Nachdem er seinen Gästen den Stand der Arbeiten am Turm gezeigt hatte, lud er sie zum Mittagessen im Nemoclub ein, wo eine ganze Suite ständig für ihn bereit gehalten wurde. Der Club war eine von Krugs kleineren Unternehmen; er hatte ihn vor einem Dutzend Jahren gebaut, und eine Zeitlang war er der vornehmste Treffpunkt der Erde gewesen. Reservierungen mußten sechs Monate im voraus gebucht werden. In der Challenger Tiefe, zehntausend Meter unter dem westlichen Pazifik gelegen, bestand er aus fünfzehn Druckausgleichskammern; durch deren Wände, die aus dem gleichen Glas bestanden wie der Turm, man die seltsamen Bewohner des dunklen Abgrunds beobachten konnte.
Krugs Tischgenossen waren Senator Henry Fearon und sein Bruder Lou, der Anwalt von Fearon & Doheny, Franz Giudice von der Europäischen Transmatgesellschaft, Leon Spaulding und Mordecai Salah al-Din, der Sprecher des Kongresses. Um den Nemoclub zu erreichen, waren sie per Transmat zu der Insel Yap in der Karolinengruppe Mikronesiens gereist, wo sie an Bord eines Tauchschiffs gegangen waren, wie sie bei der Erforschung des Jupiter und des Saturn verwendet wurden. Die Dichte des Mediums machte Transmatreisen unter Wasser möglich. Das Tauchschiff widerstand dem immensen Wasserdruck, und mit einer stetigen Geschwindigkeit von 750 Meter in der Minute sank es in die Tiefe des Ozeans und legte an der Schleuse des Nemoclubs an.
Flutlichter erhellten den Abgrund. Die Bewohner des Abgrunds kamen ganz nah heran an die Glaswände des Clubs: zerbrechliche, zarte, muskellose Fische mit weichen, schlaffen Körpern, deren Gewebe unter einem Druck von zehn oder zwölf Tonnen pro Quadratzentimeter vom Wasser durchdrungen waren. Manche unter ihnen strahlten mit Leuchtorganen, die aus ihren Flanken wuchsen, zwischen ihren Augen saßen oder baumelnd aus ihrer Stirn ragten, ein kaltes phosphoreszierendes Licht aus. Die Wellenlängen der Flutlichter waren sorgfältig abgestimmt worden, um die Leuchtkraft der Fische nicht zu beeinträchtigen, damit die kleinen, funkelnden Lampen trotz der künstlichen Helle sichtbar blieben. Justin Maledetto, der Architekt des Turms, hatte auch den Club gebaut, und Maledetto war ein Meister in solchen Kleinigkeiten. Ganz nahe an die Mauer kamen die bizarren kleinen Ungeheuer, schwarz und braun und rot und violett. Viele von ihnen hatten ausgehängte Unterkiefer, so daß ihre Mäuler sich bis zur Brust öffneten und Feinde verschlingen konnten, die fast so groß waren wie sie selbst. Die Gäste des Clubs speisten angesichts von Miniaturungeheuern, die geheimnisvoll leuchteten, drohende Zähne in klaffenden Mäulern zeigten, seltsame Anhängsel hinter sich herschleppten, mit Augen starrten, die wie Kugeln hervortraten oder auf Röhren saßen. Man brauchte nicht zu fernen Welten zu reisen, um groteske Tiere zu sehen. Alptraumgeschöpfe gab es auch hier. Lange, schlangenähnliche Fische mit gekrümmten Zähnen, die so lang waren, daß die Mäuler sich nie schließen konnten, Fische, die nur Kinnbacken zu sein und keinen Leib zu haben schienen, andere, die nur Schwanz waren und keinen Kopf hatten, Anglerfische mit sich windenden und tanzenden Fühlern, die sich gelb, blau oder grün verfärbten, wunderliche Gebilde tausendfältiger Art, und kein Fisch von weniger als einem halben Meter Länge: ein bizarres Schauspiel von einzigartiger Pracht.
