7

Manuel Krug hatte einen schweren Tag hinter sich. 08.00 Uhr Kalifornien. Er erwachte in seinem Haus an der Küste von Mendocino. Vor seiner Türe brandete der Pazifik. Tausend Hektar Rotholz bildeten seinen Garten. Neben ihm im Bett lag Clarissa, katzenweich, katzenscheu. Sein Schädel brummte von der Party der Spektrumgruppe der letzten Nacht in Taiwan, wo er zuviel von Nick Ssu-mas Hirse- und Ingwer-Likör getrunken hatte. Auf dem schwebenden Schirm erschien das Bild seines Beta-Hausdieners, der mit eindringlicher Stimme flüsterte: »Sir, Sir, bitte stehen Sie auf. Ihr Vater erwartet Sie am Turm.« Clarissa kuschelte sich dichter an ihn. Manuel blinzelte, bemühte sich, den Nebel zu durchdringen, der sein Gehirn umhüllte. »Sir! Verzeihung, aber Sie hinterließen unwiderrufliche Instruktionen, daß Sie geweckt werden müssen!« Ein Vierzig-Hertz-Ton brummte aus dem Fußboden, ein Fünfzehn-Megahertz-Pfeifen zischte von der Decke herab, und zwischen beiden gefangen, war es ihm unmöglich, in den Schlaf zurückzufliehen. Die Töne wurden lauter. Widerwillig, mürrisch, erwachte er vollkommen. Und dann kam eine Überraschung; Clarissa bewegte sich, nahm zitternd seine Hand, legte sie auf eine ihrer kleinen kühlen Brüste. Seine Fingerspitzen berührten die Warze, fanden sie noch weich, wie erwartet. Es war eine kühne Annäherung ihrerseits; ihr Fleisch war schwach, auch wenn ihr Geist willig war. Sie waren zwei Jahre verheiratet; trotz aller ernsthaften und kundigen Bemühungen war es ihm nicht gelungen, ihre Sinne wirklich zu erregen. »Manuel…«, flüsterte sie. »Manuel… berühre mich überall…!«

Er empfand es als grausam, sie abzuweisen. »Später«, sagte er, während die Töne sich wie Stacheln in sein Gehirn bohrten. »Wir müssen aufstehen. Der Patriarch erwartet uns. Wir gehen zum Turm heute.«

Clarissa schmollte. Ein weiteres Crescendo trieb sie aus dem Bett. Sofort verstummten die Töne. Sie duschten, frühstückten, zogen sich an. »Willst du wirklich, daß ich mitkomme?« fragte sie.

»Mein Vater hat dich ausdrücklich eingeladen. Er meint, es sei höchste Zeit, daß du den Turm siehst. Willst du nicht mitkommen?«

»Ich fürchte, ich tue etwas Dummes, sage etwas Albernes. Ich fühle mich so schrecklich jung, wenn ich in seiner Nähe bin.«

»Du bist schrecklich jung. Jedenfalls ist er vernarrt in dich. Du brauchst nur so zu tun, als seist du ganz fasziniert von seinem Turm, und verzeiht dir alle Albernheiten, die du vielleicht von dir gibst.«

»Und die andern Leute… Senator Fearon, und der Wissenschaftler, und wer sonst noch… Manuel, ich bin jetzt schon verlegen!«

»Clarissa…«

»Schon gut, schon gut.«

»Und vergiß nicht: der Turm wird für dich das wunderbarste Bauwerk der Menschheit seit dem Tadsch Mahal sein, wenn du ihn gesehen hast. Sage es ihm, vielleicht nicht mit so vielen Worten, aber gib es ihm zu verstehen auf deine eigene Weise.«

»Meint er es wirklich ernst mit dem Turm?« fragte sie. »Gedenkt er tatsächlich zu den Menschen auf anderen Sternen zu sprechen?«

»Ja, das tut er.«

»Wieviel wird es kosten?«

»Milliarden«, erwiderte Manuel. »Viele Milliarden.«

»Er verschwendet unser Erbe, um das Ding zu bauen. Er gibt alles aus.«

»Nicht alles. Das kann er gar nicht. Wir werden nie in Geldverlegenheit sein. Jedenfalls hat er das Geld verdient; laß ihn es ausgeben.«

»Aber für eine fixe Idee, für eine Laune…«

»Hör auf damit, Clarissa! Es ist nicht unsere Sache.«

»Dann sag mir wenigstens eins. Angenommen, dein Vater stirbt morgen, und du übernimmst alles. Was würde mit dem Turm geschehen?«

Manuel stellte die Koordinaten ein für ihren Sprung nach New York. »Ich würde die Arbeit an ihm übermorgen einstellen lassen«, sagte er. »Aber ich werde dich erwürgen, wenn du ihn das je wissen läßt. Steig ein! Auf nach New York!«


* * *

11.00 Uhr, New York. Es war bereits später Vormittag, und er war erst vierzig Minuten wach, nachdem er um acht aufgestanden war. Das war eine der kleinen Unannehmlichkeiten der Transmatgesellschaft: man verlor einen Teil des Tages, wenn man von Westen nach Osten sprang.

Natürlich gab es kompensierende Gewinne, wenn man in der entgegengesetzten Richtung reiste. Im Sommer 2218, am Tage vor seiner Hochzeit, waren Manuel und einige seiner Freunde der Spektrumgruppe mit der Morgendämmerung um die Wette um die Welt gereist. Sie starteten um 6.00 Uhr an einem Samstag im Ambolesi-Wildpark, als die Sonne sich über dem Kilimandscharo erhob, und sprangen nach Kinshasa, Accra, Rio, Caracas, Veracruz, Albuquerque, Los Angeles, Honolulu, Auckland, Brisbane, Singapur, Pnom-Penh, Kalkutta, Mekka. Man benötigte keine Visa in der Transmatwelt, keine Pässe; solche Dinge waren absurd im Transmat-Zeitalter. Die Sonne rollte mühsam mit knapp siebzehnhundert Stundenkilometern über den Himmel; die springenden Reisenden ließen sie hinter sich zurück. Obwohl sie fünfzehn Minuten hier, zwanzig Minuten dort Halt machten, um einen Cocktail zu trinken, kleine Souvenirs zu kaufen oder berühmte Monumente der Antike zu besuchen, gewannen sie ständig Zeit, stießen immer weiter rückwärts in die vorangegangene Nacht vor, überholten die Sonne, während sie um den Globus dem Freitagabend entgegenrasten. Natürlich verloren sie alles, als sie die Datumslinie überquerten, und wurden in den Samstagnachmittag geschleudert. Doch sie machten den Verlust wieder wett, indem sie nun westwärts reisten, und als sie wieder zum Kilimandscharo kamen, war es noch nicht elf Uhr des Samstag morgens, an dem sie gestartet waren, aber sie hatten die Erde umkreist und anderthalb Freitage erlebt. So etwas konnte man mit dem Transmat tun. Man konnte auch, wenn man seine Sprünge sorgfältig plante, zwei Dutzend Sonnenuntergänge an einem einzigen Tag sehen, oder sein ganzes Leben unter der Glut eines ewigen Mittags verbringen. Dennoch tat es Manuel, als er um 11.40 Uhr in New York ankam, leid, einen Teil des Vormittags dem Transmat geopfert haben zu müssen.

Sein Vater begrüßte ihn in seinem Büro förmlich mit einem Händedruck und umarmte Clarissa väterlich. Leon Spaulding hielt sich unbehaglich im Hintergrund. Quenelle stand am Fenster, allen den Rücken kehrend, und beobachtete das Treiben in der City. Manuel kam nicht gut mit ihr aus. Er mochte die Mätressen seines Vaters im allgemeinen nicht. Der alte Mann wählte jedesmal den gleichen Typ: volle Lippen, volle Brüste, pralles Gesäß, feurige Augen, breite Hüften, kurz, bäuerliche Rasse.

Krug sagte: »Wir warten auf Senator Fearon, Tom Buckleman und Dr. Vargas. Thor wird uns den Turm zeigen. Was tust du danach, Manuel?«

»Ich habe eigentlich nichts vor…«

»Dann geh nach Duluth. Ich wünsche, daß du alles kennenlernst über den Fabrikbetrieb dort. Leon, benachrichtige Duluth: mein Sohn trifft am frühen Nachmittag ein zu einer Besichtigung.«

Spaulding entfernte sich. Manuel hob die Schultern. »Wie du wünschst, Vater.«

»Es ist Zeit, deine Verantwortlichkeit zu erweitern Junge. Deine Führungsfähigkeiten zu entwickeln. Eines Tages wirst du der Boß von alledem hier sein. Eines Tages werden sie dich meinen, wenn sie Krug sagen.«

»Ich will versuchen, dem Vertrauen gerecht zu werden, das du in mich setzt«, sagte Manuel.

