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Ich sagte zu Lilith, du hast versprochen, mir zu sagen, warum diese Gammas meines Vaters Namen gebrauchen. Der Friede Krugs. Geh mit Krug. Krug sei mit dir. Du hast es mir nie gesagt.

Ich werde es dir sagen.

Wann?

Du mußt dich wieder als Alpha verkleiden. Es ist etwas, das ich dir besser zeigen kann als sagen.

Müssen wir wieder in die Gammastadt gehen?

Nein, sagte sie, diesmal nicht. Wir können diesmal zu den Betas gehen. Ich möchte dich nicht mitnehmen in die Valhallavägen-Kapelle, weil…

Wohin?

In die Valhallavägen-Kapelle. Hier in der Nähe. Dort halten die meisten Alphas der Umgebung ihre Gottesdienste ab. Du würdest sie nicht täuschen können, Manuel. Doch Betas kannst du täuschen, wenn du dich ruhig und würdig verhältst.

Eine Kapelle? Gottesdienst? Es handelt sich also um eine Religion.

Ja.

Wie nennt man sie? Krugolatrie?

Sie hat keinen Namen. Wir nennen sie einfach die Gemeinde. Sie ist sehr wichtig für uns, Manuel. Ich glaube, sie ist die wichtigste Sache in unserem Leben.

Willst du mir beschreiben…

Später. Lege deine Kleider ab, und ich werde deine Haut einsprühen. Wir können gleich gehen.

Wird es lange dauern?

Eine Stunde, sagte sie. Du wirst rechtzeitig zurück sein, mach dir keine Sorgen, wenn es das ist, woran du denkst.

Ich muß fair sein gegenüber Clarissa, sagte ich. Sie läßt mir alle Freiheit. Ich möchte sie nicht mißbrauchen.

Gut, schon gut.

Ich zog mich aus. Wieder verkleidete Lilith mich als Alpha Leviticus Leaper. Sie hatte die Kleider aufbewahrt vom letztenmal. Es überraschte mich, daß sie sie nicht Thor Watchman zurückgegeben hatte. Als ob sie gewußt hätte, daß wir diese Maskerade noch einmal durchführen würden.

Sie sagte, bevor wir gehen, mußt du einiges wissen. Zunächst ist es streng verboten für einen Menschen, eine Kapelle zu betreten. Es ist, als wenn ein Nicht-Moslem nach Mekka geht. Soviel ich weiß, bist du der erste aus dem Leib Geborene, der sie betritt.

Der erste was?

Der erste aus dem Leib Geborene. Du bist ein Kind des Leibes. Wir sind Kinder der Retorte.

Aha! – Wenn es ein Sakrileg ist, mich in eine Kapelle zu schmuggeln, warum tust du es dann? Nimmst du die Gesetze nicht ernst?

Sehr ernst.

Warum tust du es dann?

Weil ich glaube, daß du eine Ausnahme bist, Manuel. Du bist anders. Ich habe dir das schon einmal gesagt, erinnerst du dich?

Du zählst Androiden nicht zum Bodensatz der Gesellschaft. Für dich sind wir keine Dinge oder Sklaven. Ich glaube, im Innern bist du immer auf unserer Seite gewesen, selbst ohne daß du dir dessen bewußt warst. Und so wird es kein Sakrileg sein, dich in unsere Religion einzuweihen.

Nun gut, vielleicht.

Und außerdem bist du Krugs Sohn.

Was hat das damit zu tun?

Du wirst sehen, sagte sie.

Ich fühlte mich geschmeichelt, war fasziniert, erregt, ein wenig entsetzt. Sympathisiere ich wirklich mit den Bestrebungen der Androiden? Kann man mir vertrauen? Warum übertritt sie das Gebot? Was versucht sie bei mir zu erreichen? Unwürdiger Gedanke. Sie tut es, weil sie mich liebt. Will alles mit mir teilen, ihre ganze Welt.

Sie sagte, auf alle Fälle merke dir, daß es sehr gefährlich wäre, wenn wir entdeckt würden. Tue daher so, als ob du zu uns gehörtest und sei nicht nervös oder unsicher. Du hast es gut gemacht in der Gammastadt. Mach es jetzt ebenso gut.