Krug bestellte eine einfache Mahlzeit: Cocktail, Algensuppe, Steak, australischen Rotwein. Er war kein Gourmet. Der Club bot alle Arten von Delikatessen, doch Krug machte nie Gebrauch von der reichen Auswahl. Seine Gäste hingegen zeigten keine Hemmungen; sie bestellten schwedische Austern, französische Krabben, ungeborene Tintenfische, Kalbsfilets, Schlangeneier, Antilopenbrust, Wolfsmilchknospen, Mantaspitzen, gebackene Zikadenherzen, und alles wurde hinuntergespült mit den besten Weinen der Erde. Die Kellner schienen entzückt von ihrem Appetit. Alle Kellner des Clubs waren Alphas; es war ungewöhnlich, Alphas mit Arbeiten zu beschäftigen, die als Dienstleistungen galten. Doch dies war ein ungewöhnlicher Ort, und kein Belegschaftsangehöriger des Nemoclubs schien verbittert darüber, daß er eine normalerweise den Betas oder Gammas vorbehaltene Arbeit verrichten mußte.
Doch die Kellner schienen nicht ganz zufrieden zu sein mit ihrem Platz im Leben. Als die Vorspeisen serviert waren, sagte Senator Fearon zu Krug: »Haben Sie das AGP-Abzeichen auf dem Rockaufschlag Ihres Kellners gesehen?«
»Scherzen Sie?«
»Ein sehr kleines. Man muß scharf hinsehen, um es zu entdecken.«
Krug sah zu Spaulding hinüber. »Wenn wir gehen, sprechen Sie darüber mit dem Kapitän. Ich wünsche keine Politik hier!«
»Erst recht keine revolutionäre Politik«, sagte Franz Giudice und lachte. Der Transmatchef, lang und eckig, war bekannt für seinen Zynismus. Obwohl über neunzig, kleidete er sich wie ein Mann, der halb so alt war, trug Spiegelplatten und anderen Schmuck. »Wir hüten uns besser vor diesem Kellner. Da wir zwei Kongreßmitglieder am Tisch haben, mischt er vielleicht Propaganda in unsere Gerichte, und wir alle verlassen bekehrt das Lokal.«
»Glauben Sie wirklich, die AGP ist eine Bedrohung?« fragte Lou Fearon. »Sie wissen, ich habe viel mit diesem Siegfried Fileclerk zu tun gehabt, während ich den Fall der am Turm getöteten Alphafrau behandelte.« Er nickte Spaulding zu, der ein finsteres Gesicht machte. »Ich habe den Eindruck bekommen, daß Fileclerk und die ganze AGP-Bewegung vollkommen harmlos sind«, sagte der Anwalt.
»Eine Minderheitenbewegung«, bemerkte Senator Fearon. »Sie hat nicht einmal die Unterstützung der Masse der Androiden.«
Leon Spaulding nickte. Der Ektogene sagte: »Thor Watchman ließ einige abfällige Worte über Fileclerk und seine Partei fallen. Watchman scheint der AGP keinerlei Wert beizumessen.«
»Thor ist ein ungewöhnlich intelligenter und fähiger Android«, sagte Krug.
»Ich habe es aber ernst gemeint«, erklärte Giudice. »Sie können sich über die AGP lustig machen, so viel Sie wollen, aber ich finde ihre Ziele wirklich revolutionär, und wenn sie Rückhalt gewinnt, wird sie…«
»Vorsicht«, sagte Krug. Ihr Alpha-Kellner war mit einer frischen Flasche Wein zurückgekehrt. Die Männer am Tisch schwiegen, während der Alpha einschenkte. Er ging wieder hinaus und schloß die Luke hinter sich.
Mordecai Salah al-Din, der Sprecher des Kongresses, sagte: »Ich habe mindestens fünf Millionen Petitionen von der AGP erhalten. Ich habe den Führern der Partei drei Audienzen gewährt. Und ich muß sagen, sie sind aufrichtige Leute, die es wert sind, ernst genommen zu werden. Ich möchte auch sagen, obwohl ich keinen Wert darauf lege, zitiert zu werden, daß ich mit einigen ihrer Ziele sympathisiere.«
»Würden Sie mir das bitte näher erklären?« sagte Spaulding in scharfem Ton.
