12

»Genug«, sagte Krug. »Es wird kalt. Gehen wir hinunter.«

Die Aufzüge fuhren nach unten. Schneeflocken begannen um den Turm zu wirbeln; das Isolierfeld über dem Turm lenkte sie ab, schleuderte sie in weitem Bogen beiseite. Es war unmöglich, hier eine vollkommene Wetterkontrolle durchzuführen wegen der Notwendigkeit, die Tundra ständig gefroren zu halten. Es war gut, dachte Krug, daß die Androiden sich nichts daraus machten, im Schnee zu arbeiten.

Manuel sagte: »Wir möchten uns verabschieden, Vater. Wir haben uns im Psychoschaltinstitut von New Orleans angemeldet für eine Woche Egotausch.«

Krugs Blick verfinsterte sich. »Ich wünschte, du würdest aufhören mit diesem Unsinn.«

»Was ist Schlimmes dabei, Vater, mit Freunden die Identität zu tauschen? Eine Woche lang in der Seele eines anderen zu verbringen? Es ist harmlos, es ist befreiend. Es ist wunderbar. Auch du solltest es einmal versuchen.«

Krug zog verächtlich die Mundwinkel herab.

»Ich meine es ernst«, sagte Manuel. »Es würde dich ein wenig von dir selbst distanzieren. Deine krankhafte Konzentration auf Finanzprobleme, diese überspannte Begeisterung für dein interstellares Hobby, dieser entsetzliche Druck auf dein Nervensystem, das alles kommt von…«

»Geht nur«, sagte Krug. »Geht. Tauscht eure Seelen, soviel ihr wollt. Ich habe zu tun.«

»Willst du es nicht doch einmal versuchen, Vater?«

»Es ist sehr angenehm«, sagte Nick Ssu-ma. Er war Krug am sympathischsten von den Freunden seines Sohnes, ein liebenswürdiger junger Chinese mit kurzgeschnittenem blonden Haar und einem freundlichen Lächeln. »Es eröffnet Ihnen neue Einsichten in alle menschlichen Beziehungen.«

»Versuchen Sie es wenigstens einmal«, sagte Jed Guilbert, »und ich verspreche Ihnen, Sie werden nie…«

»Eher gehe ich zum Schwimmen auf den Jupiter«, sagte Krug.

»Geht, geht. Seid glücklich. Tauscht eure Egos, soviel ihr wollt. Ich nicht.«

»Ich sehe dich nächste Woche, Vater.«

Manuel und seine Freunde eilten zu den Transmatkabinen. Krug stieß seine Handknöchel gegeneinander und schaute den jungen Männern nach. Er empfand etwas, was einem Neidgefühl nahekam. Er hatte nie Zeit gehabt für eine dieser Vergnügungen. Immer hatte er zu tun gehabt, einen Vertrag abzuschließen, eine entscheidende Reihe von Laboratoriumtests zu überwachen, ein Treffen mit den Bankiers, eine Krisis auf dem Marsmarkt. Während andere sich in Selbstvergessenheit fallenließen und für wochenlange Egotrips ihre Seelen tauschten, hatte er einen Riesenkonzern aufgebaut, und nun war es zu spät für ihn, sich den Freuden der Welt hinzugeben. ›Na und?‹ sagte er sich mit Ingrimm. ›Dann bin ich eben ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts in einer Welt des dreiundzwanzigsten! Dann werde ich eben ohne Psychoschaltinstitut auskommen. Außerdem, wem sollte ich Einlaß gewähren in mein Innerstes? Mit welchem Freund sollte ich die Seele tauschen? Mit wem, mit wem?‹ Er gestand sich ein, daß es kaum jemand gab. Vielleicht Manuel? Es mochte nützlich sein, mit Manuel einen Egotausch vorzunehmen. Sie würden einander vielleicht besser verstehen. Einige ihrer extremen Standpunkte aufgeben, aufeinander zugehen zu einer Begegnung in der Mitte. Manuel hatte nicht ganz Unrecht mit seiner Lebensweise. Ich bin nicht vollkommen, dachte Krug, und vielleicht sollte man wirklich einmal die Dinge mit den Augen eines anderen sehen. Doch plötzlich schreckte er vor dem Gedanken zurück. Ein Egotausch zwischen Vater und Sohn erschien ihm fast wie ein Inzest. Es gab Dinge, die er von Manuel nicht wissen wollte. Und es gab gewiß Dinge, die Manuel nicht von ihm wissen wollte. Mit ihm die Identität zu tauschen, selbst für einen kurzen Augenblick, kam nicht in Frage. Doch wie war es mit Thor Watchman als Tauschpartner? Der Alpha war bewundernswert gesund und begabt, vertrauenswürdig. In vielfacher Hinsicht stand Krug ihm näher als alle anderen, die er kannte; er konnte sich nicht erinnern, je ein Geheimnis vor Watchman gehabt zu haben. Und wenn er beabsichtigte, Egotauscherfahrungen zu sammeln, wäre es vielleicht sehr nützlich und lehrreich…

Entsetzt unterdrückte Krug den Gedanken. Die Identität mit einem Androiden zu tauschen? Wie konnte er nur auf solche Gedanken kommen?

