»Ich hätte dich nie für eine der Frauen gehalten, die Ohnmachtsanfälle erleiden, aber in letzter Zeit kommt so etwas bei dir wohl öfter vor.«
Gwydions klare Stimme drang durch den Nebel, der ihre verwirrten Gedanken umgab. Die anderen Stimmen, die sie hörte, waren von der Erinnerung unterdrückt und kämpften um die Herrschaft in ihrem Verstand. Rhapsody bemühte sich, zu Bewusstsein zu kommen, doch sie erkannte nur, dass sie auf ihrem Bett lag, denn ihre Wange schmiegte sich gegen die steife Spitze, die das Kissen aus Flanell umrahmte. Sie verlor den Kampf um die Gegenwart und ergab sich den Stimmen aus der Vergangenheit.
Sie hörte die Worte ihres Eheversprechens, die so schön waren, wie nur eine Sängerin und ein Drache sie sprechen konnten, die jemanden zwei verschiedene Leben hindurch geliebt hatten. Sie hatte den Gesang, den die Gelöbnisse hervorgebracht hatten, an die Grotte gerichtet, sodass Elysian selbst zur Zeugin ihrer Liebe geworden war. Das Lied schwang immer noch in der unterirdischen Welt und erhellte die Höhle nun, da die Erinnerung zurückkehrte, mit Freude.
Dann änderte sich das Bild, und sie sah andere Gesichter und hörte andere Stimmen. Ich werde deinen Sohn nicht mehr sehen, Llauron. Ich habe getan, was du von mir verlangt hast.
Wir haben uns getrennt.
Wie schade. Und das, nachdem ich ihm meinen Segen gegeben habe. Es ist eine Schande. Es tut mir Leid, meine Liebe.
Rhapsody warf sich in ihrem Komaähnlichen Zustand von einer Seite auf die andere. Es sind alles Lügner, hatte Achmed beharrlich behauptet. In der alten Welt wusste man wenigstens, wer die Bösen waren, weil sie es frei heraus zugegeben haben. Hier sind die angeblich Guten berechnend. Das alte Böse hätte niemals einen solchen Schaden anrichten können wie der Herr und die Herrin der Cymrer. Und du willst dich auf einem Silbertablett dem größten Lügner von allen anbieten.
Wenn ich das mache, dann aus freiem Willen. Ich gehe das Wagnis ein und lebe oder sterbe aus eigenem Willen.
Falsch. Wir alle können dieses Schicksal erleiden. Du begibst nicht nur dich selbst in Gefahr, sondern bringst unser aller Neutralität ins Spiel. Wenn du überreizt, verlieren wir alle.
Sie spürte heiße Tränen im Nacken und Arme, die sie fest, aber sanft umschlossen. Keine Sorge, Sam. Du wirst mir schon nicht wehtun. Ganz bestimmt nicht.
Emily, ich würde dir nie, nie willentlich wehtun. Das musst du mir glauben.
Rhapsody? Rhapsody, sag doch etwas. Bitte. Ist dein Wutanfall vorbei? Gute Götter, es tut mir Leid. Es tut mir so Leid... Die Haare, die ihr in die Augen gefallen waren, wurden sanft zurückgestrichen. Ich sag, wir bringen ihn um. Und wenn wir’n Fehler machen und ’n anderer kommt, bringen wir den halt auch um.
Du kannst doch nicht einfach so Leute umbringen. Warum nich? Hat doch bisher immer geklappt. Euer Liebden, da darf man kein Risiko eingehn, das is’n zu großes Ding. Das hervorschießende Licht hatte die frisch erblühten Blumen im Garten berührt, ihre Farben aufgenommen und gen Himmel gesandt und war dann zu einem strahlenden Feuerwerk explodiert, als es gegen die Kuppel des Firmaments gestoßen war. Ashes Gesicht lächelte in ihrer Erinnerung auf sie herab.
Bist du sicher? Ich bin sicher.