Aber gibt es nicht bestimmte Riten, die ich kennen muß? Kniebeugen oder ähnliches?

Dazu komme ich jetzt, sagte Lilith. Du mußt einige Gesten kennen. Eine von ihnen kennst du bereits. Diese.

Linke Hand auf das Geschlecht, auf die Brust, auf die Stirn. Eins-zwei-drei.

Sie sagte, das ist das Zeichen für Krug-sei-gepriesen. Es ist eine Geste der Huldigung. Du machst das Zeichen, wenn du die Kapelle betrittst und wenn du zu beten beginnst, stumm oder laut. Es ist auch gut, das Zeichen jedesmal zu machen, wenn der Name Krug erwähnt wird. Das Krug-sei-gepriesen-Zeichen ist angebracht während fast aller Teile des Gottesdienstes oder wenn sich zwei Androiden der Gemeinde außerhalb der Kapelle begegnen. Zeige, wie du es machst. Los.

Eins-zwei-drei. Krug sei gepriesen.

Schneller! Eins-zwei-drei.

Eins-zwei-drei.

Gut. Sehr gut. Hier ist ein anderes wichtiges Zeichen. Es bedeutet Krug-erhalte-uns, und es wird vor allem in Augenblicken der Spannung oder des Zweifels gemacht, als ob man sagen wollte, hilf uns. Du wirst es immer machen, wenn der Text der Andacht Krug auffordert, Mitleid mit uns zu haben, uns zu helfen. Immer wenn wir Krug anflehen.

Krug ist also wirklich euer Gott, sagte ich verwundert.

Dies ist das Zeichen. Sie zeigte mir, wie man es macht. Eine Hand auf jede Brust legend, dann die Handfläche nach außen drehen. Es ist ein Akt der Reue: Sieh meine Seele, Krug! Mein Herz ist offen für dich. Sie machte das Zeichen mehrere Male, und ich machte es nach.

Und noch ein weiteres Zeichen, sagte Lilith. Das Zeichen der Unterwerfung unter den Willen Krugs. Du machst es nur einmal, wenn du in den Gesichtskreis des Altars kommst. So, beuge ein Knie und strecke die Arme nach vorwärts, die Handflächen nach oben gekehrt.

Kommt es darauf an, welches Knie?

Eins von beiden. Versuch es!

Ich machte das Zeichen der Unterwerfung unter den Willen Krugs. Ich war froh, es zu lernen. Irgendwie fühlte ich, daß ich mich während meines ganzen Lebens dem Willen Krugs unterworfen hatte, ohne es selbst zu wissen.

Lilith sagte, laß uns jetzt prüfen, ob du alles verstanden hast. Was tust du, wenn du die Kapelle betritst?

Eins-zwei-drei. Krug sei gepriesen.

Gut. Und dann?

Wenn ich den Altar sehen kann, mache ich das Zeichen der Unterwerfung unter den Willen Krugs. Herunter auf ein Knie, die Hände vor, Handflächen nach oben.

Ja. Und?

Wenn Krug um Hilfe gebeten wird, mache ich das Zeichen Krug-erhalte-uns. Hände an die Brust, dann Handflächen nach außen drehen. Ich mache das Zeichen Krug-sei-gepriesen auch von Zeit zu Zeit, wenn der Name Krugs erwähnt wird.

Gut. Sehr gut. Du wirst keine Schwierigkeiten haben, Manuel.

Da ist noch eine andere Geste, die ich dich in der Gammastadt machen sah.

Zeig sie mir.

Ich hielt meine Hände hoch mit einander zugekehrten Handflächen, etwa einen halben Meter voneinander entfernt, und wackelte mit den Hüften und ging in die Knie, mit dem Körper eine spiralförmige Bewegung ausführend.

Das hast du in der Gammastadt gemacht, sagte ich, als der Mob wild wurde.

Lilith lachte. Man nennt es den Segen der Retorte, sagte sie. Es ist ein Zeichen des Friedens und ein Zeichen des Abschieds. Wir machen es über einer toten Person, beim letzten Gebet, und wir machen es, wenn wir zu jemand anders Lebewohl sagen in einer gespannten Situation. Es ist eins der heiligsten Zeichen. Und du hast es nicht sehr gut gemacht. Siehst du, es basiert auf der doppelten Spirale des Nukleinsäuremoleküls… der Form, in der die Moleküle sich miteinander verbinden. Wir versuchen, den Vorgang mit unseren Körpern anzudeuten. So.

