Dokument 8

KomKon 2

Ural/Norden

Bericht Nr. 016/99

Datum: 8. Mai’99

Autor: T. Glumow, Inspektor

Projekt 009: »Besuch der alten Dame«

Betr.: Aufenthalt Hexenmeisters (Saraksch) in der Charkower Filiale des Instituts für Metaphysische Forschungen (Institut der Sonderlinge)


Gemäß Ihrer Anordnung von gestern Morgen habe ich mich in die Charkower Filiale des Instituts der Sonderlinge begeben. Der stellvertretende Direktor Logowenko hatte sich bereiterklärt, mich um 10 Uhr zu empfangen.

Allerdings wurde ich nicht gleich zu ihm vorgelassen, sondern einer Untersuchung in der Gleitfrequenzkammer WFK 8 unterzogen, die auch »Sonderlingsfang« heißt. Wie sich zeigte, wird mit jedem neuen Besucher der Filiale so verfahren. Das Ziel: Bei den auf diese Weise zufällig ausgesuchten Menschen »latente metaphysische Fähigkeiten« zu entdecken, beziehungsweise eine »verdeckte Sonderlichkeit«.

Um 10:25 Uhr wurde ich dem stellvertretenden Direktor für die Beziehungen zu gesellschaftlichen Organisationen vorgestellt.


Notiz zur Person:

Logowenko, Daniil Alexandrowitsch, Doktor der Psychologie, korrespondierendes Mitglied der AdMW Europas. Geboren am 17. 09.’30 in Borispol. Ausbildung: Institut für Psychologie, Kiew; Fakultät für Verwaltung der Kiewer Universität; Fachkurse in höherer und anomaler Ethologie in Split. Arbeitsschwerpunkt: Metapsychologie; hat den sog. »Logowenko-Impuls« entdeckt (auch »Mentogrammspitze T« genannt). Einer der Begründer der Charkower Filiale des Instituts für Metapsychische Forschungen.


D. Logowenko erzählte mir, er selbst habe Hexenmeister am Morgen des 25. März dieses Jahres auf dem Kosmodrom Mirza-Charle empfangen und ihn auf direktem Weg zur Filiale gebracht. Dabei waren anwesend: der Abteilungsleiter der Filiale, Bohdan Haidai, und Hexenmeisters Begleiter von der KomKon 1, der uns bekannte Borja Laptew.

Nach seiner Ankunft in der Filiale verzichtete Hexenmeister auf das traditionelle Einführungsgespräch mit Bewirtung und äußerte den Wunsch, die Tätigkeit der Mitarbeiter und ihre Probanden so schnell wie möglich kennenzulernen. Daraufhin übergab ihn D. Logowenko der Obhut von B. Haidai. Weiteren Kontakt hatte es nicht gegeben.

ICH: Welches Ziel verfolgte Hexenmeister Ihrer Meinung nach im Institut?

LOGOWENKO: Darüber hat er mit mir nicht gesprochen. Die KomKon hat uns informiert, Hexenmeister habe den Wunsch geäußert, unsere Arbeit kennenzulernen, und wir haben ihm gerne die Möglichkeit dazu gegeben. Nicht völlig uneigennützig übrigens: Wir rechneten damit, ihn selbst untersuchen zu können. Noch nie war ein Psychokrat von ähnlicher Kraft zu uns gekommen - noch dazu ein Außerirdischer.

ICH: Was hat die Untersuchung ergeben?

LOGOWENKO: Es hat keine Untersuchung stattgefunden. Hexenmeister brach seinen Besuch völlig unerwartet für uns alle ab.

ICH: Was halten Sie für den Grund?

LOGOWENKO: Wir können nur Mutmaßungen anstellen. Ich persönlich neige zu folgender: Man stellte ihm Michel Desmonde vor, einen Polymentalen. Womöglich hat Hexenmeister bei ihm etwas wahrgenommen, was uns entgangen ist und was ihn entweder erschreckt oder gekränkt, jedenfalls aber schockiert hat, so dass er nichts mehr mit uns zu tun haben wollte. Vergessen Sie nicht, er ist zwar ein Psychokrat, ein Intellektueller, aber seiner Herkunft, d. h. seiner Erziehung und seiner Weltanschauung nach, ist er, wenn Sie so wollen, ein typischer Wilder.

ICH: Ich verstehe nicht ganz. Was ist ein Polymentaler?

LOGOWENKO: Polymentalismus ist eine sehr seltene metapsychische Erscheinung und bedeutet, dass zwei oder mehr unabhängige Bewusstseinseinheiten in demselben menschlichen Organismus koexistieren. Nicht zu verwechseln mit Schizophrenie, denn es handelt sich nicht um etwas Pathologisches. Michel Desmonde, zum Beispiel. Ein vollkommen gesunder, sehr angenehmer junger Mann, bei dem keinerlei Abweichungen von der Norm vorliegen. Aber vor

ICH: Für Sie ist die zweite Welt von Michel Desmonde nicht schockierend?

LOGOWENKO: Nein. Definitiv nicht. Erwähnen muss ich allerdings, dass der Mentoskopist, der als Erster einen Blick in diese Welt geworfen und sie erkannt hat, schwer erschüttert war. Vor allem, weil er dachte, Michel sei ein getarnter Agent irgendwelcher Wanderer - ein Progressor aus einer fremden Welt.

ICH: Wie hat man festgestellt, dass das nicht der Fall ist?

LOGOWENKO: Da können Sie beruhigt sein. Zwischen dem Verhalten Michels und den Aktivitäten des zweiten Bewusstseins besteht keine Korrelation. Die benachbarten Bewusstseinseinheiten des Polymentalen stehen in keinerlei Wechselwirkung. Sie können grundsätzlich nicht interagieren, da sie in verschiedenen Räumen aktiv sind. Eine grobe Analogie: Stellen Sie sich ein Schattenspiel vor. Die


Damit endete mein Gespräch mit D. Logowenko und ich wurde B. A. Haidai vorgestellt.


Notiz zur Person:

Haidai, Bohdan Archypowytsch, Magister der Psychologie. Geboren am 10. 06.’55 in Seredina-Buda. Ausbildung: Institut für Psychologie, Kiew; Fachkurse in höherer und anomaler Ethologie in Split. Arbeitsschwerpunkt: Metapsychologie. Seit’89 Mitarbeiter der Abteilung Psychoprognostik, seit’93 Leiter des Labors für Apparatetechnik, seit’94 Leiter der Abteilung Intrapsychische Technik.


