22

Thor Watchman kniete neben Lilith Meson in der Valhallavägen-Kapelle. Es war der Tag der Eröffnung der Zuchtkammern; neun Alphas waren anwesend, und Mazda Constructor, der der Übergängerkaste angehörte, leitete die Feier. Es war kein Ritual, das die Teilnahme eines Erhalters erforderte, und so spielte Watchman bei der Zeremonie keine besondere Rolle. Er wiederholte nur leise für sich selbst die Anrufungen der zelebrierenden Betas. Das Hologramm Krugs über dem Altar glitzerte und zuckte. Die Dreierbuchstabengruppen des genetischen Codes rundum an den Wänden schienen zu schmelzen und wirbelnd um ihn zu kreisen, als das Ritual sich seinem Höhepunkt näherte. Der Geruch von Wasserstoff hing in der Luft. Mazda Constructors Gesten, bis jetzt verhalten und innig, wurden ausladender, theatralischer.

»AUU GAU GGU GCU«, rief er.

»Harmonie!« sang der zweite.

»Wahrnehmung«, sagte Lilith.

»CAC CGC CCC CUC«, sang Mazda Constructor.

»Harmonie!«

»Einheit!«

»Leidenschaft«, sagte Lilith.

»UAA UGA UCA UUA«, rief der Übergänger.

»Harmonie!«

»Einheit!«

»Wille und Ziel«, sagte Lilith, und die Zeremonie war zu Ende. Mazda Constructor trat vom Altar zurück, erschöpft von der Erregung. Lilith berührte leicht seine Hand. Die Betas, offensichtlich dankbar, daß sie entlassen waren, verließen die Kapelle durch den Hinterausgang. Watchman erhob sich. Er erblickte Andromeda Quark in der hintersten, dunkelsten Ecke der Kapelle, die Gebete der Projektorkaste flüsternd. Sie war in sich versunken und schien niemand wahrzunehmen.

»Sollen wir gehen?« sagte Watchman zu Lilith. »Ich bringe dich nach Hause.«

»Nett von dir«, sagte sie. Ihre Teilnahme an der Zeremonie schien sie innerlich stark erregt zu haben; ihre Augen glänzten unnatürlich, ihre Brüste hoben und senkten sich unter ihrem dünnen Gewand, ihre Nasenflügel bebten. Sie verließen die Kapelle.

Während sie zu dem nächsten Transmat gingen, sagte er: »Ist die Personalanforderung in deinem Büro eingetroffen?«

»Gestern. Mit einer Notiz von Spaulding, ich solle sofort mit der Einstellung beginnen. Wo finde ich so viele ausgebildete Betas, Thor? Was geht vor sich?«

»Nichts weiter, als daß Krug uns immer härter bedrängt. Er ist besessen davon, den Turm zu vollenden.«

»Das ist nichts Neues«, sagte Lilith.

»Es wird schlimmer. Seine Ungeduld wächst täglich, sie beherrscht ihn immer mehr, wie eine innere Krankheit. Wenn ich ein Mensch wäre, würde ich diese Hast vielleicht verstehen. Er kommt jetzt zwei-, dreimal am Tage zum Turm, zählt die Stockwerke, zählt die neuverlegten Blockreihen. Hetzt die Tachyonenleute, sagt ihnen, sie sollen ihre Maschinen schneller installieren. Eine wilde Entschlossenheit ergreift von ihm Besitz, er schwitzt, er erregt sich leicht, stolpert über seine eigenen Worte. Jetzt verstärkt er die Arbeitstrupps, steckt weitere Millionen Dollar in das Unternehmen. Wozu? Wozu das alles? Und dann die Sache mit dem Raumschiff. Ich habe gestern mit Denver gesprochen. Weißt du, Lilith, daß er diese Fabrik das ganze letzte Jahr nicht beachtet hat und daß er sie jetzt täglich besucht? Das Raumschiff soll innerhalb von drei Monaten fertig sein für eine Interstellare Reise. Androidenbesatzung. Er schickt Androiden.«

