Jeder der Hügel in der Stadt Tyrian enthielt einen Teil des ausgedehnten königlichen Komplexes, der in dem Thronraum über Tomingorllo gipfelte. Im unteren Teil des ersten Hügels namens Newydd Dda befanden sich die Haupthalle und einige der Privatgemächer des nicht existierenden Monarchen und seiner Ratgeber. Hier wartete Rhapsody auf ihr Treffen mit Rial, dem Schutzherrn von Tyrian.
Sie stand mit Oelendra in der großen Rotunde und bewunderte das handwerkliche Können sowie die Architektur. Im Gegensatz zur einfachen, nüchternen Ausführung der Großen Halle über Tomingorllo war der Hauptpalast in der Basis des Newydd Dda das Prunkstück Tyrians, wo früher die Botschafter gewohnt hatten und die internationalen Geschäfte getätigt worden waren. Er befand sich in einem gewaltigen Hof und war umgeben von einem massiven Wall mit steinernen Wachttürmen, die bei weitem den Glanz der Festung des Herrn von Roland in Bethania übertrafen. Rhapsodys Augen, die allmählich von den bitteren, irrtümlichen Tränen genasen, welche sie kürzlich geweint hatte, nahmen den Anblick verwundert in sich auf. Die Rotunde enthielt in der Mitte einen gewaltigen kreisrunden Kamin, dessen Feuer den ausgedehnten Palast und dessen Flügel wärmte und sie das ganze Jahr über bei gleich bleibender Temperatur hielt. Der Palast war um viele große Bäume herum errichtet worden, die nun in seinem Innern wuchsen, so wie eine Vielzahl von grünen Pflanzen und Blumen, die durch die Wärme im Hauptkamin unablässig gediehen und einem das Gefühl gaben, sich in einem Treibhaus zu befinden.
Ein geschliffener Kristallschirm umgab den Kamin, und die prismatischen Reflektionen hatten einen hypnotischen Effekt auf Rhapsody. Sie und Oelendra setzten sich auf eine der mit Kissen belegten Holzbänke vor dem Feuer und warteten auf den Schutzherrn.
Ihre Blicke wanderten über das zierlich beschnitzte Holz des Palastes, das auf Hochglanz poliert war. Der Boden war ein gigantisches Mosaik aus hellem Marmor, dessen Muster die früher vereint gewesenen Gruppen der Lirin mit abstrakten Darstellungen des Meeres, der Ebenen, Wälder und Städte von Manosse ehrte. Rhapsody war gerade vom Besuch zweier dieser Gruppen zurückgekehrt. Die Neuigkeiten, die sie mitgebracht hatte, waren nicht viel versprechend.
Sie schaute auf und bemerkte, dass Rial lächelnd auf sie zuging. Die beiden Frauen erhoben sich, als er sich ihnen näherte und sie mit freundlichen Blicken bedachte. Er ergriff Rhapsodys Hand und verneigte sich darüber, dann verbeugte er sich vor Oelendra, die die Geste erwiderte.
»Herzlich willkommen, Rhapsody«, sagte er und zog sanft ihre Hand unter seine Armbeuge.