Er wußte, er täuschte seinen Vater nicht mit seinen Redensarten, und dessen Zurschaustellung von väterlichem Stolz täuschte ihn nicht. Manuel war sich der tiefen Verachtung seines Vaters für ihn bewußt. Er konnte sich selbst mit seines Vaters Augen sehen: ein Tunichtgut, ein alternder Playboy. Sein eigenes Bild von sich war jedoch: empfindsam, mitfühlend, zu kultiviert, um in der lärmenden brutalen Arena des Big-Business aufzutreten. Dann drängte sich ihm ein anderes, vielleicht echteres Bild von Manuel Krug auf: leer, ernst, idealistisch, oberflächlich, unfähig. Welcher war der richtige Manuel? Er wußte es nicht. Er wußte es nicht. Er verstand sich immer weniger, je älter er wahrscheinlich wurde.

Senator Fearon trat aus dem Transmat.

Krug sagte: »Henry, Sie kennen doch meinen Sohn Manuel… den zukünftigen Krug. Krug junior, den Erbprinzen.«

»Es ist viele Jahre her«, sagte Fearon. »Manuel, wie geht es Ihnen?«

Manuel berührte die kühle Hand des Politikers. Es gelang ihm ein freundliches Lächeln. »Wir haben uns vor fünf Jahren in Makao kennengelernt«, sagte er liebenswürdig. »Sie waren unterwegs nach Ulan Bator.«

»Ja richtig. Natürlich! Was für ein glänzendes Gedächtnis Sie haben! Krug, einen wunderbaren Jungen haben Sie da!« rief Fearon bewundernd und bleckte grinsend die Zähne.

»Abwarten«, sagte Krug. »Wenn ich abtrete, wird er Ihnen zeigen, wie ein richtiger Reichsverweser operiert!«

Manuel hustete und blickte verlegen zur Seite. Seine dynastische Zwangsvorstellung veranlaßte den alten Krug, ständig so zu tun, als sei sein einziges Kind auch der richtige Erbe für das Riesengebilde von Unternehmungen, die er gegründet oder geschluckt hatte. Daher rührte auch seine ständig zur Schau gestellte Sorge um Manuels ›Training‹ und die stete zermürbende Bekundung, Manuel würde eines Tages an die Macht kommen.

Manuel hatte nicht den Wunsch, die Herrschaft über das Reich seines Vaters zu übernehmen, noch glaubte er, daß er dazu fähig war. Er entwuchs erst jetzt seiner Playboy-Phase, war im Begriff, seinen Unernst zu überwinden, wie andere ihren Atheismus überwanden. Er hielt Ausschau nach einem sinnvollen Lebenszweck, nach einer Tätigkeit, die seinen Ambitionen und Fähigkeiten entsprach. Eines Tages würde er vielleicht eine ihn ausfüllende Aufgabe finden, doch er bezweifelte sehr, daß sie in der Leitung des Krug-Konzerns liegen würde.

Der alte Mann wußte das ebensogut wie Manuel. Innerlich verachtete er die Hohlheit seines Sohns, und manchmal schimmerte diese Verachtung durch. Doch er hörte nie auf zu behaupten, daß er seines Sohnes Urteil, Intelligenz und administrative Fähigkeiten hoch einschätzte. Gegenüber Thor Watchman, gegenüber Leon Spaulding, gegenüber jedermann, der ihm zuhören wollte, pries Krug die Vorzüge des Thronfolgers. Selbstbetrügerische Heuchelei, dachte Manuel; er versucht, sich selbst das glauben zu machen, von dem er weiß, daß es nicht wahr ist. Es würde nie wahr sein. Er wird immer größeres Vertrauen zu seinem androiden Freund Thor haben als zu seinem eigenen leiblichen Sohn. Und aus guten Gründen. Warum nicht einen begabten Androiden einem untüchtigen Kind vorziehen? Er hat uns doch beide geschaffen.

Soll er doch Thor Watchman die Leitung des Konzerns übertragen, dachte Manuel.

Die anderen Mitglieder der Gesellschaft trafen ein. Krug geleitete jeden einzeln zu den Transmatkabinen.

»Zum Turm«, rief er. »Zum Turm!«


* * *

11.10 Uhr, am Turm. Er hatte den größeren Teil einer Stunde von seinem verlorenen Morgen wiedergewonnen durch das Überspringen der Zeitzone westlich von New York. Doch er hätte gerne auf die Reise verzichtet. Es war schlimm genug, in dem eisigen arktischen Herbst Begeisterung zu zeigen und sich dazu zu zwingen, seines Vaters absurden Turm zu loben – die Pyramide Krugs beliebte Manuel sie insgeheim zu nennen –, doch dann war da noch die Geschichte mit dem abstürzenden Block gewesen, der die Androiden erschlug. Ein häßlicher Zwischenfall.

Clarissa war einem hysterischen Ausbruch nahe gewesen. »Schau nicht hin«, sagte Manuel zu ihr, legte die Arme um sie, als der Wandschirm im Kontrollzentrum zeigte, wie der Block von den Leichen gehoben wurde. Zu Spaulding sagte er: »Ein Beruhigungsmittel. Schnell.«

Der Ektogene reichte ihm eine Injektionskapsel. Manuel drückte die Spitze des Glasröhrchens gegen Clarissas Arm und betätigte den Abzug. Ultraschallwellen jagten die Droge durch ihre Haut ins Gewebe.

»Sind sie tot?« fragte sie, den Kopf noch immer abgewandt.

»Es sieht so aus. Vielleicht hat einer überlebt. Die ändern merkten nicht mehr, daß sie etwas traf.«

»Die armen Menschen!«

»Keine Menschen«, sagte Leon Spaulding. »Androiden. Nur Androiden.«

Clarissa hob den Kopf. »Androiden sind Menschen!« sagte sie schrill. »Ich will so etwas nie wieder hören! Haben sie nicht Namen, Gefühle, Persönlichkeit…«

»Clarissa«, unterbrach Manuel sie.

»…Träume?« fuhr sie unbeirrt fort. »Natürlich sind sie Menschen. Es waren Menschen, die soeben unter diesem Block starben. Wie konnten Sie, gerade Sie, eine solche Bemerkung machen über…«

»Clarissa!« sagte Manuel beschwichtigend.

Spaulding sah sie starr an. Der Ektogene war bleich vor Wut, doch er beherrschte sich.

»Es tut mir leid«, murmelte Clarissa und blickte zu Boden. »Ich wollte nicht persönlich werden, Leon. Ich… ich, mein Gott, Manuel, warum mußte so etwas gerade jetzt geschehen?« Sie begann wieder zu schluchzen. Manuel winkte nach einer weiteren Beruhigungskapsel, doch sein Vater schüttelte den Kopf, trat zu ihnen, führte sie von ihm weg.

Krug nahm die zierliche Frau in seine mächtigen Arme, drückte sie an seine breite Brust. »Ruhig«, sagte er. »Ruhig, ruhig. Es ist ein entsetzlicher Unfall, ja. Aber sie haben nicht gelitten. Sie waren auf der Stelle tot. Thor wird sich um die Verletzten kümmern. Er wird ihr Schmerzzentrum abschalten, und sie werden nicht mehr leiden. Arme Clarissa, arme, arme Clarissa… du hast wohl noch nie jemand sterben sehen? – Es ist schrecklich, wenn es so plötzlich geschieht, ich weiß, ich weiß.« Er tröstete sie zärtlich, streichelte ihr langes seidiges Haar, tätschelte sie, küßte ihre feuchten Wangen. Manuel sah erstaunt zu. Er hatte seinen Vater nie zuvor in seinem Leben so zärtlich erlebt.

Aber natürlich war Clarissa etwas Besonderes für den alten Mann: das Instrument dynastischer Nachfolge. Sie sollte durch ihren festigenden Einfluß Manuel dazu bringen, seine Verantwortung zu akzeptieren, und sie hatte auch die Aufgabe, den Namen Krug zu verewigen. Es war paradox: Krug behandelte seine Schwiegertochter, als wäre sie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, doch er erwartete mit unverschämter Selbstverständlichkeit, daß sie ihm starke Enkel gebären würde, um sich und seinen Namen fortzupflanzen.

