und senkte den Kopf wieder auf die Pfoten. Sie schlief – oder gab wenigstens zu schlafen vor, ohne von Stauntons Angebot Gebrauch zu machen.

Doc seufzte, aber andererseits hatte er nicht erwartet, daß die Katze sich vor die Zielscheibe setzen würde. Wenn sie ... nun, wenn sie keine richtige Katze war, dann würde sie sich bestimmt nicht dadurch verraten, daß sie seinen Vorschlag annahm. Und unter diesen Umständen hätte er ohnehin nicht auf sie geschossen. Vor allem nicht mit einer Pistole, die er absichtlich nickt geladen hatte.

Er brachte die Zielscheibe und die Waffe wieder an ihren Platz zurück und ging in die Küche. Ein Schluck Bier vor dem Schlafengehen konnte nicht schaden.

Die Katze kam aus dem Wohnzimmer in die Küche, als sie Doc die Kühlschranktür zuschlagen hörte. Sie kümmerte sich nur wenig um sein Gerede, aber dieses Geräusch schien ihr vertraut zu sein – wahrscheinlich von den Kramers her –, so daß Staunton nichts aus dem Kühlschrank holen konnte, ohne daß die Katze ihn dabei beobachtete. Sie bettelte nicht, aber sie war zur Stelle, falls etwas für sie abfallen sollte.

Er fand einige Scheiben Salami, legte eine davon in die Katzenschüssel und aß die übrigen selbst mit einer Scheibe Weißbrot. Dann öffnete er eine Dose Bier und ließ sich an dem Küchentisch nieder. Die Katze fraß die Scheibe Wurst und ging dann wieder in das Wohnzimmer hinüber, um dort weiterzuschlafen. Doc hatte ihr unterdessen beigebracht, daß alles Betteln zwecklos war, wenn er sich erst einmal an den Tisch gesetzt hatte. Außerdem war sie bestimmt nicht wirklich hungrig, sondern legte nur Wert auf eine kleine Abwechslung ihrer üblichen Kost, die aus Katzenfutter in Dosen und Milch bestand.

Doc nahm die Taschenlampe zur Hand, bevor er das Licht ausmachte; er benützte sie noch immer, um den Weg ins Schlafzimmer zu beleuchten – aber aus einem anderen Grund als zuvor. Jetzt wollte er nur vermeiden in der Dunkelheit auf die Katze zu treten oder über sie zu fallen.

Der folgende Tag, ein Freitag, verlief ziemlich ereignislos. Er fuhr wie üblich nach Bartlesville, fand aber dort weder Post für sich vor, noch hatte er Einkäufe zu erledigen. Schließlich ging er in die Redaktion des Clarion – angeblich nur aus dem Grund, daß er die Anzeige zurückziehen wollte, aber in Wirklichkeit nur deshalb, weil er auf eine Unterhaltung mit Ed Hollis Wert legte. Dabei erfuhr er, daß sich nichts Neues ereignet hatte, wenn man davon absah, daß die Garners einen Käufer für ihre Farm gefunden hatten und nach Kalifornien ziehen wollten. Und Gus Hoffmann, Tommys Vater, hatte eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben, in der er seine Farm ebenfalls zum Verkauf anbot.

»Ich habe den Verdacht, daß Charlotte ein Kind bekommt«, meinte Hollis. »Weil die Garners fortziehen, meine ich.«

»Na, an Ihrer Stelle würde ich diesen Verdacht aber nicht in der Zeitung erwähnen, Ed.«

Hollis warf Staunton einen so beleidigten Blick zu, daß dieser sich sofort bei ihm entschuldigte.

»Aber warum will Gus Hoffmann deswegen auch fort?« fragte Hollis. »Das verstehe ich nicht ganz. Schließlich ist Tommy tot, und das Geschwätz der Leute braucht doch Gus nicht zu kümmern.«

»Das ist ganz einfach zu erklären, Ed. Hoffmann wird von jetzt an immer in der Nähe der Garners bleiben. Er hat weder Weib noch Kind – aber einen Enkel oder eine Enkelin unterwegs. Ehelich oder unehelich, Hoffmann ist bereits jetzt in das Kind verschossen.«

»Menschenskind, Doc, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen! Warum bin ich nicht schon längst auf den gleichen Gedanken gekommen? Hoffmann wird sich einfach zusammen mit den Garners eine große Farm kaufen, die sie gemeinsam bewirtschaften. Und Charlotte wird eine sehr junge Witwe sein, die Mrs. Hoffmann heißt. Auf diese Weise trägt das Kind sogar Hoffmanns Namen, so daß Gus wieder etwas hat, wofür es sich zu leben lohnt.«

Doc kam an diesem Tag so frühzeitig nach Hause zurück, daß er genügend Zeit hatte, um am Nachmittag zum Angeln zu gehen. Die Katze hatte sich anscheinend mit ihrem Schicksal abgefunden, denn sie versuchte nicht mehr an ihm vorbei ins Freie zu gelangen, als er das Haus betrat und es kurze Zeit später wieder verließ. Sie hatte sich bereits akklimatisiert.