»Wie war dein Besuch in der Ebene?«
»Beunruhigend, fürchte ich«, entgegnete sie, während die drei zu Rials Büroräumen im östlichen Flügel des Palastes gingen. »Die Gewalt in der Ebene ist anscheinend noch schlimmer als hier; ihr fehlender Schutz bietet bessere Möglichkeiten für wahllose Angriffe, was ich erwartet hatte. Ihr Heer ist gut ausgebildet, aber klein. Die Raubzüge eskalieren.«
»Haben sie um Hilfe gebeten?«
»Nein, es hat ihnen nicht behagt, Hilfe aus dem Wald anzufordern, obwohl sie früher einmal ein Teil von Tyrian waren. Ein Bündnis wäre empfehlenswert. Tyrian könnte einige seiner Wacheinheiten erübrigen, um das Heer der Ebene zu verstärken, und diese wiederum könnte eure Südgrenze bewachen.«
»Aber werden sie damit einverstanden sein?«
Rhapsody seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich vermute, es hängt davon ab, wie zwingend sie meinen Vorschlag für eine Wiedervereinigung finden.« Rial hielt ihnen die Tür zu seinem kleinen Büro auf, das zwar sauber war, aber vor Manuskripten und Schriftrollen überquoll. Rhapsody schaute sich um und schüttelte den Kopf. »Warum ziehst du nicht in das große Arbeitszimmer des Monarchen, wo es doch augenblicklich keinen König gibt? Es ergibt keinen Sinn, dass du, der du den ganzen Handel und die Botschaftsangelegenheiten regelst, hier in dieser winzigen Kammer hockst, während der große Raum hinter der Halle leer steht, und zwar seit hundert Jahren.«
Rial bot den Frauen zwei Stühle an, während er selbst sich gegen die Schreibtischkante lehnte und lachte. »Weißt du, Rhapsody, du siehst zwar vielleicht wie eine orlandische Cymrerin aus, aber du redest ganz wie eine Lirin.«
Rhapsody lächelte ihn an. Trotz ihrer monarchischen Tradition waren die Lirin eine gleichmacherische Gesellschaft. Es gab keine Heiratslotterie; sowohl Männer als auch Frauen dienten im Heer, als Wachen und Botschafter. Die Erbfolge bevorzugte das älteste Kind, nicht den ältesten Sohn, und jeder Monarch musste vom lirinschen Rat und der Diamantsplitterkrone selbst bestätigt werden. Es war eine monotheistische und monogame Gesellschaft, die Rhapsodys Idealen vollkommen entsprach.
»Vielen Dank«, sagte sie ernsthaft. Dann kam ihr ein Gedanke. »Interessanterweise hat mir Herzog Stephen einmal gesagt, dass ich zwar wie eine Cymrerin aussehe, aber die Manieren einer Bolg habe.«
»Aus dem Mund eines Cymrers ist das ein großes Lob, auch wenn er es vielleicht nicht weiß«, bemerkte Oelendra trocken. Rial und Rhapsody lachten.
»Wie sollen wir deiner Meinung nach vorgehen?«, fragte Rial und setzte sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch.
»Nun, ich glaube, wir sollten uns im Thronraum mit allen lirinschen Botschaftern zusammensetzen. Die Macht des Dämons wächst, weil es ihm irgendwie möglich ist, Soldaten jeglicher Truppen auf Mordmissionen zu schicken, an die sie sich danach nicht mehr erinnern können. Ich bin sicher, dass es sich mit dem Eindringen der Menschen in die Länder der Lirin genauso verhält. Der erste Schritt besteht also darin, die kleinen Zwistigkeiten zwischen den verschiedenen lirinschen Gruppen beizulegen und sie wieder zusammenzubringen. Auf diese Weise wird der F’dor weniger Lager haben, die er gegeneinander aufwiegeln kann.«
»Und dann?«
»Zweitens treffen wir uns mit Tristan Steward und seinen Herzögen. Wir gehen ein Bündnis mit Roland ein.«
Rial stieß einen Pfiff aus. »Ich fürchte, du begreifst nicht die Schwierigkeiten dessen, was du da vorschlägst, meine Liebe.«
»Doch, und genau das ist der Grund, warum sie so weise ist, einen Versuch zu wagen«, sagte Oelendra und lächelte Rhapsody an. »Manchmal braucht man ein neues Auge, das nicht weiß, warum ein Erfolg angeblich unmöglich ist.« Rial nickte.
»Die Bolg und Roland haben bereits ein Abkommen miteinander; Sorbold hat eines mit diesen beiden Ländern und mit den Lirin. Die Neutrale Zone hat ihre eigenen Probleme, aber der Dämon scheint sich nicht sehr um sie zu kümmern, auch wenn ich vorhersagen kann, dass sie die Nächsten sein werden. Wer immer diese Überfälle befiehlt, hat Zugang zu den Soldaten dieser Länder. Sobald wir alle miteinander verbündet sind, können wir diese Person bestimmen. Es kommt nur eine Hand voll Leute infrage, die unbehelligt von Lager zu Lager wechseln können.«
»Prostituierte? Kaufleute?«
»Vielleicht«, sagte Rhapsody mit einem Nicken.