Ein Auszug aus unserer Unterhaltung:


ICH: Wofür hat sich Hexenmeister Ihrer Meinung nach im Institut am meisten interessiert?

HAIDAI: Wissen Sie, ich habe den Eindruck, dass dieser Hexenmeister einfach falsch informiert war. Das ist auch kein Wunder, denn sogar auf der Erde haben viele eine völlig falsche Vorstellung von unserer Arbeit. Was soll man da von den Progressoren auf dem Saraksch erwarten, mit denen Hexenmeister zu tun hatte? Ich weiß noch, dass ich mich gleich gewundert habe, warum Hexenmeister, ein Außerirdischer, auf der ganzen Erde einzig und allein unser Institut sehen wollte. Ich glaube, es verhält sich so: Bei sich auf dem Saraksch ist Hexenmeister quasi der König der Mutanten, und das bereitet ihm sicher eine Menge Probleme. Sie degenerieren, sind krank, brauchen Behandlung, Unterstützung. Unsere »Sonderlinge« sind vielleicht - auf ihre Art - auch Mutanten, und da dachte sich Hexenmeister,

ICH: Und als er seinen Irrtum erkannte, hat er sich umgedreht und ist abgereist?

HAIDAI: Genau. Er hat sich zwar ein bisschen abrupt umgedreht und ist ein wenig übereilt gegangen, aber es kann ja durchaus sein, dass das den dortigen Umgangsformen entspricht.

ICH: Worüber hat er mit Ihnen gesprochen?

HAIDAI: Über nichts. Ich habe seine Stimme nur ein einziges Mal gehört. Ich fragte ihn, was er bei uns besichtigen wolle, und er antwortete: »Alles, was Sie mir zeigen.« Seine Stimme war übrigens ziemlich widerlich, wie die einer zänkischen Hexe.

ICH: Apropos, in welcher Sprache haben Sie mit ihm gesprochen?

HAIDAI: Stellen Sie sich vor - auf ukrainisch!


Gemäß Haidais Aussage traf sich Hexenmeister im Institut nur mit drei Probanden. Mit zwei von ihnen konnte ich bisher sprechen.

Rawitsch, Marina Sergejewna, 27 Jahre alt, ausgebildete Tierärztin; zurzeit Beraterin des Leningrader Werks für Embryosysteme, der Lausanner Werkstatt zur Realisation der P-Abstraktionen, des Belgrader Instituts für Laminarpositronik und des Hauptarchitekten der Jakutsker Region. Eine bescheidene, sehr schüchterne und traurig wirkende Frau. Sie besitzt eine einzigartige und bis dato unerklärte Fähigkeit (für die es nicht einmal eine wissenschaftliche Bezeichnung gibt): Stellt man sie vor ein exakt formuliertes, nachvollziehbares Problem, macht sie sich mit großem Eifer und Enthusiasmus an seine Lösung. Im Ergebnis, aber und ohne es zu wollen, erhält sie die Lösung zu einem ganz anderen Problem

Hexenmeister erschien in ihrem Zimmer, als sie gerade arbeitete. Sie erinnert sich dunkel an eine hässliche, großköpfige Gestalt in grüner Kleidung, aber weiter hat Hexenmeister keine Eindrücke bei ihr hinterlassen. Nein, gesagt habe er nichts. Die üblichen Gemeinplätze über ihre »Gabe« habe Bohdan von sich gegeben, anderer Stimmen entsinnt sie sich nicht. Nach Haidais Worten hat sich Hexenmeister ganze zwei Minuten bei ihr aufgehalten und, wie es scheint, ebenso wenig Interesse für sie aufgebracht wie sie für ihn.

Michel Desmonde, 41 Jahre alt, ausgebildeter Granulationsingenieur, Berufssportler, Europameister des Jahres’88 im Tunnelhockey. Ein fröhlicher Mann, sehr zufrieden mit sich und der Welt. Seinem Polymentalismus begegnet er gleichmütig und mit Humor. Er wollte gerade zum Stadion aufbrechen, als man Hexenmeister zu ihm brachte. Michel zufolge sah Hexenmeister elend aus und schwieg die ganze Zeit. Scherze nahm er gar nicht wahr. Er verstand wohl nicht ganz, wo er sich befand und worüber man mit ihm sprach. Allerdings gab es einen Moment - und ihn würde Michel sein Leben lang nicht vergessen -, als Hexenmeister plötzlich seine großen bleichen Lider hob und Michel geradewegs in die Seele schaute. Vielleicht sogar noch tiefer, ins Innerste jener Welt, in der das Geschöpf lebt, mit dem Michel seinen mentalen Raum teilen muss. Der Moment war unangenehm, aber auch beeindruckend. Kurz darauf verschwand Hexenmeister,

Susumu Hirota alias »Senrigan« - was so viel bedeutet wie »Der, der tausend Meilen weit sieht« -, 83 Jahre alt, Religionshistoriker, Professor am Lehrstuhl für Religionsgeschichte an der Universität Bangkok. Ein Gespräch mit ihm fand nicht statt, weil er erst morgen oder übermorgen wieder im Institut sein wird. Nach Haidais Meinung hat dieser Hellseher Hexenmeister auf das Äußerste missfallen. Es trifft aber zu, dass er während dieses Treffens abrupt aufbrach.

Nach den Worten aller Augenzeugen ereignete sich Folgendes: Gerade noch hatte Hexenmeister inmitten des mentoskopischen Kabinetts gestanden und dem Vortrag Haidais zugehört, der über die ungewöhnlichen Fähigkeiten »Senrigans« sprach. »Senrigan« unterbrach den Vortragenden von Zeit zu Zeit, um einmal mehr neue Einzelheiten aus dessen Privatleben preiszugeben. Und dann, plötzlich, wandte sich Hexenmeister ohne jede Vorwarnung und ohne ein Wort der Erklärung um, stieß dabei Borja Laptew mit dem Ellenbogen an und ging schnellen Schritts, ohne auch nur eine Sekunde lang innezuhalten, durch die Korridore zum Ausgang der Filiale. Ende.

Es gibt noch weitere Personen, die Hexenmeister in der Filiale gesehen haben: wissenschaftliche Mitarbeiter, Laboranten, Verwaltungspersonal. Von ihnen wusste niemand, wen er vor sich hatte. Nur zwei Neue im Institut schenkten Hexenmeister größere Aufmerksamkeit, weil sein Äußeres sie beeindruckte; etwas Wesentliches war von ihnen aber nicht zu erfahren.