»Wohin?«

»Dreihundert Lichtjahre weit.«

»Er wird doch nicht dich auffordern? Oder mich?«

»Zwei Alphas, zwei Betas und vier Gammas«, sagte Watchman. »Man hat mir nicht gesagt, wer dafür in Erwägung gezogen wird. Wenn er Spaulding entscheiden läßt, bin ich erledigt. Krug bewahre uns davor, dabeisein zu müssen.« Er wurde sich der Ironie seines Gebets bewußt und lachte, ein dünnes kicherndes Lachen. »Ja. Krug bewahre uns!«

Sie erreichten den Transmat. Watchman begann die Koordinaten einzustellen.

»Willst du für einen Augenblick mit hinaufkommen?« fragte Lilith.

»Gerne.«

Sie traten zusammen in den grünen Schein.

Ihre Wohnung war kleiner als die seine, lediglich ein Schlafzimmer, eine Kombination von Wohnzimmer, Eßzimmer und Küche. Man konnte sehen, daß eine größere Wohnung in mehrere kleine unterteilt worden war, angemessen für Androiden. Das Gebäude war ähnlich dem, in dem er wohnte: alt, abgenutzt, irgendwie Gemütlichkeit ausstrahlend. Neunzehntes Jahrhundert, schätzte er, obwohl die Ausstattung, die Stärke von Liliths Persönlichkeit reflektierend, ausgesprochen zeitgenössisch war: modern in den Boden montierte Möbel und winzige, zarte, freischwebende Kunstgegenstände. Watchman war nie zuvor in ihrer Wohnung gewesen, obwohl sie fast Nachbarn in Stockholm waren. Androiden, selbst Alphas, besuchten einander nicht in ihren Heimen; die Kapellen dienten als Treffpunkte für die meisten Gelegenheiten. Diejenigen, die nicht der Gemeinde angehörten, versammelten sich in AGP-Büros oder zogen die Einsamkeit vor.

Er ließ sich in einen federnden bequemen Sessel fallen.

»Möchtest du ein Stimulans?« fragte Lilith. »Ich kann dir alle Arten von angenehmen Stoffen anbieten. Tabak, allerlei Getränke, selbst Alkohol, Liköre, Kognak, Whisky.«

»Du bist ja gut ausgestattet mit Reizmitteln.«

»Manuel kommt oft hierher. Ich muß die Gastgeberin für ihn spielen. Was willst du haben?«

»Nichts«, erwiderte er. »Ich habe eine Abneigung gegen diese Drogen.«

Sie lachte und trat vor den Doppler. Rasch löste er ihr Gewand auf. Darunter trug sie nichts als einen Wärmeschaum, der sich hellgrün und lieblich von ihrer blassen Haut abhob, sie von den Brüsten bis zu den Schenkeln bedeckte. Durch eine weitere Bewegung vor dem Doppler ließ sie auch diese Hülle verschwinden; nur die Sandalen behielt sie an.

Sie ließ sich anmutig zu Boden sinken, saß mit gekreuzten Beinen vor ihm, spielte mit den Schaltern ihrer Wandprojektoren; Muster kamen und verschwanden, während sie wahllose Kombinationen einstellte. Es herrschte ein seltsam gespanntes Schweigen. Watchman fühlte sich unangenehm berührt; er kannte Lilith jetzt fünf Jahre, beinahe ihr ganzes Leben, und sie war so eng mit ihm befreundet, wie ein Android es nur mit einem ändern sein konnte. Doch er war noch nie zuvor auf diese private Art allein mit ihr gewesen. Es war nicht ihre Nacktheit, die ihn störte. Nacktheit bedeutete ihm überhaupt nichts. Es war, schloß er, einfach die Vertraulichkeit der Situation. Als ob sie ein Liebespaar wären. Als ob etwas… Sexuelles… zwischen ihnen wäre.

Er lächelte und entschloß sich, sie über diese ungereimten Gefühle zu informieren. Doch bevor er sprechen konnte, sagte sie: »Ich habe gerade an etwas gedacht. An Krug. An seine Ungeduld, den Turm zu vollenden. Thor, wäre es möglich, daß er glaubt, bald sterben zu müssen?«

»Sterben?« Ein ungewohnter, verrückter Gedanke!