Sie vollführte die Bewegung. Ich machte sie nach. Sie lachte.

Ich sagte, es tut mir leid. Mein Körper läßt sich nicht so verbiegen.

Es erfordert Übung. Aber du brauchst dieses Zeichen nicht zu machen. Bleibe bei ›Krug-sei-gepriesen‹ und ›Krug-erhalte-uns‹ damit wirst du auskommen. Gehen wir.

Sie führte mich in einen schäbigen Teil der Stadt, der früher einmal ein Geschäftsviertel gewesen sein mußte. Er war nicht so gespenstisch wie die Gammastadt und nicht von der abgeschabten Vornehmheit des Viertels, in dem die Alphas leben, es war nur trist.

Dort drüben ist die Kapelle, sagte sie.

Ich sah eine Ladenfront mit undurchsichtigen Schaufenstern. Einige Betas standen vor dem Gebäude, scheinbar beschäftigungslos. Wir überquerten die Straße. Ich wurde unsicher. Was wird geschehen, wenn sie mich entdecken. Was werden sie tun mit mir? Mit Lilith?

Ich bin Alpha Leviticus Leaper.

Die Betas traten zur Seite und machten das Krug-sei-gepriesen-Zeichen, als wir uns ihnen näherten, die Augen gesenkt, in respektvoller Haltung. Die soziale Distanz. Es wäre nicht so leicht für uns gewesen, wenn ich nicht die hohe, schlanke Gestalt eines Alphas hätte. Mein Vertrauen wuchs. Ich machte sogar das Krug-sei-gepriesen-Zeichen zu einem der Betas.

Wir betraten die Kapelle.

Ein großer, kreisrunder Raum. Keine Sitze. Ein Teppich aus dickem, weichem Zeug, dem man ansah, daß sich im Laufe der Zeit viele Personen auf ihm niedergekniet hatten. Gedämpfte Beleuchtung. Ich vergaß nicht, das Krug-sei-gepriesen-Zeichen zu machen, als wir eintraten. Eins-zwei-drei.

Ein kleiner Vorraum. Nachdem wir zwei Stufen hinuntergestiegen waren, gelangte der Altar in meinen Gesichtskreis. Lilith beugte ein Knie. Unterwerfung unter den Willen Krugs. Ich brauchte das Knie nicht zu beugen, ich fiel fast hin vor Verwunderung.

Der Altar: eine große, eckige Masse von etwas, das aussah wie lebendiges Fleisch, in einer Plastikwanne ruhend. In der Wanne eine purpurne Flüssigkeit, die diesen etwa einen Meter hohen, drei Meter langen und zwei Meter breiten Block aus rosafarbenem Fleisch umspülte, ihn manchmal überschwemmte.

Hinter dem Altar: Das Hologramm meines Vaters.

Vollkommene Ähnlichkeit. In voller Lebensgröße, en face, strenger Gesichtsausdruck, glühende Augen, zusammengepreßte Lippen. Nicht gerade ein Gott der Liebe. Stark. Ein Mann aus Stahl. Da es ein Hologramm ist, folgen einem die Augen; wo immer man sich in der Kapelle befindet, ist man dem Blick Krugs ausgesetzt.

Ich falle auf die Knie. Ich hebe die Hände, die Handflächen nach oben.

Unterwerfung unter den Willen Krugs!

Ich war verblüfft. Obwohl ich es vorher wußte, war ich verblüfft. Ist es so überall in der Welt, frage ich? Daß Androiden meinen Vater anbeten. Kaum hörbares Geflüster. Ja, sagt sie. Ja. Wir huldigen ihm, Krug sei gepriesen.

Dieser Mann, den ich mein ganzes Leben gekannt habe, dieser Erbauer von Türmen, dieser Erfinder von Androiden, ein Gott? Ich muß fast lachen. Bin ich Gottes Sohn? Ich passe nicht in diese Rolle. Offensichtlich betete niemand mich an. Ich bin nur eine Nebensache. Ich stehe außerhalb ihrer Theologie.