»Was ist mit Anborn ap Gwylliam?«, fragte Oelendra. »Er hat den von dir erwähnten Zugang zu allen Ländern, selbst zur Neutralen Zone und den Ländern jenseits von Hintervold. Er hat auf allen Seiten und gegen alle gekämpft. Wer wäre besser in der Lage, unverdächtig hin und her zu wechseln?«
Rhapsody dachte an ihre Rettung aus der Hand der Blutsverwandten, an Anborns grobe, aber sorgfältige Dienste, nachdem er sie vor dem Sturm gerettet hatte. Der Gedanke an ein mögliches Doppelspiel Anborns schnürte ihr den Magen zu, doch sie konnte diese Möglichkeit nicht ausschließen. Dann kam ihr ein noch schrecklicherer Gedanke. Falls Anborn der Dämon war, hatte sie allein in seiner Hütte geschlafen und war in seiner Gegenwart verwundbar gewesen. Vielleicht stand sogar sie selbst unter seinem Bann in diesem Augenblick, unwissend. Diese Vorstellung war zu viel für sie.
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir niemanden ausschließen«, sagte sie und stand auf.
»Was sagst du dazu, Rial? Ist es einen diplomatischen Einsatz wert?«
Rial lächelte. »Das ist es, Rhapsody, und sei es nur, um mit anzusehen, wie du diese hart gekochten Knicker um den Finger wickelst.«
»Knicker« war ein viel zu nettes Wort für das Verhalten der lirinschen Botschafter, entschied Rhapsody viele Stunden später, als sich die Dunkelheit über das Land legte. Sie hatten ohne Unterbrechung gestritten, seit die beiden in der Großen Halle oberhalb von Tomingorllo angekommen waren, und je mehr Abgesandte an dem Gespräch teilgenommen hatten, desto scheußlicher war es geworden. Schließlich schlug Rhapsody gegen die hölzerne Bank, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
»Das ist doch lächerlich«, sagte sie erschöpft. »Ich könnte dieses Verhalten in Roland verstehen. Dort gibt es so viele widerstreitende Erbfolgen sowohl bei den Cymrern als auch bei den anderen, dass es beinahe als Entschuldigung für ihr Verhalten angesehen werden kann, auch wenn es dem Kampf um die Süßigkeiten bei einem Kindergeburtstag ähnelt. Aber ihr, meine Damen und Herren, verwirrt mich. Ihr seid Lirin, die älteste aller Rassen in diesen Ländern. Ihr habt Jahrhunderte voller Kämpfe und Blutvergießen gesehen. Ihr habt es selbst durchgemacht, nicht aus Legenden erfahren, sondern mit eigenen Augen gesehen und am Tod eurer eigenen Verwandten gespürt. Was muss noch passieren, damit ihr aufwacht und begreift, was hier geschieht? Bald wird der Feind es nicht mehr nötig haben, eure Länder zu zerstören. Ihr werdet es selbst getan haben! Ihr solltet diejenigen sein, die am leichtesten zu überzeugen sind, aber ihr scheint es darauf anzulegen, euch über Nichtigkeiten zu streiten. Offenbar stimmt ihr nur darin überein, dass ihr Roland und seiner cymrischen Linie nicht traut, obwohl auch viele eurer eigenen Leute von dieser Linie abstammen. Nun gut, ich will euch etwas fragen. Wenn es Anborn war, der den Diamanten zerstört und eure Thronnachfolge im Unklaren gelassen hat, warum wollt ihr das fortführen? Die Ahnen Rolands werden euch für alle Zeiten getrennt und schwach halten. Erhebt euch darüber! Wählt unter euch selbst einen aus, der nicht zwischen See-Lirin, Wald-Lirin, manossischen Lirin oder Ebene-Lirin unterscheidet, sondern der nur Lirin kennt! Das sollte doch nicht so schwer sein.«
Die Botschafter starrten sie verblüfft an. Schließlich schüttelte Temberhal, der Abgesandte Tyrians in Manosse, seine Erstarrung ab und redete sie höflich an.
