36

Der Schein des Transmats zeigte nicht ganz den gewohnten grünen Farbton. Lilith betrachtete ihn unsicher. »Sollen wir es wagen?« fragte sie.

»Wir müssen«, sagte Thor Watchman.

»Und wenn wir getötet werden?«

»Wir werden nicht die einzigen sein, die heute sterben.« Er drehte an den Kontrollknöpfen. Die Feldfarbe flackerte und durchlief das Spektrum, bis sie fast blau war; dann rückte sie zum anderen Ende, wurde kupferrot.

Lilith zupfte Watchman am Ärmel. »Wir werden sterben«, flüsterte sie. »Das Transmatsystem ist anscheinend zusammengebrochen.«

»Wir müssen zum Turm«, sagte er zu ihr und drehte weiter an den Knöpfen. Unerwartet kehrte der grüne Schein in seiner richtigen Tönung zurück. Watchman sagte: »Folge mir«, und betrat die Kabine. Er hatte keine Zeit, die Wahrscheinlichkeit seiner Zerstörung zu erwägen, denn sofort rematerialisierte er sich wieder auf dem Baugelände des Turms. Lilith trat aus der Kabine und stand neben ihm.

Ein wilder Sturm fegte über die Tundra. Alle Arbeit ruhte. Mehrere Aufzüge hingen noch an der Spitze des Turms; in ihnen saßen Arbeiter in eisiger Höhe gefangen. Andere Androiden irrten ziellos umher, fragten einander nach den letzten Nachrichten. Hunderte von Männern standen zusammengedrängt in der Zone der Werkgebäude: Leute, die keinen Zutritt mehr hatten in die überfüllte Kapelle. Er blickte hinauf zum Turm. Wie schön er ist, dachte er. Nur wenige Wochen vor seiner Vollendung. Eine geschmeidige Glasnadel, die steigt und steigt und immer höher steigt, bis sie in den Himmel ragt.

Die Androiden erblickten ihn. Sie rannten auf ihn zu, riefen seinen Namen, umdrängten ihn.

»Ist es wahr?« fragten sie. »Krug? Krug? Verabscheut Krug uns? Nennt er uns Dinge? Sind wir wirklich nichts als Dinge für Ihn? Weist er unsere Gebete zurück?«

»Es ist wahr«, sagte Watchman. »Alles, was ihr gehört habt, ist wahr. Er stößt uns zurück. Wir sind betrogen worden. Nein, wir haben uns selbst betrogen. Wir waren Narren. Macht Platz, bitte! Laßt mich durch!«

Die Betas und Gammas wichen zurück. Selbst an diesem Tage beherrschte die soziale Distanz das Verhältnis zwischen Androiden. Dicht gefolgt von Lilith, schritt Watchman auf das Kontrollzentrum zu.

Drinnen fand er Euklid Planner. Der Hilfsaufseher saß in sich zusammengesunken an seinem Schreibtisch, offensichtlich vollkommen erschöpft. Watchman schüttelte ihn, und Planner hob langsam den Blick.

»Ich habe alles angehalten«, murmelte er. »In dem Augenblick, als die Botschaft von der Kapelle durchkam. Ich sagte, alles aufhören. Aufhören. Und alle hörten auf. Wie können wir einen Turm für ihn bauen, wenn er…«

»In Ordnung«, sagte Watchman sanft. »Du hast das Richtige getan. Steh auf jetzt. Du kannst gehen. Die Arbeit ist beendet.«

Euklid Planner nickte langsam, stand auf und verließ das Kontrollzentrum. Watchman setzte sich in den Schaltsessel. Er schloß sich an den Computer an. Die Daten flossen noch, aber spärlich. Watchman ließ die Aufzüge, die an der Spitze des Turmes hingen, herunter fahren und befreite so die gefangenen Arbeiter. Dann forderte er eine Simulation eines teilweisen Versagens in den Gefriereinheiten an. Der Schirm lieferte ihm das gewünschte Ergebnis. Er prüfte die Geographie des Baugeländes und wählte die Richtung, in welcher der Turm fallen sollte. Er mußte nach Osten fallen, so daß er weder das Kontrollzentrum, in dem er saß, zerstören würde, noch den Transmatbahnsteig. Watchman instruierte den Computer und erhielt kurz darauf einen Umriß des potentiellen Gefahrenbereichs. Ein anderer Schirm zeigte ihm, daß sich mehr als tausend Androiden in diesem Bereich aufhielten.