Oder hatte sie nur jedes Wort verstanden und wußte genau, daß er sie am Montag hinauslassen wollte? Doc schlug sich den Gedanken daran aus dem Kopf und freute sich lieber im voraus auf einen geruhsamen Nachmittag.

Obwohl er um die falsche Tageszeit zum Angeln gegangen war, hatte er bereits nach einer Stunde fünf mittelgroße Forellen in seinem Eimer. Damit gab er sich vorläufig zufrieden, denn mehr konnte er auf keinen Fall an einem Tag essen, selbst wenn er auch die Katze damit fütterte. Und frische Bachforellen schmeckten wesentlich besser als solche, die im Kühlschrank aufbewahrt worden waren.

Nach seiner Rückkehr bereitete er drei davon zu und aß selbst zwei, während die Katze den dritten Fisch gierig verschlang. Doc sah ihr belustigt zu. »Gut, Katze«, meinte er dann, »von mir aus kannst du das als Bestechung ansehen. Aber wenn du bei mir bleibst, bekommst du wahrscheinlich nur jeden dritten Tag Forelle – keinesfalls täglich.«

Nach dem Frühstück am Montagmorgen überlegte Doc, ob er die Katze wirklich ins Freie lassen sollte, um zu sehen, ob sie nach vier oder fünf Stunden am frühen Nachmittag zurückkam. Ja, er würde den Versuch machen, denn ewig konnte er das Tier ohnehin nicht eingesperrt halten. Er würde der Katze die Freiheit wiedergeben und sie selbst entscheiden lassen, ob sie zu ihm zurückkehren wollte.

Aber wenigstens wollte er auf eine Kleinigkeit achten. Er hatte ein hervorragendes Fernglas bei sich, mit dem er sich an einem der Fenster im ersten Stock postieren wollte, nachdem er die Katze hinausgelassen hatte. Von dort aus konnte er dann beobachten, in welche Richtung sie verschwand, ob sie zu den Kramers zurücklief, im Wald untertauchte oder in der Nähe des Hauses blieb.

Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah, daß draußen ein leichter Regen fiel. Wenn er heftiger wurde, war es denkbar, daß die Katze überhaupt nicht ins Freie wollte, weil sie wasserscheu war. Aber der Nieselregen hörte schon eine Viertelstunde später auf.

Genau um zehn Uhr – Doc wollte sein Versprechen halten, nachdem er vor einigen Tagen diesen Zeitpunkt erwähnt hatte – ging er durch das Wohnzimmer an der Katze vorbei zur Haustür. »Möchtest du einen kleinen Spaziergang machen, Katze?« fragte er und öffnete dabei die Tür.

Die Katze schien verstanden zu haben. Sie sprang zu Boden, streckte sich umständlich und ging mit erhobenem Schwanz an Doc vorbei durch die Tür.

Staunton nahm das Fernglas und rannte die Treppe hinauf. Zuerst versuchte er es mit dem Fenster seines Schlafzimmers, das sich als das richtige erwies; die Katze hatte den Hof bereits halbwegs überquert und bewegte sich in Richtung auf das Ende der Straße zu. Sie zeigte keine besondere Eile, hielt sich aber auch nicht allzu lange auf, sondern bewegte sich mit der Gelassenheit einer Katze, die ein bestimmtes Ziel vor Augen hat und keinen Grund zur Eile sieht.

Wahrscheinlich will sie zu den Kramers zurück, dachte Doc. Schön, ihm war es auch recht, denn vielleicht ersparte ihm das später einige Schwierigkeiten. Mrs. Kramer hatte ihm die Katze so bereitwillig überlassen, daß er sich vorstellen konnte, wie lange er später nach einer Bleibe für das Tier hätte suchen müssen. Und da er die Katze bestimmt nicht einfach zurückgelassen hätte, wäre ihm nichts anderes übriggeblieben, als sie mit nach Boston zu nehmen. Was hätte er aber dort mit ihr anfangen sollen?