»Irgendeine fürchterliche Krankheit, etwas, das sie tektogenetisch nicht reparieren können. Ich weiß nicht, was; eine neue Art von Krebs vielleicht. Jedenfalls, nimm an, er hat gerade festgestellt, daß er vielleicht noch ein oder zwei Jahre zu leben hat und entschlossen ist, seine Botschaft vorher auszusenden.«

»Er sieht gesund aus«, sagte Watchman.

»Vielleicht verfault er von innen heraus. Die ersten Symptome sind sein unberechenbares Verhalten, sein besessenes Hasten von Ort zu Ort, seine ständige Beschleunigung der Arbeitspläne, sein Antreiben zur Schnelligkeit…«

»Krug bewahre uns, nein!«

»Krug bewahre Krug.«

»Ich glaube das nicht, Lilith. Wie kommst du auf diesen schrecklichen Gedanken? Hat Manuel etwas gesagt?«

»Nur Intuition. Ich will dir helfen, Krugs seltsames Benehmen zu erklären, das ist alles. Wenn er wirklich ein sterbender Mann ist, so ist dies die einzige Erklärung für…«

»Krug kann nicht sterben.«

»Kann nicht?«

»Du weißt, was ich meine. Er darf nicht sterben. Er ist noch jung. Er hat mindestens noch ein Jahrhundert vor sich. Und es gibt so viel, das er in dieser Zeit noch tun muß.«

»Für uns, meinst du?«

»Natürlich«, erwiderte Watchman.

»Aber der Turm verbrennt ihn, verzehrt ihn. Thor, nimm an, er stirbt wirklich? Ohne die Worte gesprochen zu haben… ohne gesagt zu haben, daß wir…«

»Dann werden wir eine Menge Energie im Gebet verschwendet haben. Und die AGP wird uns ins Gesicht lachen.«

»Sollten wir nicht etwas tun?«

Er drückte seine Daumen gegen die Augenlider. »Wir können unsere Pläne nicht auf Phantastereien aufbauen. Soweit wir wissen, ist Krug nicht sterbenskrank und wird wahrscheinlich nicht so schnell sterben.«

»Und wenn er wirklich stirbt?«

»Worauf willst du hinaus?«

Sie sagte: »Wir könnten sogleich damit beginnen.«

»Womit?«

»Mit dem, worüber wir sprachen, als du mich zum erstenmal aufgefordert hast, mit Manuel zu schlafen. Manuel zu benutzen, um Krugs Unterstützung für die Sache zu gewinnen.«

»Das war seinerzeit nur ein Einfall, den ich längst bereue«, sagte Watchman. »Ich bezweifle, daß es philosophisch richtig ist, Krug auf diese Weise manipulieren zu wollen. Wenn wir ehrlich sind in unserem Glauben, müßten wir auf seine Gnade warten, ohne Ränke zu schmieden, um seiner Gnade nachzuhelfen und…«

»Höre auf damit, Thor. Ich gehe in die Kapelle, und du gehst in die Kapelle, und wir alle gehen in die Kapelle, aber wir leben auch in der wirklichen Welt, und in der wirklichen Welt mußt du die wirklichen Faktoren in Rechnung stellen. So etwa die Möglichkeit von Krugs vorzeitigem Tod.«

»Nun…« Er zitterte vor Spannung. Sie war pragmatisch, fast wie ein Organisator von der AGP. Er sah die Logik ihres Standpunkts. Sein ganzer Glaube war gebunden an die Hoffnung auf die Manifestation eines Wunders; was aber, wenn es kein Wunder gab? Wenn sie eine Möglichkeit hatten, das Wunder zu stimulieren, sollten sie sie dann nicht benutzen? Und dennoch… und dennoch…

Sie sagte: »Manuel ist reif. Er ist bereit, offen für unsere Sache einzutreten. Du weißt, wie beeinflußbar er ist; ich könnte aus ihm in zwei oder drei Wochen einen Kreuzfahrer für unsere Sache machen. Ich werde ihn dann in die Gammastadt mitnehmen…«

»Verkleidet, hoffe ich.«

»Natürlich. Wir werden eine Nacht dort verbringen… und dann… du erinnerst dich sicher, Thor, wir sprachen darüber, Ihm eine Kapelle zu zeigen…«

»Ja. Ja.« Watchman zitterte.