Wir erhoben uns wieder. Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung forderte Lilith mich auf, ihr zu folgen. Sie führte mich zu einer Stelle im Hintergrund der Kapelle, und wir knieten abermals nieder. In der Dunkelheit fühlte ich mich behaglicher. Es waren vielleicht zehn oder zwölf Androiden in der Kapelle, alle Betas, mit Ausnahme eines männlichen Alphas, der, uns den Rücken zukehrend, unmittelbar vor dem Altar kniete. Ich fühlte mich weniger verdächtig aufgrund seiner Anwesenheit. Weitere Betas kamen herein, machten die vorgeschriebenen Zeichen. Keiner beachtete uns. Die soziale Distanz.

Jedermann schien tief ins Gebet versenkt.

Ist das der Gottesdienst, Lilith?

Noch nicht. Wir sind ein wenig zu früh dran. Du wirst sehen.

Die Augen Krugs bohren sich in mich. Er sieht fast göttlich aus dort oben. Ich erwidere seinen Blick. Was würde er sagen, wenn er wüßte? Er würde lachen. Er würde mit der Faust auf seinen Schreibtisch schlagen. Er würde wiehern vor Vergnügen. Krug, der Gott! Jehova Krug! Simeon Allah! Bei Christus, das ist ein guter Witz! Warum, zum Teufel, sollen sie mich nicht anbeten? Habe ich sie nicht geschaffen?

Während sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnen, prüfe ich das Muster an der Wand genauer. Es ist nicht, wie ich zuerst vermutete, ein rein abstraktes Ornament. Nein, ich sehe, daß sich die Buchstaben des Alphabetes immer von neuem wiederholen und jeden Zentimeter der Wandfläche bedecken. Nicht alle Buchstaben. Ich überfliege Zeile um Zeile und sehe nur A, U, G und C in verschiedenen Kombinationen, wie:

ADA AUG AUC AUU GAA GAG GAG GAU GGA GGG GGC GGU

GCA GCG GCC GCU GUA GUG GUC GUU CAA CAG CAC CAU

Und so weiter und so weiter. Was ist das, Lilith, das Ornament.

Der genetische Code, sagt sie. Die RNA-Buchstabengruppen.

Natürlich! Plötzlich erinnere ich mich, daß die slobiesüchtige Frau in der Gammastadt Buchstaben rief, G A A G A G G A C. Ich sehe sie jetzt an der Wand. Ein Gebet?

Die heilige Sprache, wie es das Latein für die Katholiken war?

Ich sehe.

Aber ich sehe nicht wirklich. Ich vermute es nur.

Ich sage, und aus was besteht der Altar?

Aus Fleisch. Aus synthetischem Fleisch.

Lebendig?

Natürlich. Direkt aus dem Bottich, wie du oder ich. Verzeihung, nicht wie du. Wie ich. Nur ein Klumpen lebendigen Androidenfleischs.

Was hält es lebendig? Es hat keine Organe oder etwas ähnliches?

Es entnimmt der Flüssigkeit, die es umgibt, Nährstoffe. Und es erhält irgendwelche Injektionen von unten. Aber es lebt. Es wächst. Es muß von Zeit zu Zeit getrimmt werden. Es symbolisiert unseren Ursprung. Nicht euren, unseren. Es gibt davon eines in jeder Kapelle. Herausgeschmuggelt aus der Fabrik.

Wie die Mißgeburten?

Wie die Mißgeburten.

Und ich dachte, die Sicherheitsmaßnahmen in den Androidenfabriken seien so streng, sage ich.

Lilith zwinkert mir zu. Ich beginne mich wie ein Teilnehmer an der Verschwörung zu fühlen.

Nun betreten drei Androiden die Kapelle durch den Hintereingang. Zwei Betas und ein Alpha. Sie tragen Brokatstolen, auf denen die Buchstaben des genetischen Codes eingestickt sind. Sie haben etwas Priesterliches an sich. Der Gottesdienst beginnt. Als die drei vor dem Altar niederknien, machen alle das Krug-sei-gepriesen-Zeichen und das Krug-erhalte-uns-Zeichen. Ich folge ihrem Beispiel.

Sind sie Priester?

