Das Morgenlicht ergoss sich über den Wald und schien durch die Flocken des still fallenden Schnees. Überall im Wald war es ruhig, und das Fehlen jeglicher Geräusche schien mit jedem Schritt noch vollkommener zu werden. Manchmal jammerte eins der Kinder auf oder kicherte nervös, doch insgesamt spürten sie die schwere Stille in der Luft und ergaben sich ihr. Oelendra hielt an, und Rhapsody tat es ihr gleich, indem sie ihrer Stute leise zuschnalzte. Sie befanden sich in einer Waldlichtung, die in ihrer Erscheinung wenig bemerkenswert war. Zu allen Seiten hin erhob sich der dichte Wald, undurchdringlich für den Blick. Diesem Ort wohnte eine Feierlichkeit inne, eine tiefe und alte Melodie von Macht, die Rhapsody bis in die Knochen spürte. Sie sah ihre Freundin an.
Oelendra spähte angestrengt in den Wald, als versuchte sie, die Richtung auszumachen. Schließlich öffnete sie die Augen weiter und deutete auf einen Punkt in der Ferne.
»Da ist sie die Erle mit dem gespaltenen Stamm. Das war mein Orientierungspunkt.«
Rhapsody folgte Oelendras Geste mit dem Blick und sah ebenfalls den Baum. Sie nickte.
»Wie weit ist es von dort aus?«
Oelendra schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise; ihre Stimme war im Schweigen der Lichtung kaum mehr zu hören. »Du wirst gleich begreifen, was ich damit meine. Hier irgendwo gibt es eine Schleife in der Zeit. Ich habe sie vor jener Nacht schon tausendmal passiert und den Schleier des Hoen noch nie gesehen.«
Rhapsody nickte und schaute wieder in die Ferne. Der Schleier des Hoen, der cymrische Begriff für Freude, war der Eingang in das Reich des Fürsten und der Fürstin Rowan, jener Wesen, über die Oelendra ihr am ersten Abend ihrer Zusammenkunft erzählt hatte. Es war etwas Mystisches um diese legendären Gestalten, den Wächter der Träume und seine Gemahlin, die Bringerin des friedlichen Todes etwas, das Rhapsodys Verstehen überstieg. Wenn ihr jemand anderes als Oelendra die Geschichte von Ashes Errettung erzählt hätte, wäre sie geneigt gewesen, an einen verrückten Verstand oder eine Unmenge Bier zu glauben, doch Oelendra wog ihre Worte immer bedächtig ab und trug überdies den Ring des Wissens. Der Fürst und die Fürstin mischten sich nur ein und nahmen Gäste auf, wenn es um Leben und Tod ging. Sie schluckte und hoffte, die beiden würden diese Situation als ihrer Hilfe würdig befinden.
»Vielleicht ist der Eingang nur sichtbar, wenn man ihn wirklich braucht«, meinte sie und klopfte der Stute auf die Flanke.
Oelendra zuckte die Achseln. »Vielleicht«, sagte sie, kniff die Augen zusammen und schaute wieder in den Wald. Dann drehte sie sich um und packte Rhapsody an den Schultern. »Etwas musst du bedenken. Die Zeit vergeht dort nicht so wie hier. Ich war ein paar Stunden in ihrem Reich, vielleicht auch Tage, als sie an Gwydion gearbeitet haben.« Eine Wolke flog über ihre silbernen Augen, oder vielleicht war es auch nur die Ironie der Erinnerung. Oelendra hatte die Nachricht vom Überleben Ashes mit ernstem Schweigen aufgenommen, als Rhapsody nach Tyrian zurückgekehrt und sie um ihre Hilfe bei den Kindern des F’dor gebeten hatte. Sie hatte sich oft gefragt, was die lirinsche Kriegerin dachte, doch Oelendra teilte diese Gedanken nicht mit Rhapsody. »Als er ... nachdem ich nichts mehr tun konnte und Fürst Rowan mich zurückschickte, hatte sich seit dem Moment, als ich hinter den Schleier getreten war, nichts geändert, Rhapsody. Mein Sattel war noch warm. Du bleibst vielleicht eine lange Zeit, Monate oder möglicherweise Jahre, aber wenn du zurückkehrst, ist es vielleicht nur einen Augenblick später als bei deinem Weggang. Es könnte schwierig für dich werden, deinen Platz in der Zeit wieder zu finden.«
Rhapsody strich ihr über die Hand. »Vielen Dank«, sagte sie. »Ich weiß, an wen ich mich zuerst um Hilfe wende, wenn ich mich verirre.«