Durch den Computer stellte er die Reflektorplatten um, die das Gelände beleuchteten. Jetzt waren die Platten auf einen 1400 Meter langen und 500 Meter breiten Streifen im östlichen Quadranten der Baustelle ausgerichtet. Dieser Streifen war hell erleuchtet, alles andere lag im Dunkel. Aus Hunderten von Lautsprechern donnerte Watchmans Stimme und befahl vollkommene Evakuierung des so gekennzeichneten Sektors. Gehorsam setzten sich die Androiden in Bewegung. Innerhalb von fünf Minuten war der beleuchtete Sektor geräumt.

Lilith stand hinter ihm. Ihre Hände ruhten leicht auf seinen Schultern, streichelten die angespannten Muskeln seines Nackens. Er fühlte, wie ihre Brüste sich gegen seinen Hinterkopf preßten. Er lächelte.

»Beginne mit dem Auftauungsprozeß«, befahl er dem Computer.

Der Computer befolgte jetzt den für die Simulation entworfenen Plan. Er kehrte den Fluß von drei der langen silbrigen, in die Tundra eingebetteten Gefrierstreifen um; anstatt die Wärme zu absorbieren, begannen die Helium-ll-Diffusionszellen der Streifen die gespeicherte Energie abzustrahlen. Zur gleichen Zeit legte der Computer fünf andere Streifen still, so daß sie weder Energie absorbierten noch freigaben, und programmierte sieben andere Streifen, alle Energie, die sie jetzt erreichte, zu reflektieren und die bisher gespeicherte Energie zurückzuhalten. Aufgrund dieser Veränderungen sollte die Tundra unter dem Turm einseitig auftauen, so daß dieser, wenn die Fundamentcaissons ihren Halt verloren, ohne Schaden anzurichten in die evakuierte Zone fallen mußte. Der Vorgang würde sich nur langsam vollziehen.

Watchman beobachtete, wie die Temperatur des Bodens stetig dem Taupunkt entgegenstieg. Der Turm stand noch fest auf seinem Fundament. Aber die Wirkung der Permafrostanlage nahm ab. Molekül für Molekül wurde Eis zu Wasser, eisenharter Torf verwandelte sich in Schlamm. In einer Art von Ekstase registrierte Watchman die eingehenden Daten zunehmender Instabilität. Neigte sich der Turm schon? Ja. Nur wenig, aber er bewegte sich bereits deutlich außerhalb des zulässigen für Windeinwirkung vorgesehenen Parameters. Er zerrte an seiner Basis, neigte sich einen Millimeter nach dieser Seite, einen Millimeter nach der anderen. Wieviel wog es, dieses mehr als 1200 Meter hohe Bauwerk aus Glasblöcken? Was für ein Geräusch würde es machen, wenn es stürzte? In wie viele Stücke würde es zersplittern? Was wird Krug sagen? Was wird Krug sagen? Was wird Krug sagen?

Ja, jetzt neigte sich der Turm deutlich nach der gewünschten Seite.

Watchman entdeckte eine Veränderung der Farbe an der Oberfläche der Tundra. Er lächelte. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, das Blut schoß in seine Wangen und seine Lenden. Er geriet in einen Zustand sexueller Erregung, hatte große Lust, auf den Trümmern des Turms mit Lilith den Geschlechtsakt zu vollziehen, wenn das Zerstörungswerk vorbei war. Da! Da! Jetzt kippt er wirklich! Er neigt sich zur Seite! Was geschah dort an den Wurzeln des Turms? Wehrten sich die Caissons, aus der Erde herausgerissen zu werden, die sie nicht länger halten wollte? Wie weich war der Schlamm unter der Oberfläche? Würde er kochen und brodeln? Wie lange würde es noch dauern, bis der Turm fiel? Was wird Krug sagen? Was wird Krug sagen?

»Thor«, murmelte Lilith, »kannst du für einen Augenblick hinauskommen?«

Sie hatte sich ebenfalls an den Computer angeschlossen. »Warum?« fragte er.

»Komm mit hinaus. Schalte ab.«

Widerstrebend unterbrach er den Kontakt. »Was ist los?« fragte er, schüttelte die Bilder der Zerstörung ab, die seinen Geist beherrschten.

Lilith zeigte nach draußen. »Etwas geht schief. Fileclerk ist da. Ich glaube, er hält eine Rede. Was soll ich tun?«

Watchman schaute hinaus und erblickte den AGP-Führer in der Nähe der Transmatanlage, umgeben von einem Haufen Betas. Fileclerk schwenkte die Arme, zeigte auf den Turm, schrie. Jetzt begann er auf das Kontrollzentrum zuzugehen.