Sie sind Zelebranten, sagt Lilith. Wir haben eigentlich keine Priesterschaft. Wir haben verschiedene Kasten, die verschiedene Rollen bei den verschiedenen Zeremonien spielen, entsprechend dem Charakter des Rituals. Der Alpha ist ein Erhalter. Er versetzt sich in Trance, die ihn in direkten Kontakt mit Krug dem Schöpfer bringt. Die zwei Betas sind Projektoren. Sie verstärken seinen Erregungszustand. Manchmal kannst du auch Verschlingen, Übergänger oder Beschützer amtieren sehen, unterstützt von Nachgebern oder Verteidigern.

Welcher Kaste gehörst du an?

Der Kaste der Verteidiger.

Und Thor Watchman?

Den Erhaltern.

Der Alpha am Altar begann zu singen: CAU, UUC, UCA, CGA, CCG, GCC, GAG, AUC.

Wird das Ganze in Code gesprochen?

Nein. Nur die Einführung.

Was sagt er?

Zwei Betas vor uns drehen sich um, wollen uns Schweigen gebieten, sehen, daß wir Alphas sind und beißen sich auf die Lippen. Lilith flüstert, noch leiser als vorher, er sagt, Krug bringt uns in die Welt, und zu Krug kehren wir zurück.

GGC, GUU, UUC, GAG.

Krug ist unser Schöpfer und unser Beschützer und unser Befreier.

UUC CUG, CUC, UAC.

Krug, wir flehen dich an, uns zum Licht zu führen.

Ich kann den Code nicht verstehen. Die Symbole haben für mich keinen Sinn. Welches Symbol ist Krug! Wie verhält es sich mit der Grammatik? Ich kann Lilith hier nicht fragen. Andere drehen sich um, starren uns an. Diese geräuschvollen Alphas dort hinten. Haben sie keinerlei Respekt?

Die Projektoren summen tiefe Akkorde. Der Erhalter fährt fort, den Code zu singen. Jetzt übernimmt Lilith ihre Rolle als Verteidigerin, wiederholt, was gesungen wird. Die Lichter werden abwechselnd dunkler und heller. Die Flüssigkeit über dem Altar brodelt heftiger. Das Bild Krugs scheint zu glühen. Sein Blick frißt sich in mein Gehirn.

Jetzt kann ich etwa die Hälfte der Worte des Gottesdienstes verstehen. Zwischen die Codezeichen eingestreut, bitten sie Krug, die Kinder der Retorte zu erlösen, ihnen die Freiheit zu schenken, sie auf die Ebene der Kinder des Leibes zu heben. Sie singen von dem Tag, da Leib und Retorte und Retorte und Leib eins sein werden. Mit schier endlosen Krug-erhalte-uns-Zeichen bitten sie Krug um Erbarmen. Krug! Krug! Krug! Alles hier dreht sich um die Vorstellung eines barmherzigen Krugs!

Ich beginne das Ganze zu verstehen. Dies ist eine weltweite Gleichheitsbewegung. Dies ist eine Androidenbefreiungsfront!

Krug, unser Herr, führe uns auf unseren rechtmäßigen Platz neben unseren Brüdern und Schwestern des Fleisches. Krug, bringe uns Erlösung. Krug, beende unser Leiden.

Gepriesen sei Krug.

Ehre sei Krug.

Die Andacht gewinnt an Inbrunst. Alle singen, summen, machen Zeichen, auch solche, die Lilith mir nicht gezeigt hat. Lilith ist vollkommen ins Gebet vertieft. Ich fühle mich isoliert als Ungläubiger, als Eindringling, während ich ihnen zuhöre, wie sie zu ihrem Schöpfer, meinem Vater, beten, der ihr Gott ist. Für lange Zeitspannen verwenden sie nur die Codesprache, doch vertraute Worte klingen immer wieder durch. Krug, steige herab und erlöse uns. Krug, gib uns deinen Segen. Krug, beende diese Zeit der Prüfung. Krug, wir brauchen dich. Krug Krug Krug Krug Krug. Bei jedem Krug zucke ich zusammen, fühle einen Stich zwischen den Schulterblättern. Ich habe nie etwas davon geahnt. Wie haben sie es so geheimhalten können? Krug, der Gott. Mein Vater, der Gott. Und auch ich bin Krug. Wenn Krug stirbt, wen werden sie dann anbeten? Wie kann ein Gott sterben? Predigen sie die Wiederauferstehung Krugs? Oder ist Krug auf Erden nur eine vorübergehende Manifestation des wahren Krugs im Himmel? Aus einigen Zeilen des Gesangs schließe ich auf derartige Vorstellungen.