»Wie sollen wir das deiner Meinung nach erreichen?«
»Zuerst müsst ihr mit der Wiedervereinigung einverstanden sein. Behaltet eure unabhängigen Anführer, aber stellt sie unter einen Herrscher, der ihre innere Unabhängigkeit anerkennt, und schwört ihm oder ihr Treue. Könntet ihr euch damit wenigstens theoretisch einverstanden erklären?« Die Botschafter sahen einander an. Einer nach dem anderen nickte. »Gut. Als Nächstes verspricht jeder von euch diese Treue auch der Krone. Sie wurde schon immer als Richterin der Weisheit angesehen. Bittet sie darum, einen würdigen Kandidaten auszuwählen. Stimmt zu, euch mit ihrer Entscheidung abzufinden. Geht dann in eure Länder zurück und kehrt mit jemandem wieder, der eurer Meinung nach die Fähigkeit zum Hochkönig oder zur Hochkönigin aller Lirin hat, und seht, wen die Krone davon auswählt. Krönt ihn oder sie sofort. Ist das gerecht?«
Schweigen hing einen Moment lang über dem Thronraum, dann kehrten die Botschafter zu ihren Diskussionen zurück. Diesmal aber schienen die Gespräche etwas zu bringen. Rhapsody sah Oelendra an, die lächelte und leicht nickte.
Sie stieß einen Seufzer aus und sah durch die Öffnung in der Mitte der Decke hoch zu den Sternen, die allmählich in dem dunkler werdenden Himmel erschienen. Sie hatte ihren Gruß bei Sonnenuntergang leise auf dem eisigen Hügel außer halb der Großen Halle gesungen und damit den ersten Durchbruch bei den Gesprächen erzielt. Als sie und Oelendra zurück in das Gebäude gegangen waren, hatten sie festgestellt, dass die Botschafter sie von der Tür aus gemeinsam anglotzten. Der Friede war allerdings nur von kurzer Dauer gewesen, und einige Augenblicke später wurden die Kämpfe wieder aufgenommen. Jetzt redeten sie wenigstens freundlich miteinander.
Oelendra stand auf, als die Gespräche der Botschafter kein Ende nehmen wollten, kam herüber zu Rhapsody und setzte sich neben sie auf die große runde Bank.
»Wie sieht dein nächster Schritt aus? Was ist, wenn sie sich nicht einigen können?«
»Ich will sie aushungern, bis sie mitmachen«, antwortete Rhapsody feierlich. »Ich habe Rial gesagt, dass keine Nahrung hereingebracht werden und niemand essen darf, bis sie einverstanden sind. Das ist zwar keine gute Art, Zustimmung zu erzeugen, aber allmählich geht mir die Geduld aus. Als Nächstes wird kein Holz mehr im Kamin nachgelegt; dann frieren sie so lange, bis sie zur Vernunft kommen.«
Oelendra kicherte, und Rhapsody schüttelte den Kopf. »Weißt du, Oelendra, diese Erfahrung hat mir die Augen geöffnet. Ich weiß nicht, was ich hier erwartet habe, da ich in dieser Gesellschaft eigentlich keinen richtigen Platz innehabe, aber was immer ich zu erreichen gehofft hatte, ist gescheitert. Ich fürchte, ich bin nicht für die Diplomatie geschaffen.«
»Unsinn«, sagte Oelendra. »Zusätzlich zu deinen anderen Fähigkeiten hast du den großen Vorteil, dass du keiner dieser Gruppen angehörst. Du bist nicht voreingenommen. Außerdem hast du keine Vorstellung davon, wie bemerkenswert es ist, dass diese Leute so lange im selben Raum sitzen; das ist zweifellos ein Rekord. Das ist schon für sich genommen eine großartige Leistung, was immer sonst noch hier geschehen mag, Rhapsody. Es kommt nicht oft vor, dass eine Kriegerin als Schlichterin dient.«
»Eigentlich glaube ich, dass ich zu keinem davon tauge«, sagte Rhapsody ernsthaft.