»Gewiß. Ich glaube, die Zulassung einer Delegation von Alphas in den Kongreß ist wünschenswert; es wird wahrscheinlich auch innerhalb der nächsten Dekade erfolgen. Ich glaube, das Verkaufen von Alphas ist unwürdig und müßte für illegal erklärt werden. Ich denke; das wird in fünfzehn oder zwanzig Jahren geschehen. Ich bin überzeugt, wir werden den Alphas noch vor 2250 volle Bürgerrechte zuerkennen, den Betas am Ende dieses Jahrhunderts und den Gammas nicht lange danach.«
»Ein Revolutionär«, rief Franz Giudice verwundert aus. »Der Sprecher des Kongresses ist ein Revolutionär! Hört! Hört!«
»Eher ein Visionär«, lachte Senator Fearon. »Ein Mann von tiefer Einsicht und starkem Mitgefühl… und wie immer seiner Zeit etwas voraus.«
Spaulding schüttelte den Kopf. »Alphas im Kongreß. Vielleicht ja. Als ein Sicherheitsventil. Um sie unter Kontrolle zu halten. Ein Knochen, den man ihnen hinwirft, um sie zu beruhigen. Aber der Rest? Nein. Nein! Mr. Salah al-Din, wir sollten nicht vergessen, daß Androiden nur Dinge sind, das Ergebnis chemogenetischer Forschung, produziert in einer Fabrik, auf den Markt gebracht von Krug Enterprises, um der Menschheit zu dienen…«
»Nicht so laut!« zischte Krug. »Sie erregen sich.«
Lou Fearon sagte: »Vielleicht hat der Sprecher recht, Leon. Ohne Rücksicht darauf, wie sie entstanden sind, sind sie menschlicher, als Sie willens sind, zuzugeben. Und da wir schrittweise alle willkürlichen Grenzen von Gesetz und Brauchtum lockern, da die Ideale der Absterbe Partei, wie jedermann zugeben muß, sich immer mehr durchsetzen, sollten wir meiner Meinung nach die Androiden besser behandeln. Zumindest die Alphas. Wir haben es nicht nötig, sie zu unterdrücken.«
»Was sagen Sie dazu, Simeon?« wandte sich Franz Giudice an Krug. »Schließlich sind sie doch Ihre Kinder. Als Sie sich entschlossen, die ersten Androiden zu fabrizieren, haben Sie da jemals daran gedacht, daß sie die Bürgerrechte fordern würden, oder glaubten Sie…«
»Leon hat es mit den richtigen Worten ausgedrückt«, sagte Krug. »Wie war es? Dinge. Fabrizierte Dinge. Ich baute eine bessere Art von Roboter. Ich baute keine Menschen.«
»Die Grenzlinie zwischen Mensch und Android ist recht vage«, sagte Senator Fearon. »Da die Androiden uns genetisch gleich sind, ist die Tatsache, daß sie synthetisch sind…«
Krug unterbrach ihn: »In einer meiner Fabriken kann ich Ihnen eine perfekte Kopie der Mona Lisa herstellen, so daß es mehrmonatiger Laboratoriumstests bedarf, um zu beweisen, daß es nicht das Original ist. Das Original kam aus dem Atelier Leonardos. Die Kopie kam aus Krugs Fabrik. Ich würde eine Milliarde zahlen für das Original. Für die Kopie keinen Cent.«
»Doch Sie geben zu, daß Thor Watchman eine ungewöhnlich fähige und begabte Person ist«, sagte Lou Fearon, »und Sie übertragen ihm große Verantwortung. Ich habe gehört, Sie vertrauen ihm mehr als allen anderen Männern in Ihrer Organisation. Dennoch würden Sie nicht erlauben, daß Thor wählt? Sie würden Thor keine Chance geben zu protestieren, wenn Sie sich entschließen, ihn als Kellner hier in diesem Club zu beschäftigen? Sind Sie der Meinung, das Gesetz sollte Ihnen das Recht geben, Thor zu vernichten, wenn Ihnen die Laune danach ist?«
»Ich habe Thor gemacht«, erwiderte Krug in festem Ton. »Er ist die beste Maschine, die ich habe. Ich liebe und bewundere ihn, so wie ich jede gute Maschine liebe und bewundere. Aber ich besitze Thor. Thor ist kein Mensch. Er ist nur eine geschickte Imitation eines Menschen, eine makellose Imitation. Und wenn ich so verschwenderisch und verrückt sein wollte, Thor zu zerstören, nun, dann würde ich ihn zerstören.« Krugs Hand begann zu zittern. Er starrte auf sie, als wolle er ihr befehlen, daß sie sich beruhigte, doch das Zittern verstärkte sich, und der Inhalt eines vollen Weinglases ergoß sich auf den Tisch. Mit steinernem Gesicht sagte Krug: »Ja, ihn zerstören! Als ich die Androiden schuf, hatte ich nie etwas anderes im Sinn, als Werkzeug herzustellen, Diener des Menschen, geschickte Maschinen.«
Sensoren in den Diensträumen des Nemoclubs zeigten das Verschütten des Weines an. Der Kellner trat ein und wischte ihn auf. Draußen vor dem Fenster tanzte ein Schwarm riesiger transparenter Krustentiere.