Benommen drückte sie die Hand fort, die ihre Stirn streichelte. Du scheinst dich zur Wächterin meines Herzens gemacht zu haben, Rhapsody. Warum machst du mich nicht zum Beschützer des deinen? Ich verspreche dir, dass ich es in Sicherheit halten werde.
Es war ein Streich. Llauron ist nicht tot; du bist benutzt worden. Es tut mir Leid. Ich wünschte, ich hätte es dir auf angenehmere Weise sagen können.
Bitte sei, was du zu sein scheinst. Bitte, bitte tu mir nicht weh.
Ich bin der, der ich zu sein scheine. Und ich werde dir niemals wehtun.
Bitte begreife, dass ich lieber in diesem Augenblick sterben als dir sagen würde, was ich vorhabe.
Warum?
Weil ich weiß, dass das, was ich dir sagen werde, dich verletzt.
Er hatte sie von der Stelle aufgehoben, wo er sie geheiratet hatte, und vorsichtig über die Schwelle und die Treppe hoch zu ihrem Brautgemach getragen. Er zitterte, als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, und als er ihr in die Augen sah, erkannte sie in ihm denselben Jungen, in den sie sich in der vergangenen Welt verliebt hatte, in einer mondhellen Sommernacht unter den Spitzenschatten einer Weide.
Sie hörte die Stimme ihres Vaters: Wenn du in deinem Leben findest, woran du vor allem anderen glaubst, musst du unbedingt dazu stehen. Es wird nie wieder deinen Weg kreuzen, mein Kind. Und wenn du standhaft daran glaubst, wird die Welt es irgendwann mit deinen Augen sehen, denn wer kennt es besser als du? Habe keine Angst vor Schwierigkeiten, mein Schatz. Finde das, was für dich von Bedeutung ist. Alles andere ergibt sich von selbst.
Rhapsody schlug die Augen auf. Gwydion schaute auf sie herab; Besorgnis lag in seinem Blick. Als er sah, dass sie erwachte, grinste er vor Erleichterung, dann wandelte sich sein Grinsen zu einem besorgten Lächeln. Er verspürte mehr als nur eine Spur Angst.
»Willkommen im Leben. Geht es dir gut?«
Sie schloss die Augen, legte den Handballen auf die Stirn und versuchte, die pochenden Kopfschmerzen aus dem Schädel zu vertreiben. »Ich weiß es nicht. Was passiert jetzt?«
»Das hängt davon ab, wie du dich fühlst«, sagte Gwydion mit einer Spur Nervosität in der Stimme. »Wenn du meine Meinung hören willst, schlage ich vor, dass wir uns eine Schäferhütte suchen und dort bis an unser Lebensende glücklich sind.« Ein Ausdruck unverfälschter Liebe huschte über sein Gesicht und wurde von ihrer Unsicherheit gedämpft.
»Ich liebe dich, Aria. Ich will dir das alles schon seit so langer Zeit sagen. Aber ich will dich nicht überrumpeln. Ich weiß, dass du in der letzten Zeit genug für ein ganzes Leben durchgemacht hast. Deshalb folge ich deinen Wünschen. Sag mir, was du wissen willst oder fühlst. Bitte sag mir, was in deinem Herzen ist.«
Rhapsody sah ihm ins Gesicht und betrachtete seine Augen. Nicht die geringste Täuschung lag in ihnen, und Hoffnung befand sich dicht unter der Oberfläche, oder zumindest glaubte sie das. Er hielt den Atem an und wartete auf ihre Antwort. Sie kramte all ihre Gefühle des Verrats und der Verbitterung zusammen und stellte sie für den Augenblick beiseite, damit sie besser spüren konnte, wie sie sich fühlte. Sie wusste, dass sie ihn noch liebte. Anscheinend liebte er sie ebenfalls noch. Aber da gab es etwas, das sie erfahren musste, bevor sie weitere Entscheidungen treffen konnte. Sie setzte sich unter großen Schwierigkeiten und mit ein wenig Hilfe von Gwydion auf.