Zum ersten Mal, seit sie den Wald betreten hatten, lächelte Oelendra. »Nun, das ist eine Lektion, die du gut gelernt hast. Meine Tür steht immer offen für dich, meine Liebste. Mein Heim ist dein Heim. Und jetzt werde ich hier mit den Kindern und mit ihm warten.« Sie deutete auf den Gladiator, der gegen den Sattel des Rotschimmels gelehnt saß; seine Augen waren trübe von den betäubenden Kräutern. »Ich hoffe, du findest sie.«
Rhapsody schluckte schwer. Sie hatte nicht daran zu denken gewagt, was geschehen würde, wenn sie versagte. Langsam zog sie die Tagessternfanfare und hielt sie vor sich. Sie beobachtete, wie die wispernden Flammen über die Klinge zuckten, die im Licht der Sterne leuchtete. Sie fuhr mit den Fingerspitzen durch das Feuer und spürte den summenden Puls auf der Haut. Bei ihrer Berührung sprangen die Flammen hoch und zischten auf, beruhigten sich aber kurz darauf in einem Windstoß. Mit einem entschiedenen Stoß rammte sie das Schwert in den Schnee, damit es ihr als Orientierungszeichen diente, und ging los, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Der Weg durch den knöcheltiefen Schnee schien ihr sehr lang zu sein. Sie hinterließ beinahe keine Spuren. Hier wehte der Wind nur sanft, und die Brise war trotz des tiefen Winters warm. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wohin sie ging, und kaum wusste, woher sie kam, hatte Rhapsody nicht den Eindruck, sich verirrt zu haben. Sie schloss die Augen und trank das Lied des Waldes, das tiefer und feierlicher als das Lied von Tyrian war, welches sie inzwischen so gut kannte.
Das Lied erklang im Westen lauter. Sie folgte ihm blindlings und hielt die Hände vor sich ausgestreckt. Es war eine tiefe, warme Melodie, wie der Gesang der Arbeiter in den Eingeweiden der Berge, oder wie die Erde selbst, so wie Rhapsody sie gehört hatte, als sie entlang der Wurzel gewandert war. Das Lied wallte im Wind und wurde in der einen Richtung immer stärker. Rhapsody drehte sich ihr zu und öffnete die Augen. Die Luft vor ihr und überall um sie herum war in Nebel gehüllt, der dick vor silbernem Dampf war. Die Tröpfchen funkelten in der Luft und warfen das Licht der aufgehenden Sonne zurück. Es war, als stünde sie in einer Wolke; Himmel und Wald waren nicht mehr zu sehen. Sie streckte eine Hand aus und wollte den Dunst fortwischen, aber er bewegte sich nicht, sondern hing weiterhin schwer in der Luft wie Regen, den die Zeit gefroren hatte. Rhapsody wanderte eine Weile weiter und versuchte die andere Seite des nebligen Schleiers zu finden, doch der Dunst war allgegenwärtig und undurchdringlich. Sie rief im Abstand von wenigen Minuten, hörte aber nichts; keine Stimme, kein Vogelgesang antwortete ihr. Es wurde schwierig, die Richtung beizubehalten, und bald war es ihr nicht mehr möglich. Nun befürchtete sie doch, sich zu verirren. Schließlich seufzte sie auf; der Laut wurde von den dichten Nebelschwaden geschluckt. Sie drehte sich um zu Oelendra und den Kindern. Nach einigen Minuten erkannte Rhapsody sie am Rande ihres Blickfeldes, wie sie sich in einem fernen Teil des Nebels auf den Pferden und um sie herum zusammendrängten. Rhapsody beschleunigte ihre Schritte und watete durch den Schnee, bis sie einen klareren Blick auf die Gruppe hatte. Sie blieb abrupt stehen.
Die Kinder des Dämons waren so, wie Rhapsody sie verlassen hatte. Doch die Person, welche die Zügel hielt, war nicht Oelendra, sondern eine kleine, blasse Frau mit Haaren, die so weiß und silbern wie der Nebel waren. Sie trug eine schlichte weiße Robe. Sie lächelte und hielt Rhapsody die Zügel der Stute entgegen. Rhapsody ergriff sie wie in Trance. Dann drehte sich die Frau um und ging in den dichter werdenden Nebel hinein. Einen Moment später schüttelte Rhapsody den Kopf, als wollte sie den Schlaf vertreiben, und folgte der Frau. Dabei führte sie das Pferd und die Kinder ebenfalls in den Dunst.
