Watchman war an diesem Morgen in Stockholm aufgewacht. Er fühlte sich elend. Er hatte vier Stunden geschlafen. Viel zuviel. Zwei Stunden hätten genügt. Er entspannte seinen Geist durch ein schnelles Nervenritual und ging dann unter die Dusche, um sich die Haut abzuspülen. Jetzt fühlte er sich besser. Der Androide streckte sich, ließ seine Muskeln spielen, betrachtete seinen glatten, rosigen, haarlosen Körper im Badezimmerspiegel. Als nächstes einen Augenblick für die Religion. Krug befreie uns von der Knechtschaft. Krug befreie uns von der Knechtschaft! Krug befreie uns von der Knechtschaft. Gepriesen sei Krug! betete er.
Watchman schlang sein Frühstück hinunter und zog sich an. Die bleiche Sonne des späten Nachmittags schien in sein Fenster. Bald würde es hier Abend sein, doch das war gleichgültig. Die Uhr in seinem Hirn war auf kanadische Zeit, auf Turm-Zeit, eingestellt. Er konnte schlafen wann er wollte. Ein Androidenkörper brauchte nur wenig Schlaf, etwa zwei Stunden pro Tag, doch nicht in der starr programmierten Einteilung der Menschen.
Er mußte zur Baustelle, um die Besucher des Tages zu begrüßen.
Der Androide begann die Transmatkoordinaten einzustellen. Er haßte diese täglichen Besichtigungen. Sie verlangsamten die Arbeit, denn es mußten außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, wenn Menschen auf der Baustelle waren, sie verursachten unnötige Spannungen und sie ließen darauf schließen, daß man ihn vielleicht nicht ganz vertrauenswürdig fand und daß er jeden Tag kontrolliert werden mußte. Natürlich sah Watchman, daß Krugs Vertrauen in ihn grenzenlos war. Des Androiden Glauben an dieses Vertrauen war ihm bis jetzt ein wunderbarer Halt bei der Aufgabe des Turmbaus gewesen. Er wußte, es war nicht Argwohn, sondern das natürliche menschliche Gefühl des Stolzes, das Krug so oft zur Baustelle führte.
Krug schütze mich, dachte Watchman und betrat die Transmatkabine.
Er materialisierte sich im Schatten des Turmes. Seine Mitarbeiter begrüßten ihn. Jemand reichte ihm die Liste der Besucher des Tages. »Ist Krug schon hier?« fragte Watchman.
»In fünf Minuten«, sagte man ihm, und nach fünf Minuten kam Krug durch den Transmat, begleitet von seinen Gästen. Watchman war nicht erfreut, Krugs Sekretär Spaulding in der Gruppe zu entdecken. Sie waren natürliche Feinde; sie empfanden gegeneinander die spontane Antipathie des aus der Retorte und des aus der Flasche Geborenen, des Androiden und des Ektogenen. Außerdem waren sie Rivalen um den Vorrang unter Krugs Mitarbeitern. Für den Androiden war Spaulding eine Quelle des Argwohns, ein potentieller Unterminierer seines Status, eine Giftquelle. Watchman begrüßte ihn kühl, zurückhaltend, doch korrekt. Man behandelte einen Menschen nicht unfreundlich, ein wie wichtiger Androide man auch sein mochte, und zumindest nach technischer Definition war Spaulding als Mensch zu betrachten.
Krug drängte alle in die Aufzüge. Watchman stieg auf mit Manuel und Clarissa Krug. Während die Aufzüge zu der abgestumpften Spitze des Turmes hinauffuhren, blickte Watchman zu Spaulding im Aufzug links neben ihm hinüber – zu dem Ektogenen, zu dem pränatalen Waisen, dem Manne mit der verkrampften Seele und dem unheilvollen Geist, in den Krug so unnatürlich viel Vertrauen setzte. Mögen die arktischen Winde dich ins Verderben fegen, aus der Flasche Geborener. Ich möchte dich auf den gefrorenen Grund der Tundra geschleudert und zerschellen sehen.
Clarissa Krug sagte: »Thor, warum blicken Sie plötzlich so finster drein?«
»Tue ich das?«
»Ich sehe Wolken des Zorns über Ihr Gesicht ziehen.«
Watchman zuckte die Achseln. »Ich mache meine Gefühlsübungen, Mrs. Krug. Zehn Minuten Liebe, zehn Minuten Haß, zehn Minuten Argwohn, zehn Minuten Selbstsucht, zehn Minuten Ehrfurcht, zehn Minuten Arroganz. Eine Stunde solcher Übungen pro Tag macht Androiden den Menschen ähnlicher.«
»Haben Sie mich nicht zum besten«, sagte Clarissa. Sie war sehr jung, schlank, dunkeläugig, sanft und – Watchman nahm es wenigstens an –, schön. »Sagen Sie mir die Wahrheit?«
»Ja, wirklich! Ich übte mich gerade ein wenig im Massen, als Sie mich ansprachen.«
»Was sind das für Übungen? Ich meine, stehen Sie nur da und denken ›Ich Hassehassehassehassehasse‹, oder was tun Sie?«
Er lächelte über die Frage der jungen Frau. Über ihre Schulter sah er Manuel ihm zuwinken. »Ein anderes Mal«, sagte Watchman. »Wir sind oben.«
Die drei Aufzüge hielten am obersten Rand des Turms. Über Watchmans Kopf hing der graue Nebel des Isolierfeldes. Auch der Himmel war grau. Der kurze nördliche Tag war fast vorüber. Ein Schneesturm zog südwärts, entlang dem Ufer der Bucht, auf sie zu. Im nächsten Aufzug lehnte sich Krug tief in den Turm hinein, erklärte Buckleman und Vargas etwas, und in dem dritten Aufzug prüften Spaulding, Senator Fearon und Maledetto die glatte, glänzende Oberfläche der großen Glasblöcke, die die äußere Haut des Turms bildeten.