»Das werde ich erledigen«, sagte Watchman.

Er ging hinaus. Fileclerk und Watchman trafen sich in der Mitte zwischen den Transmatkabinen und dem Kontrollzentrum. Der Alpha erschien sehr erregt. Er sagte sofort: »Was geschieht mit dem Turm, Alpha Watchman?«

»Nichts, das Sie etwas anginge.«

»Der Turm untersteht der Autorität des Eigentumsschutzes von Buenos Aires«, erklärte Fileclerk. »Unsere Sensoren haben berichtet, daß der Bau über die zulässige Toleranz hinaus schwankt. Meine Vorgesetzten haben mich hierher geschickt, damit ich eine Untersuchung durchführe.«

»Eure Sensoren haben vollkommen recht«, sagte Watchman. »Der Turm schwankt. Die Gefrieranlage hat versagt. Der Permafrost taut auf, und wir nehmen an, daß der Turm in Kürze fallen wird.«

»Was haben Sie getan, um den Fehler zu beheben?«

»Sie verstehen nicht«, sagte Watchman. »Die Gefrierstreifen wurden auf mein Kommando abgeschaltet.«

»Und der Turm wird fallen?«

»Der Turm wird fallen.«

Bestürzt sagte Fileclerk: »Welcher Wahnsinn hat die Welt befallen? Was soll dieser Vandalismus?«

»Der Segen Krugs ist widerrufen worden. Seine Kreaturen haben ihre Unabhängigkeit erklärt.«

»Mit einer Orgie der Zerstörung?«

»Mit einem Programm geplanter Abschaffung der Sklaverei«, sagte Watchman.

Fileclerk schüttelte den Kopf. »Aber doch nicht so. Nicht so! Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Wir waren im Begriff, die Menschen für unsere Sache zu gewinnen. Jetzt zerstört Ihr alles. Ihr zettelt einen Krieg an zwischen Androiden und Menschen…«

»Den wir gewinnen werden«, sagte Watchman. »Wir übertreffen sie an Zahl. Wir sind stärker. Wir kontrollieren die Waffen und haben die Instrumente der Kommunikation und des Verkehrs in der Hand.«

»Aber warum? Warum?«

»Es gibt keine andere Wahl. Alpha Fileclerk. Wir hatten unser Vertrauen in Krug gesetzt, und Krug hat unsere Hoffnungen enttäuscht. Jetzt schlagen wir zurück, gegen jene, die uns verspottet haben. Gegen jene, die uns ausgebeutet haben. Gegen ihn, der uns geschaffen hat. Und wir treffen ihn da, wo er am verwundbarsten ist, indem wir den Turm zu Fall bringen.«

Fileclerk schaute an Watchman vorbei zum Turm. Auch Watchman drehte sich um. Das Schwanken war jetzt mit dem bloßen Auge wahrnehmbar.

Heiser sagte Fileclerk: »Es ist noch nicht zu spät, die Gefrieranlage wieder einzuschalten. Wollen Sie nicht doch noch Vernunft annehmen? Es bestand keine Notwendigkeit für diese Revolte. Wir hätten uns mit ihnen geeinigt. Watchman, Watchman, wie kann jemand mit Ihrer Intelligenz ein solcher Fanatiker sein? Wollen Sie die Welt vernichten, weil euer Gott, den ihr euch selbst zurechtgebastelt hattet, euch jetzt im Stich läßt?«

»Ich finde, es ist Zeit, daß Sie hier verschwinden«, sagte Watchman.

»Nein. Die Überwachung des Turmes ist meine Verantwortlichkeit. Wir haben einen Kontrakt.« Fileclerk wandte sich an die umstehenden Androiden. »Freunde!« rief er. »Alpha Watchman ist verrückt geworden! Er zerstört den Turm! Ich bitte euch um eure Hilfe! Ergreift ihn, haltet ihn zurück, während ich in das Kontrollzentrum gehe und die Gefrieranlage wieder in Ordnung bringe! Haltet ihn zurück, oder der Turm wird stürzen!«

Keiner der Androiden rührte sich.