»Ich muss etwas wissen, aber ich habe Angst vor der Antwort. Ich habe vor ihr mehr Angst als vor allem anderen in meinem Leben«, sagte sie. Sie versuchte, ihre Frage in Worte zu kleiden, doch nachdem sie den Mund mehrmals geöffnet und wieder geschlossen hatte, fing sie an zu weinen. »Ich kann mich nicht einmal dazu bringen, dich zu fragen«, schluchzte sie. Gwydion wiegte sie in seinen Armen. »Mal sehen, ob ich die Frage für dich stellen und sie gleichzeitig beantworten kann, damit du es nicht tun musst. Sind wir wirklich miteinander verheiratet? Ja.«
Rhapsodys Tränen trockneten, doch sie wurde blass und machte sich von ihm frei. »Das kann nicht sein.«
»Bin ich wirklich dein Sam, und bist du wirklich mein Liebling Emily? Ja.«
»Ashe ...«
»Ist das etwa auch nicht das Richtige? Nun gut. Liebe ich dich noch? Ja. Ich kann unmöglich ausdrücken, wie sehr.«
»Bitte...«
»Bin ich oder war ich je verliebt in jemand anderen oder sogar mit einer anderen Frau verheiratet? Nein.«
»Hörst du endlich auf damit?«, knurrte Rhapsody. Gwydion war überrascht und nahm die Hände von ihren Armen. Der qualvolle Ausdruck auf seinem Gesicht zerriss Rhapsody das Herz, und Tränen quollen ihr wieder aus den Augen. »Es tut mir Leid, Sam«, flüsterte sie.
»Das wollte ich nicht sagen. Ich muss nachdenken.«
Gwydion nickte benommen. Sie wusste, wie lange er gewartet hatte, um die Dinge ins Lot zu bringen, und wie sehr er ihr altes Leben zurückhaben wollte, doch das war unmöglich, bevor sie nicht eine letzte Frage gestellt hatte. Sie schloss die Augen und dachte an die Worte, die sie so gern aus ihrem Kopf vertrieben hätte.
Sei nicht eifersüchtig, Rhapsody. Dem Rakshas hat es mit dir viel besser gefallen als mit deiner Schwester. Ach, das wusstest du nicht? Nun, das überrascht mich keineswegs. Eure beiden Liebhaber sahen gleich aus. Was hatte ich für ein Glück, dass du dich in Llaurons Sohn verliebt hast. Dadurch wurde es für den Rakshas so viel einfacher, dich zu besitzen. Du hast geglaubt, es sei immer Gwydion gewesen, der mit dir geschlafen hat, nicht wahr?
Nachdem deine Schwester meinem Geschöpf von euch beiden erzählt hatte, war es ganz einfach. Außerdem ist es nachts in den Zahnfelsen sehr dunkel, nicht wahr, meine Liebe?«
Rhapsody wurde bleich und erzitterte, und die Angst in ihren Augen fuhr bis in Gwydions Herz. »Frag nur, Emily. Was immer es ist, ich schwöre, ich sage dir die Wahrheit.«
»Das weiß ich«, sagte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. »Also gut. Erinnerst du dich an die Nacht im Kessel, als ich dir von Jo und dem Rakshas erzählt habe?«
Gwydion erschauerte. »Wie könnte ich das vergessen? Ja, unglücklicherweise erinnere ich mich daran.«
»Sag mir, was geschehen ist, nachdem du den Kessel verlassen hast.«
Er wirkte verwirrt. »Nachdem ich gegangen bin? Woher soll ich das wissen?«