»Jetzt hör aber auf«, meinte Oelendra streng. »All das haben wir doch schon auf dem Weg zum Hof der See-Lirin besprochen. Du hast bei Llauron nicht versagt; er hat deine Dienste abgelehnt. Die Ilianchenva’ar muss die Gebräuche der religiösen Führer anerkennen, die sie beschützt, Rhapsody. Du hättest nichts anderes tun können.«
Rhapsody schaute fort. Sie hatte ihrer Freundin nicht gesagt, dass Llauron noch lebte, obwohl sie dies gern jemand erzählt hätte. Sie bezweifelte, dass sie sich dazu durchringen könnte, es Achmed oder Grunthor zu berichten, obwohl sie sicher war, dass Ashe Verständnis dafür hätte, wenn sie es täte. Sie rieb sich die Augen und versuchte, den bohrenden Kopfschmerz zu besänftigen. Sie war es leid, die Geheimnisse anderer Leute mit sich herumzutragen. Ihre eigenen wogen schwer genug.
»Meine Dame?« Rhapsody schaute auf und bemerkte, dass Temberhal vor ihr stand; die anderen Botschafter warteten hinter ihm. Die edle Anrede verursachte bei ihr immer ein Lächeln, so wie es auch der Titel einer Herzogin von Elysian tat, der ihr zum Scherz verliehen worden war.
»Ja?«
»Wir haben eine Übereinstimmung erzielt. Wir sind einverstanden, uns zu vereinigen.«
Bei diesen Worten verschwanden Rhapsodys Kopfschmerzen. Sogleich stand sie auf und umarmte Oelendra.
»Wunderbar«, sagte sie und lächelte Temberhal und die anderen an, deren Gesichter nun ihr Grinsen widerspiegelten. »Den Sternen sei Dank. Aber eines nach dem anderen. Jetzt werden wir erst einmal etwas essen, Rial. Ich sterbe vor Hunger.«
Nachdem die Palastdiener die Reste des Abendessens abgeräumt hatten, nahmen die Botschafter ihre Plätze um die Krone herum ein. Als Schutzherr fiel es Rial zu, das Gelübde zu erbitten. Er wirkte nervös und aufgeregt, als er mit der Hand auf dem Glaskasten dastand, unter dem die Krone ruhte. Rhapsody lächelte ihn an, sie las die Aufregung in seinen Augen. Insgeheim hoffte sie, dass die Krone ihn erwählen würde. Sie spürte, dass seine Weisheit und Freundlichkeit viel dazu beitragen konnten, das zersplitterte lirinsche Volk wieder zusammenzubringen. Dann kam ihr ein Gedanke.
»Rial, soll ich das Sternenlicht auf die Krone herabrufen und sie segnen, bevor du beginnst?«
Sie sah ihn an; ihr Grinsen wurde breiter, als er nickte, dann wandte sie sich den anderen zu, die ebenfalls einverstanden waren.
Rhapsody zog die Tagessternfanfare und spürte die Macht, als das Schwert seine Freiheit genoss. Ein helles Licht blitzte auf, sobald die Klinge die Scheide aus schwarzem Elfenbein verließ und die Botschafter und sogar Oelendra sich die Augen beschirmen mussten. Rhapsody begab sich in die Mitte des Raumes, hob das Schwert gegen den Nachthimmel und schloss die Augen. Sie sang aus dem Stegreif und rief die Sterne, damit sie die Krone ihrer Kinder mit Licht und alter Weisheit segneten.
Zur Antwort stieg ein Strahl von großer Helligkeit aus dem Himmel durch die kreisrunde Öffnung in der Decke herab und badete die Krone und ihren Sockel sowie die umstehenden Botschafter in weißem Licht, das heller als die Sonne war. Mit geschlossenen Augen erfühlte Rhapsody das Licht und hörte einen Moment später ein tiefes Lied im Thronsaal. Es war der Gesang der Krone, der seit unvordenklicher Zeit nicht mehr gehört worden war. Ihre Musik erreichte die Herzen aller Anwesenden und lähmte sie.
Sie öffnete die Augen und schaute das Diadem an. Es glitzerte in den Farben unzähliger Regenbögen. Jede Facette des Diamanten leuchtete in gebrochenem Glanz. Das Licht und die Farben, die es erschaffen hatte, blieben auch noch, als der himmlische Schein, den die Tagessternfanfare herabgeholt hatte, verschwunden war. Der dunkle Raum erhellte sich nun unter dem Strahlen der Krone. Rhapsody sah hinüber zu Oelendra, die das Diadem mit Tränen in den Augen betrachtete. Als sich die Sängerin umschaute, stellte sie fest, dass auch in den Augen von Rial und den Botschaftern Tränen standen.