Nach langer Zeit löste sich der Nebel endlich auf. Zuerst bemerkte Rhapsody es gar nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, der Frau in Weiß zu folgen, doch schließlich erkannte sie hier und da einige Bäume, dann Waldstücke, bis schließlich der Nebel wie Rauch in der Wärme der Sonne verdampfte, die nun hoch am Himmel über ihnen stand. Rhapsody fand sich in einem Wald wieder, der dem von Tyrian nicht unähnlich war, aber es war Frühling oder Frühsommer. Der Boden war grün, genau wie die Blätter und die neuen Schösslinge der Bäume, bei denen es sich hauptsächlich um Weißbirken, Eschen, Silberahorn und blasse Buchen handelte, deren elfenbeinfarbene Rinde dem Wald ein unweltliches Aussehen verliehen.
Die Kinder, die bis dahin still gewesen waren, redeten nun leise miteinander, dann lachten sie, und schließlich rannten sie umher und genossen die Sonne. Es schien so, als wäre ein gewaltiges Gewicht von ihnen genommen. Nun fühlten sie sich, als könnten sie fliegen, und sie versuchten es, indem sie die Arme ausbreiteten, zwischen den Bäumen umhertollten und kleine Hügel hochrannten, herumsprangen und kicherten.
Rhapsody lächelte, als sie die Kinder ansah und dabei den Blick der Fürstin auffing, die sie eingehend beobachtet hatte. Sie errötete unter dem starren Blick, doch die Frau lächelte nun ebenfalls. Dann drehte sie sich zum dichteren Teil des Waldes um, und zwei junge Männer erschienen. Sie waren wie die Frau in weiße Gewänder gekleidet. Sie hoben den halb bewusstlosen Gladiator von dem Rotschimmel und führten ihn sowie das Pferd zu einer Siedlung aus kleinen Hütten, die Rhapsody erst jetzt bemerkte.
Rhapsody wollte sich wieder den Kindern zuwenden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie waren verschwunden. Nur die Frau in Weiß war zurückgeblieben. Sie näherte sich der Sängerin langsam und mit ausgestreckten Händen. Rhapsody ergriff sie. Sie waren warm wie die ihrer Mutter, als diese ihr in der Zeit ihrer Kindheit vor dem Feuer die Haare gebürstet hatte. Schmerzen, die sie gar nicht mehr wahrgenommen hatte, verschwanden plötzlich gemeinsam mit den rauen, schwarzen Erfrierungen und ließen sie in einem Gefühl der Ruhe und Ganzheit, aber doch ein wenig benommen zurück. Die blasse Frau sprach. Ihre Stimme war wie das sanfte Säuseln des warmen Windes.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, es geht ihnen allen gut. Ich werde dir deinen Platz hier zeigen.« Sie führte Rhapsody an der Hand über einen niedrigen Hügel zu einer kleinen, strohgedeckten Hütte, wie sie auch in der Siedlung standen. Sie nickte in Richtung des Hauses. Rhapsody versuchte, ihren inneren Nebel wegzublinzeln.
»Aber was ist, wenn sie in der Nacht aufwachen und weinen?«, fragte sie. Sie hatte zuvor nicht einmal an diese Frage gedacht; es war, als ob sie unter Umgehung ihres Gehirns unmittelbar in ihren Mund geflossen wäre.
»Das werden sie nicht«, antwortete eine Stimme hinter ihr. Rhapsody drehte sich um und sah einen bleichen Mann, der die gleiche Art von Robe trug, allerdings in der Farbe der Nacht. Seine Augen waren pechschwarz und tief; Rhapsody spürte, dass sie in diese Augen hineinstürzen konnte. Sie waren von schwarzen Brauen überwölbt, die von schneeweißem Haar abgelöst wurden. Plötzlich erkannte sie, dass man ihr die Frage in den Mund gelegt hatte, damit sie die Antwort hören konnte. Sie spürte, wie die Betäubung wie ein wollener Umhang von ihren Schultern abglitt und sich ihr Verstand klärte.
»Vielen Dank dafür, dass Ihr sie hereingeholt habt, Fürst«, sagte sie. »Ich werde tun, was ich kann, um zu helfen.«
»Gut«, sagte der Mann. Sein Gesichtsausdruck war ernst. »Sie brauchen deine Hilfe mehr, als du dir vorstellen kannst.«
»Komm, mein Kind«, sagte die Frau und lächelte. Sie streckte wieder die Hand aus. Rhapsody ergriff sie erneut und folgte der Fürstin Rowan tiefer in den friedlichen Wald hinein.