»Das werde ich tun. Ich werde ihm die Sache unserer Gemeinde erklären. Und schließlich werde ich offen sprechen und ihn bitten, sich bei seinem Vater für uns zu verwenden. Er wird es tun, Thor. Er wird es tun! Und Krug wird ihn anhören. Krug wird nachgeben und die Worte aussprechen. Manuel zuliebe.«

Watchman erhob sich. Er ging im Zimmer auf und ab. »Es erscheint fast blasphemisch. Wir sollen darauf warten, daß Krugs Gnade zu uns herabsteigt zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt. Manuel auf diese Weise zu benutzen, versuchen, den Willen Krugs zu formen und zu zwingen…«

»Was ist, wenn Krug sterben muß?« fragte Lilith. »Was, wenn er nur noch Monate zu leben hat? Was, wenn eine Zeit kommt, da es keinen Krug gibt? Und wir noch immer Sklaven sind?«

Ihre Worte hallten wider von den Wänden, zerschmetterten ihn:

da kein Krug mehr ist

da kein Krug mehr ist

da kein Krug mehr ist

da kein Krug mehr ist

»Wir müssen unterscheiden«, sagte er unsicher, »zwischen dem physischen Menschen, der Krug ist, für den wir arbeiten, und der ewigen Gegenwart Krugs, des Schöpfers, und Krugs, des Befreiers, der…«

»Nicht jetzt, Thor. Sage mir nur, was ich tun soll. Manuel in die Gammastadt mitnehmen?«

»Ja. Ja. Doch mache nur einen Schritt nach dem anderen. Sei vorsichtig. Weihe ihn nicht zu schnell ein. Frage mich, wenn du Zweifel hast. Kannst du Manuel wirklich beeinflussen?«

»Er betet mich an«, sagte Lilith ruhig.

»Wegen deines Körpers?«

»Es ist ein guter Körper, Thor. Doch es ist mehr als das. Es verlangt ihn danach, von einer Androidin beherrscht zu werden. Er ist voller Schuldkomplexe der zweiten Generation. Ich habe ihn mit Sex gefangengenommen, doch ich halte ihn durch die Macht der Retorte.«

»Sex«, sagte Watchman. »Ihn mit Sex gefangengenommen. Wie? Er hat eine Frau. Eine hübsche Frau, habe ich gehört. Doch ich bin natürlich nicht in der Lage, das zu beurteilen. Wenn er eine hübsche Frau hat, warum braucht er…«

Lilith lachte.

»Habe ich etwas Dummes gesagt?«

»Du verstehst wohl überhaupt nichts von Menschen, Thor? Der berühmte Alpha Watchman, vollkommen ahnungslos!« Ihre Augen funkelten. Sie sprang auf. »Thor, was weißt du eigentlich über Sex? Ich meine aus erster Hand.«

»Ob ich schon einmal Geschlechtsverkehr hatte? Ist es das, was du fragst?«

»Das ist es, was ich dich frage«, erklärte Lilith.

Der Richtungswechsel in der Konversation verblüffte ihn. Was hatte sein privates Leben zu tun mit dem Planen revolutionärer Taktik?

