55

Die Hand

Fast nackt in der Dunkelheit, umgeben von allen Geräuschen des Labyrinths, entsiegelte Achmed vorsichtig die Blutsteinphiole und untersuchte die Blutessenz mit seinem Atem und seiner Haut.

Zuerst war er vom Fehlen jeglichen Geruchs überrascht. Er kannte den Gestank des F’dor, den schrecklichen Geruch von brennendem Fleisch, und hatte sich darauf vorbereitet. Doch es gab nur einen schwachen Geruch nach Stein. Der Blutstein, der nach Rhapsodys Angaben silberschwarz gewesen war, als Fürstin Rowan ihn ihr übergeben hatte, war nun mit grünen und braunen Striemen durchsetzt; es waren vergiftete Adern, welche das Steingefäß durchzogen. Vielleicht hatte der Stein den Gestank, das Brennen und Ätzen des dämonischen Blutes aufgesogen. Er nahm sich vor, die Phiole sofort zu vernichten, sobald er das Ritual im Feuer seines heißesten Schmiedeofens hinter sich gebracht hatte.

Er bedeckte die Öffnung der Phiole mit dem Finger, stellte sie dann auf den Kopf und goss sich einen Tropfen schwarzen Blutes auf die Fingerspitze. Die bloße Berührung verursachte ein Stechen. Er prallte zurück und spürte, wie die Nadeln des Hasses durch seine Adern kreisten.

Das Blut war zähflüssig, dick und undurchsichtig; nicht einmal eine Andeutung von Licht war durch es hindurch zu erkennen. Das war keine Überraschung an diesem Ort der Finsternis. Achmed spürte ein tiefes Klopfen in den Ohren. Das Böse in diesem einzelnen Tropfen auf seinem Finger war geradezu mit der Hand zu greifen, es trat ins Leben; man konnte unmöglich sagen, welche Auswirkungen es auf jemanden haben mochte, dessen Herz seit Jahren eher dem Morden als der Gnade zugeneigt war. In fernen Regionen seines Geistes glaubte er Gesang zu hören, tief und rau inmitten der knisternden dunklen Flammen.

Er untersuchte wieder das Blut. Vielleicht war es für ihn kein Werkzeug, sondern verwandelte ihn selbst in eines. Die größte Gefahr bestand darin, dass es ihn durchdrang und übersättigte, bevor er es in seinem Herzen geschmeckt und sich seine klebrige Sanftheit am ganzen Körper eingeprägt hatte. Vielleicht würde er diesen Geruch nicht mehr von seinem eigenen unterscheiden und ihn nur als Teil der umkreisenden Luft eines Zimmers wahrnehmen können, anstatt darin den Geschmack des Dämons, das Stechen des hautlosen Geistes und die geschwollene Zunge eines erstickenden Empfindungsvermögens zu spüren.

Er schluckte seine Angst herunter.

Es war Zeit.

Sanft atmete er das Bukett des Blutes ein. Er packte die Phiole fest und goss es sich in die Nase, schmeckte es, rieb einige Tropfen in die Poren seiner Wangen, damit es seinem Bewusstsein gegenwärtiger wurde.

Sein Herz raste, und die Haut prickelte vor Aufregung. Sein eigenes Blut floss rasch durch die Adern, er schwoll an, und die Hautoberfläche wurde lebendig vor Hitze. Er rieb sein Hautgewebe ein, das Netz aus empfindlichen Venen und Nervenenden, die Brust und Hals überzogen, und spürte, wie ein aus ekstatischem Schmerz geborener Schrei in ihm aufstieg und abgerissen durch seine trockene Kehle quoll.

Als der anfängliche Schmerz nachließ, konnte Achmed wieder klar denken. Er stand beinahe nackt im Mittelpunkt der Hand ein blutbefleckter Kobold in einer steinernen Handfläche. Er war mit staubroten Streifen von der Stirn und den Ohrläppchen bis beinahe zu den Knien bedeckt und schmeckte die beißende Schärfe und den Rauch des Blutes. Er spuckte in die Phiole, um die letzten Tropfen der dämonischen Essenz auszuspülen und sie in die wärmsten Spalten seines weichen Gaumens zu saugen.