Das Reich der Rowans war allem Anschein nach ein heiteres. Die Kinder rannten umher und spielten im Sonnenschein. Ihre freudigen Stimmen kreischten, hallten durch den Wald und durchbrachen die Stille. Rhapsody sah den Gladiator nicht, doch alle anderen Kinder waren da und tollten zwischen den Bäumen herum, sogar Quan Li, das älteste Mädchen, das bisher sehr ernst und zurückhaltend gewesen war. Dieser Anblick erfreute Rhapsodys Herz. Sie spürte, wie eine Hand sie am Ellbogen berührte, und drehte sich um. Die Fürstin winkte ihr zu.
Sie erkletterten einen kleinen Hügel und blieben in einer Baumgruppe aus weißen Birken stehen. In dem Tal am Fuß des Hügels stand ein großes hölzernes Gebäude ohne jede Verzierung mit Ausnahme eines schlanken Holzturmes, der von einem silbernen Stern gekrönt wurde. Sie folgte der Fürstin den Hügel hinunter und in das Gebäude.
Drinnen war es dunkel und kühl. Von einer Rotunde zweigten etliche Türen ab. Die Fürstin öffnete eine gegenüber dem Eingang und wich zurück, damit Rhapsody eintreten konnte. Auch in diesem Raum war es dunkel. Viele Bienenwachskerzen lagen in Schachteln umher, und der minzige Geruch von Pipissewa, einem Kraut, das die Schmerzen der Sterbenden linderte, durchzog die Luft. Offene Beutel mit anderen medizinischen Kräutern, Wacholderbeeren und Schafsgarbe lagen auf einem Tisch; ihr Inhalt war zum Teil auf der Platte ausgestreut. In der Mitte des Raumes standen ein schlichtes Bett mit kurzen Beinen und mehrere Tische mit seltsam aussehenden Werkzeugen und Behältern. Die Fürstin bot ihr eine Kerze an, und Rhapsody nahm sie in die Hand. Das Bienenwachs war weich und duftend; es in den Fingern zu halten hatte etwas Hypnotisches an sich. Sie streckte einen Finger aus, um es anzuzünden, doch die Fürstin schüttelte den Kopf.
»Noch nicht.« Rhapsody steckte den Finger schnell wieder in die Faust zurück. Die Fürstin lächelte beruhigend. »Bevor du die Kerze anzündest, musst du begreifen, dass es ein Versprechen ist.«
»Ein Versprechen?«
»Ja, und zwar eines, das du vielleicht nicht gern gibst.«
Rhapsody blinzelte. »Was ist das für ein Versprechen?«
»Komm, ich will es dir zeigen.« Die Fürstin verließ das Zimmer und öffnete die nächste Tür. Rhapsody sah einen identischen Raum, doch hier lag der schlafende Gladiator auf dem Bett. Sie drehte sich um und sah die Fürstin fragend an, die in Richtung des ältesten Dämonenkindes nickte. Rhapsody blickte Constantin wieder an.
»Bleib hier.« Fürstin Rowan betrat den Raum, beugte sich neben dem Bett nieder und berührte sanft die Stirn des Gladiators. Hinter sich hörte Rhapsody, wie die Tür des Hauses geöffnet wurde. Die beiden jungen Männer traten ein und gesellten sich zu der Fürstin neben Constantins Bett. Sie trugen einen Kristallbecher und einige scharfe Metallwerkzeuge sowie Glasröhrchen, deren Anblick Rhapsody gar nicht gefiel. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch die Frage wurde sofort durch einen scharfen Blick der Fürstin Rowan erstickt.
Einen Moment später nahm die Fürstin den Männern die Instrumente ab und legte sie auf den Tisch neben dem Bett. Die Männer packten die Hände und Füße des Gladiators. Die Fürstin Rowan nickte ihren Gehilfen zu und wandte sich mit einer langen, ahlengleichen Nadel in der Hand zu Constantin. Unter Rhapsodys entsetzten Blicken trieb sie die Nadel in dessen Brust. Er erwachte unter Schmerzen und schrie auf.