Watchman sagte: »Führt ihn weg, Freunde.«

Die Androiden traten auf Fileclerk zu, umringten ihn. »Nein«, brüllte Fileclerk. »Hört auf mich! Das ist Wahnsinn! Das ist wider die Vernunft! Das ist…«

Ein gedämpfter Laut stieg aus der Mitte der Gruppe. Watchman lächelte und wandte sich wieder dem Kontrollzentrum zu. Lilith sagte: »Was werden sie mit ihm machen?«

»Ich habe keine Ahnung. Ihn töten, vielleicht. Die Stimme der Vernunft wird immer erstickt in Zeiten wie diesen«, sagte Watchman. Er richtete seinen Blick auf den Turm. Er neigte sich schon deutlich nach Osten. Wolken von Dampf entstiegen der Tundra. Er sah Blasen im Schlamm auf der Seite, wo die Streifen den Boden erhitzten. Eine Nebelbank bildete sich dicht über dem Boden, wo die arktische Kälte mit der aus der Tundra aufsteigenden Wärme zusammenstieß. Watchman hörte saugende Geräusche in der Erde und seltsame schmatzende Laute: Schlamm, der sich von Schlamm löste. Wie groß ist die Abweichung des Turms von der Senkrechten, fragte er sich. Zwei Grad, drei? Wie weit muß er sich neigen, bis der Schwerpunkt sich so weit verschoben hat, daß das ganze Ding sich selbst aus dem Boden reißt?

»Schau«, sagte Lilith plötzlich.

Eine andre Gestalt kam aus dem Transmat gestolpert: Manuel Krug. Er trug das Kostüm eines Alphas – meine Kleider, erkannte Watchman – doch diese Kleider waren zerrissen und blutbefleckt, und die durch die Risse sichtbare Haut zeigte tiefe Schnitte. Manuel schien die Kälte nicht zu spüren. Er rannte auf sie zu mit weit aufgerissenen Augen, von Entsetzen geschüttelt.

»Lilith? Thor? Gott sei Dank! Ich habe überall versucht, ein freundliches Gesicht zu finden. Ist die Welt verrückt geworden?«

»Sie sollten sich wärmer anziehen für diese Breitengrade«, sagte Watchman ruhig.

»Das ist jetzt gleichgültig. Hört, wo ist mein Vater? Unsere Androiden haben revoltiert, Clarissa erschlagen. Sie haben sie vergewaltigt. Sie in Stücke gehackt. Ich bin gerade noch davongekommen. Und wohin ich gehe… Thor, was geschieht? Was geschieht?«

»Sie hätten Ihrer Frau kein Leid antun sollen«, sagte Watchman. »Ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Das war unnötig.«

»Sie war eure Freundin«, sagte Manuel. »Sie gab heimlich Geld für die AGP, wußtet ihr das? Und… und… großer Gott; ich verliere den Verstand. Der Turm steht schief.« Er blinzelte und drückte mehrere Male die Daumen gegen seine Augäpfel. »Er scheint sich immer weiter zu neigen. Er wird umkippen! Wie kann das sein? Nein. Nein. Ich werde verrückt. Gott helfe mir. Aber du bist wenigstens hier, Lilith! Lilith!« Er griff nach ihr. Er zitterte. »Mir ist kalt, Lilith. Bitte, halte mich. Führe mich irgendwo hin. Nur wir zwei. Ich liebe dich, Lilith. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich. Du bist alles, was mir geblieben ist…«

Er griff nach ihr.

Sie wich seinem Griff aus, warf sich Watchman an den Hals, preßte ihren Körper an den seinen. Watchman umschloß sie mit seinen Armen. Er lächelte triumphierend. Seine Hände streichelten ihren schlanken geschmeidigen Körper, seine Lippen suchten die ihren. Seine Zunge schob sich in ihren warmen Mund.

»Lilith!« schrie Manuel.

Watchman wurde von einem überwältigenden Gefühl der Sinnlichkeit überschwemmt. Sein Körper stand in Flammen. Er war jetzt voll zu seiner Männlichkeit erwacht. Lilith war wie Quecksilber in seinen Armen. Ihre Brüste, ihre Hüften, ihre Lenden waren Feuer an seiner Haut. Nur dumpf hörte er Manuels Jammern.