»Nein«, sagte er. »Nie. Warum sollte ich? Was könnte ich dabei gewinnen außer Ärger?«

»Vergnügen«, erwiderte sie. »Krug schuf uns mit funktionalen Nervensystemen. Sex ist Vergnügen. Sex erregt mich. Es sollte auch dich erregen. Warum hast du es nie versucht?«

»Ich kenne keinen Alphamann, der es versucht hat oder überhaupt viel darüber nachdenkt.«

»Alphafrauen tun es.«

»Das ist etwas anderes. Ihr habt mehr Gelegenheit. Alle diese menschlichen Männer rennen hinter euch her. Menschliche Frauen rennen nicht hinter Androidenmännern her, ausgenommen vielleicht einige, die geistesgestört sind, nehme ich an. Und du kannst mit einem Menschen Geschlechtsverkehr ohne jedes Risiko haben. Ich aber werde mich nicht mit einer menschlichen Frau einlassen, nicht wenn jeder Mann, der glaubt, ich beeinträchtige seine Rechte, mich auf der Stelle zerstören kann.«

»Wie wäre es mit Sex zwischen Android und Androidin?«

»Wozu? Um Babys zu machen?«

»Sex und Fortpflanzung sind zwei ganz verschiedene Dinge, Thor. Das war schon immer so. Sex ist eine soziale Kraft. Ein Sport. Ein Spiel. Eine Art Magnetismus von Körper zu Körper. Es ist das, was mir Macht über Manuel Krug gibt.« Abrupt änderte sich der Ton ihrer Stimme, verlor seinen didaktischen Eifer, wurde weicher. »Willst du, daß ich dir zeige, was Sex ist? Lege deine Kleider ab.«

Er lachte nervös. »Meinst du das im Ernst? Willst du… das machen mit mir?«

»Warum nicht? Hast du Angst davor?«

»Sei nicht albern. Ich habe nicht erwartet… ich meine… es erscheint so widersinnig, daß zwei Androiden miteinander ins Bett gehen sollen, Lilith…«

»Weil wir Ersatzmenschen sind? Plastikwesen? Gegenstände?« sagte sie kalt.

»Das habe ich nicht gemeint. Wir sind aus Fleisch und Blut!«

»Aber es gibt bestimmte Dinge, die wir nicht tun dürfen, weil wir aus der Retorte kommen. Gewisse körperliche Funktionen bleiben für die Kinder des Leibes reserviert. Das meinst du doch?«

»Du unterstellst mir Anschauungen, die ich nicht habe.«

»Ich weiß, daß ich das tue. Ich will dich erziehen, Thor. Überzeugen. Du versuchst das Geschick einer ganzen Gesellschaft zu manipulieren und weißt nichts von einer der menschlichen Grundmotivationen. Komm, zieh dich aus. Hast du nie Verlangen nach einer Frau gefühlt?«

»Ich weiß nicht, was Verlangen ist, Lilith.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und du denkst, wir sollten den Menschen gleichgestellt werden? Du willst wählen, Alphas in den Kongreß bringen, Bürgerrechte besitzen? Aber du lebst wie ein Roboter, wie eine Maschine. Du bist ein wandelndes Argument dafür, die Androiden an ihrem Platz zu belassen. Du ignorierst eine der wichtigsten Funktionen des menschlichen Lebens und sagst dir, diese Dinge seien nur für Menschen, Androiden hätten sich nicht darum zu kümmern. Ein gefährliches Denken, Thor. Wir sind menschlich. Wir haben Körper. Warum hat Krug uns Genitalien gegeben, wenn er nicht wollte, daß wir sie gebrauchen?«

»Ich stimme jedem Wort zu, das du gesagt hast, aber….«

»Aber was?«

»Aber Sex bedeutet mir nichts. Und ich weiß, das ist ein böses Argument gegen unsere Sache. Ich bin nicht der einzige Alpha, der so empfindet, Lilith. Wir reden nicht viel darüber, aber…« Er wich ihrem Blick aus. »Vielleicht haben die Menschen recht. Vielleicht sind wir eine mindere Rasse, künstlich durch und durch, nur eine organische Rasse von Robotern, gemacht aus Fleisch und…«

»Falsch. Steh auf, Thor. Komm her.«

Er ging auf sie zu. Sie nahm seine Hände und legte sie auf ihre nackten Brüste.