Rhapsody versuchte in das Zimmer zu laufen, doch der Weg wurde ihr von einer unsichtbaren Kraft versperrt. Sie kämpfte machtlos dagegen an und schlug gegen den Türrahmen, verursachte jedoch keinerlei Geräusch. Sie schrie, aber auch ihr Mund gab keinen Laut von sich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als entsetzt zuzuschauen, wie sich Constantin in Qualen wand und seine Peiniger anbettelte aufzuhören. Tränen rannen ihm über das Gesicht und fanden bei Rhapsody einen Widerhall.
Das Verfahren schien endlos zu dauern. Schließlich aber hielt die Fürstin ein dünnes Glasröhrchen mit einer roten Flüssigkeit hoch, in der ein Strich aus Schwärze schwamm. Sie nickte den Gehilfen zu und entfernte die Nadel aus der Brust des Gladiators, wobei er noch einmal vor Schmerzen zuckte. Dann übergab sie das Röhrchen einem der Männer und verband sorgfältig die Brustwunde, wobei sie leise zu Constantin sprach, der schluchzend auf dem Bett lag. Rhapsodys Herz verkrampfte sich vor Sorge. Ein Schmerz, der so stark war, dass der Gladiator deswegen weinte, musste wirklich unerträglich sein, wenn sie Constantins Leben und Beruf in Betracht zog. Fürstin Rowan beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn auf die Stirn. Das Zittern verschwand, und er fiel sofort wieder in tiefen Schlaf. Die Fürstin verließ das Zimmer, ergriff Rhapsody am Ellbogen und führte sie wieder in den leeren Raum. Die Sängern zitterte.
»Das ist das Verfahren, das wir nun jeden Tag und bei jedem Kind anwenden werden, um das Blut ihres Vaters von ihnen zu trennen«, sagte die Fürstin schlicht, wobei sie die Tränen der Sängerin nicht beachtete. »Es muss unmittelbar aus dem Herzen genommen werden. Wie du gesehen hat, ist es außerordentlich schmerzhaft.«
Rhapsody keuchte. »Sogar bei dem Baby?«
»Ja.«
»Nein«, stammelte Rhapsody und versuchte ihre Übelkeit zu bekämpfen. »Bitte nicht.«
»Die andere Möglichkeit ist noch weitaus schlimmer, oder etwa nicht?«
Rhapsody senkte den Kopf. »Ja.« Die Fürstin sah sie durchdringend an; Rhapsody spürte den Blick der Frau auf ihr ruhen. »Wie lange wird es dauern?«
»Jahre. Mindestens fünf, vielleicht sieben. Es schneller zu machen würde bedeuten, bei jeder Sitzung mehr Herzblut zu entnehmen, und das könnte sich als tödlich erweisen. Wenn sie sterben, bevor der Prozess der Trennung abgeschlossen ist, gehen sie zu ihrem Vater in die Leere der Unterwelt, und zwar für immer.«
»Gute Götter«, flüsterte Rhapsody. Sie warf einen Blick auf den Tisch und die Werkzeuge, die mit jenen identisch waren, die man bei Constantin benutzt hatte. »Bitte sagt mir, dass es noch einen anderen Weg gibt.«
»Es gibt keinen anderen Weg, das Blut zu trennen«, sagte die Fürstin unverblümt. »Es gibt aber etwas, das du tun kannst, wenn du willst.«
»Was immer es ist, ich will es tun«, antwortete Rhapsody schnell. »Bitte sagt mir, wie ich helfen kann.«
Die Augen der Fürstin verengten sich. »Du bist vorschnell, mein Kind; das ist nicht gut. Die Kinder werden dich brauchen, damit du dich um ihre täglichen Bedürfnisse kümmerst und ihnen Trost und Liebe schenkst. Du solltest nicht zu etwas deine Zustimmung geben, von dem du noch nichts weißt.«
»Es tut mir Leid«, sagte Rhapsody demütig. »Bitte sagt mir, was ich tun kann.«
Die Fürstin sah sie gleichmütig an. »Du kannst die Schmerzen von einem oder zwei von ihnen übernehmen, wenn du willst.«
»Die Schmerzen übernehmen?«