Des Weiteren habe ich mich mit Boris Laptew getroffen. Hier der wichtigste Teil unseres Gesprächs:


ICH: Du bist der einzige Mensch, der die ganze Zeit über mit Hexenmeister zusammen gewesen ist, vom Abflug bis zur

BORIS: Was für eine Frage! Das ist wie in der Geschichte, wo sie das Kamel fragen, warum es einen krummen Hals hat, und es antwortet: »Ja, ist denn irgendetwas an mir gerade?«

ICH: Versuch trotzdem, dir sein Verhalten in dieser Zeit genau in Erinnerung zu rufen. Irgendetwas muss doch passiert sein, dass er derart außer Fassung geriet!

BORIS: Hör zu, ich kenne Hexenmeister nun seit zwei Jahren. Er ist unergründlich. Ich habe längst aufgegeben und versuche es auch nicht mehr, ihn zu verstehen. Was also soll ich dir antworten? Er hatte an dem Tag einen Anfall von Depression, wie ich es nenne. Das überfällt ihn von Zeit zu Zeit ohne erkennbare Ursache. Dann wird er schweigsam, und wenn er den Mund aufmacht, dann nur, um irgendeine Gemeinheit, irgendetwas Boshaftes zu sagen. So war es auch an dem Tag. Während des Flugs stand noch alles zum Besten, er ließ Aphorismen hören, machte Witze über mich, sang sogar ein bisschen. Doch schon in Mirza-Charle wurde er finster; mit Logowenko hat er kaum gesprochen. Als wir mit Haidai durchs Institut gingen, wurde er noch finsterer. Ich fürchtete schon, gleich täte er jemandem etwas zu leide. Aber da spürte er wohl selbst, dass es so nicht weiterging und verschwand sicherheitshalber, bevor etwas passierte. Während des ganzen Flugs zum Saraksch schwieg er; nur in Mirza-Charle hatte er sich wie zum Abschied einmal umgedreht und mit einem fiesen dünnen Stimmchen gezischt: »Sieht die Berge und den Wald, sieht bis in den Himmel bald, nur die Mücke sieht er nicht, die ihn in die Nase sticht.«

ICH: Was bedeutet das?

BORIS: Kinderverse. Von früher.

ICH: Und wie hast du ihn verstanden?

BORIS: Gar nicht. Ich habe nur verstanden, dass er der ganzen Welt gram war. Es fehlte nicht viel, und er hätte gebissen. Ich habe verstanden, dass ich besser den Mund halte. Und so haben wir beide bis zum Saraksch geschwiegen.

ICH: Und das war alles?

BORIS: Ja, das war alles. Kurz vor der Landung hat er noch einmal so etwas Zusammenhangloses vor sich hin gemurmelt: Wir würden warten, bis die Blinden den Sehenden erblickten.

Als wir zur Blauen Schlange kamen, winkte er nur kurz und verschwand augenblicklich im Dschungel. Wohlgemerkt, er hat sich weder bedankt noch zu sich eingeladen.

ICH: Weiter kannst du nichts sagen?

BORIS: Was soll ich dir sagen? Ja, irgendetwas hat ihm auf der Erde ganz und gar missfallen. Aber was es war, hatte er mitzuteilen nicht die Güte. Ich sage dir doch: Er ist ein unerklärliches, unberechenbares Wesen. Vielleicht hat die Erde auch gar nichts damit zu tun. Vielleicht bekam er an dem Tag zufällig Bauchschmerzen - im weitesten Sinne des Wortes natürlich. Im allerweitesten, im kosmischen Sinne.

ICH: Hältst du das für einen Zufall - in den Kinderversen sieht jemand etwas auf der eigenen Nase nicht, und dann das über die Blinden und Sehenden?

BORIS: Weißt du, über die Blinden und Sehenden - da gibt es auf dem Saraksch, in Pandea, eine Redensart: »Wenn der Blinde den Sehenden erblickt.« Das bedeutet so viel wie: Es ist ganz und gar unwahrscheinlich, ja, unmöglich. Offenbar wollte Hexenmeister ausdrücken, dass etwas Bestimmtes niemals eintreffen wird. Die Verse aber hat er sicher nur so aufgesagt, aus reiner Bosheit - und mit offensichtlichem Spott dazu. Ich weiß nur nicht, wem dieser Spott galt? Aber gut möglich, dass er diesen anstrengenden japanischen Angeber gemeint hat.

Vorläufige Schlussfolgerungen:

1. Es ist mir nicht gelungen, an Daten und Informationen zu kommen, die der Suche nach Hexenmeister auf dem Saraksch dienlich sein könnten.

2. Ich kann keine Empfehlungen zum weiteren Fortgang der Suche machen.

T. Glumow


Am Abend des 6. Mai empfing mich Athos-Sidorow, unser Präsident. Ich hatte die wichtigsten Unterlagen zwar mitgenommen, trug ihm aber das Wesentliche wie auch meine Vorschläge mündlich vor. Athos-Sidorow war bereits furchtbar krank; sein Gesicht war fahl, und er litt unter Atemnot. Ich hatte zu lange mit meinem Besuch gewartet: Er brachte nicht einmal mehr die Kraft auf, sich richtig zu wundern. Er sagte, er wolle sich die Unterlagen ansehen, nachdenken und sich am nächsten Tag mit mir in Verbindung setzen.

Am 7. Mai saß ich den ganzen Tag in meinem Arbeitszimmer und wartete auf seinen Anruf, doch er kam nicht. Abends wurde mir mitgeteilt, dass Athos-Sidorow einen schweren Anfall gehabt hatte und man ihn gerade noch rechtzeitig hatte versorgen können. Jetzt lag er im Krankenhaus. Und so lastete wieder alles auf mir, allein auf meinen Schultern - und schwer auf meiner Seele.

Am 8. Mai erhielt ich - neben vielem anderen - auch Toivos Bericht über seinen Besuch im Institut der Sonderlinge. Ich hakte seinen Namen auf der Liste ab, gab seinen Bericht in den Registrator ein und dachte mir dann einen Auftrag für Petja Silezki aus. Er und Soja Morosowa waren bis zu dem Tag nämlich die einzigen von meinen Leuten, die ich noch nicht zum Institut geschickt hatte.

Etwa zur selben Zeit unterhielt sich Toivo Glumow in seinem Arbeitszimmer mit Grischa Serossowin. Ich rekonstruiere ihr Gespräch weiter unten, vor allem deshalb, um die Stimmung nachzuzeichnen, die damals unter meinen Mitarbeitern herrschte. Nur qualitativ. Denn das quantitative Verhältnis war unverändert: auf der einen Seite Toivo, auf der anderen alle Übrigen.



