Der Fluss, der von dem Wasserfall ausging, war eisverkrustet und vom Schnee gefleckt. Ashe kniete am Ufer zwischen den Zweigen der kahlen Holzapfelbäume nieder und verlor sich in seinen Gedanken. Er war hergekommen, um im klaren Wasser dieses Ortes von seinem Schwert das Blut abzuwaschen, das er als sein eigenes ansah, doch jetzt bereute er die Entscheidung. Es schien falsch und sogar selbstsüchtig zu sein, das eisige Wasser und den makellosen Schnee mit dem Blut zu beschmutzen, das er seit seinem letzten Kampf in den sanften Wäldern des nördlichen Navarne mit sich herumgetragen hatte.
Nachdem er Stephens Festung verlassen hatte, war er auf eine lirinsche Räuberbande gestoßen, die zwar klein an der Zahl, aber äußerst mordlüstern gewesen war. Die Einwohner des Walddorfes, die noch vom Massaker des Wintersonnenwendfestes gezeichnet waren, hatten einen guten Kampf geliefert und ihre Häuser mit Mistgabeln, Eggen und Sensen verteidigt. Ashe hatte das brennende Stroh der Dächer gerochen, welche die Lirin aus einer Entfernung von mehreren Meilen angezündet hatten, und seine Aufmerksamkeit und sein Schwert daher zuerst dem Schmelzen des Schnees zugewandt, der auf den schweren Zweigen der immergrünen Bäume gelastet hatte, in deren Schutz das Dorf lag. Kirsdarkes Klinge war zu blauweißen Flüssen geronnen, als er sie über den Kopf gehoben und dem Element des gefrorenen Wassers befohlen hatte, zu tauen und sich von den Bäumen zu ergießen, damit es das Feuer löschte.
Einen Moment lang hatten sowohl die Dorfbewohner als auch die Banditen in stiller Verwunderung dagestanden und ihn angestarrt, als wären sie von den Lichtwellen auf dem glitzernden Wasserschwert hypnotisiert worden. Doch kurz darauf hatte eine noch tiefere Besessenheit wieder die Herrschaft übernommen, und die Lirin waren mit ihren Verwüstungen Fortgefahren. Ashe war keine andere Wahl geblieben, als sich auf die Seite der Dorfbewohner zu schlagen, bis auch der letzte Lirin tot gewesen war. Er hatte sich von der klammernden Dankbarkeit freigemacht und war durch den Rauch davon getaumelt, bis er diesen Ort erreicht hatte, wo er das Grauen von seinem Schwert und seiner Seele abwaschen konnte.
Doch auch jetzt, als er neben dem Bach kniete, fühlte er sich unbehaglich.
Wir sind nicht allein, flüsterte der Drache in seinem Blut. Er seufzte zustimmend. Am Rand seiner Sinne näherte sich jemand. Der Drache zuckte unter seiner Haut vor Aufregung. Lass mich allein, beharrte seine Wyrm-Natur. Ashe sah keine andere Möglichkeit und ergab sich seinem tieferen Selbst.
Einen Augenblick später hatte er die Antwort. Der Drache in seinem Blut erkannte die eigene Art. Anborn näherte sich dem Bach.
Ashe steckte Kirsdarke zurück in die Scheide. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen; also ahnte Anborn zweifellos, dass er hier war. Er nahm die Handschuhe ab, durchbrach die Eisdecke, nahm ein wenig von dem eiskalten Wasser in die hohle Hand und spritzte es sich ins Gesicht. Erneut schöpfte er Wasser und trank es; dann drehte er sich nach seinem Onkel um.
Anborn war abgestiegen und näherte sich dem Fluss zu Fuß. Als er nur mehr wenige Schritte von Ashe entfernt war, blieb er stehen und nickte. »Neffe.«
Ashe lächelte. »Onkel.«
Anborn schnaubte. »Wenn du willst, kehren wir zu unseren alten Bezeichnungen zurück. Ich kann dich ›Nutzloser‹ nennen und du mich aufgeblasener Bastard.‹« »Das habe ich nur ein einziges Mal getan, Onkel, und ich glaube, ich habe mich dafür entschuldigt. Ich spüre immer noch den Griff meines Vaters im Nacken; das war ein bleibender Eindruck.«
Der cymrische General nickte. »Ich komme gerade vom Palast deines Vaters. Er hat noch gelebt, als ich ihn verlassen habe.«
»Daran hatte ich keinen Zweifel, Onkel«, erwiderte Ashe freundlich. »Aber ich weiß nicht, warum du hier bist so tief im Gwynwald.«
Anborn kicherte. »Ich habe diese Lichtung schon neun Jahrhunderte vor deiner Geburt gekannt, mein Knabe. Du wirst dich erinnern, dass ich es war, der sie dir gezeigt hat.«
Ashe nickte. Anborn hatte ihn tatsächlich einmal in seiner Jugendzeit beim Spielen im Wald angetroffen, ihm die Lichtung mit den Apfelbäumen gezeigt und ihn gelehrt, die kleinen, harten Äpfel zu werfen sehr zum Missfallen seines Vaters, der später die filidischen Priester hatte besänftigen müssen, deren Fensterscheiben Ashes bevorzugtes Ziel gewesen waren. Er verspürte ein seltsames Gefühl von Wärme. Er hatte wenigstens eine angenehme Erinnerung an seinen Onkel, wie kurz sie auch sein mochte.