Als die Katze das Ende der Straße erreichte, blieb sie stehen, wandte den Kopf und sah zu dem Haus zurück, das sie erst vor wenigen Minuten verlassen hatte. Doc trat rasch von dem Fenster zurück, beobachtete das Tier aber trotzdem weiter. Sah die Katze zurück, weil sie sich noch nicht entschieden hatte, ob sie wirklich nach Hause zurücklaufen sollte? Oder sah sie sich um, weil sie feststellen wollte, ob er ihr nachsah? Er wußte ziemlich sicher, daß sie ihn hinter dem Fenster nicht erkennen konnte.

Die Katze blieb etwa eine Minute lang unbeweglich stehen und überlegte entweder, oder vergewisserte sich, daß sie nicht beobachtet wurde. Was tat sie wirklich?

Dann bewegte sie sich wieder, diesmal etwas schneller, aber nicht die Straße entlang, die zu der Kramer-Farm führte. Statt dessen überquerte sie die Straße und verschwand im Unterholz, wo Doc sie schon nach wenigen Metern aus den Augen verlor.

Staunton senkte das Fernglas und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Eigentlich hatte sie sich völlig normal benommen, aber trotzdem ...

Dann fiel ihm der Nieselregen ein, der vor einer halben Stunde niedergegangen war. Der Boden war bestimmt noch feucht davon, so daß die Katze Spuren hinterlassen haben mußte. Und warum sollte er ihnen nicht einfach folgen, um möglicherweise herauszubekommen, wohin sie verschwunden war? Schließlich hatte er im Augenblick wirklich nichts zu tun, so daß ein Spaziergang in der frischen Luft nur eine angenehme Abwechslung bedeutete.

Er brach sofort auf und nahm sich nur noch die Zeit, einen Hut aufzusetzen und einen Regenmantel mitzunehmen, falls es wieder zu regnen beginnen sollte. Die Spuren der Katze waren in dem feuchten Erdreich deutlich zu erkennen, und Doc beugte sich nieder, um sie sich einzuprägen, damit er nicht aus Versehen einer Wildfährte folgte.

Im Wald traten die Spuren weniger deutlich hervor, denn dort hatte der Regen den Boden kaum erreicht, und die Abdrücke waren im Gras zwischen den Bäumen nur schwach zu sehen. Doc hatte beträchtliche Mühe, der Spur zu folgen, bis ihm endlich auffiel, daß die Katze keinerlei Umwege gemacht hatte, sondern sich in einer geraden Linie bewegt zu haben schien.

Von dann ab kam Doc schneller voran. Er überquerte alle mit Gras bewachsenen oder trockenen Stellen in gerader Linie und brauchte nicht lange zu suchen, denn die Spur begann genau dort wieder, wo er stand.

Er hatte bereits etwa zwei Kilometer zurückgelegt, als die Spur plötzlich zu Ende war – am Ufer eines Bachs, der an dieser Stelle kaum breiter als einen Meter war? War die Katze darüber hinweg gesprungen? Doc sprang selbst hinüber und suchte nach etwa vorhandenen Abdrücken. Ohne Erfolg. Der Boden auf beiden Seiten des Bachs war feucht; die Spur der Katze bis an das Wasser ließ sich eindeutig verfolgen. Aber die Katze war nicht hinübergesprungen, sonst hätte Doc am anderen Ufer die Abdrücke ihrer Pfoten finden müssen.

Staunton stand wie vor den Kopf geschlagen und folgte dann dem Bachlauf. Bachabwärts, selbstverständlich. Die Strömung war nicht allzu stark.

Schon zwanzig Schritte weiter sah er genau das, was er zu sehen gefürchtet hatte.

Im Wasser lag eine ertrunkene graue Katze.

Ein offensichtlicher Selbstmord. Sogar noch eindeutiger als der Hund, der vor Docs Wagen gelaufen war; als die Eule, die durch ein Fenster geflogen war; als die Feldmaus, die Tommy Hoffmann angegriffen hatte; oder als die andere Katze, die zu dem bissigen Hund gerannt war.

Und dieses Tier hatte einige Tage in seinem Haus verbracht. Es hatte sein Angebot mit der Pistole nicht angenommen, es war nicht in einen Hungerstreik getreten und hatte auch sonst keinen Selbstmordversuch unternommen.

Nein, es hatte ruhig abgewartet, bis es tief im Wald unbeobachtet Selbstmord begehen konnte, wo sein Körper wahrscheinlich nie gefunden worden wäre – wenn Doc nicht doch mißtrauisch genug gewesen wäre, um der Spur zu folgen.