»Ja. Du bist eine Sängerin, eine Benennerin. Du kannst ihr Namenslied zu deinem eigenen machen und ihre Schmerzen zu deinen. Das ist eine große Bitte und würde sehr viel von dir verlangen. Wenn du es ablehnst, wird dir niemand einen Vorwurf machen. Ich weiß, dass du gern eine Heilerin wärest; es wird dich viel lehren. Es wird dich mitfühlend machen und in die Lage versetzen, andere zu heilen, indem du ihre Verletzungen auf dich nimmst. Aber du wirst die Schmerzen in ihrer Fülle spüren, wenn du einem oder zwei der Kinder die täglichen Qualen ersparst, die du eben beobachtet hast. Es wird dir fürchterliche Schmerzen bereiten.«
Rhapsody starrte auf den Boden. »Einem oder zwei? Wie um alles in der Welt sollte ich sie aussuchen?«
Ein mitfühlendes Lächeln flog über das Gesicht der Fürstin. »Auch das wird nicht leicht sein. Es könnte sinnvoll sein, die beiden jüngsten auszuwählen, aber Schmerz ist Schmerz, egal wer ihn spürt, wie du soeben gesehen hast.«
Rhapsody dachte über ihre Worte nach. »Wird es mir körperlichen Schaden verursachen?«
»Nein. Es ist nur der Schmerz, den du übernimmst, nicht das Verfahren selbst. Du wirst weder eine Wunde noch eine Narbe davontragen.«
Rhapsodys Blick klarte auf. »Ich mache mir keine Sorgen über Narben außer denen, die die Schmerzen in den Seelen der Kinder hinterlassen. Bedeutet es das Versprechen, für ein Kind zu wachen und seine Schmerzen zu übernehmen, wenn ich die Kerze entzünde?«
»Ja.« Die Fürstin lächelte sie an. »Willst du es tun?«
»Ja.«
»Ich hatte es mir gedacht. Soll ich eine oder zwei Kerzen nehmen?«
Rhapsody erwiderte ihr Lächeln und nahm zwei Kerzen aus der nächsten Schachtel. Sie stellte sie auf den Tisch. »Hier?«
»Ja. Du bist sehr tapfer.«
»Soll ich sie jetzt anzünden?«
»Ja, aber dann musst du die Kinder nennen, für die du Wache halten willst.«
Rhapsody streckte den Finger aus und berührte die erste Kerze. »Aria«, sagte sie leise. Die Flamme flackerte zwischen ihrem Daumen und Zeigefinder auf, zuckte zunächst und brannte dann ganz ruhig. Sie griff nach der nächsten Kerze. »Mikita«, sagte sie und entzündete sie. Dann drehte sie sich um und stellte sich vor die Fürstin, die anerkennend nickte.
»Du solltest dich jetzt hier hinlegen, mein Kind. Ich werde dir alle Kräuter geben, die deine Schmerzen lindern können, aber ich muss dich warnen. Ich habe sie auch dem Gladiator vor dem Beginn des Eingriffs verabreicht. Ich muss meinen Gehilfen befehlen, diese beiden Kinder auszusondern.«
Rhapsody griff in die Schachtel, holte zwei weitere Kerzen hervor und stellte sie neben die bereits brennenden. Sie berührte die erste. »Jecen«, sagte sie, als die Kerze Feuer fing.
»Arie.«
Die Fürstin streckte die Hand aus und packte Rhapsody am Handgelenk. »Was tust du da, mein Kind?«
»Ihr habt gesagt, es würde mir keinen körperlichen Schaden zufügen. Ich übernehme nur die Schmerzen.«
»Ja, aber...«
Rhapsody befreite ihre Hand und entzündete zwei weitere Kerzen. »Ellis. Anya.« Sie warf einen Blick zurück auf die Fürstin. »Wie könnte ich eine Wahl treffen? Wie könnte ich es zu lassen, dass auch nur eines der Kinder die Schmerzen erleidet, die ich sowieso auf mich nehme?«
»Unterschätze nicht die Auswirkungen der kombinierten Schmerzen. Dein Herz mag willig sein, aber dein Körper wird gequält werden. Du hast dich immer noch nicht von den Strapazen deiner Reise hierher erholt. Ich glaube nicht, dass du verstehst, was du da tust.«
Zwei weitere Flammen sprangen auf. »Mari. Vincane.« Sie lächelte die Fürstin an. »Mag sein, aber ich habe nichts Besseres zu tun, so lange ich hier bin. Außerdem welche ihrer Mütter wäre dagegen gewesen? Sie sind nicht hier, also muss jemand sie vertreten.«
»Aber du bist nicht die Mutter dieser Kinder.«
Rhapsodys Augen schimmerten im Licht des heller werdenden Raumes. »Quan Li.« Sie sah auf. »Nein«, sagte sie lächelnd. »Ich bin ihre Großmutter. In meinem Leben gibt es vieles, für das ich Buße leisten muss. Vielleicht ist das hier ein Anfang.« Die letzte Kerze strahlte auf.
»Constantin«, sagte sie.