Als schließlich auch der letzte Tropfen des dämonischen Blutes ein Teil von ihm geworden war, schloss er die Augen und spürte den Rhythmus seines Herzens. Dieser Rhythmus würde ihn eines Tages mit der Bestie verbinden. Zwischen den Kadenzen sprach er laut mit dem fremden Blut, mit seiner Beute, seinem Jagdopfer, seinem Blutsbruder.

So wie ich jetzt dein Blut an meinen Händen habe, wird es auch eines fernen Tages wieder sein.

Die Kapuze, die Rhapsody ihm gegeben hatte, lag neben ihm auf dem Boden. Langsam bückte er sich und hob sie auf; es kostete ihn größte Anstrengung. Der Blutfleck war ihm unvertraut, hatte keine Resonanz; er warf das Stück Stoff beiseite. Wie sie schon vermutet hatten, war Khaddyr nicht der Wirt des Dämons. Achmed schloss die Augen und zwang das Blut mit seinem Willen tiefer in die Haut.

Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Eine Stunde, vielleicht auch fünf, des Austrocknens ohne Verdampfung, während er mit dem Ungeheuer in sich gekämpft hatte. Er spürte Reste von jedem Kind, dessen Blut zu der Menge beigetragen hatte. Wenn er von böser Natur gewesen wäre, hätte dies eine Möglichkeit sein können, einen weiteren Rakshas zu erschaffen. Ganz leicht schmeckte er den Sand um die Entudenin, den frostharten Lehm Hintervolds, das Harz der tyrianischen Kiefern und safranartiges Sägemehl aus einer Gegend, die er nie gesehen hatte. Alles war mit dunklen Flammen gewürzt.

Als sein Atem ihm wieder ganz gehörte und das trockene Blut nur noch roter Staub war, bemerkte er erschöpft Laute, die schon seit einiger Zeit ertönen mussten; es waren die Geräusche einer Zusammenkunft.

Außerhalb seines Blickfeldes versammelten sich die Finder.

Zitternd kauerte sich Achmed auf den Boden und griff nach seinem Messer. Die Knie versagten, und er fiel nach vorn, wobei er die Hände mit seinem eigenen hellen Blut benetzte. Er war schwach, schwächer als er je gewesen war, und verletzlich. Wenn die Finder, wer immer sie waren, feindliche Absichten haben sollten, würde er sich kaum gegen sie verteidigen können.

Er drückte sich vom Boden ab und versuchte aufzustehen, doch in seinen Muskeln war keine Stärke mehr. Er benötigte seine ganze Kraft, um sich hinzukauern und den Bauch zu schützen. Achmed hob den Kopf. Fern in den Tunneln bemerkte er das Glimmern von Augen. Es waren hunderte, oder wenigstens schien es seinem verdämmernden Geist so. Innerlich verfluchte er sich, denn er hatte sich verrechnet und es zugelassen, allein und ausgeliefert zu sein, nachdem er das beißende Blut eingenommen hatte, das ihn kraftlos machte. Was habe ich erreicht?, fragte er sich. Jetzt kann ich den Wirt des F’dor erkennen. Schade, dass ich gleich unter der Hand einiger hundert meiner eigenen Leute sterben werde dieser furchtsamen Höhlenkriecher, die bei meinem bloßen Anblick die Flucht ergreifen würden, wenn ich nicht so beeinträchtigt wäre.

Der Kopf sank ihm auf die Brust, als er sie näher kommen hörte. Mit großer Anstrengung versuchte er sich wieder aufzurichten, aber er war erfolglos. Sein Atem kam abgehackt und flach, als eine Schattengestalt nach der anderen aus der vollkommenen Dunkelheit des Tunnels heraustrat und ihn anstarrte wie ein Wolfsrudel, das ein verletztes Reh gestellt hat. Er kniete vor ihnen, war fast ganz entkleidet, unbewaffnet und mit dem Opfer bemalt, das ihm vom Schleier des Hoen geschenkt worden war.