Abteilung BV, Arbeitszimmer D. 8. Mai ’99. Abends


Grischa Serossowin kam wie gewohnt ohne Anklopfen herein, blieb dann auf der Schwelle stehen und fragte: »Darf ich?«

Toivo legte die »Bewegung auf der Vertikalen« (das Werk C. Oxoviews) beiseite, neigte den Kopf und musterte Grischa. »Du darfst. Aber ich gehe bald nach Hause.«

»Ist Sandro wieder nicht da?«

Toivo schaute zu Sandros Tisch. Er war leer und makellos sauber. »Nein, schon seit drei Tagen.«

Grischa setzte sich an Sandros Tisch und schlug die Beine übereinander. »Und wo hast du dich gestern herumgetrieben?«, fragte er.

»In Charkow.«

»Ach, du bist auch in Charkow gewesen?«

»Wer noch?«

»Fast alle. Im letzten Monat war fast die ganze Abteilung in Charkow. Hör mal, Toivo, weswegen ich gekommen bin. Du hast dich doch mit den ›plötzlichen Genies‹ befasst?«

»Ja. Aber es ist lange her - das war vorletztes Jahr.«

»Erinnerst du dich an Soddy?«

»Ja. Bartholomew Soddy. Der Mathematiker, der dann Beichtvater wurde.«

»Genau der«, sagte Grischa. »Im Bericht gibt es da einen Satz, ich zitiere: ›Den uns vorliegenden Informationen zufolge hat B. Soddy kurz vor seiner Metamorphose eine private Tragödie erlebt.‹ Wenn du den Bericht erstellt hast, dann habe ich zwei Fragen. Was war das für eine Tragödie, und woher hattest du die Informationen?«

Toivo streckte die Hand aus und rief das Programm auf. Als das Einlesen der Daten beendet war, begann das Programm zu rechnen. Ohne Eile machte sich Toivo nun daran, seinen Tisch aufzuräumen. Grischa wartete geduldig. Er kannte das schon.

»Wenn dort steht: ›Den vorliegenden Informationen zufolge‹«, sagte Toivo, »dann heißt das, dass ich diese Informationen von Big Bug erhalten habe.«

Er verstummte. Grischa wartete eine Weile, schlug seine Beine andersherum übereinander und erwiderte: »Mit solchen Kleinigkeiten möchte ich nicht zu Big Bug gehen. Na gut, dann muss ich es so versuchen. Hör mal, Toivo, findest du nicht, dass unser Big Bug in letzter Zeit irgendwie nervös ist?«

Toivo zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht«, sagte er. »Dem Präsidenten geht es sehr schlecht. Es heißt, Gorbowski liege im Sterben. Und Big Bug kennt sie ja alle, und das sehr gut.«

Grischa meinte nachdenklich: »Übrigens, ich kenne Gorbowski auch persönlich, stell dir vor. Du erinnerst dich - obwohl, nein, damals warst du noch nicht hier. Kamillo hatte Selbstmord begangen - er war der Letzte aus dem Teufelsdutzend. Aber der Fall der Teufelsbrüder ist für dich sicher auch nur, na ja, leerer Schall. Ich zum Beispiel hatte davon gar nichts mitbekommen. Der Selbstmord, oder genauer gesagt, die Selbstzerstörung des armen Kamillo wurde als Tatsache nie in Zweifel gezogen. Unverständlich aber war: warum? Das heißt, man wusste schon, dass das Leben für ihn kein

Toivo nickte mehrmals mit dem Kopf. »Ja«, sagte er.

»Weißt du, wie du wirkst?«

»Ja«, sagte Toivo. »Wie einer, der sehr intensiv seinen eigenen Gedanken nachhängt. Das hast du mir schon gesagt, mehrere Male. Ein Klischee, einverstanden?«

Anstatt zu antworten, nahm Grischa einen Stift aus seiner Brusttasche und warf damit nach Toivos Kopf - wie mit einem Speer, quer durchs ganze Zimmer. Ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht griff sich Toivo mit zwei Fingern den Stift aus der Luft und sagte: »Schlapp.«

Dann schrieb er mit dem Stift »Schlapp« auf den Zettel, der vor ihm lag.

»Mein Herr - Sie schonen mich!«, ließ er sich vernehmen. »Aber ich brauche keine Schonung. Sie bekommt mir nämlich nicht.«

»Verstehst du, Toivo«, sagte Grischa eindringlich, »ich weiß, dass du eine gute Reaktion hast. Zwar keine glänzende, aber doch die gute, solide Reaktion eines Profis. Du machst aber den Eindruck … Bitte versteh, als dein Subaks-Trainer halte ich es einfach für meine Pflicht, von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob du noch in der Lage bist, auf deine Umgebung zu reagieren oder ob du dich schon im Zustand der Katalepsie befindest …«

»Ich bin heute also doch müde geworden«, sagte Toivo. »Gleich ist das Programm durchgelaufen, dann gehe ich nach Hause.«

»Und was hast du da, in deinem Programm?«, fragte Grischa.

»Ich habe da«, schrieb Toivo auf den Zettel und sagte: »Ich habe da Wale. Ich habe da Vögel. Ich habe da Lemminge, Ratten und Wühlmäuse. Ich habe da dieser Kleinen viele.«

»Und was machen sie bei dir?«

»Bei mir kommen sie um. Oder laufen weg. Sie sterben, weil sie sich auf den Strand werfen, sich ertränken oder von den Orten wegfliegen, wo sie seit Jahrhunderten gelebt haben.«

»Warum?«

»Das weiß niemand. Vor zwei-, dreihundert Jahren trat dieses Phänomen regelmäßig auf, obwohl man auch damals nicht wusste, warum. Dann kam es lange Zeit nicht vor. Und jetzt ist es wieder da.«

»Verzeih«, wandte Grischa ein, »das ist natürlich alles sehr interessant, aber was hat es mit uns zu tun?«

Toivo schwieg. Und ohne seine Antwort abzuwarten, fragte Grischa: »Du meinst, es könnte etwas mit den Wanderern zu tun haben?«

Toivo indes betrachtete den Stift von allen Seiten, drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her, fasste ihn dann an der Spitze und sah ihn - warum auch immer - gegen das Licht an. »Alles, was wir zu erklären nicht in der Lage sind, kann mit den Wanderern zu tun haben …«

»Geschliffene Formulierung«, meinte Grischa anerkennend.