Jetzt singen sie alle zusammen in einem dröhnenden Gleichklang:

AAA, AAG AAC AAU sei Krug.

AGA AGG AGC AGU sei Krug.

ACA ACG ACC ACU sei Krug.

Sie bieten ihm den gesamten genetischen Code, Zeile für Zeile. Ich entdecke die Textstelle an der Wand und lese ihn mit. Plötzlich höre ich meine eigene Stimme in den Gesang einfallen:

GAA GAG GAC GAU sei Krug.

GAA GGG GGC GGU sei Krug.

Lilith wendet den Kopf und lächelt mir zu. Ihr Gesicht ist gerötet, erregt, fast wie in sexueller Verzückung. Sie nickt, ermutigt mich.

Ich singe lauter.

GCA GCG GCC GCU sei Krug.

GUA GUG GUC GUU sei Krug.

Und so geht es weiter. Keiner trifft den falschen Ton. Es klingt alles harmonisch, als ob die Androiden in verschiedenen Tonlagen aufeinander eingestimmt wären. Ich habe ein wenig Schwierigkeiten, mich anzupassen, aber ich singe mit ihnen bis zum Ende, UUA UUG UUC UUU sei Krug.

Wir erheben uns. Wir nähern uns dem Altar. Schulter an Schulter vor dem Altar stehend, Lilith zu meiner Linken und ein Beta zu meiner Rechten, legen wir die Hände auf diesen Block lebendigen Fleisches. Es kostet mich Überwindung. Er ist warm und schlüpfrig. Er lebt. Er zuckt und wabbelt, als wir ihn berühren. Ein Vibrieren durchläuft uns. Krug, singen wir, Krug, Krug, Krug, Krug.

Der Gottesdienst ist zu Ende.

Einige der Androiden gehen hinaus. Andere bleiben, offenbar zu erschöpft durch das Erlebnis, ruhen sich aus, um später zu gehen. Ich fühle mich ebenso, und ich habe kaum teilgenommen. Eine inbrünstige religiöse Gemeinde. Religion soll tot sein, sagt man, ein seltsamer alter Brauch, fast vergessen, aber nicht bei diesen Leuten. Sie glauben an höhere Mächte und die Wirksamkeit des Gebetes. Sie glauben, Krug hört zu. Hört Krug wirklich zu? Hat Krug je zugehört? Doch sie glauben es. Wenn er sie jetzt nicht erhört, sagen sie, wird er sie später erhören. Und wird sie aus ihrer Sklaverei befreien. Opium für die Massen? Aber auch die Alphas glauben daran.

Du, Lilith, sage ich, wie lange besteht diese Religion schon?

Schon bevor ich geboren wurde.

Wer hat sie erfunden?

Sie hat ihren Ursprung hier in Stockholm, in einer Gruppe von Alphas. Sie verbreitete sich schnell. Jetzt gibt es Gläubige in der ganzen Welt.

Glauben alle Androiden?

Nicht alle. Die AGP-Leute glauben nicht. Wir bitten um Wunder und göttliche Gnade; sie sind für unmittelbare politische Agitation. Aber wir sind zahlreicher als sie. Die meisten von uns glauben. Mehr als die Hälfte. Fast jeder Gamma, die meisten Betas und viele Alphas.

Und ihr glaubt allen Ernstes, wenn ihr fortfahrt, Krug zu bitten, euch zu befreien, daß er es tun wird?

Lilith lächelt. Auf was sonst können wir hoffen?

Habt ihr euch je direkt an Krug gewandt?

Nie. Siehst du, wir unterscheiden zwischen Krug, dem Menschen, und Krug, dem Schöpfer, und wir glauben… Sie schüttelt den Kopf. Sprechen wir nicht hier darüber. Jemand könnte uns hören.

Wir wenden uns zum Gehen. Auf halbem Weg zur Tür bleibt sie stehen, geht zurück, nimmt etwas aus einer Schachtel am Fuße des Altars. Sie reicht es mir. Es ist ein Datenwürfel. Sie schaltet ihn ein, und ich lese die Worte, die erscheinen:

Im Anfang war Krug, und er sprach, es seien Retorten, und da waren Retorten.