Plötzlich überkam sie ein seltsames Gefühl der Unsicherheit. Es war, als drängte sie sich in etwas hinein, das den Leuten dieses Landes heilig war. Sie war keine von ihnen und würde es vermutlich nie sein, auch wenn man sie willkommen geheißen und auf sie gehört hatte, als sie die Art der hiesigen Regierung kritisiert hatte. Rhapsodys Gesicht wurde rot in der Dunkelheit, doch die verzauberten Lirin bemerkten es nicht. Ihre Stellung als Halbblut wurde ihr bewusst und war ihr plötzlich peinlich; sie fühlte das Bedürfnis fortzurennen. Doch da dies dem Prozess gegenüber respektlos gewesen wäre, den sie in Gang gesetzt hatte, wich sie nur zurück, bis sie sich bei der Bank vor der Wand befand, und ließ sich schweigend darauf niedersinken.
Nach einigen Minuten blinzelte Rial und hob die Hand langsam über den Glasbehälter. Er berührte das Glas, und die übrigen Botschafter folgten seinem Beispiel. Dann sprach er feierlich und mit vor Aufregung tiefer Stimme das Versprechen aus, die Lirin unter einem einzigen Herrscher zu vereinen, und stellte ihm sein Leben zur Verfügung. Die Botschafter stimmten ein, genau wie Oelendra, die lirinsche Wächterin. Als das Gelöbnis vorbei war, kehrte wieder Stille ein.
Rial riss die Augen noch weiter auf und warf einen Blick quer durch den Raum auf Rhapsody. Ihre Kehle zog sich zusammen.
»Was hast du getan?«, fragte er mit rauer Stimme, als er wieder reden konnte.
Unter dieser Anklage wurden ihre Hände schweißfeucht. »Ich ... ich weiß es nicht. Was stimmt denn nicht?«
Rial deutete auf die Krone. »Das Diadem spiegelt nicht das Sternenlicht wider. Es erschafft das Strahlen selbst.« Rhapsody kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Verstehst du nicht? Das ist die Erfüllung des Versprechens von Königin Terrell, unter deren Führung die Splitter des Diamanten sorgfältig eingesammelt und in das Diadem eingesetzt wurden. Du hast den Diamanten geheilt, Rhapsody. Du hast dem Stein das Sternenlicht zurückgegeben.«
Rhapsody erzitterte. »Es ... es tut mir Leid«, stammelte sie.
Rial wandte sich an Oelendra. »Du bist die Einzige von uns, die die Krone lebendig gesehen hat«, sagte er zu der lirinschen Meisterin. »Hat sie damals so ausgesehen?«
Die Tränen in den Augen der Kriegerin quollen über und rannen ihr an den Wagen herunter.
»Nein«, sagte sie sanft. »So hat die Krone noch nie ausgesehen. Nur der Diamant in seiner ursprünglichen Form hat das Licht der Sterne in sich getragen. Jetzt übertrifft das Leuchten der Krone noch das Licht, das er als einzelner Stein hatte. Vielleicht ist die Strahlkraft durch die unzähligen Splitter erhöht worden.«
Das Verlangen nach Flucht verzehrte Rhapsody. Sie stand langsam und so leise auf wie möglich, während die anderen verzaubert das Diadem anstarrten, und wich still zur Tür zurück. Sie hatte sich eben umgedreht und die Schwelle überschritten, als die Stimme ihrer Lehrerin die Luft durchschnitt wie damals während ihrer Ausbildung.
»Halt. Wohin willst du gehen?« Widerstrebend drehte sie sich um. »Komm hierher zurück, Rhapsody.«
Ihr Zittern wurde immer heftiger. »Oelendra, ich ...«
»Sei kein Feigling.« Die Worte ihrer Lehrerin waren barsch, aber in ihren Augen lag das mitfühlende Lächeln von jemandem, der für eine Sache, die größer war als er selbst, schon viele Dinge gegen seinen Willen unternommen hatte. »Komm her.«
»Ich kann nicht«, flüsterte Rhapsody. Unvermittelt verspürte sie den Ruf der Krone, der stärker als der des Schwertes war, durch ihren Körper kreisen. »Bitte, ich muss nach Hause gehen.«
Rial schüttelte seine Verzückung ab, kam auf sie zu und ergriff sanft ihre Hände. »Es scheint mir, dass du zu Hause angekommen bist.« Er lächelte sie ermutigend an. »Hab keine Angst. Zweifelst du etwa die Weisheit der Krone an?«
»Nein.« Ihre Stimme war kaum hörbar.