Zu seinen Gästen sagte Krug: »Zu schlimm, daß wir die Besichtigung auf diese Weise beenden müssen. Aber zumindest haben wir alles gesehen, bevor es geschah. Senator, meine Herren, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie gekommen sind, meinen Turm zu sehen. Ich hoffe, Sie kommen wieder, wenn er weiter fortgeschritten ist. Gehen wir jetzt.«

Clarissa schien jetzt etwas beruhigt. Es verdroß Manuel, daß nicht er, sondern sein Vater sie besänftigt hatte.

Er griff nach ihrem Arm und sagte: »Ich denke, Clarissa und ich gehen zurück nach Kalifornien. Ein paar Tage mit mir am Strand, und sie wird sich wohler fühlen. Wir…«

»Du wirst heute nachmittag in Duluth erwartet«, sagte Krug eisig.

»Ich…«

»Schicke nach den Hausandroiden. Sie sollen sie abholen«, sagte er. »Du besichtigst die Fabrik.« Sich von Manuel abwendend, nickte Krug seinen aufbrechenden Gästen zu und sagte zu Leon Spaulding: »New York. Oberes Büro.«


* * *

11.38 Uhr, am Turm. Fast alle waren jetzt gegangen; Krug, Spaulding, Quenelle und Vargas zurück nach New York, Fearon und Buckleman nach Genf, Maledetto nach Los Angeles und Thor Watchman nach unten, um sich um die verletzten Androiden zu kümmern. Zwei von Manuels Hausbetas waren eingetroffen, um Clarissa zurück nach Mendocino zu bringen. Kurz bevor sie die Transmatkabine mit ihnen betrat, umarmte Manuel sie, küßte sie auf die Wange.

»Wann kommst du?« fragte sie.

»Am frühen Abend, denke ich. Wir haben eine Verabredung in Hongkong, glaube ich. Ich werde rechtzeitig zurück sein, um mich für das Dinner umzuziehen.«

»Nicht früher?«

»Ich muß Duluth besichtigen, die Androidenfabrik.«

»Drück dich davor.«

»Ich kann nicht. Du hast ja gehört, wie er sagte, daß ich gehen soll. Im übrigen hat der Alte recht: es ist Zeit, daß ich sie mir einmal ansehe.«

»Wie langweilig, einen Nachmittag in einer Fabrik!«

»Ich muß. Schlaf gut, Clarissa. Ich wünsche dir, daß du die häßliche Sache, die hier passiert ist, vergessen hast, wenn du aufwachst. Soll ich einen Löschimpuls für dich programmieren lassen?«

»Du weißt, ich hasse es, wenn mein Gedächtnis manipuliert wird, Manuel.«

»Ja. Es tut mir leid. Du gehst jetzt besser.«

»Ich liebe dich«, sagte sie.

»Ich liebe dich«, sagte er zu ihr. Er winkte den Androiden. Sie nahmen sie bei den Armen und führten sie in die Transmatkabine.

Er war allein, abgesehen von einigen unbekannten Betas, die angekommen waren, um während der Abwesenheit Watchmans das Kontrollzentrum zu übernehmen. Er ging an ihnen vorbei in Watchmans Privatbüro im Hintergrund der Kuppel, machte die Türe hinter sich zu und schaltete das Telefon ein. Der Schirm leuchtete auf. Manuel tippte die Rufnummer des Zerwürflercodes, und der Schirm antwortete mit dem abstrakten Muster, das ihm anzeigte, daß Vertraulichkeit garantiert war. Dann wählte er die Nummer von Lilith Meson, Alpha, im Androidenviertel von Stockholm.

Liliths Bild erschien auf dem Schirm: eine Frau von elegantem Körperbau mit glänzendem blau-schwarzen Haar, einer klassischen Nase und Platinaugen. Ihr Lächeln war verwirrend. »Manuel? Von wo aus rufst du an?« fragte sie.

»Vom Turm. Ich werde später kommen.«

»Sehr spät?«

»Zwei oder drei Stunden.«

»Ich werde vergehen vor Sehnsucht.«

»Ich kann es nicht ändern, Lilith. Ihre Majestät hat mir befohlen, die Androidenfabrik in Duluth zu besichtigen. Ich muß es tun.«

»Obwohl ich meine Wochenschicht gewechselt habe, um heute nacht mit dir zusammen zu sein?«

»Ich kann ihm das nicht sagen«, erwiderte Manuel. »Sieh, es ist nur für ein paar Stunden. Wirst du mir verzeihen?«

»Was kann ich sonst tun? Aber wie dumm, in Bottichen schnüffeln zu müssen, wenn du…«.

»Noblesse oblige, mein Schatz. Außerdem bin ich ein wenig neugierig geworden auf die Entstehung der Androiden, seit du und ich… seit wir… Weißt du, ich war nie in einer dieser Fabriken.«

»Nie?«

»Nie. Ich war nie daran interessiert. Ich bin es auch jetzt nicht, ausgenommen unter einem bestimmten Aspekt: es ist meine Chance, herauszufinden, was sich unter deiner lieblichen scharlachroten Haut befindet, meine Chance zu sehen, wie die ›Krug-Synthetics‹ Liliths in Serienproduktion herstellt.«

»Willst du das wirklich wissen?« fragte sie, und ihre Stimme klang jetzt tief wie ein Cello.

»Ich will alles wissen, was es über dich zu wissen gibt«, antwortete Manuel ernst. »Das Gute und das Schlechte. Verzeih mir also, daß ich später komme. Ich werde in Duluth eine Lilith-Lektion nehmen. Und ich liebe dich.«

»Ich liebe dich«, sagte Alpha Lilith Meson zu dem Sohn Simeon Krugs.


* * *

11.58 Uhr, Duluth. Die Hauptfabrik von Krug-Synthetics, Ltd. auf der Erde – es gab vier andere auf ebenso vielen Kontinenten und mehrere außerirdische – war ein etwa ein Kilometer langer Gebäudekomplex am Ufer des Obersees. In diesem Komplex befanden sich die Laboratorien, welche die Stationen auf dem. Wege der Herstellung synthetischen Lebens bildeten.

Manuel besichtigte nun diese Stationen wie ein inspizierender Prokonsul, der die Arbeit seiner Untergebenen begutachtet. Er fuhr in einem mit Plüsch ausgeschlagenen Blasenwagen, der so komfortabel war wie ein Mutterleib und an der Decke entlangglitt. Neben Ihm im Wagen saß der Direktor des Werks, ein energisch aussehender Mann menschlicher Abstammung von etwa vierzig Jahren namens Nolan Bompensiero, der sich, obwohl er eine der Schlüsselfiguren in Krugs Reich war, gezwungen und steif benahm, offensichtlich aus Furcht, Manuels Mißfallen zu erregen. Er ahnte nicht, wie wenig Manuel erbaut war von seiner Mission, wie er sich langweilte, wie wenig Wert er darauf legte, Macht auszuüben, indem er den Angestellten seines Vaters Schwierigkeiten machte. Manuel hatte nur Lilith im Sinn. Dies ist der Ort, wo Lilith geboren worden war, dachte er. Dies ist die Fabrik, in der Lilith produziert wurde.

In jeder Abteilung der Fabrik betrat ein Alpha – der Abteilungsleiter – den Wagen und fuhr mit Manuel und Bompensiero bis zum Ende seines Verantwortungsbereichs. Der größte Teil der Arbeit in der Fabrik unterstand der Leitung von Alphas; die gesamte riesige Anlage beschäftigte nur ein halbes Dutzend Menschen. Jeder der Alphas benahm sich wie Bompensiero überkorrekt und steif.

Manuel passierte die ersten Räume, in denen die hochenergetischen Nukleotiden, die das DNA, den Grundbaustein des Lebens bildeten, synthetisiert wurden. Er lauschte nur mit einem Ohr dem hastigen, nervösen Vortrag Bompensieros, stellte nur gelegentlich eine Frage.

»… Wasser, Ammoniak, Methan, Wasserstoffzyanid und andere Chemikalien… wir benützen dazu eine elektrische Entladung, um die Bildung komplexer organischer Verbindungen zu stimulieren… einen Zusatz von Phosphor… ein einfaches Verfahren, beinahe primitiv zu nennen, finden Sie nicht? Es folgt der Linie des klassischen Miller-Experiments von 1952… mittelalterliche Wissenschaft, dort unten auf dem Boden…

… das DNA bestimmt die Struktur der Proteine in der Zelle. Die typische lebende Zelle braucht Hunderte von Proteinen, von denen die meisten als Enzyme, als biologische Katalysatoren agieren…

… ein so gewonnenes Protein ist eine Molekülkette, die etwa zweihundert Aminosäureuntereinheiten, verbunden in einer spezifischen Reihenfolge, enthält…

… der Code für jedes Protein wird von einem einzelnen Gen getragen, das seinerseits eine besondere Region in dem linearen DNA-Molekül ist… all das wissen Sie natürlich, verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen solche Grundelemente vortrage, verzeihen Sie, ich wollte nur…«

»Schon gut«, seufzte Manuel.