Schnell sagte er zu Niccolò Vargas: »Haben Sie etwas Zeit, oder müssen Sie sofort zurück ins Observatorium?«

»Es hat keine Eile.«

»Wir können zu dem Ultrawellenlaboratorium gehen. Sie stellen soeben ein kleines Arbeitsmodell des Hauptstufenakkumulators auf. Es wird Sie interessieren.« Sie gingen über das gefrorene Moos der Tundra. Eine Gruppe von Gammas kam vorbei, sie fuhren Schneefresser. Nach einer Weile sagte Krug: »Haben Sie je einen Egotausch versucht?«

Vargas lachte. »Ich habe siebzig Jahre damit verbracht, meinen Verstand so einzustellen, so daß ich ihn richtig gebrauchen kann. Ich bin nicht begierig darauf, jemand anderen in ihn eindringen und mir alle Schaltungen durcheinanderbringen zu lassen.«

»Genauso denke ich auch. Diese Spiele sind für die Jungen. Wir…«

Krug unterbrach sich. Zwei Alphas, ein Mann und eine Frau, waren aus der Transmatanlage herausgekommen und kamen rasch auf sie zu. Er kannte sie nicht. Der Mann trug eine dunkle, am Hals offene Tunika, die Frau ein kurzes graues Gewand. Beide trugen auf der rechten Brustseite ein glitzerndes Abzeichen, das, die Skala des Spektrums hinauf und hinunter, in stetigen Impulsen Energie ausstrahlte. Als sie näher kamen, konnte Krug in der Mitte des Abzeichens die Buchstaben AGP lesen. Politische Agitatoren? Kein Zweifel! Und sie fanden ihn hier im Freien, wollten ihn zwingen, daß er sich ihre Tiraden anhörte. Gut abgepaßt! Wo ist Spaulding? fragte er sich. Leon würde sie schnell vom Baugelände vertreiben.

Der männliche Alpha sagte: »Welches Glück wir haben, Sie hier zu finden, Mr. Krug. Seit Wochen haben wir Sie zu erreichen versucht, doch es erwies sich als unmöglich, und so sind wir gekommen… Ich sollte mich zuerst vorstellen, verzeihen Sie mir. Ich bin Siegfried Fileclerk, gewählter Distriktsvertreter der Androiden-Gleichheits-Partei, wie Sie zweifellos bereits an unseren Abzeichen erkannt haben. Meine Begleiterin ist Alpha Kassandra Nucleus, AGP-Distriktssekretärin. Wenn wir ein paar Worte mit Ihnen sprechen dürften…«

»… über die bevorstehende Sitzung des Kongresses und die beantragte Verfassungsänderung über die Bürgerrechte synthetischer Personen«, sagte Kassandra Nucleus.

Krug war verblüfft über die Kühnheit des Paars. Jedermann, selbst ein Androide, der nicht hier beschäftigt war, hatte das Recht, via Transmat hierher zu kommen. Doch ihn auf diese Weise einfach zu überfallen, ihn mit Politik zu belästigen… unglaublich!

Siegfried Fileclerk sagte: »Unsere Kühnheit, uns Ihnen direkt zu nähern, ist Ausdruck der Ernsthaftigkeit unseres Anliegens. Den Platz des Androiden in der modernen Welt zu bestimmen, ist kein leichtes Problem, Mr. Krug.«

»Und Sie als die Zentralfigur bei der Fabrikation von synthetischen Personen«, sagte Kassandra Nucleus, »nehmen die Schlüsselposition ein bei der Entscheidung über die Zukunft der synthetischen Personen in der menschlichen Gesellschaft. Deshalb bitten wir Sie…«

»Synthetische Personen?« rief Krug ungläubig. »Nennt ihr euch jetzt schon selbst so? Seid ihr verrückt, mir so etwas zu sagen? Mir? Wessen Androiden seid ihr überhaupt?«

Siegfried Fileclerk torkelte einen Schritt zurück, als ob die Heftigkeit Krugs sein erstaunliches Selbstvertrauen zerschmettert hätte, als ob die Ungeheuerlichkeit dessen, was er zu tun versuchte, ihm schließlich mit einem Schlag klargeworden war. Doch Kassandra Nucleus blieb gefaßt. Die schlanke Alphafrau sagte kühl: »Alpha Fileclerk ist registriert bei dem Eigentumschutzsyndikat in Buenos Aires, und ich bin Modulatorin bei der Labrador-Transmat-Gesellschaft. Doch wir haben im Augenblick beide Freizeit. Durch den Kongreßbeschluß von 2212 ist es unser legitimes Recht, uns während unserer dienstfreien Zeit offen politisch zu betätigen und für die Rechte der synthetischen Personen einzutreten. Erlauben Sie uns nur, Ihnen kurz den Text unserer beantragten Verfassungsänderung zu erklären und Ihnen darzulegen, warum wir es für angemessen halten, daß Sie öffentlich Stellung nehmen zugunsten der…«

»Spaulding!« brüllte Krug. »Spaulding, wo sind Sie? Schaffen Sie mir diesen wahnsinnigen Androiden vom Hals!«

Von Spaulding war nichts zu sehen. Der Ektogene hatte sich entfernt, das Randgebiet der Baustätte zu inspizieren, während Krug auf den Turm gefahren war.