»… oder auch nichts mit ihnen zu tun haben«, fügte Toivo hinzu. »Sag, wo bekommst du so schöne Sachen her? Sieht aus wie ein Stift - was könnte banaler sein? Aber dein Stift ist schön anzusehen, sehr schön. Weißt du was«, sagte er, »schenk ihn mir. Und ich schenke ihn Assja. Ich möchte ihr eine Freude machen, wenn auch nur mit einer Kleinigkeit.«

»Dann mache ich dir, wenigstens mit einer Kleinigkeit, eine Freude«, sagte Grischa.

»Ja, und du machst mir, wenigstens mit einer Kleinigkeit, eine Freude.«

»Da, nimm«, meinte Grischa. »Behalt ihn. Verschenk ihn. Präsentier ihn. Schwindel irgendwas vor, du hättest ihn extra für deine Liebste entworfen, nächtelang daran gearbeitet.«

»Danke«, erwiderte Toivo und steckte den Stift in die Tasche.

»Aber vergiss nicht!«, Grischa hob den Finger, »hier um die Ecke, in der Rotahornstraße, steht ein Automat, der zur Werkstatt eines gewissen F. Moran gehört. Und dieser Automat fabriziert genau solche Stifte, und zwar auf Knopfdruck.«

Toivo nahm den Stift wieder heraus und begann ihn zu mustern. »Ist egal«, sagte er traurig. »Du hast den Automaten in der Rotahornstraße zwar bemerkt, aber mir wäre er nie aufgefallen.«

»Dafür hast du die Unordnung in der Welt der Wale bemerkt!«

»Der Wale«, schrieb Toivo auf den Zettel. »Ach ja, apropos«, sagte er langsam. »Du bist jemand, der frisch und unvoreingenommen ist - was meinst du? Was muss passiert sein, damit eine Herde Wale, zahm, mit Liebe gehegt und gepflegt, sich plötzlich ins flache Küstenwasser wirft, um zu sterben? So, wie Jahrhunderte zuvor, in der bösen alten Zeit. Sie sterben schweigend, ohne auch nur um Hilfe zu rufen, zusammen mit ihren Jungen. Kannst du dir irgendeinen Grund für diese Selbstmorde vorstellen?«

»Und warum haben sie sich früher auf den Strand geworfen?«

»Warum sie es früher getan haben, ist auch unbekannt. Aber damals hatte man zumindest Vermutungen: Die Wale litten unter Parasiten, wurden von Schwertwalen oder Kalmaren angegriffen, auch von Menschen. Man vermutete sogar,

»Und was sagen die Fachleute?«

»Die Fachleute haben eine Anfrage an die KomKon 2 geschickt: Stellt die Ursache für die neuerlichen Selbstmorde der Walartigen fest.«

»Hm … verstehe. Und was sagen die Walhirten?«

»Mit denen hat alles angefangen. Sie behaupten, dass es der blanke Horror ist, der die Wale in den Tod treibt. Und die Hirten können nicht verstehen, sich nicht vorstellen, wovor sich die heutigen Wale fürchten könnten.«

»Tja«, meinte Grischa. »Es sieht so aus, als kämen wir hier ohne die Wanderer tatsächlich nicht weiter.«

»Nicht weiter«, schrieb Toivo auf, zog einen Rahmen um die Worte, dann noch einen und begann, den Raum zwischen den Linien auszumalen.

»Obwohl«, fuhr Grischa fort, »alles das gab es schon einmal, wieder und wieder gab es das. Erst verlieren wir uns in Mutmaßungen, schieben alles auf die Wanderer, zermartern uns die Gehirne, und dann schauen wir hin - hoppla, und wer zeigt sich da am Ereignishorizont? Wer ist da so elegant, mit dem selbstgefälligen Lächeln des Herrgotts am Abend des sechsten Schöpfungstages? Wessen wohlbekannter schneeweißer Spitzbart ist das? Mister Fleming, Sir! Wie kommen Sie hierher, Sir? Wollen Sie die Güte haben, vor die Schranken zu treten? Im Weltrat, vors Außerordentliche Tribunal!«

»Gib zu, das wäre nicht die schlimmste Variante«, bemerkte Toivo.

»Sicher, sicher! Obwohl ich manchmal den Eindruck habe, dass ich lieber mit einem Dutzend Wanderern zu tun hätte, als mit einem Fleming. Aber das mag daran liegen, dass die Wanderer nahezu hypothetische Wesen sind, während Fleming mit seinem Spitzbart ein ziemlich reales Ungeheuer ist.

»Ich sehe, sein Spitzbart macht dir besonders zu schaffen?«

»Sein Spitzbart macht mir eben gerade nicht zu schaffen«, entgegnete Grischa spitz. »Genau an seinem Spitzbart kriegen wir ihn nämlich zu packen. Woran aber packen wir die Wanderer, wenn sich herausstellen sollte, dass doch sie dahinterstecken?«

Toivo schob den Stift akkurat in seine Tasche, stand auf und trat ans Fenster. Aus den Augenwinkeln heraus konnte er sehen, dass Grischa ihn aufmerksam beobachtete, dass er das übergeschlagene Bein auf den Boden gestellt und sich sogar ein wenig vorgebeugt hatte. Es war still, nur das Terminal piepte leise im Takt der einander abwechselnden Zwischentabellen auf dem Bildschirm.

»Oder hoffst du, dass sie es doch nicht sind?«, fragte Grischa.

Eine Zeit lang gab Toivo keine Antwort, sagte aber dann plötzlich, ohne sich umzudrehen: »Jetzt hoffe ich das schon nicht mehr.«

»Das heißt?«

»Sie sind es.«

Grischa kniff die Augen zusammen. »Das heißt?«

»Ich bin überzeugt, dass die Wanderer auf der Erde sind, und dass sie aktiv sind.«

(Grischa erzählte später, dass er diesen Moment als Schock erlebte. Er hatte auf einmal das Gefühl, als sei das, was vor sich ging, ganz und gar unwirklich. Und das lag einzig und allein an der Person Toivo Glumows: Seine Worte waren sehr schwer mit seiner Persönlichkeit in Einklang zu bringen. Seine Worte konnten kein Scherz sein, denn Toivo machte nie Scherze über die Wanderer. Seine Worte konnten auch kein

Grischa fragte angespannt: »Weiß Big Bug Bescheid?«

»Ich habe ihm alle Fakten vorgetragen.«

»Und?«

»Vorläufig, wie du siehst, nichts«, sagte Toivo.

Grischa entspannte sich und lehnte sich wieder in den Sessel zurück. »Du hast dich einfach geirrt«, sagte er erleichtert.

Toivo schwieg.