»… und hier in diesen Bottichen stellen wir die Nukleotiden her und verbinden sie miteinander zu Dinukleotiden und reihen sie aneinander, damit sich das DNA bildet, die Nukleinsäure, die die Zusammensetzung…«

Lilith aus diesen Bottichen? Lilith aus dieser stinkenden Brühe aus Chemikalien?

Der Wagen glitt sanft dahin. Ein Alpha-Aufseher stieg aus; ein anderer Alpha, sich steif verbeugend, starr lächelnd, stieg ein.

Bompensiero sagte: »Wir entwerfen die Pläne für die Lebensform, die wir schaffen wollen, doch dann besteht die Aufgabe darin, die lebendige Materie zur Reproduktion zu zwingen, da wir einen Androiden nicht Zelle für Zelle aufbauen können. Wir müssen das erreichen, was wir das Startstadium nennen. Aber natürlich wissen Sie, daß das DNA nicht direkt an der Proteinsynthese beteiligt ist, daß eine andere Nuklearsäure als Vermittler agiert, nämlich RNA, das verschlüsselt werden kann, um die genetischen Botschaften, die im DNA niedergelegt sind, weiterzugeben…

… vier Basen oder chemische Untereinheiten, geordnet in variierenden Kombinationen, bilden den Code – Adenin, Guanin, Urazil, Cytosin…

… in diesen Bottichen – Sie können sich fast vorstellen, wie sie in ihnen die Ketten bilden… übermittelt das RNA die DNA-Informationen… die Proteinsynthese wird gesteuert von Zellenteilchen, Robosome genannt, die zur Hälfte aus Protein und zur Hälfte aus RNA bestehen… Adenin, Guanin, Urazil, Cytosin – der Code für jedes einzelne Protein wird vermittelt durch ein Gen, und der Code, übernommen von dem Muster-RNA, nimmt die Form einer Reihe von Dreierbuchstabengruppen der vier RNA-Grundstoffe an… können Sie mir folgen?«

»Ja, sicher«, nickte Manuel und sah Lilith In den Bottichen schwimmen.

»Wie hier. Adenin, Adenin, Cytosin. Cytosin, Cytosin, Guanin. Urazil, Urazil, Guanin. AAC, CCG, UUG… es klingt fast liturgisch, nicht wahr, Mr. Krug? Wir haben sechsundvierzig Kombinationen von RNA-Grundstoffen, mit denen wir die zwanzig Aminosäuren spezifizieren können – ein richtiges Vokabular! Ich könnte Ihnen die ganze Liste vorsingen, während wir durch diese Halle fahren. AAA, AAG, AAC, AAU, AGA, AGG, AGC, AGU, ACA…«

Der Alpha, der eben mit ihnen fuhr, hustete und preßte sich die Hand auf den Magen.

»Ja?« sagte Bompensiero.

»Ein plötzlicher Krampf«, sagte der Alpha. »Eine Verdauungsstörung. Verzeihen Sie mir.«

Bompensiero wandte seine Aufmerksamkeit wieder Manuel zu. »Nun, es ist nicht nötig, alle Sequenzen zu zitieren. Und so, sehen Sie, setzen wir die Proteine zusammen, bauen die lebenden Moleküle genauso auf, wie es in der Natur geschieht, abgesehen davon, daß der Prozeß in der Natur aufgelöst wird durch die Fusion der geschlechtlichen Fortpflanzungszellen, während wir die genetischen Bausteine synthetisieren. Wir folgen natürlich dem menschlichen genetischen Muster, da wir ein menschlich aussehendes Endprodukt haben wollen, doch wenn wir wollten, könnten wir Schweine, Kröten, Pferde, Centauren-Proteide, jede gewünschte Lebensform synthetisieren. Wir wählen unseren Code, wir arrangieren unser RNA, und es geht los! Das Muster unseres Endproduktes erscheint genauso wie geplant.«

»Natürlich«, sagte der Alpha, »folgen wir dem menschlichen genetischen Code nicht in jeder Beziehung.«

Bompensiero nickte heftig. »Mein Mitarbeiter bringt hier einen wichtigen Punkt zur Sprache. In den ersten Tagen der Androidensynthese beschloß Ihr Vater, daß – offenbar aus soziologischen Gründen – Androiden sofort erkennbar sein müßten als synthetische Geschöpfe. So führten wir bestimmte genetische Modifikationen durch. Der rote Teint, das Fehlen von Körperbehaarung, das abweichende Hautgewebe, all das ist in der Hauptsache aus Gründen der Identifizierung abgeändert worden. Dann gibt es Modifikationen, die programmiert sind für größere körperliche Leistungsfähigkeit. Wenn wir schon die Rolle von Schöpfern spielen können, warum sollten wir es nicht im Hinblick auf größte Effizienz tun?«

Der Direktor kicherte diskret.

»Warum nicht?« nickte Manuel.

»Weg also mit dem Blinddarm. Die Knochenstruktur des Rückens und des Beckens geändert, um alle Schwierigkeiten zu eliminieren, die unsere fehlerhafte Konstruktion verursacht. Die Sinne geschärft. Das Optimum an Gleichgewicht zwischen Fett und Muskeln, an physischer Schönheit, an Ausdauer, an Schnelligkeit, an Reflexen programmiert. Warum häßliche Androiden schaffen? Warum träge? Warum unbeholfene?«

»Würden Sie sagen«, fragte Manuel, »daß Androiden normal geborenen Menschen physisch überlegen sind?«

Bompensiero war sichtlich verlegen. Er zögerte, als ob er versuchte, seine Antwort nach allen politischen Aspekten abzuwägen, da er nicht wußte, welchen Standpunkt Manuel in der umstrittenen Frage der androiden Bürgerrechtsfrage einnahm. Schließlich sagte er: »Ich glaube, es besteht kein Zweifel hinsichtlich ihrer physischen Überlegenheit. Wir haben unsere Produkte von Anfang an so programmiert, daß sie stark, gutaussehend und gesund sind. Bis zu einem gewissen Ausmaß haben wir dies während der letzten Generationen auch mit den Menschen getan, doch hier haben wir nicht den gleichen Grad an Kontrolle, oder wir haben zumindest nicht versucht, ihn zu erreichen, mit Rücksicht auf humanitäre Einwände, auf die Opposition der Absterbe Partei und so weiter. Wenn Sie jedoch bedenken, daß Androiden steril sind, daß die Intelligenz der meisten von ihnen ziemlich niedrig ist, daß selbst die Alphas – «, er warf einen flüchtigen Blick auf seinen Abteilungsleiter, »verzeihen Sie, mein Freund – relativ wenig kreative Fähigkeiten gezeigt haben…«

»Ja«, sagte Manuel. »Gewiß.« Er deutete in die Halle hinunter. »Was geschieht dort unten?«

»Das sind die Nachbildungskessel«, erwiderte Bompensiero. »Die Ketten der Kernzellmaterie werden hier geteilt und vermehrt. Jeder Kessel enthält gewissermaßen eine Suppe von neu entstandenen Zygoten in der Startphase, produziert mit Hilfe unserer Proteinaufbauverfahren anstatt durch den sexuellen Prozeß der Vereinigung geschlechtlicher Fortpflanzungszellen. Drücke ich mich klar genug aus?«

»Vollkommen klar«, erwiderte Manuel, fasziniert auf die bewegungslose rosafarbene Flüssigkeit in den großen runden Tanks hinabstarrend. Er glaubte kleine Stücke lebender Materie in ihnen zu sehen, doch er wußte, daß es eine Täuschung war.

Der Wagen glitt geräuschlos weiter.