»Drücke sie«, sagte sie. »Sanft. Siehst du die Warzen, wie sie hart werden, sich aufrichten? Das ist ein Zeichen, daß ich auf deine Berührung reagiere. Das beweist mir, daß ich eine Frau bin, kein Roboter. Es ist die Art, wie eine Frau Verlangen zeigt. Was empfindest du, wenn du meine Brüste berührst, Thor?«

»Ihre Glätte, die kühle Haut.«

»Was fühlst du innerlich?«

»Ich weiß nicht.«

»Eine Beschleunigung deines Pulses? Spannungen? Ein Knoten in deinem Leib. Hier, berühre meine Hüfte, streichle mich. Fühlst du jetzt etwas, Thor?«

»Ich bin nicht sicher. Das ist mir so neu, Lilith.«

»Zieh dich aus«, sagte sie.

»Es erscheint mir so mechanisch auf diese Weise. So kalt. Soll Sex nicht vorbereitet werden durch Werbung, weiches Licht, Flüstern, Musik, Poesie?«

»Dann weißt du also doch ein wenig darüber«, lächelte sie.

»Ein wenig. Ich habe ihre Bücher gelesen. Ich kenne das Ritual, das Präludium.«

»Wir können das Präludium versuchen; hier, ich habe das Licht gedämpft. Nimm einen Drink, Thor. Nein, keinen Whisky, nicht für das erstemal. Etwas Leichtes. Gut so. Und hier ist ein wenig Musik. Zieh dich aus.«

»Du wirst doch niemand etwas davon sagen?«

»Wie du dich anstellst, Thor! Wem sollte ich es sagen? Manuel? Liebling, werde ich ihm sagen, Liebling, ich habe dich mit Thor Watchman betrogen!« Sie lachte frivol. »Es wird unser Geheimnis bleiben. Nenn es eine Lektion in Menschlichkeit. Menschen haben Sex, und du willst doch menschlicher sein? Ich werde dir helfen, den Sex zu entdecken.« Sie lächelte schelmisch. Sie zerrte an seinen Kleidern.

Neugierde packte ihn. Er fühlte den Alkohol in seinem Gehirn wirken, ihn in Euphorie versetzen. Lilith hatte recht: die Sexlosigkeit der Alphas war ein Paradoxon bei Leuten, die so heftig forderten, den Menschen gleichgestellt zu werden. Oder war Sexlosigkeit gar nicht so allgemein unter den Alphas, wie er dachte? Vielleicht hatte er, weil er mit den ihm von Krug gestellten Aufgaben so sehr beschäftigt war, es einfach vernachlässigt, seine Gefühle sich entwickeln zu lassen? Er dachte an Siegfried Fileclerk, der im Schnee neben Cassandra Nukleus weinte, und wunderte sich.

Seine Kleider fielen, Lilith zog ihn in die Arme.

Sie rieb ihren Körper langsam an seinem. Er fühlte ihre Schenkel auf seinen Schenkeln, die kühle gespannte Trommel ihres Leibs, der sich gegen den seinen preßte, die harten Knoten ihrer Brustwarzen, die sich an seiner Brust rieben. Er forschte in sich nach einer Spur von Reaktion. Er war unsicher über das, was er entdeckte, doch er konnte nicht leugnen, daß er die durch ihre enge Berührung ausgelösten Empfindungen genoß. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Lippen waren geöffnet, sie suchten die seinen. Ihre Zunge glitt zwischen seine Zähne. Seine Handflächen glitten ihren Rücken hinunter, und in einem plötzlichen Impuls vergrub er seine Fingerspitzen in die Hügel ihres Gesäßes. Liliths Muskeln spannten sich, und ihr Körper preßte sich stärker gegen ihn, beschleunigte seine reibenden Bewegungen. Das dauerte eine kurze Weile. Dann entspannte sie sich und rückte von ihm ab.

»Nun?« fragte sie. »Etwas gefühlt?«

»Es hat mir gefallen«, sagte er zögernd.

»Hat es dich erregt?«

»Ich glaube ja.«

»Es sieht nicht so aus.«

»Woher willst du das wissen?«

»Es würde sich zeigen«, sagte sie spöttisch lächelnd.