Kassandra Nucleus zog einen glänzenden Datenwürfel aus dem Ausschnitt ihres Gewands, hielt ihn Krug hin und sagte: »Das Wesentliche unserer Anschauung ist hierin enthalten. Wenn Sie…«

»Spaulding!«

Diesmal zitierte Krugs Ruf den Ektogenen herbei. Er näherte sich von dem nördlichen Teil des Baugeländes in wilden Sprüngen; neben ihm lief, sichtlich ruhiger, Thor Watchman. Kassandra Nucleus verlor zum erstenmal ihre Beherrschung. Erregt versuchte sie den Datenwürfel Krug in die Hand zu drücken. Krug starrte den Würfel an, als sei er eine Psychobombe. Sie rangen kurz miteinander. Zu seiner Überraschung hing die Androidenfrau plötzlich an seinem Hals, als wollte sie ihn umarmen, doch sie versuchte nur, ihm den Würfel zu geben. Er packte sie bei einer Schulter und schob sie von sich, hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt. In diesem Augenblick zog Leon Spaulding eine kleine glänzende Luftdruckpistole aus der Tasche und schoß. Der Bolzen traf Kassandra Nucleus in die Brust, genau in die Mitte des AGP-Abzeichens. Die Alphafrau taumelte zurück und fiel zu Boden, ohne einen Laut von sich zu geben. Der Datenwürfel hüpfte über den gefrorenen Grund; stöhnend hob Siegfried Fileclerk ihn auf. Mit einem Wutschrei schlug Thor Watchman Spaulding die Waffe aus der Hand und streckte den Ektogenen mit einem einzigen Faustschlag zu Boden. Niccolò Vargas, der seit der Ankunft der beiden Alphas schweigend zugeschaut hatte, kniete neben Kassandra Nucleus nieder und untersuchte ihre Wunde.

»Sie Vollidiot!« brüllte Krug Spaulding an, der sich mühsam auf die Knie erhob.

Watchman beugte sich über den gestürzten Spaulding und schrie ihn an: »Sie hätten Krug töten können! Sie war nicht einen Meter von ihm entfernt, als Sie schossen! Sie Barbar! Sie Barbar!«

»Sie ist tot«, sagte Vargas.

Siegfried Fileclerk begann zu schluchzen. Ein Ring von Arbeitern, Betas und Gammas, bildete sich in sicherer Entfernung und starrte entsetzt auf die Szene. Krug fühlte die Welt um sich wanken.

»Warum haben Sie geschossen?« fragte Spaulding.

Zitternd antwortete Spaulding: »Sie waren in Gefahr… man sagte, da wären Mörder…«

»Politische Agitatoren«, sagte Krug, ihn mit verächtlichem Blick messend. »Sie versuchten nur, mir Propagandamaterial für die Androidengleichheit aufzudrängen.«

»Mir wurde gesagt…«, zerknirscht verbarg Spaulding sein Gesicht in seinen Händen.

»Sie Idiot!«

»Es war ein Irrtum, ein unglücklicher Zufall. Man berichtete uns…«, sagte Watchman kopfschüttelnd und schlug sich gegen die Stirn.

»Genug«, unterbrach ihn Krug. »Ein Androide ist tot. Ich übernehme die Verantwortung. Sie sagte, sie gehöre der Labrador-Transmat-Gesellschaft. Spaulding, setzen Sie sich mit ihren Anwälten In Verbindung und… nein, Sie sind nicht in der Verfassung, irgend etwas zu tun. Watchman! Verständige unsere Rechtsabteilung, daß Labrador-Transmat Grund für eine Klage gegen uns hat, Zerstörung eines Androiden, daß wir uns schuldig bekennen und willens sind, die Sache zu bereinigen. Wir werden ihnen kostenlos eine Alphafrau liefern. Sage dem Anwalt, er soll tun, was getan werden muß. Dann laß jemand vom Stab eine Presseerklärung ausarbeiten. Bedauerlicher Zwischenfall, so etwas Ähnliches, keine politischen Untertöne, klar?«

»Was soll ich mit der Leiche tun?« fragte Watchman. »Das übliche Verfahren?«

»Die Leiche gehört der Labrador-Transmat«, erwiderte Krug. »Laß sie einfrieren, verwahre sie, solange das Verfahren läuft.« Zu Spaulding sagte er: »Stehen Sie auf! Ich werde in New York erwartet. Sie kommen mit mir!«

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