»Dies sind die Zuchtkammern«, sagte Bompensiero, als sie die nächste Abteilung erreicht hatten und hinunterblickten auf Reihen schimmernder Metallbehälter, die miteinander verbunden waren durch ein kompliziertes System von Röhren. »Sie sind im Grunde künstliche Gebärmütter, und jede von ihnen enthält ein Dutzend Embryos in einer Nährlösung. Wir produzieren Alphas, Betas und Gammas hier in Duluth – die ganze Androidenkollektion. Die qualitativen Unterschiede zwischen den drei Klassen werden während des Synthetisierungsprozesses eingebaut, doch wir ergänzen die Differenzierung auch durch unterschiedliche Ernährung. Dies sind die Alphakammern, dort unten links. Rechts sind die Betakammern. Im nächsten Raum befinden sich ausschließlich Gammakammern.«

»Wie ist das Zahlenverhältnis?«

»Auf einen Alpha kommen 100 Betas und 1000 Gammas. Ihr Vater hat dieses Verhältnis am Anfang festgelegt, und es ist nie geändert worden; es entspricht genau den menschlichen Bedürfnissen.«

»Mein Vater ist ein Mann von großer Voraussicht«, nickte Manuel.

Er fragte sich, wie die Erde jetzt sein würde, wenn das Krug-Kartell ihr keine Androiden geschenkt hätte. Vielleicht nicht sehr viel anders. Statt einer kleinen, kulturell homogenen, von Computern, mechanischen Robotern und gehorsamen Androiden bedienten menschlichen Elite gäbe es vielleicht eine kleine, kulturell homogene, nur von Computern und mechanischen Robotern bediente menschliche Elite. In beiden Fällen würde der Mensch des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts ein bequemes Leben führen.

Gewisse Trends hatten sich in den letzten Jahrhunderten etabliert, lange bevor der erste unbeholfene Android aus seinem Zuchtbehälter herausstolperte. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hatte ein starker Bevölkerungsrückgang eingesetzt; Kriege und Revolutionen hatten Millionen Zivilisten in Asien und Afrika gefordert; Hungersnöte und Seuchen hatten diese Kontinente, sowie Südamerika und den Nahen Osten heimgesucht, und in den Industrieländern hatten sozialer Druck, hohe Lebenshaltungskosten, steigende Mieten und die allgemeine Verbreitung sicherer Empfängnisverhütungsmittel die gleiche Wirkung hervorgerufen. Innerhalb von zwei Generationen hatten diese Faktoren zu einer rapiden Abnahme der Weltbevölkerung geführt.

Das fast vollkommene Verschwinden des Proletariats war eine der Folgen dieser Entwicklung gewesen. Da der Bevölkerungsrückgang von der Ersetzung des Menschen durch Maschinen bei allen Formen untergeordneter Arbeit begleitet war, wurden diejenigen, die nicht fähig waren, zu der neuen Gesellschaftsform Wesentliches beizutragen, durch sozialen Druck entmutigt, sich fortzupflanzen. So nahm der Anteil der ungebildeten und nicht schöpferisch veranlagten Menschen von Generation zu Generation rasch ab, und dieser Ausleseprozeß wurde zunächst unauffällig und dann – groteskerweise – offen unterstützt von wohlmeinenden Beamten, der Ämter für Arbeits- und Bevölkerungsplanung, die den Segen der Empfängnisverhütung keinem Bürger verweigern wollten. Als dieser Bevölkerungsanteil zu einer Minderheit zusammengeschmolzen war, wurde der Trend noch durch die ›Genetischen Gesetze‹ verstärkt. Denjenigen, die man für gesellschaftspolitisch untauglich hielt, wurde die Geburtserlaubnis entzogen, jenen, die gerade die Mindestnorm erreichten, wurden höchstens zwei Kinder pro Ehepaar bewilligt, und nur diejenigen, die über der Norm lagen, durften sich mit beliebig hoher Nachkommenschaft fortpflanzen. Damit wurde zwar das Problem der Überbevölkerung gelöst, dafür aber ein neues geschaffen: ein empfindlicher Mangel an Arbeitskräften In allen Dienstleistungsbranchen, um so mehr, als der Lebensstandard in dem Maße stieg wie die Weltbevölkerung abnahm.

Die Umformung der Gesellschaft vollzog sich in weltweitem Umfang. Die Einführung der Transmatreisen hatte den Planeten in ein Dorf verwandelt, und die Menschen dieses Dorfes sprachen die gleiche Sprache: Englisch, und sie dachten die gleichen Gedanken. Kulturell und genetisch tendierten sie zur Vermischung. Wunderliche Lokaltraditionen wurden da und dort als Folklore zur Touristenattraktion erhalten, doch am Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts gab es kaum noch Unterschiede zwischen den Bürgern von Karachi, Kairo, Minneapolis, Athen, Addis Abeba, Rangun, Peking, Canberra oder Nowosibirsk. Der Transmat hatte die nationalen Grenzen überwunden und Begriffe wie ›nationale Souveränität‹ zur Sinnlosigkeit werden lassen.

Diese soziale Umwälzung, die zu allgemeiner Muße und Bequemlichkeit geführt hatte, führte zu einer steigenden Nachfrage nach Dienstleistungen. Von Computern gesteuerte Roboter hatten sich als zu aufwendig oder unzulänglich für viele dieser Aufgaben erwiesen. Roboter waren zwar ausgezeichnete Straßenkehrer und Fabrikarbeiter, doch sie waren weniger tauglich als Butler, Babysitter, Köche und Gärtner. Baut bessere Roboter, sagten manche; andere aber träumten von synthetischen Menschen, die diese Bedürfnisse befriedigen sollten. Die technischen Schwierigkeiten schienen nicht unüberwindlich. Die Ektogenese – die künstliche Ernährung von Embryos außerhalb des Mutterleibes, das Ausbrüten von Babys aus gespeicherten Eiern und Sperma – war immer mehr verbessert worden, in der Hauptsache als Bequemlichkeit für Frauen, die das Risiko und die Last einer Schwangerschaft vermeiden wollten. Ektogene, mittelbar aus Mann und Frau geboren, waren zu sehr menschlich, um als Werkzeuge gebraucht zu werden; doch warum nicht einen Schritt weitergehen und Androiden herstellen?

Das hatte Krug getan. Er hatte der Welt den synthetischen Menschen geschenkt, die weitaus anpassungsfähiger waren als Roboter, langlebig, komplex in ihrer Persönlichkeit und ausschließlich abgerichtet zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Sie wurden gekauft, nicht gemietet und durch Gesetzeskraft als Eigentum, nicht als Personen betrachtet. Kurzum, sie waren Sklaven. Manuel dachte manchmal, es wäre vielleicht einfacher gewesen, sich mit Robotern zu begnügen. Roboter waren Dinge, die als Dinge behandelt werden konnten. Androiden hingegen waren so schmerzhaft menschenähnlich, daß es einem schwerfiel, sie als Dinge zu betrachten, und sie selbst mochten vielleicht ihren Status als Industrieprodukte und Sklaven nicht für alle Zeiten unwidersprochen hinnehmen.

Der Wagen glitt durch eine Zuchtkammerhalle nach der anderen, die still, verdunkelt und bis auf wenige Androidenaufseher leer waren. Jeder entstehende Androide verbrachte die ersten beiden Jahre seines Lebens versiegelt in einer solchen Kammer, erklärte Bompensiero, und die Hallen, die sie passierten, enthielten nacheinander Partien im Alter von wenigen Wochen bis zu mehr als zwanzig Monaten. In manchen Hallen waren die Kammern offen; Trupps von Beta-Technikern bereiteten neue Infusionen von Startzygoten vor.

»In dieser Halle«, sagte Bompensiero viele Hallen später, »haben wir eine Gruppe von ausgereiften Androiden, die bereit sind ›geboren‹ zu werden. Wünschen Sie hinunterzusteigen und den Vorgang aus nächster Nähe zu beobachten?«

Manuel nickte.

Bompensiero betätigte einen Hebel. Ihr Wagen rollte ruhig vom Hauptgleis eine Rampe hinunter. Auf dem Boden der Halle stiegen sie aus. Manuel sah einen Schwarm von Gammas, die sich um eine der Zuchtkammern drängten. »Die Nährflüssigkeiten sind aus der Kammer abgelassen worden. Seit etwa zwanzig Minuten atmen die darin befindlichen Androiden zum erstenmal in ihrem Leben Luft. Jetzt werden die Luken der Kammern geöffnet. Hier, kommen Sie näher, Mr. Krug, kommen Sie näher.«

Der Deckel der Kammer wurde abgehoben. Manuel schaute hinein. Er sah ein Dutzend vollausgewachsener Androiden, sechs männliche, sechs weibliche, schlaff auf dem Metallfußboden liegen. Ihre Unterkiefer hingen herab, ihre Augen waren leer, ihre Arme und Beine bewegten sich schwach. Sie erschienen hilflos, ausdruckslos, verwundbar. Lilith, dachte er, Lilith!