»Hol dich der Teufel!«, rief Grischa plötzlich. »Du mit deinen finsteren Phantasien! Das war eben wie eine eiskalte Dusche für mich!«

Toivo schwieg. Er hatte sich wieder zum Fenster gewandt. Grischa begann zu krächzen, fasste sich an die Nasenspitze, zog das Gesicht in Runzeln zusammen und wackelte an seiner Nase. »Nein«, sagte er. »Ich kann nicht so sein wie du, das ist es. Ich kann nicht. Es ist zu ernst. Alles in mir wird davon abgestoßen. Das ist schließlich keine Privatangelegenheit: Ich für mich glaube es, und ihr anderen - wie es euch beliebt. Wenn ich so weit gekommen bin, daran zu glauben, dann muss ich alles andere hinwerfen, alles opfern, was ich habe, auf alles Übrige verzichten - wie einer, der ins Kloster geht, verdammt nochmal! Aber unser Leben bietet ja doch mehrere Varianten! Wie soll man es da in eine einzige Form hineinpressen? Klar, manchmal schäme ich mich auch, oder fürchte mich, und dann schaue ich ganz fasziniert, ja bewundernd auf dich. Aber manchmal - wie zum Beispiel jetzt - könnte ich aus der Haut fahren, wenn ich dich sehe - bei deiner Selbstkasteiung, deiner Besessenheit bis zur Selbstaufgabe. Und dann möchte ich ironisch sein, mich über dich lustig machen, alles mit einem Scherz beiseiteschieben, was du da vor uns auftürmst.«

»Grischa«, sagte Toivo, »was willst du von mir?«

Grischa verstummte. »In der Tat«, antwortete er nachdenklich. »Was will ich eigentlich von dir? Ich weiß es nicht.«

»Aber ich weiß es. Du willst, dass alles gut ist und mit jedem Tag besser wird.«

»Oh!« Grischa hob den Finger.

Er hatte noch etwas sagen wollen, etwas Leichtes, Beschwingtes, um das Gefühl der peinlichen Intimität zu verwischen, das in den letzten Minuten zwischen ihnen aufgekommen war. Aber da ertönte das Signal - das Programm war durchgelaufen, und das Papierband mit den Ergebnissen schob sich in kurzen Stößen auf den Tisch.

Toivo sah es ganz durch, Zeile für Zeile, legte es an den Faltstellen akkurat zusammen und steckte es in den Schlitz des Kollektors.

»Nichts von Interesse?«, erkundigte sich Grischa.

»Wie soll ich sagen …«, murmelte Toivo. Jetzt dachte er wirklich angestrengt über etwas anderes nach. »Wieder das Frühjahr’81.«

»Was - wieder?«

Toivo ließ seine Fingerspitzen über die Terminalsensoren gleiten und startete den nächsten Programmdurchlauf.

»Im März’81«, sagte er, »wurde zum ersten Mal nach zweihundert Jahren Pause wieder ein Fall registriert, wo Grauwale Massenselbstmord begingen.«

»Ja«, sagte Grischa ungeduldig. »Aber in welchem Sinne ›wieder‹?«

Toivo stand auf. »Das ist eine lange Geschichte«, erklärte er. »Du kannst später die Zusammenfassung lesen. Lass uns jetzt nach Hause gehen.«

Toivo Glumow zu Hause. 8. Mai ’99. Am späten Abend


Sie aßen zu Abend. Das Zimmer war purpurn vom Sonnenuntergang.

Assja plagte schlechte Laune. Das Delikatesskombinat hatte direkt von der Pandora eine Lieferung des wertvollen Paschkowski-Gärungsmittels erhalten, transportiert per Biocontainer, frisch abgepackt zu je sechs Kilogramm in Säcken, die mit bräunlichem Raufrost bedeckt waren und aus denen die Hornhäkchen der Verdampfer wie kleine Stacheln herausragten. Und dieses Gärungsmittel spielte wieder einmal verrückt: Sein Geschmacksaroma war spontan in die Klasse Sigma abgefallen, und seine Bitterkeit hatte den letzten, gerade noch zulässigen Grad erreicht. Die Experten vertraten völlig unterschiedliche Meinungen: Der Meister verlangte, die Produktion der »Alapaitschiki«, die auf dem ganzen Planeten berühmt waren, einzustellen, bis die Sache geklärt sei. Bruno aber - ein ziemlich frecher Junge mit einer großen Klappe - widersprach: Warum das? Er, der es noch nie gewagt hatte, sich gegen den Meister zu stellen, führte heute plötzlich das Wort. Die normalen Kunden würden eine so feine Veränderung im Geschmack gar nicht bemerken. Und was die Kenner angehe, so sei er sicher, nein, ließe sich den Kopf abschlagen, wenn nicht mindestens jeder fünfte von dieser Geschmacksvariation begeistert wäre. Fragt sich zwar, wer seinen abgeschlagenen Kopf gebrauchen konnte, aber seine Meinung fand Zustimmung. Und jetzt war unklar, was werden sollte.

Assja machte das Fenster weit auf und setzte sich aufs Fensterbrett. Sie blickte hinab in den zwei Kilometer tiefen blaugrünen Abgrund.

»Ich fürchte, ich werde auf die Pandora fliegen müssen«, sagte sie.

»Für lange?«, fragte Toivo.

»Ich weiß nicht. Aber ja, vielleicht für lange.«

»Und wozu?«, erkundigte sich Toivo vorsichtig.

»Verstehst du, die Sache ist die … Der Meister meint, wir hätten hier auf der Erde schon alles, was infrage kommt, überprüft. Das heißt aber, dass etwas auf der Plantage nicht in Ordnung ist. Vielleicht hat sich dort ein neuer Stamm von Fermentkulturen entwickelt, oder beim Transport passiert etwas. Wir wissen es nicht.«

»Du bist schon einmal auf die Pandora geflogen«, meinte Toivo missmutig. »Bist für eine Woche geflogen und drei Monate geblieben.«

»Was soll ich denn tun?«

Toivo kratzte sich an der Wange und räusperte sich. »Ich weiß nicht, was du tun sollst. Ich weiß nur, dass drei Monate ohne dich schrecklich sind.«

»Und die zwei Jahre ohne mich? Als du dort auf diesem Planeten, wie heißt er doch gleich … gesessen hast.«

»Das musste ja kommen! Wie lange das her ist! Ich war jung und noch ein Dummkopf. Ich war damals Progressor! Ein Mann wie aus Eisen - Muskeln, Maske, Kinn! Hör mal, warum lässt du nicht deine Sonja fliegen. Sie ist jung, hübsch, vielleicht heiratet sie dort?«

»Sonja fliegt natürlich auch. Hast du sonst noch Vorschläge?«

»Habe ich. Soll doch der Meister fliegen. Er hat euch diese Suppe eingebrockt, dann soll er nun auch fliegen.«

Assja blickte ihn nur an.