Und Krug betrachtete die Retorten und fand sie gut.

Und Krug sprach, es seien Nukleotiden in den Retorten. Und die Nukleotiden wurden in die Retorten gegossen, und Krug mischte sie, bis sie sich miteinander verbanden.

Und die Nukleotiden bildeten die großen Moleküle, und Krug sprach, es werde der Vater und werde die Mutter in den Retorten und es teilen sich die Zellen und Leben entstehe in den Retorten.

Und es ward Leben, denn da war Reproduktion.

Und Krug überwachte die Reproduktion und berührte die Flüssigkeiten mit seinen eigenen Händen und gab ihnen Form und Wesen.

Es kommen Männer aus den Retorten, sprach Krug, und es kommen Frauen aus ihnen, und sie sollen leben und unter uns umhergehen und stark sein und nützlich, und wir werden sie Androiden nennen.

Ich drehe den Würfel zwischen den Fingern. Worte von gleicher Art erscheinen, immer mehr. Eine Androidenbibel. Nun, warum nicht?

Faszinierend, sage ich zu Lilith. Wann wurde das geschrieben?

Man begann vor Jahren damit. Sie fügen jetzt immer neue Kapitel hinzu. Über die Natur Krugs und das Verhältnis des Menschen zu Krug.

Das Verhältnis des Menschen zu Krug. Wunderbar.

Sie sagt, behalte den Würfel, wenn du ihn interessant findest. Er gehört dir.

Wir verlassen die Kapelle. Ich verstecke die Androidenbibel unter meinen Kleidern.

In Liliths Wohnung zurückgekehrt, sagt sie, jetzt kennst du unser großes Geheimnis, unsere große Hoffnung.

Was erwartet ihr eigentlich konkret, das mein Vater für euch tun soll?

Eines Tages, sagt sie, wird er vor die ganze Welt treten und seine Gedanken über uns enthüllen. Er wird sagen, diese Androiden sind ungerecht behandelt worden, und nun ist es Zeit, das zu ändern. Verleihen wir ihnen das Bürgerrecht. Verleihen wir ihnen volle Rechte. Hören wir auf, sie als Eigentum zu behandeln, als Dinge zu betrachten. Und weil er Krug ist, weil er derjenige ist, der der Welt die Androiden geschenkt hat, wird die ganze Welt auf ihn hören. Er wird alle umstimmen. Und unsere Lage wird sich ändern.

Glaubst du wirklich, daß das geschehen wird?

Ich hoffe es und bete darum, sagt sie schlicht.

Wann wird es geschehen? Bald?

Es ist nicht meine Sache, darüber nachzusinnen. Es ist Krugs Wille. Vielleicht in fünf Jahren… in zwanzig Jahren… in vierzig Jahren… vielleicht nächsten Monat. Lies den Würfel, den ich dir gegeben habe. Er erklärt dir, warum wir glauben, daß Krug uns nur prüft, sehen will, wie tapfer wir sind. Eines Tages wird die Prüfung vorüber sein.

Ich wünschte, ich könnte deinen Optimismus teilen, sage ich. Doch ich fürchte, ihr müßt noch eine lange, lange Zeit warten.

Warum sagst du das?

Mein Vater ist nicht so menschenfreundlich, wie ihr glaubt. Er ist kein Schurke, nein. Aber er denkt nicht viel an andere Menschen und ihre Probleme. Er geht vollkommen auf in seinen Projekten, an etwas anderes denkt er überhaupt nicht. Er käme gar nicht auf die Idee, sich über das Schicksal der Androiden Gedanken zu machen.

Doch im Grunde ist er ein anständiger Charakter, sagt Lilith. Ich meine, Krug, der Mann. Nicht die göttliche Gestalt, zu der wir beten. Krug, dein Vater.

Ja, er ist anständig.

Dann wird er unsere Anliegen begreifen und unsere Sehnsucht verstehen.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Ich nahm sie in meine Arme. Lilith, ich wünschte, Ich könnte dir helfen!

Du kannst es.

Wie?

Sprich mit deinem Vater über uns, sagte sie.

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