Bompensiero flüsterte neben ihm: »In den beiden Jahren zwischen Start und Ablassen der Nährflüssigkeit erreicht der Android volle physische Reife – ein Vorgang, zu dem Menschen dreizehn bis fünfzehn Jahre brauchen. Dies ist eine weitere von Ihrem Vater eingeführte genetische Modifikation im Interesse der Wirtschaft. Wir produzieren keine Androidenkinder, sondern nur Erwachsene, die voll einsatzfähig sind und niemandem zur Last fallen.«

Manuel sagte: »Habe ich nicht irgendwo gehört, daß wir einen Stamm von Androidenbabys züchten, die als Ersatz aufgezogen werden, um menschlichen Frauen, die selbst nicht…«

»Bitte«, zischte Bompensiero. »Kein Wort hierüber…« Er unterbrach sich selbst, als erinnere er sich, wer der Mann war, dem er einen Verweis erteilen wollte, und sagte in einem gemäßigteren Ton: »Ich weiß sehr wenig über das, was Sie da erwähnen. In dieser Fabrik haben wir keine Produktion dieser Art.«

Gammas trugen die zwölf neugeborenen Androiden aus der Zuchtkammer zu Maschinen, die teils wie Rollstühle, teils wie Panzer aussahen. Die Männer waren hager und muskulös, die Frauen hochbrüstig und schlank. Doch die Diskrepanz zwischen ihren ausgewachsenen Körpern und dem infantilen Gesichtsausdruck eines Neugeborenen ließ sie erschreckend häßlich und abstoßend erscheinen. Vollkommen passiv ließen sie alles mit ihren nackten, feuchten Körpern geschehen. Einer nach dem anderen wurde in einen der metallischen Behälter eingeschlossen. Nur ihre ausdruckslosen Gesichter blieben sichtbar hinter transparenten Visieren.

Bompensiero erklärte: »Sie können ihre Muskeln noch nicht gebrauchen. Sie können nicht stehen, nicht gehen, sich nicht bewegen. Diese Trainingsapparate werden ihre Muskelentwicklung stimulieren. Nach einem Aufenthalt von einem Monat in einem solchen Apparat ist ein Android vollkommen Herr seines Körpers. Gehen wir jetzt zu unserem Wagen zurück…«

»Diese Androiden, die ich soeben gesehen habe«, sagte Manuel, »sind natürlich Gammas?«

»Es sind Alphas.«

Manuel war verblüfft. »Sie sahen so… so…«, er zögerte,»… so schwachsinnig aus.«

»Sie sind Neugeborene«, antwortete Bompensiero. »Man kann von ihnen nicht verlangen, daß sie gleich fähig sind, Computer zu bedienen, wenn sie die Zuchtkammer verlassen.«

Sie kehrten zu dem Wagen zurück.

Lilith!

Manuel sah Androiden früherer Serien, die zögernd ihre ersten Schritte machten, lachend stolperten und hinfielen, wieder aufstanden und es beim zweitenmal schon besser konnten. Er besuchte ein Klassenzimmer, in dem die Beherrschung des Stuhlganges das Unterrichtsthema war. Er beobachtete, wie schlafende Betas einer Persönlichkeitsprägung unterzogen wurden: jeder ungeformte Geist wurde seiner Bestimmung entsprechend programmiert. Die Erziehung eines Androiden, erklärte ihm Bompensiero, dauerte ein Jahr für einen Gamma, zwei für einen Beta, vier für einen Alpha. Das Maximum von der Empfängnis bis zum vollen Erwachsensein betrug also sechs Jahre. Er war sich zuvor nie der Schnelligkeit des Prozesses bewußt gewesen. Irgendwie ließen die neuen Erkenntnisse ihm die Androiden jetzt sehr viel weniger menschlich erscheinen. Der höfliche und gleichzeitig Autorität ausstrahlende Thor Watchman war etwa neun oder zehn Jahre, berechnete Manuel, und die liebliche Lilith Meson… wie alt war sie? Sieben? Acht?

Manuel hatte plötzlich den dringenden Wunsch, diesem Ort zu entfliehen.

»Wir haben eine Gruppe von Betas, die im Begriff sind, die Fabrik zu verlassen«, sagte Bompensiero. »Sie werden heute ihrer letzten Prüfung unterzogen: Tests in sprachlicher Genauigkeit, Koordination, motorischer Reaktion, automatischer Anpassung und mehreren anderen Fähigkeiten. Wenn Sie daran interessiert sind, der Inspektion auch selbst beizuwohnen und persönlich…«

»Nein«, sagte Manuel. »Es war faszinierend. Doch ich habe schon zuviel von ihrer Zeit in Anspruch genommen, und ich habe anderswo eine Verabredung, also muß ich…«

Bompensiero schien nicht betrübt darüber, ihn loszuwerden. »Wie Sie wünschen«, sagte er verbindlich. »Aber natürlich stehen wir zu Ihrer Verfügung, wann immer Sie uns besuchen wollen und…«

»Wo ist die Transmatkabine?«


* * *

22.41 Uhr, Stockholm. Westwärts nach Europa springend, verlor Manuel den Rest des Tages. Eine dunkle, eisige Nacht war hier hereingebrochen; die Sterne funkelten und eine steife Brise kräuselte das Wasser des Malarsees. Um jede Möglichkeit, verfolgt zu werden, zu vermeiden, war er in der Halle des alten Grand Hotel in die öffentliche Transmatkabine umgestiegen. Fröstelnd eilte er durch die herbstliche Dunkelheit zu einer Kabine nicht weit von der grauen Masse der Oper, drückte mit dem Daumen die Zahltaste, kaufte sich einen Sprung nach dem Ostseeufer von Stockholm und gelangte in den altehrwürdigen Wohnbezirk von Östermalm. Hier war jetzt das Androidenviertel. Er lief den Birger Jarlsgaten hinunter zu dem einstmals prächtigen Apartmenthaus, in dem Lilith wohnte. Vor dem Gebäude blieb er stehen, blickte sich vorsichtig um, sah, daß die Straßen leer waren und ging hinein. In der Halle musterte ihn ein Roboter und fragte ihn mit leiser Stimme nach seinem Begehr. »Ich möchte die Alpha Lilith Meson besuchen«, sagte Manuel. Der Roboter erhob keinen Einwand. Manuel hatte die Wahl, mit dem Lift oder über die Treppe zu ihrer Wohnung zu gelangen. Er benutzte die Treppe. Muffige Gerüche verfolgten ihn, und Schatten eilten an ihm vorbei auf seinem Weg zum fünften Stock.

Lilith begrüßte ihn in einem prächtigen, enganliegenden, bis zum Boden reichenden Hochspektrum-Gewand. Da der Stoff nicht mehr war als ein monomolekularer Film, ließ er die Konturen ihres Körpers so gut wie unverhüllt. Sie eilte ihm mit ausgestreckten Armen, geöffneten Lippen und bebenden Brüsten entgegen. »Manuel«, flüsterte sie. Er griff nach ihr.

Er sah sie als ein Stück Materie in einem Bottich schwimmen.

Er sah sie als eine Masse sich vermehrender Nukleotiden.

Er sah sie nackt und naß und mit ausdruckslosem Gesicht in ihrer Zuchtkammer liegen.

Er sah sie als Ding, fabriziert von Menschen.

Ein Ding. Ein Ding. Ein Ding.

Lilith.

Er kannte sie seit fünf Monaten. Seit drei Monaten war sie seine Geliebte. Thor Watchman hatte sie miteinander bekannt gemacht. Sie arbeitete in Krugs Stab.

Ihr Körper preßte sich gegen den seinen. Er legte eine Hand auf eine ihrer Brüste. Sie fühlte sich warm und wirklich und fest an durch das monomolekulare Gewand. Er streichelte mit dem Daumen die Brustwarze, und diese wurde sofort hart vor Erregung. Sie war wirklich, sie war lebendig.

Und dennoch ein Ding?

Er küßte sie. Seine Zunge glitt zwischen ihre Lippen. Er schmeckte Chemikalien: Adenin, Guanin, Cytosin, Urazil. Er roch den Gestank der Bottiche. Ein Ding. Ein Ding. Ein schönes Ding. Ein Ding in der Gestalt einer Frau. Ein Ding, das den Namen Lilith zu Recht trug.