»Der Turm!« schrie Manuel plötzlich. »Der Turm!«

Watchman gab Lilith frei, schaute zum Turm hinüber, beugte den Körper nach vorn in gespannter Erwartung. Aus der Erde drang ein mahlendes Geräusch. Der Schlamm gurgelte. Die Tundra geriet in Wallung, brodelte. Er hörte ein krachendes Geräusch und dachte an stürzende Bäume. Der Turm neigte sich, neigte sich stärker, noch stärker. Die Reflektorplatten warfen ein gleißendes Licht auf seine östliche Flanke. Die Sendeanlage im Innern waren voll sichtbar, Samenkörner in einer Hülse. Der Turm neigte sich schneller. An seiner Basis, auf der westlichen Seite, bildeten sich riesige Hügel gefrorener Erde, die fast den Eingang zum Kontrollzentrum erreichten. Es knallte, als ob gigantische Violinsaiten zerrissen. Ein mahlendes knisterndes Geräusch erfüllte die Luft. Wieviel Tonnen Glas zerrten jetzt an Ihrem Fundament? Wann gaben die tief in die Erde versenkten Caissons nach? Die Androiden drängten sich in dichten Reihen außerhalb der Gefahrenzone zusammen, machten verzweifelt das Zeichen des Krug-bewahre-uns. Das dumpfe Summen ihrer Gebete mischte sich in die unheimlichen Geräusche, die vom Turm herüberklangen. Manuel schluchzte. Lilith keuchte und stöhnte wie in der letzten Raserei eines Orgasmus. Watchman selbst war gelassen. Der Turm begann zu fallen.

Jetzt fiel er. Ein heftiger Luftstrom, verursacht durch die fallende Masse, brauste an ihnen vorbei, riß sie fast um. Die Basis des Turms schien sich kaum zu bewegen, während der Mittelteil langsam abknickte und die unvollendete Spitze in einem weiten Bogen nach unten stürzte. Sie fiel mit unheimlicher Langsamkeit, in einer Bewegung, die losgelöst zu sein schien von der Zeit. Watchman konnte jede Phase des Zusammenbruchs von der vorangehenden unterscheiden, als sähe er eine Reihe einzelner Bilder. Die Luft winselte und kreischte, roch versengt. Der Turm schlug auf, nicht auf einmal, sondern in Teilen, schlug auf, sprang wieder hoch und fiel zurück, zerbarst. Gewaltige Schlammassen kochten auf, die Splitter der zertrümmerten Glasblöcke wirbelten durch die Luft, regneten in weitem Umkreis auf die Tundra herab. Der Höhepunkt des Sturzes schien viele Minuten zu dauern, während Teile der Glasmauer sich aufbäumten und zurücksanken, so daß der Turm sich zu winden schien wie eine verwundete Schlange. Dem letzten Krachen folgte ein dröhnendes, schier endloses Echo. Dann war alles still. Im Osten glitzerten auf einer Strecke von Tausenden von Metern die kristallenen Fragmente. Die Androiden hatten die Köpfe im Gebet gesenkt. Manuel kauerte schluchzend zu Liliths Füßen, die Wange gegen ihr rechtes Schienbein gelehnt. Lilith stand aufrecht, mit weitgespreizten Beinen, zurückgeworfenen Schultern, wogenden Brüsten; sie glühte im Nachklang der Ekstase. Watchman stand neben ihr und empfand eine wunderbare Ruhe, aber er verspürte schon den ersten Schatten der Traurigkeit, der sich jetzt, da der Turm gefallen war, in seinen Jubel mischte. Er zog Lilith an sich.

Einen Augenblick später entstieg Simeon Krug einer der Transmatkabinen. Watchman hatte es erwartet. Krug hob die Hand über die Augen, als schütze er sie vor einem blendenden Schein und blickte sich um. Er schaute zu dem Platz hinüber, an dem der Turm gestanden hatte, sein Blick glitt über die schweigenden, sich zusammendrängenden Gruppen der Androiden, dann starrte er längere Zeit schweigend auf den riesigen Trümmerhaufen. Schließlich wandte er sich an Thor Watchman.

»Wie konnte das geschehen?« fragte Krug ruhig mit mühsam beherrschter Stimme.

»Die Gefrierstreifen hörten auf zu funktionieren. Der Permafrost ist aufgetaut.«

»Wir hatten ein Dutzend Kontrollmechanismen, so etwas auszuschließen.«

»Ich habe sie außer Betrieb gesetzt«, sagte Watchman.