»Wann wird er fertig sein?« fragte Clarissa.
»In etwas weniger als einem Jahr«, antwortete der Androide. »Wir kommen gut vorwärts. Das große technische Problem bestand darin, die Permafrostschicht unter dem Gebäude vor dem Auftauen zu bewahren. Doch nun, da wir dies hinter uns haben, werden wir wohl mehrere hundert Meter im Monat steigen können.«
»Warum baut man gerade hier«, wollte sie wissen, »obwohl der Grund nicht stabil ist?«
»Aus Gründen der Isolierung. Wenn die Ultrawelle eingeschaltet wird, stört sie alle Fernmeldelinien, Transmats und Kraftwerke in einem Umkreis von Tausenden von Quadratkilometern. Krug war darauf angewiesen, den Turm in die Sahara, in die Gobi, in die australische Wüste oder in die Tundra zu stellen. Aus technischen Gründen, die mit der Übertragung zu tun haben, erschien die Tundra am geeignetsten – vorausgesetzt das Problem des Auftauens konnte gelöst werden. Krug befahl uns, hier zu bauen. Also fanden wir einen Weg, das Problem des Auftauens zu lösen.«
Manuel fragte: »Wie weit ist die Sendeanlage?«
»Wir beginnen mit der Installierung, wenn der Turm fünfhundert Meter hoch ist, also Mitte November.«
Krugs Stimme schallte zu ihnen herüber. »Wir haben bereits die fünf Satelliten-Verstärkerstationen fertiggestellt. Ein Ring von Energiequellen rund um den Turm – genug Spannung, um unser Signal zwischen Donnerstag und Freitag bis zur Andromeda zu funken.«
»Ein wundervolles Projekt«, sagte Senator Fearon. Er war ein auffällig aussehender Mann mit grünen Augen und einer Mähne roter Haare. »Ein weiterer mächtiger Schritt in der Entwicklung der Menschheit!« Watchman höflich zunickend fügte der Senator hinzu: »Natürlich müssen wir unsere ungeheure Schuld gegenüber den geschickten Androiden anerkennen, welche dieses herrliche Projekt verwirklichen. Ohne Ihre Hilfe und die eurer Leute, Alpha Watchman, wäre es nicht möglich gewesen…«
Watchman hörte ihm gelassen zu, vergaß nicht, kurz zu lächeln. Komplimente dieser Art bedeuteten ihm nichts, der Weltkongreß und seine Senatoren noch weniger. Saß ein Androide im Kongreß? Würde es etwas ausmachen, wenn einer drinsäße? Eines Tages würde die Androiden-Gleichheitspartei zweifellos, einige ihrer Leute in den Kongreß bringen; drei oder vier Alphas würden in diesem hohen Hause sitzen, aber dennoch würden die Androiden weiterhin nur Eigentum bleiben, nicht Menschen werden. Die politische Entwicklung flößte Thor Watchman nicht den geringsten Optimismus ein.
Seine politischen Ansichten, soweit er welche hatte, waren entschieden die der Absterbe-Partei; warum soll es in einer Transmatgesellschaft, in der nationale Grenzen überholt waren, überhaupt eine formale Regierung geben? Sollen die Gesetzgeber sich selbst abschaffen! Man lasse das Naturrecht herrschen! Aber er wußte, daß das Absterben der Staaten, das die Absterbe-Partei predigte, nie erfolgen würde. Der Beweis hierfür war Senator Henry Fearon. Er war ein Widerspruch in sich selbst; als Mitglied der Antiregierungspartei diente er der Regierung und kämpfte bei jeder Wahl darum, seinen Sitz zu behalten. Welchen Sinn hat es da, Senator, für das Absterben des Staates einzutreten?
Fearon lobte den Fleiß der Androiden überschwenglich. Watchmans Ärger wuchs. Es wurde nicht gearbeitet, während sie hier oben waren; er wagte es nicht, Glasblöcke hochziehen zu lassen, wenn sich Besucher auf dem Baugelände befanden. Und er hatte einen Zeitplan einzuhalten. Zu seiner Erleichterung gab Krug bald das Zeichen zum Abstieg; der zunehmende Wind schien Quenelle zu beunruhigen. Als sie unten ankamen, führte Watchman sie zum Hauptkontrollzentrum und lud sie ein, zuzuschauen, während er die Leitung der Operationen übernahm. Er glitt in den Steuersitz. Als er den stumpfnasigen Endstöpsel des Computers in die Steckdose an seinem linken Vorderarm schob, sah der Androide, daß sich die Lippen Leon Spauldings in einem unbestimmten Ausdruck zusammenzogen. War es Verachtung, Neid oder gönnerhafter Spott? Trotz seiner Routine im Umgang mit Menschen konnte Watchman solche dunklen Blicke nicht mit Sicherheit deuten. Doch da begannen mit dem Klicken des Kontakts die Impulse des Computers in sein Hirn zu fließen, und er vergaß Spaulding.