Verzweiflung stahl sich in Rhapsodys Blick. »Ich meine nicht den Kessel. Was ist mit dir geschehen?«
»Ich bin auf unser gegenseitiges Betreiben hin gegangen und habe mich auf den Weg zur Küste gemacht. Geht es darum, dass ich nicht da war, als du verletzt wurdest, Aria?«
»Nein«, antwortete sie zitternd. »Bleib bitte bei der Sache. Was genau ist in jener Nacht passiert? Du bist ein Drache. Ich will die Einzelheiten wissen.«
»Ich bin durch die Barrikaden ins Gebirge gegangen und von dort aus in Richtung Steppe. Ich war gerade auf dem Abhang, als ich dich nach mir rufen gehört habe. Ich dachte zuerst, es sei der Wind.«
»Und was hast du getan?«
»Ich bin zurückgekommen und habe dich in diesem Unterschlupf gefunden. Du hattest beinahe nichts am Leib. Darüber müssen wir übrigens noch einmal reden. Ich liebe es, wenn du fast nackt bist, aber nicht mitten im Winter.«
Rhapsody hätte ihn beinahe angegriffen. »Weiter!«
Ashe zuckte die Achseln. »Du bist in der Dunkelheit auf mich zugekrochen. Ich musste schwören, dass ich den Rakshas nicht jage, und wider besseres Wissen habe ich zugestimmt. Dann haben wir uns geliebt. Es war nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. Es war so verzweifelt, und die ganze Zeit über hatte ich Angst, ich könnte dir wehtun, aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Wir waren beide so erregt, dass ...« Seine Worte verstummten, als sichtbare Erleichterung sich auf ihrer Miene breit machte und sie vor Freude laut schluchzte. »Was? Jetzt bin ich vollkommen verwirrt.« Rhapsody konnte die Tränen nicht zurückhalten, doch jetzt mischte sich freudiges Lachen darunter. Die Schmerzen, die sich in ihrem Unterleib verkrallt hatten, ließen nach, und sie warf die Arme um Gwydion. Sie verwirrte und erfreute ihn gleichzeitig.
»In Ordnung«, sagte er und zog sie näher. »Ich verstehe das nicht, aber ich könnte mich daran gewöhnen.«
Rhapsody trocknete die Augen an den Ärmeln ihres Hemdes. »Nein, tu das nicht«, sagte sie und lächelte. »So lange ich lebe, will ich nie wieder eine solche Erleichterung spüren, denn ich will vorher nie wieder solche Angst haben.«
Gwydion streichelte ihre Wange. »Kannst du mir das erklären?«
Rhapsody nickte, während sie in die Tasche seines Umhangs griff und nach einem Taschentuch suchte. Gwydion lächelte und seufzte erleichtert. Die alte Rhapsody kehrte zurück. Nachdem sie sich die Nase geputzt hatte, berichtete sie ihm in allen Einzelheiten das, was in der Zwischenzeit vorgefallen und was aus dem Dämon geworden war. Er erblasste, als er das Ausmaß des Schmerzes begriff, den sie mit sich herumgetragen hatte. Selbst seine eigenen Qualen über den Verlust seines Seelenstücks konnten kaum an die Angst heranreichen, die sie verspürt haben musste. Er nahm sie wieder in die Arme.