Er kam sich unmöglich, tölpelhaft und blöd vor. Er fühlte sich von seiner eigenen Identität abgeschnitten, unfähig, In den Thor Watchman zurückzukehren, den er kannte und verstand. Von dem Augenblick an, da er die Zuchtkammer verließ, hatte er sich älter, weiser, begabter, selbstsicherer als seine Mitalphas betrachtet: als einen Mann, der die Welt und seinen Platz begriff. Aber nun? Lilith hatte ihn in einer halben Stunde vollkommen verändert, ihn plump, naiv, närrisch… und impotent gemacht.

Sie legte ihre Hand auf sein Geschlecht. »Da dein Penis nicht steif geworden ist«, sagte sie, »war es offensichtlich nicht sehr erregend für dich, als ich…« Sie unterbrach sich. »Oh. Ja. Siehst du es jetzt?«

»Es geschah, als du mich berührtest.«

»Das ist nicht überraschend. Es gefällt dir also? Ja?« Ihre Finger bewegten sich kundig. Watchman mußte sich eingestehen, daß er diese Empfindung interessant fand, und daß dieses plötzliche Erwachen seiner Männlichkeit in ihren Händen ein bemerkenswertes Phänomen war. Doch er blieb außerhalb seiner selbst, ein distanzierter Beobachter, nicht mehr beteiligt, als wenn er eine Vorlesung über die Begattungsgewohnheiten der Centaurinen-Proteoiden anhörte.

Sie preßte sich wieder gegen ihn. Ihr Körper bewegte sich, glitt von einer Seite auf die andere, bäumte sich auf, erschauerte. Er legte seine Arme um sie, er glitt mit den Händen wieder über ihre Haut.

Sie zog ihn zu Boden.

Er lag über ihr, stützte sich mit Knien und Ellbogen ab, um nicht mit seinem vollen Gewicht auf ihr zu lasten. Ihre Beine umschlangen ihn; ihre Schenkel preßten sich gegen seine Hüften. Ihre Hand glitt zwischen ihre Körper, nahm sein Glied, führte es in Ihren Schoß. Sie begann ihr Becken zu heben und zu senken. Er erwiderte ihre Stöße, drang immer tiefer in sie ein, paßte sich ihrem Rhythmus an.

Das also ist Sex, dachte er.

Er fragte sich, wie eine Frau empfinden mochte, wenn etwas Langes und Hartes tief in ihren Körper gestoßen wurde. Offenbar genoß sie es; Lilith stöhnte und zitterte in einer Art von Entzücken. Doch es kam ihm seltsam, befremdend vor. Mit einem Teil seines Körpers in den einer Frau einzudringen, war es dies, was die Dichter besangen, war es dies, weswegen Männer Duelle ausgefochten und auf Königreiche verzichtet hatten?

Nach einer Weile sagte er: »Wie werden wir wissen, daß es vorüber ist?«

Ihre Augen öffneten sich. Er war nicht in der Lage zu unterscheiden, ob Wut oder Lust in ihnen funkelte. »Du wirst es schon merken«, antwortete sie, warf den Kopf zurück und lächelte.

Er machte weiter. Die Bewegungen ihrer Hüften wurden heftiger. Ihr Gesicht verzerrte sich, entstellte sich beängstigend, wurde fremd, beinahe häßlich; eine Art von innerem Sturm war losgebrochen und wütete in ihr. Alle ihre Muskeln schienen sich zu verkrampfen. Ihre Vagina schloß sich fest um seinen Penis und schien ihn in sich hineinsaugen zu wollen.

Plötzlich spürte auch er, wie sich die Muskeln seines Körpers unerträglich spannten. Sein Bewußtsein trübte sich, und er war nicht mehr in der Lage, die Wirkungen, die ihre Vereinigung in ihr ausgelöst hatte, zu registrieren. Er schloß die Augen. Er rang stöhnend nach Atem. Sein Herz hämmerte wild. Seine Haut glühte. Er drückte sie fester an sich, preßte sein Gesicht in die Grube zwischen ihrer Wange und ihrer Schulter. Eine Reihe von zuckenden Stößen schüttelte ihn.