Aus den Augenwinkeln sah er das Glitzern von Waffen und hörte, wie Armbrüste aufgezogen und geladen wurden. Sein Kopf wurde so schwer, dass er ihn nicht mehr aufrecht halten konnte. Er kämpfte darum, ihn so hoch zu heben, dass er ihnen in die Augen sehen konnte in die hellen Augen, die innerhalb der dunklen Umrisse in Blautönungen schimmerten. Sie hatten eine Lichtquelle mitgebracht, aber er erkannte sie nicht. Er bemerkte diese Seltsamkeit:

Die Augen der meisten Bolg waren so schwarz wie die Höhlenfinsternis, aus der sie gekommen waren. Er versuchte zu sprechen, ihnen den Rückzug zu befehlen, doch seine Stimme versagte.

Das unmissverständliche Geräusch von Metall, das aus Lederscheiden gezogen wird, verband sich mit weiterem Spannen von Armbrüsten. Achmed fluchte wieder nicht über seinen bevorstehenden Tod, sondern über dessen völlige Sinnlosigkeit.

Als die Menge der Finder einen Schritt vortrat, zerriss ein schrecklicher Schrei die Luft des Tunnels. Es war ein Brüllen, das Achmed das Blut gefrieren ließ und gleichzeitig sein Herz wärmte. Aus dem Zeigefingertunnel der Hand ertönte der Lärm stampfender Stiefel und klappernder Waffen, unter dem die Erde erbebte. Es waren die Geräusche von Muskeln in Bewegung, angespornt durch Wut und Sorge. Ein weiterer Schrei, diesmal verbunden mit deutlichen Worten:

»Was soll denn das hier?«

Im Bruchteil einer Sekunde zerstreuten sich die Finder und verschwanden in den Tunneln, aus denen sie so vorsichtig hervorgekrochen waren. Achmed konnte den Kopf gerade genug heben, um die herannahende Gestalt des Sergeant-Majors zu sehen, die beinahe so groß wie der Tunnel selbst und so breit wie ein Brauereipferd war und sich aus der Dunkelheit auf ihn zuwälzte. Im nächsten Augenblick war Grunthor bei ihm angelangt und sah in einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen auf ihn herab.

»Alles in Ordnung?«

Achmed nickte schwach, was ihn seine ganze verbliebene Kraft kostete.

Ohne ein weiteres Wort hob Grunthor ihn auf, warf ihn sich über den Rücken und trug ihn in das stumpfe Licht und die Wärme der Gebirgskammern von Ylorc.

»Warm genug?«, fragte Grunthor.

Achmed nickte knapp. »Vielen Dank.« Er richtete sich zwischen den schwarzen Seidenlaken seines Bettes auf und rutschte wieder ein wenig zurück. »Zeig mir deine Beute.«

Vorsichtig packte der Sergeant die Gegenstände aus, die er im Hort der Finder entdeckt hatte. Achmed schaute sie sich an und hielt bei dem Topf mit dem abgebrochenen Henkel inne.

»Ein Nachttopf?«, fragte er verachtungsvoll. »Sie haben mein Königreich für einen Nachttopf verkauft?«

»Die Bolg wissen nich, was’n Pisstopf ist«, sagte Grunthor und fuhr mit dem Zeigefinger über das eingravierte Siegel. »Sie wissen nur, dass er das Wappen hat.« Er übergab dem Bolg-König das Wachssiegel. »Warum hat wohl der alte Gwylliam im Sterben das hier haben wollen? Wollte er noch ’ne Bekanntmachung siegeln, bevor er ins Gras beißt?«

Achmed zuckte die Achseln. Allmählich kehrte seine Kraft und damit auch das Selbstbewusstsein zurück. Tief in seinem Unbewussten jedoch spürte er das Blutband, das ihn mit dem noch unentdeckten Wirt des F’dor verband, der irgendwo westlich der Zahnfelsen lauerte.