»Gute Götter, Aria, warum bist du nicht zu mir gekommen? Warum hast du mir nicht erlaubt, dich zu sehen? Ich hätte dir gesagt, dass ich in jener Nacht in den Zahnfelsen dein Liebhaber war, und du hättest nicht so leiden müssen.«
»Weil deine Antwort auch anders gelautet haben könnte«, meinte Rhapsody ruhig. »Und wenn sich das, was der Dämon gesagt hatte, als wahr herausgestellt hätte, wäre ich zusammengebrochen. Es wäre mir niemals möglich gewesen, dieses verdammte Konzil durchzustehen.«
»Du hast diese Angst zum Wohl der Cymrer ausgehalten?«, fragte Gwydion ungläubig. »Das haben sie nicht verdient.«
»Wie dem auch sie, sie mussten gerufen und vereinigt werden zum Segen aller, die diese Welt mit ihnen teilen. Ich habe übrigens noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«
»Oh?« In seinen Augen glitzerte es. »Ich stehe dir ganz zur Verfügung. Du hast meine Aufmerksamkeit und auch alles andere von mir.«
Sie sah ihn ernst an. »Was hast du dir dabei gedacht, mich zur Herrin des Konzils zu nominieren? Bist du verrückt?«
»Warum?«
»Wir reden darüber seit der ersten Nacht, in der wir ... seit unserer ersten Nacht als Liebespaar«, sagte sie. »Du kennst meine Stellung. Warum hast du mich in diese Position gehoben? Ich will nicht die Herrin der Cymrer sein. Du kennst meine Abstammung. Ich bin dazu nicht geeignet.«
Gwydion lachte. »Offenbar stimmt das Konzil nicht mit dir überein, denn du bist einstimmig gewählt worden. Das muss schön sein. Über meine Eignung haben sie sich stundenlang gestritten.« Rhapsodys Gesicht wurde heiß. Sie senkte den Blick. Ashe hörte auf zu lachen und ergriff ihre Hände. »Rhapsody, ich habe dir die ganze Zeit zu erklären versucht, dass es wohl kaum einen so guten Führer für diese Leute gibt wie dich und sicherlich keinen besseren.«
»Das ist eine traurige Feststellung.«
»Vorsicht«, meinte Gwydion ernst. »Du sprichst von meiner Herrin und von der Frau, die ich liebe. Hast du mir nicht einmal gesagt, dass wir die Verpflichtung haben, auf jede erdenkliche Weise zu helfen? Wer außer dir hätte diesen Pöbel besänftigen und erreichen können, dass sie zum ersten Mal seit Jahrhunderten zivilisiert miteinander reden? Die Mitglieder der Ersten und Dritten Flotte haben wie alte Freunde zusammengestanden und sich auf deine Gesundheit zugeprostet. Begreifst du, was das bedeutet? Wer außer dir hätte Anwyn ohne eine Spur von Erbitterung zum Schweigen bringen und sie dorthin zurückschicken können, wo ihr Platz ist, um ihr danach ein Ehrenlied zu singen? Wer sonst hätte sie zum Weinen aus Liebe zu dir bringen können?«
»Ich bezweifle, dass Anwyn dir in deiner Einschätzung ihrer Gefühle zustimmen würde.«
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und betrachtete sie ernst. »Wer sonst hätte eine so scheußliche Überzeugung und den Gedanken an den sicheren Tod mit sich herumgetragen, nur um Leuten zu helfen, denen er sich verpflichtet fühlt, obwohl er keine Macht über sie ausüben will? Wenn das nicht deinen Wert beweist, was sonst? Ich habe dich nicht zu meiner Frau gemacht, damit du die cymrische Herrin wirst, und ich habe dich auch nicht zur Herrin der Cymrer gemacht, damit du meine Frau wirst. Ich habe es getan, weil es für beide Rollen keinen anderen Bewerber gegeben hat einfach niemanden! Und ich bin hier, um dir zu helfen. Ich werde mich zumindest anfangs um die Fangrechte der Fischer, die Pflanzzyklen, die Steuern auf Ochsen aus den orlandischen Provinzen und die Waffenankäufe kümmern, während ich dir alles darüber beibringe...«
Rhapsody stieß einen gespielten Seufzer aus. »Ich kann es kaum erwarten. In Tyrian habe ich schon viel über diesen Unsinn gehört.«
Er wurde wieder ernst. »Wirst du mir vergeben, Rhapsody? Lässt dein Herz es zu, wenn du mich wieder aufnimmst? In der Nacht unserer Hochzeit konnte niemand vorhersehen, was geschehen würde. Ich wusste, dass du schreckliche Qualen leiden würdest, aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie schlimm sie wirklich waren. Liebst du mich noch?«
Sie seufzte. »Ja. Immer.«
»Reicht das für dich?«
Sie sah ihn ernst an. Die Schmerzen waren vernichtend gewesen, und die Lügen hatten sie beide beinahe in den Untergang getrieben. Doch es waren nicht ihre eigenen Lügen gewesen, und jetzt waren sie die Führer und diejenigen, die die Entscheidungen fällten. Ungebeten kam die Erinnerung an ihre Hochzeit und an das unglaubliche Glück zurück, das sie gefühlt und in seinen Augen gesehen hatte, als sie sich einander versprochen hatten; an die Zärtlichkeit des Liebesaktes, als sich ihre Seelen berührt hatten und in dem Wissen um ihr eigenes Selbst vereinigt waren; an das Hochgefühl des Gelächters zwischen den Laken, das Teilen von Geheimnissen und Plänen in jener Nacht; an die Hoffnungen, die sie einander erzählt hatten. Es war für sie die erste Erfahrung echter und vollkommener Freude gewesen, und diese Erkenntnis rief ihr eine andere Stimme der Weisheit in Erinnerung. Sie sah das Lächeln auf dem Gesicht des Patriarchen.