Diese Wärme war allerdings mit Angst vermischt. Die Lichtung war die Schwelle zu dem Wasserfall, und der Wasserfall verbarg sein geheimes Versteck eine Torfhütte mit nur einem Zimmer hinter der schieferfarbenen Wand des herabstürzenden Wassers. Nur eine andere Person kannte diese Hütte: Rhapsody.
Tief unter der Oberfläche rührte sich seine Drachennatur wieder und knisterte vor Spannung. Die Sicherheit der kleinen Hütte war für ihn von allergrößter Bedeutung; es war einer der wenigen Orte auf der Welt, wo er vor jeder Nachstellung sicher war. Mehr noch, er hatte Rhapsody ermutigt, ihn dort zu treffen, falls sie ihn jemals brauchte oder ein Versteck suchte. Anborns Gegenwart schien den Irrsinn dieses Angebotes zu beweisen.
Mein, flüsterte der Drache wütend. Sein Onkel und dessen Anwesenheit an diesem Ort stellten nun eine Bedrohung dar.
Gerade als sich die eifersüchtige Habgier seiner Wurmseite zu regen begann, wichen seine pragmatischen menschlichen Ansichten zurück. Zwischen zwei Herzschlägen griff er in sich selbst hinein und suchte den Ort, an dem er mit dem Element des Wassers verbunden war, der reinen, elementaren Flüssigkeit seiner Seele. Dieses Wasserband, das in ihm schlummerte, erhob sich nun zu glitzerndem Leben und sang zu den Wassern der gefrorenen Kaskade, die zu einem bloßen Rinnsal unter dem grauen Frost des Winters geworden war.
Zuerst war der Strom still, doch dann antwortete die ruhige Stimme des schlafenden Wasserfalls unter der Eisschicht.
Niemand ist gekommen, flüsterte der Wasserfall. Er weiß es nicht. Der Ort, den ich bewache, gehört noch immer dir allein. Ich habe ihn gut beschützt.
Vielen Dank, erwiderte Ashe still durch das elementare Band. Falls die Frau kommen sollte, lass sie hinein bewache sie gut. Beschütze sie für mich.
Das Knirschen von brechendem Eis antwortete ihm; es war nur die Spanne eines Herzschlages vergangen.
»In der Tat«, sagte er zu seinem Onkel. »Ja, das hast du getan. Aber warum bist du jetzt hier? Sicherlich nicht, weil du sehen willst, ob ich die Technik des Apfelwerfens noch beherrsche.«
»Bestimmt nicht«, pflichtete Anborn ihm knapp bei. »Ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass ich dir einen Gefallen erweisen will.«
»Ich erinnere mich nicht, dass ich dich um einen gebeten habe.«
»Nein, aber ich vermute, du wirst ihn trotzdem schätzen.« »Dann vielen Dank dafür«, sagte Ashe milde. »Hast du etwas dagegen, wenn ich frage, worum es geht?«
»Überhaupt nicht. Ich habe das Leben deines Vaters verschont, auch wenn sein Tod schon überfällig ist und er ihn wahrlich verdient hat. Er blieb unangetastet, weil du so freundlich zu meinen Soldaten warst nur deshalb. Meine Schuld dir gegenüber ist nun beglichen, Neffe. Die Waagschalen sind im Gleichgewicht.«
Ashe lächelte schwach über diesen sorboldischen Ausdruck und versuchte seine Verwirrung zu unterdrücken.
»Ich schätze deine Nachsicht. Weswegen wolltest du Llauron umbringen? Ich wäre vielleicht geneigt gewesen, dir zu helfen, wenn der Grund gut genug ist.«
Der cymrische General sah ihn nachdenklich an und streckte dann die Hände in den ledernen Handschuhen aus. »Du wärest geneigt gewesen ...«, sagte er nach einem Augenblick. »Jeder Mensch mit einem fühlenden Herzen wäre es gewesen, wenn er die Frau gesehen hätte, die dein Vater im Schnee des südlichen Waldes hatte sterben lassen wollen.«
Ashe schüttelte den Kopf. »Llauron? Er wollte eine Frau sterben lassen?«
»Verleugne nicht, dass er zu solchen Dingen fähig ist. Dein Vater hat mehr Schändlichkeiten begangen, als du Haare auf dem Kopf hast mehr, als ich auf dem Gewissen habe«, sagte Anborn mürrisch.