»Dann unterwirf dich ihrem Willen. Du bist ein Kind des Himmels, Rhapsody. Wenn die Sterne der Meinung sind, dass die Lirin dich brauchen, wirst du uns doch wohl nicht den Rücken zukehren? Deinem eigenen Volk?«
»Ich habe alles getan, was ich tun kann«, stammelte sie und drehte sich nach den Botschaftern um. Nun schauten alle sie an; auf ihren Gesichtern zeichneten sich verschiedene Grade der Freude ab. »Ihr versteht nicht. Ich bin ein Bauernmädchen.«
Die Botschafterin der See-Lirin, eine Frau namens Marceline, verließ den Sockel und kam auf Rhapsody zu. »Du bist diejenige, die nicht versteht«, sagte sie sanft. »Bei den Lirin gibt es keine Bauern. Wir alle sind Kinder desselben Himmels, der sich über uns wölbt. Du bist so würdig wie alle anderen, uns anzuführen, falls du dazu berufen werden solltest.«
»Es wäre ziemlich scheinheilig von dir, die Krone nicht anzunehmen, wenn man bedenkt, wie du uns ermuntert hast, nicht wahr?«, fügte Hymrehan hinzu, der Minister aus der Ebene. Oelendra erschien neben ihr und ergriff ihren Ellbogen. »Komm«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Wir wollen sehen, ob das Diadem noch etwas zu sagen hat.« Sie geleitete Rhapsody hinüber zu dem Glasbehälter, ließ ihren Arm los und legte die Hand leicht auf den Rücken der Sängerin. »Hab keine Angst. Öffne den Behälter und sieh, was geschieht falls überhaupt etwas geschieht. Vielleicht wurdest du nur dazu gebraucht, der Krone das Sternenlicht zurückzugeben, und sie wählt einen anderen aus, der sie tragen wird.«
Mit zitternden Händen öffnete Rhapsody den Deckel. Sofort leuchteten die winzigen Steine des Diadems noch heller und stoben, wie vom Wind aufgewirbelt, aus dem Behälter und um ihren Kopf, den sie wie ein Kranz aus kleinen Sternen umgaben. Die Botschafter traten einen Schritt zurück, als sich das Licht der glitzernden Krone über ihre Gesichter ergoss und kurz in ihren Augen brannte, bevor es zu einem Glühen um Rhapsodys Kopf herabsank. Oelendra lächelte und sah ihre Schülerin zärtlich an.
»Na, vielleicht nicht.«
Rhapsody brach in Tränen aus. »Bitte, bitte tut mir das nicht an. Ich habe nicht geschworen zu führen, sondern zu dienen.«
Rial berührte ihren Arm. »Habt keine Angst, meine Dame«, sagte er förmlich. »Wir alle haben geschworen, Euch zu unterstützen und in jeder erdenklichen Weise zu helfen, nicht wahr, meine Freunde?« Die Botschafter nickten einmütig und lächelten. »Ihr habt mein Versprechen, dass Ihr alle Hilfe bekommen werdet, die Ihr braucht.«
»Wie lautete noch gleich Euer Plan?«, fragte Temberhal mit ernster Stimme, aber zwinkernden Augen. »Wir sollten einer Wiedervereinigung zustimmen und einem Anführer oder einer Anführerin Treue geloben, der oder die unsere Unabhängigkeit anerkennt. Das haben wir getan. Wir haben der Krone Treue gelobt und uns ihrer Entscheidung unterworfen.«
»Ja«, sagte Jyllian, der Botschafter Manosses am Hof von Tyrian. »Danach sollten wir sehen, wen die Krone erwählt. Ich glaube, auch das haben wir getan. Nun bleibt nur noch der letzte Schritt übrig.«
»Ja«, meinte Hymrehan lächelnd. »Und was war das noch gleich, Jyllian?«
»Die sofortige Krönung.«