Vor allem wirst du erfahren, was Freude ist.
Es wurde zu einer einfachen Entscheidung. Sie stellte sich das Bündel schlechter Gefühle vor und setzte es mit Gedankenfeuer in Brand. Es verkohlte rasch zu Asche und ließ nur jene Dinge zurück, die ihr heilig waren. Ryle hira. »Ja«, sagte sie und sah, wie sein Gesicht in der Freude erglühte, die sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte. »Ja, ich glaube, das hast du mir beigebracht. Es ist genug. Es ist sogar mehr als das. Es ist etwas, für das man voller Demut dankbar sein soll, und das bin ich.«
»Dann nimmst du mich wieder auf?«
Rhapsody lachte. »Ich glaube nicht, dass ich dich je verstoßen habe. Vielleicht vergebe ich dir eines Tages sogar, dass du mich zur Herrin der Cymrer gemacht hast, aber verlass dich nicht darauf.«
»In Ordnung, solange du begreifst, dass ich dein dir ergebener Gemahl bin. Es gibt keine andere als dich; es gab nie eine andere.«
»Ich glaube, das habe ich inzwischen verstanden.«
»Es gibt da eine kleine Bemerkung von dir, über die ich in den letzten sechs Monaten gern mit dir geredet hätte.«
»Wirklich?«
»Ja. Erinnerst du dich an die Nacht unserer Hochzeit, als du mir von unserer gemeinsamen Zeit im alten Land erzählt hast? Als du noch nicht wusstest, wer ich bin?«
»Ja.«
»Wenn ich mich recht erinnere, hast du unser Liebesspiel unter dem Sternenhimmel von Serendair, unser erstes Mal, unsere gegenseitige Entjungferung, als ›eine Nacht mit bedeutungslosem Sex auf einer Weide‹ bezeichnet. Ist das richtig?« Seine Augen glitzerten, während er die Stirn in gespielter Verärgerung runzelte.