Sie löste sich von ihm und sagte: »Warst du in der Fabrik?«

»Ja.«

»Und du hast mehr über Androiden erfahren, als du zu wissen wünschtest.«

»Nein, Lilith.«

»Du siehst mich mit anderen Augen jetzt. Du kannst nicht umhin, daran zu denken, was ich wirklich bin.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Manuel. »Ich liebe dich, Lilith. Was du bist, ist nichts Neues für mich, und es macht überhaupt keinen Unterschied. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«

»Möchtest du etwas trinken?« fragte sie. »Eine Zigarette? Eine Nervenpille? Du bist ja vollkommen durcheinander.«

»Nichts«, erwiderte er. »Es war ein langer Tag. Ich habe nicht einmal zu Mittag gegessen, und ich glaube, ich bin seit vierzig Stunden unterwegs. Ich möchte mich nur entspannen, Lilith. Keinen Tabak. Keine Pillen.« Er legte seine Kleider ab, und sie half ihm dabei. Dann machte sie einige Tanzschritte vor einem Doppler; es ertönte ein kurzes Geräusch, und ihr Gewand verschwand. Ihre Haut war hellrot, bis auf die dunkelbraunen Brustwarzen. Ihre Brüste waren voll, ihre Taille schmal, ihre Hüften breit, ein frappierend täuschendes Versprechen von Fruchtbarkeit. Ihre Schönheit war unmenschlich makellos. Manuel kämpfte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an.

Sie sagte traurig: »Ich fühlte die Veränderung in dir, als du mich berührtest. Deine Umarmung war anders. Es war… Furcht, nein… Ekel?«

»Nein.«

»Bis heute abend war ich etwas Exotisches für dich, aber etwas Menschliches, wie eine Frau aus dem Busch, wie eine Eskimofrau. Du hast mich bis jetzt nicht in eine besondere Kategorie außerhalb der menschlichen Rasse eingeordnet. Jetzt sagst du dir, daß du dich in einen Klumpen Chemikalien verliebt hast. Du glaubst etwas Krankhaftes zu tun, indem du eine Affäre mit mir hast.«

»Lilith, ich bitte dich, höre auf damit. Das bildest du dir nur ein!«

»Wirklich nur?«

»Ich bin gekommen. Ich habe dich geküßt. Ich habe dir gesagt, daß ich dich liebe. Ich brenne darauf, mit dir ins Bett zu gehen. Vielleicht projizierst du irgendeine eigene Schuld in mich, wenn du sagst…«

»Manuel, was würdest du vor einem Jahr gesagt haben über einen Mann, der zugab, daß er mit einer Androiden ins Bett gegangen ist?«

»Viele Männer, die ich kenne, haben das getan.«

»Was würdest du von ihm sagen? Welche Worte würdest du gebrauchen? Was würdest du von ihm denken?«

»Ich habe nie an so etwas gedacht. Es hat mich einfach nie interessiert.«

»Du weichst aus. Erinnere dich, wir haben versprochen, keines der unter Menschen üblichen Lügenspiele zu spielen. So war es doch? Du kannst nicht leugnen, daß in deinen Kreisen Sex zwischen Menschen und Androiden als eine Perversion betrachtet wird. Vielleicht das einzige, was in der Welt für euch Menschen noch als Perversion gilt. Habe ich recht? Willst du mir antworten?«

»Nun gut.« Er hatte nie eine Frau mit den Augen dieser Farbe gekannt. Langsam sagte er: »Die meisten Männer betrachten es als, nun, niedrig, anrüchig, mit Androiden zu schlafen. Ich habe gehört, wie man es mit Masturbation verglich. Als ob man es mit einer Gummipuppe täte. Als ich solche Bemerkungen hörte, hielt ich sie für häßliche, dumme Äußerungen eines antiandroiden Vorurteils. Ich selbst aber hatte nie eine derartige Einstellung, sonst hätte ich mich nie in dich verliebt.« Etwas in seinem Geist sang spöttisch: Denke an die Bottiche! Denke an die Bottiche! Sein Blick flackerte, wurde unsicher; er fixierte ihre Backenknochen. Mit gepreßter Stimme sagte er: »Vor dem ganzen Universum schwöre ich dir, Lilith, ich habe nie etwas Schändliches oder Schmutziges darüber empfunden, eine Androide zu lieben, und ich beteure dir, daß ich trotz dessen, was du seit meinem Besuch in der Fabrik in mir entdeckt zu haben glaubst, auch jetzt keinerlei solche Gefühle habe. Und um es zu beweisen…«

Er zog sie an sich. Seine Hand glitt über ihre samtene Haut, von den Brüsten zum Bauch, zu den Lenden. Sie öffnete die Beine, und er streichelte mit den Fingern ihr Geschlecht, das so haarlos war wie das eines Kindes, und plötzlich schrak er zurück vor dieser Fremdartigkeit, die er spürte, und er fühlte sich entmannt durch sie, obwohl sie ihn vorher nie gestört hatte. So glatt, so entsetzlich glatt. Er schaute hinunter auf ihre Kahlheit. Sie war unbehaart wie ein Kind, wie… wie eine Androide. Wieder sah er die Bottiche. Er sah feuchte, scharlachrote Alphas, deren Gesichter leer und blöde waren. Er sagte sich grimmig, daß es keine Sünde sei, eine Androide zu lieben. Er begann, sie zu liebkosen; sie reagierte, wie eine Frau reagieren würde, mit Wollust, mit kurzen, keuchenden Atemstößen, mit einem Druck ihrer Hüften gegen seine Hand. Er küßte ihre Brüste und preßte sie an sich. Da schien das flammende Bild seines Vaters wie eine Feuersäule vor ihm zu schweben. Alter Teufel, alter Zauberer! Wie genial, ein solches Produkt zu entwerfen! Ein Produkt! Perfekt! Es geht. Es spricht. Es verführt. Es stöhnt vor Leidenschaft. Es schwillt an in seinem Geschlecht, dieses Produkt! Und was bin ich? Auch ein Produkt? Ein Gemisch von Chemikalien, fabriziert nach dem gleichen Plan – mutatis mutandis, natürlich. Adenin. Guanin. Cytosin. Urazil. Geboren in einer Retorte, gewachsen in einem Mutterleib – wo ist da der Unterschied? Wir sind ein Fleisch. Wir sind verschiedene Rassen, doch wir sind ein Fleisch.

Sein Begehren nach ihr übermannte ihn wieder, Ihn schwindelte. Er schob sich keuchend auf sie, drang tief in sie ein. Ihre Fersen hämmerten wild auf seine Waden. Das Tal ihres Geschlechts zuckte, schloß sich dem Rhythmus seiner Bewegungen an. Stöhnend und zuletzt schreiend, erstürmten sie den Gipfel ihrer gemeinsamen Lust.

Als es vorüber war, als sie sich beide fallen ließen, sagte sie: »Das war abscheulich von mir.«

»Was war abscheulich?«

»Die Szene, die ich dir gemacht habe. Als ich versuchte, dir zu sagen, was meiner Meinung nach in dir vorging.«

»Vergiß es, Lilith.«

»Du hast recht gehabt. Ich nehme an, ich habe meine eigenen Zweifel in dich projiziert. Vielleicht fühle ich mich schuldig, weil ich die Mätresse eines Menschen bin. Vielleicht will ich mich für etwas halten, das aus Gummi gemacht ist. So fühle ich mich wahrscheinlich irgendwo tief in mir.«

»Nein. Nein.«

»Wir können uns nicht dagegen wehren. Wir atmen es immerzu ein. Wir werden tausendmal am Tag daran erinnert, daß wir nicht wirklich sind.«

»Du bist so wirklich wie jede, die ich zuvor gekannt habe. Wirklicher als die meisten von ihnen.« Er fügte nicht hinzu, ›wirklicher als Clarissa‹. »Du warst noch nie so leidenschaftlich wie heute, Lilith. Was ist los mit dir?«

»Es ist dein Besuch in der Fabrik«, antwortete sie. »Bis heute war ich immer sicher, daß du anders bist. Daß du dir nie eine Sekunde lang Gedanken darüber gemacht hast, wie oder wo ich geboren wurde, oder ob etwas Unrechtes daran ist, was wir beide tun. Aber ich hatte Angst, daß du dich ändern würdest, wenn du einmal die Fabrik gesehen, den ganzen Prozeß in seinen klinischen Details verfolgt hast… und dann, als du heute abend hereinkamst, war etwas Fremdes an dir, etwas Frostiges, das ich zuvor nie an dir beobachtet hatte…« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht habe ich es mir eingebildet. Ja, ich habe es mir eingebildet. Du bist nicht wie die anderen, Manuel. Du bist ein Krug. Du bist wie ein König. Du brauchst deinen Status nicht zu erhöhen, indem du andere Menschen erniedrigst. Du teilst die Welt nicht ein in Menschen und Androiden. Du hast es nie getan. Und ein einziger Blick in die Brutbottiche konnte das nicht ändern.«

»Natürlich nicht«, sagte er mit ernster Stimme, und seine Lüge ging ihm überraschend leicht über die Lippen. »Androiden sind Menschen, und Menschen sind Menschen, und ich habe nie anders gedacht und werde nie anders denken. Und du bist schön, und ich liebe dich leidenschaftlich. Und jeder, der glaubt, Androiden seien von minderer Rasse, ist ein arroganter Idiot.«

»Du unterstützt also die volle bürgerliche Gleichheit für Androiden?«

»Selbstverständlich.«

»Du meinst natürlich Alpha-Androiden?« sagte sie schelmisch.