Das war es also! Wie schnell die Ekstase dahinschwand! Er konnte sich jetzt kaum der mächtigen Empfindungen erinnern, die ihn vor wenigen Sekunden überschwemmt hatten. Er fühlte sich genarrt. War das alles? Wie die nach einem kurzen Aufwallen versickernde Brandung? Es ist überhaupt nichts, dachte Thor Watchman. Es ist ein Betrug.

Er löste sich von ihr.

Sie lag da mit nach hinten hängendem Kopf, die Augen geschlossen, der Mund schlaff; sie war schweißgebadet und sah blaß aus. Ihm war, als hätte er diese Frau nie zuvor gesehen. Einen Augenblick, nachdem er sich von ihr gelöst hatte, öffnete sie die Augen. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und lächelte ihn scheu an.

»Nun?« fragte sie.

»Was?« Er blickte sie nicht an.

»Wie fühlst du dich?«

Watchman hob die Schultern. Er suchte nach den richtigen Worten und konnte sie nicht finden. »Besiegt«, sagte er. »Müde. Leer. Ist das richtig? Ich fühle mich… leer.«

»Es ist normal. Nach dem Koitus ist jedes Tier traurig. Ein altes lateinisches Sprichwort. Du bist ein Lebewesen, Thor. Vergiß es nicht.«

»Ja, und ein müdes dazu.« Asche auf dem kalten Strand. Die Flut ist zurückgewichen. »Hast du es genossen, Lilith?«

»Konntest du es nicht sehen? Nein, ich nehme an, du hast es nicht gesehen. Ich habe es genossen. Sehr.«

Er legte seine Hand leicht auf ihren Schenkel. »Ich bin glücklich. Doch ich bin noch immer verblüfft.«

»Über was?«

»Über die ganze Sache. Über den Vorgang, die Reihenfolge der Ereignisse. Stoßen. Zurückziehen. Schwitzen. Stöhnen. Das Kitzeln in den Lenden, und dann ist es vorüber. Ich…«

»Nein«, sagte sie. »Du darfst die Sache nicht intellektuell betrachten. Nicht analysieren. Du mußt mehr erwartet haben, als wirklich dran ist. Es ist nur Spaß, Thor. Es ist das, was die Leute tun, um glücklich miteinander zu sein. Das ist alles. Das ist wirklich alles. Es ist keine kosmische Erfahrung.«

»Es tut mir leid. Ich bin nur ein dummer Androide, der nicht…«

»Sprich nicht weiter, Thor.«

Er begriff, daß er sie verletzte, indem er verneinte, durch Ihre Vereinigung überwältigt worden zu sein. Er verletzte sich selbst. Langsam stand er auf. Seine Stimmung war düster. Er fühlte sich wie ein leeres, im Schnee liegendes Gefäß. Er hatte einen winzigen Augenblick des Glücks empfunden, genau im Höhepunkt ihrer Vereinigung; doch war dieser Augenblick der Verzückung etwas wert, wenn ihm düstere Traurigkeit folgte?

Sie hatte es gut gemeint. Sie wollte ihn menschlicher machen. Er hob sie auf, zog sie wieder an sich, küßte sie flüchtig auf die Wange und sagte: »Wir werden es irgendwann noch einmal versuchen, willst du?«

»Wann immer du willst.«

»Es war sehr seltsam für mich, das erstemal. Es wird dann bestimmt besser gehen. Ich weiß es.«

»Es wird, Thor. Das erstemal ist es immer seltsam.«

»Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«

»Wenn du mußt.«

»Es ist besser. Aber wir sehen uns bald wieder.«

»Ja.« Sie berührte seinen Arm. »Und in der Zwischenzeit… werde ich verfahren, wie wir es besprochen haben. Ich nehme Manuel mit in die Gammastadt.«

»Gut.«

»Krug sei mit dir, Thor.«

»Krug sei mit dir.«

Er begann sich anzuziehen.

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