Rhapsody lachte, obwohl sie rot vor Verlegenheit wurde. »Ja, ich glaube, das waren meine Worte. Ich fürchte, du hast Recht.«
»Oh, ich habe Recht«, sagte er, während Belustigung seine gespielte Wut zu verdrängen drohte. »Für mich war das ein wunderbarer, geheiligter Augenblick, Rhapsody.«
Ihr Lachen wurde zu einem ernsten Lächeln. »Das war es für mich auch, Sam«, sagte sie nachdrücklich. »Es war wie der Vollzug einer Ehe, die ihren Segen schon erhalten hatte.«
»Genau! Genau so habe ich es empfunden. Ich kann mich nicht einmal erinnern, dir ein Heiratsversprechen gemacht zu haben. Es war, als hätten wir gegenseitig erklärt, wir seien nun verheiratet.«
»Ja, so war es.«
»Da dem so ist, halte ich wohl den Rekord für eheliche Enthaltsamkeit, denn zwischen den Liebesakten mit dir lagen etwa einhundertundvierzig Jahre, und noch viel mehr, wenn du sie nach deiner Zeit berechnest. Dann wären es Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende.«
Rhapsody lachte wieder. »Herzlichen Glückwunsch! Das ist eine Leistung, auf die du stolz sein kannst.«
»Und seit wir verheiratet sind, uns das Eheversprechen gegeben und die Ringe getauscht haben, sind sechs Monate vergangen. Sechs Monate, Rhapsody. Kein Mann, der dich je gesehen oder von dir gehört hat, könnte glauben, dass eine solche eheliche Enthaltsamkeit möglich ist.«
»Es war auch für mich nicht leicht, Sam.«
»Ich werde allmählich zum Herrn der Geduld, nicht wahr?«
»Eindeutig. Ich habe deine Selbstbeherrschung schon immer bewundert. Was willst du sonst noch?«
»Das ist eine dumme Frage.«
»Lass mich raten. Möchtest du einen weiteren Enthaltsamkeitsrekord aufstellen?«
»Das ist nicht witzig.« Trotz seiner Bemerkung kicherte er.
Rhapsody grinste ihn an. »Bedeutet das, dass du von mir erwartest, ich soll dich irgendwie dafür entschädigen?«
»Ja.«
»Oh. Ich glaube nicht, dass mir das heute Nacht in vollem Umfang möglich ist. Tut mir Leid.«
Er beugte sich über sie, legte die Stirn gegen ihren Kopf und sah ihr tief in die Augen. »Du könntest es wenigstens versuchen.«
»Vermutlich. Bis zum Sonnenaufgang habe ich keinen Termin mehr.«
»Vergiss den Sonnenaufgang. Die Cymrer trinken immer noch auf uns. Bis Mittag oder noch später werden sie sich kaum bewegen können.«
Rhapsodys Augen leuchteten. »In Ordnung.« Sie legte ihm die Arme um den Hals.
Gwydion rieb die Nase an ihrer. Er kletterte dabei auf das Bett und stützte sich auf Armen und Knien ab. »Wenn dieses verdammte Konzil vorbei ist, hast du für die nächsten sechs Monate keine Zeit mehr für jemand anderen.«
»Sechs Monate? Das glaube ich nicht, Sam. Vielleicht zwei Wochen. Ich bin schon so lange von Tyrian weg.«
Ein drachenhaftes Grollen ertönte.
»Es tut mir Leid. Wenn du mich für dich allein haben willst, musst du mich öffentlich heiraten, ansonsten ...«
»Sprich nicht weiter. Abgemacht.«
»Gut.«
»Dann gehörst du ausschließlich mir, so lange du es ertragen kannst. Richtig?«
Ihre Augen glänzten in der Dunkelheit. »Richtig.«
Ein verwirrendes Lächeln legte sich über sein Gesicht. »Gut. Und jetzt gib mir mein Hemd zurück.«
Die Freudenfeuer hatten sich durch den ganzen Gerichtshof und über die angrenzenden Felder ausgebreitet. Es gab inzwischen zehntausende von ihnen, und im Mittelpunkt der Senke loderte ein flammendes Inferno. Die zuckenden Flammen erhellten den Nachthimmel, der orangefarben durch die dichten Schichten schwarzen Rauchs schimmerte, die allmählich zu Grau und Weiß wurden, je näher sie auf die Sterne zutrieben.
Die beachtlichen Vorräte an Wein und Spirituosen, die Achmed für die Versammlung angelegt hatte, waren schon nach den ersten Stunden aufgebraucht. Das berauschte, glückliche Volk schwelgte dennoch weiter in seinen wilden Feierlichkeiten. Lauter, trunkener Gesang hallte über die Berge und ängstigte die Bolg in Canrif, denn die Lieder wurden immer lauter.