Hatte die Katze also doch jedes Wort verstanden und sich eiskalt überlegt, daß es weniger verdächtig war, wenn sie geduldig wartete, anstatt schon früher einen Selbstmordversuch zu begehen?

Aber ... Selbstmord allein war sinnlos. Welchen Grund hatte die Katze dafür gehabt?

Die Katze war früher eine ganz gewöhnliche Katze gewesen; Doc hatte sich selbst davon überzeugen können. Der Hund Buck war früher ein ganz gewöhnlicher Hund gewesen, bevor er seinen Herrn verließ und unter die Räder des Autos lief.

Gebrauchte etwas die Tiere – jedes für einen ganz bestimmten Zweck – und ließ sie dann Selbstmord begehen, um wieder frei zu werden?

Was hatte die Katze kontrolliert, während sie bei ihm lebte?

Und wie stand es mit den Menschen, mit Tommy Hoffmann und Siegfried Gross? Waren auch sie für bestimmte Zwecke gebraucht worden, hatten sie Aufgaben übernehmen müssen, für die andere Wirte ungeeignet waren, und waren auch sie später zum Selbstmord veranlaßt worden?

Aber von wem? Und weshalb?

Doc erinnerte sich daran, wie er die Katze gestreichelt hatte, bis sie vor Vergnügen schnurrte. Was hatte er eigentlich gestreichelt?

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er dachte an das Gefühl der Unsicherheit, das er empfunden hatte, als die Katze sich vor ihm versteckte – war das wirklich erst Donnerstagabend gewesen? –, aber das war nichts im Vergleich zu jetzt.

Damals hatte er nur Vermutungen angestellt. Jetzt wußte er etwas.

Aber was wußte er eigentlich? Nur daß er Angst hatte.

Er beugte sich vor, holte die tote Katze aus dem Wasser und trug sie in das Haus zurück. Dort wickelte er sie in eine alte Decke und legte sie auf den Rücksitz des Kombiwagens. Um sie nach Green Bay zu bringen, damit sie dort untersucht werden konnte? Er hatte sich noch nicht entschieden, aber die Möglichkeit bestand noch immer, falls er sich dazu entschließen sollte. Aber worauf mußte er sie denn untersuchen lassen? Ganz sicher nicht auf Tollwut, denn die Katze war noch völlig normal gewesen, als er sie vor einer Stunde ins Freie gelassen hatte.

Dann fiel ihm ein, was er vor allem erledigen mußte. Kurze Zeit später klingelte er an Miß Talleys Tür.

»Doktor!« rief sie aus, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Ist etwas passiert? Kommen Sie doch herein!«

Staunton nickte ernst. »Ja, mit der Katze. Aber ich möchte Ihnen den Bericht gleich als Nachtrag diktieren. Wenn Sie Ihren Schreibblock holen wollen ...«

Miß Talley holte ihn, und ihre Augen glänzten aufgeregt, als er sprach und sie mitschrieb. Er schilderte die Episode mit der Katze in allen Einzelheiten von Anfang bis zum Ende und brauchte über eine Stunde dazu.

Dann sah Miß Talley auf. »Doktor! Jetzt müssen Sie den Sheriff verständigen! Oder vielleicht sogar das FBI, wenn der Sheriff Sie nicht ernst nimmt.«

Staunton nickte nachdenklich. »Das werde ich auch tun, Miß Talley. Aber zunächst möchte ich Ihnen die beiden Briefe an meine Freunde diktieren, denen ich den Bericht zusenden will.«

Er diktierte wieder, und die Briefe wurden länger, als er vorgehabt hatte; als Miß Talley den Bleistift absetzte, war es fünf Uhr geworden.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, meinte Staunton lächelnd. »Wollen Sie mit mir in der Stadt essen? Dann fahre ich Sie wieder hierher zurück, damit Sie mit der Schreibarbeit anfangen können. Und morgen früh spreche ich mit dem Sheriff und gebe die Briefe auf – Luftpost und Eilboten.«

»Danke für Ihre Einladung. Aber – wollen Sie wirklich dort draußen in dem Haus übernachten? Alle diese Vorfälle haben doch ganz in der Nähe begonnen. Und jetzt noch die Sache mit der Katze – in Ihrem eigenen Haus!«

Staunton lächelte. »Keine Angst, Miß Talley, heute nacht passiert mir bestimmt nichts«, beruhigte er sie.

Und das stimmte auch, denn der Parasit war anderweitig beschäftigt.

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