»Ich nehme das zurück«, sagte Toivo rasch. »Ein Irrtum. Denkfehler.«

»Er darf nicht einmal Swerdlowsk verlassen! Er hat doch eine Allergie der Geschmacksnerven! Seit 25 Jahren ist er nicht mehr aus seinem Viertel herausgekommen!«

»Ich werde es mir merken«, versprach Toivo. »Für immer. Kommt nicht wieder vor. Habe dummes Zeug geredet. Blödsinn von mir gegeben. Soll Bruno fliegen.«

Assja sah ihn ein paar Sekunden lang voller Empörung an, wandte sich dann ab und schaute wieder aus dem Fenster. »Bruno wird nicht fliegen«, sagte sie ärgerlich. »Bruno wird sich jetzt mit diesem neuen Aroma beschäftigen. Er will es fixieren, standardisieren, aber das werden wir erst noch sehen …« Sie schielte zu Toivo hinüber und begann zu lachen. »Aha! Die Trübsal hat dich! ›Drei Monate … ohne dich …‹«

Toivo stand auf und ging durchs Zimmer. Dann setzte er sich zu Assjas Füßen auf den Boden und lehnte seinen Kopf an ihre Knie.

»Du brauchst sowieso Urlaub«, sagte Assja. »Du könntest dort auf die Jagd gehen, ist schließlich die Pandora! Du könntest in die Dünen fahren, dir unsere Plantage ansehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das ist - die Paschkowski-Plantage!«

Toivo schwieg und drückte seine Wange noch stärker an ihre Knie. Da wurde auch sie still. Eine Zeit lang sprach niemand. Dann fragte Assja: »Ist bei dir etwas im Gange?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weiß nicht. Ich seh’s.«

Toivo seufzte, stand vom Boden auf und setzte sich neben Assja auf das Fensterbrett.

»Du siehst richtig«, erklärte er mürrisch. »Es ist was im Gange. Bei mir.«

»Was denn?«

Toivo kniff die Augen zusammen und betrachtete die schwarzen Wolkenbänder, die das kupferfarbene und purpurne Abendrot durchzogen. Die üppigen Wälder, die sich schwarzblau am Horizont abzeichneten. Die schmalen schwarzen Vertikalen der tausendgeschossigen Wolkenkratzer, die sich zu Trauben ballenden Wohnblocks. Die kupfern schimmernde riesige Kuppel des »Forums« zur Linken und die unwahrscheinlich glatte Oberfläche des runden »Meeres« zur Rechten. Sah

»Was ist im Gange?«, fragte Assja.

»Du bist so schön«, sagte Toivo. »Du hast Zobelbrauen. Auch wenn ich nicht genau weiß, was das bedeutet: Ich meine damit etwas sehr Schönes. Dich. Du bist nicht nur schön, du bist wunderschön. Zauberhaft. Und deine Sorgen sind lieb. Und deine Welt ist lieb. Sogar dein Bruno ist lieb, wenn man es recht betrachtet. Und überhaupt ist die Welt schön, weißt du. ›Die Welt ist wie ein Blümlein fein, denn wir sind versorgt vom Glück, mit Herzen fünf und Lebern drei’n, und von Nieren gar neun Stück.‹ Ich weiß nicht, was das für Verse sind. Sie sind mir plötzlich in den Sinn gekommen, und ich hatte Lust, sie aufzusagen. Und eins will ich dir noch verraten, vergiss es nicht! Es kann durchaus passieren, dass ich sehr bald zu dir auf die Pandora fliege. Weil nicht viel fehlt, und er schickt mich in Urlaub. Oder überhaupt zum Teufel. Das sehe ich in seinen Augen. Deutlich wie auf einem Display. Aber jetzt lass uns Tee trinken.«

Assja blickte ihn durchdringend an. »Klappt es nicht?«, fragte sie.

Toivo wich ihrem Blick aus und zog die Schultern hoch.

»Weil du von Anfang an falsch an die Sache herangegangen bist«, sagte Assja entschieden. »Und weil die Aufgabe von Anfang an falsch gestellt war! Man darf eine Aufgabe nicht so stellen, dass man mit keinem Ergebnis zufrieden sein wird. Schon deine Hypothese war falsch - weißt du noch, was ich dir gesagt habe? Wenn jetzt die Wanderer tatsächlich zum Vorschein kämen, wärst du dann etwa froh? Aber nun beginnst du zu begreifen, dass sie nicht da sind, und wieder passt es dir nicht - du hast dich geirrt, hast eine falsche Hypothese geäußert, und jetzt sieht es so aus, als hättest du eine

»Ich habe noch nie mit dir gestritten«, erwiderte Toivo ergeben. »Die Schuld liegt allein bei mir, das ist nun mal mein Schicksal …«

»Schau, auch er ist jetzt ernüchtert, weil aus eurer Idee nichts geworden ist. Aber er wird dich natürlich nicht hinauswerfen, was redest du für einen Unsinn. Er mag dich und schätzt dich, das wissen doch alle. Aber im Ernst: Man kann doch nicht Jahre verschwenden - und wofür eigentlich? Im Grunde habt ihr ja nichts als eine bloße Idee. Niemand bestreitet, dass diese Idee sehr interessant ist, ein Nervenkitzel für jeden von uns, aber doch nicht mehr! Im Grunde ist es ja nur eine Inversion der längst bekannten menschlichen Praxis, der Progressorentätigkeit, eben nur umgekehrt, sonst nichts. Wenn wir versuchen, die Geschichte von anderen geradezubiegen, warum sollten das andere nicht auch mit unserer tun? Warte, hör zu! Erstens vergesst ihr, dass nicht jede Inversion eine Entsprechung in der Realität hat. Die Grammatik ist eins, die Realität etwas anderes. Deshalb war eure Idee anfangs auch interessant, aber jetzt ist es nur noch, na ja, es gehört sich eben nicht. Weißt du, was mir gestern ein Kollege sagte? Er hat gesagt: ›Sehen Sie, wir sind nicht bei der KomKon, aber die kann man wirklich nur beneiden. Wenn die mal auf ein echtes Rätsel stoßen, schreiben sie es einfach den Wanderern zu und fertig!‹«

»Und wer hat das gesagt?«, fragte Toivo finster.