»Er hat gleichzeitig danach und nach dem Hörn gerufen«, sagte er und drückte sich gegen die Kissen. »Gib mir das Manuskript über das Hörn, das ich für Rhapsody herausgeholt hatte. Vielleicht gibt es irgendeine Verbindung.«

Grunthor stand auf, holte die Schriftrolle vom Schreibtisch des Königs und brachte sie ihm ans Bett.

»Vielleicht solltest du dich jetzt ’n bisschen ausruhen«, meinte er. »Bin sicher, du brauchst es. Ich weiß, dass ich es brauch, nachdem ich dich in deiner ganzen Pracht gesehen hab. Werd mich davon wohl nicht so schnell erholen.«

Zum ersten Mal seit der Rückkehr aus den Tunneln lächelte Achmed.

»Nur ein kurzer Blick, Sergeant«, sagte er und entrollte das Schriftstück. Grunthor seufzte und setzte sich auf einen Stuhl neben ihm. Seiner Erfahrung nach dauerte ein kurzer Blick mindestens zwei Stunden.

Er war schon lange eingenickt, als er plötzlich eine Veränderung in der Luft des Raumes spürte. Er setzte sich sofort auf und wandte sich Achmed zu, der jetzt an seinem Schreibtisch saß und über dem alten Pergament brütete.

Grunthor reckte und streckte sich. »Also?«, fragte er mitten in einem Gähnen.

Die Augen des Fir-Bolg-Königs waren hell vor Erregung, als er sich nach Grunthor umdrehte.

»Ich habe es gefunden«, sagte er.

»Und?«

»Das Hörn ...ist das Große Siegel. Es ist das Testament und die Zeugenbestätigung des Bundes, den sie alle eingehen mussten im Gegenzug für ihr neues Leben in diesem Land. Als die Drei Flotten in See stachen, wussten sie genau, dass sie die ganze Welt durchqueren mussten, um ihre Kultur am Leben zu erhalten. Und nach Gwylliams Auffassung beinhaltete diese Kultur sicherlich auch das Abstammungsrecht. Er wollte nicht nur seine Untertanen retten, sondern auch sein eigenes Königtum.«

Er hielt die Schriftrolle gegen das Licht, damit auch Grunthor sie sehen konnte. Der Sergeant warf einen Blick über die Schulter auf die Illustrationen des Horns und der Docks der drei Hafenstädte von Serendair.

»Anscheinend war der Preis für einen Platz auf einem der Schiffe, die die alte Welt vor der Katastrophe verlassen haben, ein Eid, ein Versprechen, beim Klang des Horns herbeizueilen. Jeder Flüchtling legte die Hand darauf, wenn er das Schiff betrat, und schwor Gwylliam und dessen Erben Treue auf alle Zeiten. Das Hörn ist das Siegel dieses Versprechens. Es muss vergleichbar mit Rhapsodys Macht als Benennerin sein der feierlichste aller Eide in Gegenwart einer undenkbaren Macht, nämlich dem sich erhebenden Schlafenden Kind im Wasser vor der Küste, wo die Zeit ihren Anfang nahm, ausgesprochen vom Hochkönig jenes Landes. Aus diesem Grund fühlen sich die Cymrer durch alle Generationen hindurch verpflichtet, sich bei seinem Klang zu versammeln. All diese uralten, mächtigen Leute, die entweder selbst oder deren Vorfahren dem Hörn Treue geschworen haben, sind mit tiefen Blutsbanden an den Rufer gefesselt, und zwar durch den stärksten aller Treueeide.«

Achmed lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte in sich hinein.

»Und was ist daran so lustig?«

Der König rollte hastig das Manuskript zusammen und warf es auf den Tisch.

»Rhapsody wird das Hörn blasen.«

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