Als der Alpha hinausgegangen war, sagte Senator Fearon zu Krug: »Ich wußte nicht, daß Sie so über die Androidengleichheit denken. Sie haben es nie ausgesprochen.«
»Ich bin nie gefragt worden.«
»Würden Sie gegen die AGP stimmen«, fragte Salah al-Din, »wenn die Angelegenheit vor den Kongreß käme?«
Krug zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ich halte mich aus der Politik heraus. Ich bin Fabrikant, Geschäftsmann, Unternehmer. Warum soll ich mich in theoretische Kontroversen mischen?«
»Wenn den Androiden die Bürgerrechte verliehen würden«, sagte Leon Spaulding, »hätte das vielleicht Rückwirkung auf den Krug-Konzern. Ich meine, wenn Sie wirkliche menschliche Wesen produzieren, fallen Sie unter die Bevölkerungskontrollgesetze, die besagen…«
»Genau«, unterbrach ihn Krug. »Es wird nicht geschehen. Ich fabriziere die Androiden. Ich kenne sie. Es gibt eine kleine Gruppe von Unzufriedenen. Ja. Sie sind zu intelligent – zu ihrem eigenen Schaden. Sie glauben, überall herrscht wieder Sklaverei. Doch das stimmt nicht. Die andern wissen es. Sie sind unzufrieden. Thor Watchman ist zufrieden. Warum unterstützen nicht alle Alphas die AGP? Sie sind gegen sie. Und warum? Weil sie glauben, daß es eine idiotische Sache ist. Sie werden gut behandelt. Dieses Gerede vom Verkauf von Alphas gegen ihren Willen, von ihrer Vernichtung nach Lust und Laune, das alles ist hur Theorie. Keiner verkauft einen guten Alpha, und niemand tötet Androiden zum Spaß, ebensowenig wie Menschen ihre eigenen Häuser zum Spaß zerstören. Es besteht kein Bedürfnis für Androidenrechte. Die meisten Alphas begreifen das. Die Betas kümmern sich nicht darum. Die Gammas verstehen es nicht. Sie sehen also, meine Herren, das Thema ergibt ein gutes Tischgespräch, nicht mehr. Die AGP wird wieder verschwinden. Meinen Respekt, Mr. Salah al-Din vor Ihrer Gutherzigkeit, aber Ihre Seelengüte führt Sie in die Irre. Sie werden keine Alphas in Ihrem Kongreß haben.«
Krugs lange Rede hatte ihn durstig gemacht. Er streckte die Hand nach seinem Weinglas aus. Wieder verkrampften sich seine Muskeln, wieder stieß er das Glas um, wieder eilte ein wachsamer Alpha herbei, um den vergossenen Wein aufzuwischen. Hinter der dicken Glasmauer des Nemoclubs kreuzte ein dunkelroter Fisch von einem Meter Länge mit einem riesigen Maul und einem spitzen schmalen Schwanz durch den Schwarm der Krustentiere, verschlang sie mit gierigem Appetit.