Als der Mond unterging, erbot sich Achmed, der das Fest mit nüchterner Neugier beobachtet hatte, den Alkoholvorrat aus den Lagern in der Nähe des Griwen aufzufüllen. Dieser Vorschlag wurde begeistert aufgenommen. Faedryth und sein Gehilfe Therion stellten Freiwillige auf, die beim Transport des Nachschubs helfen sollten. Die Nain waren eine der wenigen Gruppen, die noch aufrecht stehen und etwas von Wert bewegen und tragen konnten.
Schon bald begleitete eine kleine Schwadron Freiwilliger den Fir-Bolg-König zum Ausgang der Senke. Sie nahmen Karren mit und schlurften unsicher durch die Steppe in die Richtung, die der König ihnen gewiesen hatte. Sie folgten den bolgischen Cymrern, die den Weg kannten.
Achmed blieb am Eingang zum Gerichtshof stehen, während die anderen in der Nacht verschwanden, und lauschte dem Knarren der Wagenräder, den unzähligen Liedern aus den verschiedensten Kehlen und dem fröhlichen Lachen und Brüllen, das gegen das Gewebe aus blank liegenden Nerven und Adern prallte, welches seine Haut bildete.
Einen solchen Lärm hatte er nie zuvor erlebt, selbst im Krieg nicht. Grunthor hatte einmal gesagt, das Beängstigendste am Krieg sei der Lärm, das Donnern der Pferde und das Klirren der Waffen, die in Position gebracht wurden, der schreckliche Klang von Raserei und Vernichtung, das Jammern und die Geräusche, welche die Menschen machten, wenn sie innerlich explodierten.
Dieser Lärm hier war anders; es lag etwas Faszinierendes und zugleich Verwirrendes in ihm. Es war eine Ansammlung kreischenden Lachens und Gesanges, knisternder Flammen, splitternden Holzes, von Gebrüll aus Freude und jahrelangem Schmerz, alles in einem unheiligen Röhren zusammengemischt. Auf ihn wirkte es wie das Meer, das einzelne Laute verhüllte, indem es sie in eine scheußliche Anti-Sinfonie einbettete, die für seine Ohren so schrecklich war, wie Rhapsodys Lied schön gewesen war.
Das schwankende Licht der Freudenfeuer fiel auf ihn, flackerte einen Moment lang mit blendender Helligkeit und wurde dann dunkel vor Rauch und fliegender Asche. Da die Dunkelheit etwas länger als gewöhnlich anhielt, schaute Achmed auf und sah, dass sein Sergeant-Major neben ihm stand. Der Lärm hatte ausgereicht, um seinen Puls zu übertönen, der bis zu diesem Konzil einer der beiden gewesen war, die er andauernd vernommen hatte. Nun ging er im Pochen aller Herzschläge der Ersten Generation unter. Es war erstaunlich angenehm und rief in Achmed beinahe nostalgische Gefühle wach. Grunthor reichte ihm einen zerbeulten Humpen, der von billigem Bier überfloss.
»Die wissen, wie man ’n Fest feiert, das muss man ihnen lassen, was?«
Achmed sagte nichts darauf, sondern hob den Humpen an die Lippen und nahm einen tiefen Zug.
Der Rand der Senke neben der Rednerkanzel war von dichtem Rauch aus den Freudenfeuern verhüllt, durch den bisweilen blendende Helligkeit drang. Niemand hätte die Gestalt erkennen können, die dort stand und still dem Freudentaumel zusah nicht einmal die Bolg-Wachen, welche den Hügel flankierten und den Weinschlauch unter sich kreisen ließen.
Niemand sah, wie sich die Gestalt kurz darauf umdrehte und wie ein Schatten aus der Vergangenheit mit dem Rauch verschmolz. In der Finsternis kroch sie zu der Kanzel, ergriff das cymrische Hörn und ging damit durch die Aschewolken in die Nacht hinein.