»Ich… nun…«

»Alle Androiden sollen den Menschen gleich sein. Doch Alphas sollen gleicher sein als die anderen.«

»Du Hexe. Spielst du wieder dein Spielchen?«

»Ich trete ein für die Vorrechte der Alphas. Kann eine unterdrückte ethnische Gruppe nicht ihre eigene interne Klassenunterscheidung etablieren? Oh, ich liebe dich, Manuel. Nimm mich nicht immer ernst.«

»Ich kann nicht anders. Ich bin nicht sehr klug, und ich weiß nicht, wann du scherzt.« Er küßte ihre Brustwarzen. »Ich muß jetzt gehen.«

»Du bist ja erst gekommen!«

»Es tut mir leid, ich muß wirklich.«

»Du bist spät gekommen, wir haben die Hälfte unserer Zeit mit dummem Streit vergeudet. Bleib noch eine Stunde, Manuel!«

»Ich habe eine Frau, die in Kalifornien auf mich wartet«, sagte er. »Die wirkliche Welt erhebt ihre Ansprüche von Zeit zu Zeit.«

»Wann werde ich dich wiedersehen?«

»Bald. Bald. Bald.«

»Übermorgen?«

»Ich glaube nicht. Aber bald. Ich werde vorher anrufen.« Er zog sich an. Ihre Worte knisterten In seinem Geist. Du bist nicht wie die anderen, Manuel. Du teilst die Welt nicht ein in Menschen und Androiden. War es so? Konnte es so sein? Er hatte sie angelogen; er war voller Vorurteile, und sein Besuch in Duluth hatte eine Giftschleuse in ihm geöffnet. Aber vielleicht konnte er solche Gedanken durch einen Willensakt überwinden. Was würde man sagen, wenn der Sohn von Simeon Krug sich für die explosive Sache der Androidengleichheit einsetzen würde? Manuel, der Tunichtgut, der Müßiggänger, der Playboy, verwandelt in Manuel, den Kreuzfahrer? Er spielte mit dem Gedanken. Vielleicht. Vielleicht. Er bot eine angenehme Möglichkeit, das Stigma der Oberflächlichkeit abzuschütteln. Eine Sache, für die man eintreten konnte! Eine Sache, die vielleicht Erfüllung brachte. Lilith folgte ihm zur Tür, und sie küßten sich wieder. Seine Hände berührten noch einmal ihren Körper, und er schloß die Augen. Zu seiner Bestürzung erglühte die Halle der Zuchtbottiche hinter seinen Lidern, und Nolan Bompensiero erklärte mit leiser Stimme, wie frisch geborene Androiden in der Kunst der Kontrolle ihrer Schließmuskeln unterwiesen wurden. In quälendem Widerstreit machte er sich von Lilith frei. »Auf bald. Ich werde anrufen«, sagte er und ging.


* * *

16.44 Uhr, Kalifornien. Er trat aus der Transmatkabine in das mit Schiefer gepflasterte Atrium seines Hauses. Die Nachmittagssonne stand schon tief über dem Pazifik. Drei seiner Androiden traten zu ihm mit Kleidern zum Wechseln, einem Tablett mit Erfrischungsgetränken und einer Zeitung. »Wo ist Mrs. Krug?« fragte er. »Schläft sie noch?«

»Sie ist am Strand«, erklärte ihm ein Beta-Hausdiener.

Manuel zog sich rasch um, nahm ein Erfrischungsgetränk zu sich und ging hinaus zum Strand. Clarissa watete etwa einhundert Meter entfernt in der Brandung; drei langbeinige Strandvögel rannten in wilden Kreisen um sie herum, und sie rief ihnen zu, lachte, klatschte in die Hände. Er war fast bei ihr, bevor sie ihn bemerkte. Nach Liliths wollüstiger Üppigkeit wirkte sie mit ihrem kindlichen Körper noch unreifer als sonst: schmale Hüften, flacher Knabenhintern, die Brüste einer Zwölfjährigen. Das dunkle haarige Dreieck zwischen ihren Leisten paßte nicht dazu. Wie zum Hohn, dachte er kopfschüttelnd. Ich mache Kinder zu meinen Frauen, und Plastikweiber zu meinen Mätressen. »Clarissa?« rief er.

Sie fuhr herum. »Oh! Du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Vergnügst du dich im Wasser? Ist es nicht zu kalt für dich?«

»Es ist nie zu kalt für mich. Das weißt du, Manuel. Hat es dir gefallen in der Androidenfabrik?«

»Es war interessant«, antwortete er. »Wie geht es dir? Ich sehe, du fühlst dich besser.«

»Besser? War ich krank?«

Er sah sie befremdet an. »Als wir am Turm waren… warst du, nun, außer Fassung…«

»Ach das! Ich hatte es fast vergessen. Gott, es war schrecklich, nicht wahr? Wieviel Uhr ist es, Manuel?«

»16.48 Uhr, eine Minute mehr oder weniger.«

»Dann ziehe ich mich besser gleich um. Wir müssen zu dieser frühen Dinnerparty in Hongkong.«

Er bewunderte ihre Fähigkeit, Traumata abzustreifen. Er sagte: »Es ist jetzt erst Morgen in Hongkong. Kein Grund zur Eile.«

»Nun, dann willst du vielleicht mit mir schwimmen? Das Wasser ist nicht so kalt wie du denkst. Oder…« Sie unterbrach sich. »Du hast mich noch nicht zur Begrüßung geküßt.«

»Hallo«, sagte er.

»Hallo. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich«, sagte er. Er küßte sie. Es war ihm, als küsse er Alabaster. Der Geschmack von Lilith war noch immer auf seinen Lippen. Welche ist die lebendigere Frau? fragte er sich. Welche das kalte, künstliche Ding? Während er seine Frau umarmte, hatte er keinerlei Empfindungen. Er löste sich von ihr. Sie packte ihn am Handgelenk, zog ihn mit sich in die Brandung, und sie schwammen eine Weile. Er kam fröstelnd aus dem Wasser. Im Abendzwielicht tranken sie Cocktails im Atrium. »Du wirkst so abgespannt«, sagte sie. »Das kommt von diesem Transmatspringen. Es nimmt einen mehr mit, als die Ärzte wahrhaben möchten.«

Auf der Party dieses Abends trug sie einen einmaligen Schatz, ein Halsband aus tropfenförmigen, rußfarbenen Glasperlen. Eine Sonde der ›Krug Enterprises‹ hatte sie als Materialprobe aus einer Entfernung von 7½ Lichtjahren von dem ausgeglühten und sterbenden Stern Volker mitgebracht. Krug hatte sie ihr zur Hochzeit geschenkt. Welche andere Frau trug ein Halsband aus Klumpen von einem dunklen Stern? Doch Wunder wurden als selbstverständlich hingenommen in Clarissas gesellschaftlichen Kreisen. Keiner von den Dinnergästen nahm Notiz von dem Halsband. Manuel und Clarissa blieben auf der Party bis spät nach Mitternacht Hongkonger Zeit, so daß, als sie nach Mendocino zurückkehrten, in Kalifornien bereits die Sonne schien. Nachdem sie acht Stunden Schlaf für sich programmiert hatten, verschlossen sie ihr Schlafzimmer. Manuel hatte das Gefühl für die Zeit verloren, doch er argwöhnte, daß er mehr als vierundzwanzig Stunden hintereinander wach gewesen war. Manchmal ist es schwer, mit dem Transmatleben fertig zu werden, dachte er, und verdunkelte die Fenster.

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