Es war, als hätte er tausend Augen. Er sah alles, was auf der Baustelle und in einem Umkreis von vielen Kilometern geschah. Er war in totaler Kommunikation mit dem Computer, benutzte alle seine Sensoren, Abtaster und Speicher. Warum sich die langwierige Arbeit machen, einen Computer zu füttern, wenn es möglich war, einen Androiden zu entwerfen, der fähig war, Teil eines Computers zu werden?
Der Datenstrom war begleitet von einem anschwellenden Hochgefühl.
Instandhaltungstabellen. Arbeitsflußdiagramme. Arbeitskoordinationssysteme. Gefrierstufen. Energieschaltungen. Der Turm war ein Gobelin von unendlich vielen Details, und er war der Meister im Weben. Alles floß durch ihn; er genehmigte, er verwarf, er änderte, er stornierte. War die Wirkung des Sex etwas Ähnliches? Dieses Prickeln des Lebendigseins in jedem Nerv, dieses Gefühl des Sichausdehnens bis zu den Grenzen des Selbst, des Absorbierens einer Lawine von Reizen? Watchman wünschte, er wüßte es. Er ließ Aufzüge steigen und sinken, bestellte die Glasblöcke für die nächste Woche, Glühfäden für die Tachyonstrahlexperten, kümmerte sich um die Verpflegung für den nächsten Tag, unterhielt eine laufende Stabilitätskontrolle des Bauwerks, lieferte Krugs Finanzabteilung Kostendaten, überwachte die Bodentemperatur in Fünfzigzentimeterabstufungen bis zu einer Tiefe von zweitausend Metern, vermittelte Hunderte von Telefongesprächen pro Sekunde und beglückwünschte sich ob der Geschicklichkeit, mit der er das alles erledigte. Er wußte, kein Mensch könnte das bewältigen, selbst wenn es den Menschen möglich wäre, sich direkt in einen Computer einzuschalten. Er besaß die Fertigkeiten einer Maschine und die Vielseitigkeit eines Menschen und war, abgesehen von dem allerdings schwerwiegenden Umstand, daß er nicht in der Lage war, sich selbst zu reproduzieren, in vielfacher Hinsicht beiden Klassen überlegen, und daher…
Der rote Pfeil eines Alarms durchschoß sein Bewußtsein.
Unfall auf der Baustelle. Androidenblut floß auf den gefrorenen Grund.
Eine Gedankenschaltung brachte ihm das Geschehen in Nahsicht. Ein Aufzug an der Nordseite hatte versagt und war abgestürzt. Ein Glasblock war aus neunzig Meter Höhe herabgefallen. Er lag leicht schräg, etwa einen Meter tief im Boden vergraben, knapp aus dem Boden herausragend. Ein Sprung verlief durch seine ganze Dicke. Beine ragten auf der dem Turm zugewandten Seite heraus. Einige Meter entfernt lag ein verletzter Androide, der sich vor Schmerzen wand. Drei Bulldozer eilten zur Unfallstelle; ein vierter war bereits eingetroffen und schob eben seine Stahlkrallen unter den schweren Block.
Watchman löste den Computerkontakt, erschauerte im ersten Moment unter dem Schmerz der Trennung von dem Datenfluß. Ein Wandschirm über seinem Kopf zeigte die Unfallstelle in aller Deutlichkeit. Clarissa Krug hatte sich abgewandt, den Kopf gegen die Brust ihres Mannes gelehnt; Manuel sah blaß aus, sein Vater gereizt. Die ändern Besucher schienen mehr verblüfft als verwirrt zu sein. Watchman betrachtete das eisige Gesicht Leon Spauldings. Spaulding war ein kleiner, hagerer, fast fleischloser Mann. In der seltsamen Klarheit seines Schocks nahm Watchman die weit auseinanderstehenden Haare des bürstenartigen, schwarzen Schnurrbarts des Ektogenen wahr.
»Koordinationsfehler«, erklärte Watchman trocken. »Der Computer scheint eine Streßfunktion falsch gelesen und einen Block fallen gelassen zu haben.«
»Sie haben doch den Computer überbeansprucht in diesem Augenblick?« fragte Spaulding. »Tadel, wem Tadel gebührt.«
Der Android ging auf dieses Spiel nicht ein. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Es hat Verletzte gegeben und wahrscheinlich auch Tote. Ich muß gehen.«
Er eilte zur Türe.
»… unentschuldbare Nachlässigkeit…«, murmelte Spaulding.
Watchman ging hinaus. Während er zur Unfallstelle lief, begann er zu beten.