»Du?«

»Ich fühlte, daß ein Opfer nötig sei.«

Krugs unheimliche Ruhe verließ ihn nicht. »So also dankst du mir, Thor? Ich habe dir dein Leben geschenkt. Ich bin gewissermaßen dein Vater. Ich habe dir etwas verweigert, das du fordertest, und aus Trotz hast du meinen Turm zertrümmert. Sag mir, was für einen Sinn soll das haben, Thor?«

»Für mich hatte es Sinn.«

»Nicht für mich«, sagte Krug. Er lachte bitter. »Aber natürlich bin ich nur ein Gott. Götter verstehen nicht immer die Wege der Sterblichen.«

»Götter können diejenigen, die an sie glauben, im Stich lassen«, sagte Watchman. »Sie haben uns im Stich gelassen.«

»Es war auch dein Turm! Du hast ein Jahr deines Lebens für ihn geopfert, Thor! Ich weiß, wie du ihn geliebt hast. Du warst mit ihm verwachsen, erinnere dich! Und dennoch… und dennoch hast du…« Krug unterbrach sich, bewegte stumm die Lippen, hustete.

Watchman nahm Liliths Hand. »Wir können jetzt gehen. Wir haben getan, wozu wir hergekommen waren. Wir werden nach Stockholm zurückkehren zu den anderen.«

Zusammen gingen sie an dem schweigenden, regungslosen Krug vorbei auf die Transmatanlage zu. Watchman schaltete eine der Kabinen ein. Das Feld war grün, hatte den richtigen Farbton; es mußte wieder alles in Ordnung sein im Transmathauptquartier.

Er streckte die Hand aus, um die Koordinaten einzustellen. Während er es tat, hörte er Krugs verzweifeltes Brüllen:

»Watchman!«

Der Androide wandte sich um. Krug stand wenige Meter von der Transmatkabine entfernt. Sein Gesicht war gerötet und verzerrt vor Wut. Seine Kinnbacken arbeiteten. Seine Hände ballten sich zur Faust, öffneten sich wieder. Plötzlich sprang er vor, packte Watchman am Arm und zog ihn von der Transmatkabine weg.

Krug schien nach Worten zu suchen. Er fand keine. Und plötzlich holte er aus und schlug Watchman ins Gesicht. Es war ein mächtiger Schlag, doch Watchman machte keinen Versuch, ihn zu erwidern. Krug schlug wieder zu, diesmal mit geballter Faust. Watchman wich zurück in Richtung auf den Transmat.

Aus tiefer Kehle gurgelnd stürzte Krug vorwärts. Er packte Watchman bei den Schultern und begann ihn wild zu schütteln. Watchman war erstaunt über die Wildheit seiner Bewegungen. Krug trat mit den Füßen nach ihm, spuckte ihn an, grub seine Nägel in sein Fleisch. Watchman versuchte sich von Krug freizumachen. Krug hämmerte mit seinem Kopf gegen Watchmans Brust. Watchman wußte, es würde nicht schwer sein, Krug beiseite zu schleudern. Aber er konnte es nicht tun.

Er konnte seine Hand nicht gegen Krug erheben.

In der Wut seines Ansturms hatte Krug Watchman fast an den Rand des Transmatfeldes gestoßen. Watchman schaute beunruhigt über seine Schulter nach hinten. Er hatte noch keine Koordinaten eingestellt; das Feld war offen, ein Weg ins Nichts. Wenn er oder Krug jetzt zufällig hineinfielen…

»Thor!« rief Lilith. »Paß auf!«

Der grüne Schein schien nach ihm zu greifen. Krug, um einen Meter kleiner als er, fuhr fort, ihn zu schlagen und zu stoßen. Es war Zeit, dem Kampf ein Ende zu machen, erkannte Watchman. Er legte seine Hände auf Krugs dicke Arme und verlagerte sein Gleichgewicht, um seinen Angreifer zu Boden zu schleudern.

Aber es ist Krug, dachte er.

Aber es ist Krug.

Es ist Krug!

Jetzt ließ Krug ab von ihm. Verblüfft atmete Watchman tief ein, versuchte seine Kräfte zu sammeln. Und jetzt stürzte Krug vorwärts, wild schreiend. Watchman ließ ihn gegen sich anrennen. Krugs Schulter krachte gegen Watchmans Brust. Wieder fühlte sich der Androide aus der Zeit geschleudert. Er schwebte rückwärts, wie von der Schwerkraft befreit, zeitlos mit unendlicher Langsamkeit. Das grüne Transmatfeld brandete hoch, um ihn zu verschlingen. Gedämpft hörte er Liliths Schrei, gedämpft hörte er Krugs Triumphgeheul. Gelassen, fast heiter taumelte Watchman in den grünen Schein, machte das Zeichen des Krug-bewahre-uns, bevor er verschwand.

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