»Ich bezweifle nicht, dass mein Vater zu allem fähig ist, zu Gutem oder Bösem, solange es seinen Plänen dient«, erwiderte Ashe. »Aber es passt nicht zu ihm, dass er eine Frau absichtlich in einer ausweglosen Lage zurücklässt, vor allem, wenn es jemand aus seinem Gefolge sein sollte.«
»Das ist sie wohl nicht.«
»War sie eine Lirin?«
»Zum Teil.«
Plötzlich schnürte sich Ashes Magen zusammen. »Wer war sie?«
Anborn sah fort und flötete. Der Drache in Ashes Blut folgte sogleich den Schwingungen des Lautes bis zu den Ohren des Pferdes in einer Entfernung von tausend Schritten; es stand versteckt in einem Wäldchen aus Winterbirken. Der Lärm drang an die Gehörknochen des Tieres und schickte ein Signal ins Gehirn, welches das Pferd herbeirief. Sekunden später gehorchte es. Er spürte die Huftritte des Tieres, lange bevor er sie hören konnte, und maß instinktiv die Atemzüge, das Augenblinzeln und die langen Schritte, die das Tier trotz einer Wunde am rechten Vorderlauf machte. Ashe schüttelte den Kopf. Der Drache lauerte zu dicht unter der Oberfläche und war so wach, dass Ashe keine Ruhe fand.
Der General wandte sich wieder an seinen Neffen. »Es ist unwichtig. Sie war jemand, die ihn um Hilfe gebeten hatte und um einen Rat in einer wichtigen Angelegenheit, und er hat sie in Gefahr gebracht. Die Verkleidung, die er ihr gegeben hat, hätte sie nicht einmal neben einem warmen Kamin vor dem Frost schützen können, geschweige denn draußen in den gefrorenen Wüsten des südlichen Waldes und dazu noch in einem Schneesturm. Keine Nahrung, kein Wasser, keine Verstärkung, keine Hilfe jedweder Art. Jämmerlich und dumm und vor allem ein Beweis, dass Llauron genauso blind wie herzlos ist.«
Ashe atmete flach und versuchte, sein hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bringen. Er spürte, wie die Hitze, die ihren Ausgang auf seinem Gesicht genommen hatte, durch seinen gesamten Körper strömte und seine Wyrm-Natur noch stärker entflammte.
»War diese Frau hübsch?«
Das Pferd trottete auf die Lichtung. Es war ein schöner schwarzer Hengst mit einer geflochtenen Mähne. Er blieb neben Anborn stehen und wieherte leise. Der General klopfte ihn auf die Wange und schwang sich dann mit einer fließenden Bewegung in den Sattel. Er hob die Zügel auf, sah zu Ashe hinunter und grinste.
»Man könnte es so sagen.« Er gab dem Hengst einen geschnalzten Befehl, und das Tier folgte seinem Kopfnicken zum eisigen Fluss, wo es an einer seichten, getauten Stelle trank. Als sein Durst gelöscht war, hob es den Kopf. Anborn warf sich den Mantel über die Schulter und war zur Abreise fertig.
Ashe lehnte sich lässig gegen einen Baum und versuchte, das Zittern in seinem Körper zu unterdrücken und nicht dem steigenden Zorn des Drachen nachzugeben. Sein Kopf schmerzte wegen des heftigen Summens, das in seinem Blut brauste, als das Tier in ihm alle Einzelheiten von Anborns Mantel in sich aufnahm. Er war mit Blut von mehr als einer Person befleckt Dorndrehers war zweifellos dabei, denn es passte zu ähnlichen Blutflecken auf seiner eigenen Satteldecke. Und dann fand sein Drachensinn verborgen in einer Falte der Kapuze das, was er zu finden befürchtet hatte.
Eine Strähne goldenen Haars, rein wie das Sonnenlicht.
»Geht es dieser Frau gut?«, fragte er. Seine Stimme verriet seine Sorgen mit einem leichten Zittern. »Ist sie verletzt?«
Anborn kicherte leise und zog die Kapuze hoch. »Kommt darauf an.«
»Worauf?« Ashe packte den Baum fester, als Wellen aus fremder Kraft ihn durchfluteten und ihm Übelkeit verursachten.
»Ob du glaubst, dass ich meine tiefere Natur beherrschen kann, wenn ich mit einer rasend schönen Frau einer dankbaren Frau zusammen bin, die bloßgestellt, nackt und allein in meiner Hand ist. Ein vernünftiger Spieler würde dagegen setzen. Auf Wiedersehen, Neffe.«
Er streichelte den Hals des Pferdes und ritt in den Wald.
Sobald Anborn aus der Reichweite seiner Sinne verschwunden war, ließ Ashe den Baum los, an dem er sich festgehalten hatte. Er packte den Griff seines Schwertes und zog es wütend aus der Scheide. Dann drehte er sich um und stieß es in den klaren, fließenden Bach, befleckte das sprudelnde Wasser und drehte es in den Strömungen, bis diese rot wurden.