»Was macht das für einen Unterschied? Nimm an: Bei uns spielt das Gärungsmittel verrückt und wir sagten einfach: ›Wozu nach den Ursachen suchen? Es waren die Wanderer!‹ Die blutige Hand der Superzivilisation! Sei nicht böse, bitte. Sei nicht böse! Dir gefallen solche Witze nicht, aber du bekommst sie ja auch fast nie zu hören. Ich dagegen höre sie andauernd. Was mich allein das ›Sikorsky-Syndrom‹ kostet.

Toivo hatte sich schon wieder im Griff. »Und«, sagte er, »das mit dem Gärungsmittel ist eine gute Idee. Das ist ein BV! Ein BV! Warum habt ihr das nicht gemeldet?«, fragte er streng. »Kennt ihr keine Ordnung? Da werden wir euren Meister gleich - vor die Schranken!«

»Für dich ist das alles Spaß«, sagte Assja ärgerlich. »Wohin man blickt - lauter Spaßvögel!«

»Gut so!«, fiel Toivo ein. »Jetzt muss man sich freuen! Denn wenn es richtig losgeht - du wirst sehen, dann ist keinem mehr nach Scherzen zumute.«

Assja schlug sich aufgebracht mit der geballten Hand aufs Knie. »Meine Güte, Toivo! Warum verstellst du dich denn vor mir? Du magst ja keine Witze reißen, dir ist nicht danach - und das kann einen an euch besonders aufbringen! Ihr habt um euch herum eine verbiesterte düstere Welt aufgebaut, eine Welt der Bedrohungen, eine Welt der Angst und Verdächtigungen. Warum? Woher? Woher nehmt ihr diese kosmische Misanthropie?«

Toivo schwieg.

»Vielleicht, weil all eure ungeklärten BVs Tragödien sind? Aber ein BV ist nun mal eine Tragödie! Rätselhaft oder verständlich - aber ebendarum ein BV! Stimmt’s?«

»Nein«, sagte Toivo.

»Wie - gibt es andere BVs, glückliche?«

»Mitunter.«

»Zum Beispiel?«, fragte Assja spitz.

»Lass uns lieber Tee trinken«, schlug Toivo vor.

»Nein, bitte nenn mir ein Beispiel für ein glückliches, freudiges, lebensbejahendes Besonderes Vorkommnis.«

»Gut«, versprach Toivo. »Aber danach trinken wir Tee. Abgemacht?«

»Ach du«, sagte Assja.

Sie schwiegen.

Durch das dichte Laub der Gärten, durch die graublaue Dämmerung hindurch sah man unten verschiedenfarbige Feuerchen aufleuchten. Und die Funken, die sie versprühten, tanzten vor den schwarzen Säulen der Tausendgeschosser.

»Ist dir der Name Goujon bekannt?«, fragte Toivo.

»Ja, sicher.«

»Und Soddy?«

»Natürlich!«

»Was meinst du: Was zeichnet diese Leute aus?«

»Was ich meine! Nicht ich meine, sondern jeder weiß, dass Goujon ein hervorragender Komponist und Soddy ein großer Beichtvater ist. Und was denkst du?«

»Ich denke, dass an ihnen etwas ganz anderes bemerkenswert ist«, sagte Toivo. »Albert Goujon war bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr ein passabler Agrophysiker, aber auch nicht mehr. Er hatte keinerlei musikalisches Talent. Und Bartholomew Soddy befasste sich vierzig Jahre lang mit Schattenfunktionen und war ein trockener, pedantischer und menschenscheuer Mann. Das ist es, was diese Leute so bemerkenswert macht, meiner Meinung nach.«

»Was willst du damit sagen? Was findest du daran bemerkenswert? Es sind Menschen mit verborgenen Talenten, die lange und hartnäckig daran gearbeitet haben - und dann wurde aus Quantität Qualität.«

»Da war keine Quantität, Assja, das ist es ja eben. Nur die Qualität änderte sich plötzlich. Radikal. Binnen einer Stunde. Explosionsartig.«

Assja schwieg eine Weile, wobei sich ihre Lippen bewegten. Dann fragte sie etwas unsicher, aber nicht ohne Ironie: »Soll das etwa heißen, die Wanderer haben sie inspiriert, ja?«

»Das habe ich nicht gesagt. Du wolltest Beispiele hören für glückliche, lebensbejahende BVs. Bitte sehr. Ich kann noch ein Dutzend Namen nennen, wenn auch weniger bekannte.«

»Gut. Und warum befasst ihr euch damit? Was geht euch das eigentlich an?«

»Wir befassen uns mit allen Besonderen Vorkommnissen.«

»Deswegen frage ich ja: Was ist an diesen Vorkommnissen Besonderes?«

»Im Rahmen der bestehenden Vorstellungswelt sind sie unerklärlich.«

»Was ist auf der Welt nicht alles unerklärlich!«, rief Assja. »Das Readertum ist auch unerklärlich, wir haben uns nur daran gewöhnt.«

»Das, woran wir uns gewöhnt haben, halten wir ja auch nicht für unerklärlich. Wir befassen uns nicht mit Erscheinungen, Assja. Wir befassen uns mit Vorkommnissen, Ereignissen. Etwas ist nie dagewesen, tausend Jahre lang nicht, und dann geschieht es plötzlich. Warum ist es geschehen? Unverständlich. Wie ist es zu erklären? Die Fachleute wissen es nicht. Da horchen wir auf. Verstehst du, Assja, du gruppierst die BVs falsch. Wir unterteilen sie nicht in glückliche und tragische, sondern in geklärte und ungeklärte.«

»Glaubst du vielleicht, jedes ungeklärte BV berge eine Gefahr in sich?«

»Ja. Auch die glücklichen.«

»Was kann denn bedrohlich sein an der ungeklärten Verwandlung eines durchschnittlichen Agrophysikers in einen genialen Musiker?«

»Ich habe mich nicht exakt ausgedrückt. Nicht das BV ist bedrohlich. Selbst die geheimnisvollen BVs sind in der Regel völlig harmlos. Manchmal sogar komisch. Bedrohlich aber kann die Ursache des BV sein. Der Mechanismus, der dieses BV auslöste. Man kann die Frage auch so stellen: Warum hatte jemand ein Interesse daran, einen Agrophysiker in einen Musiker zu verwandeln?«

»Vielleicht ist es aber einfach eine statistische Fluktuation!«

»Vielleicht. Das ist es ja gerade - dass wir es nicht wissen. Aber schau, wohin es dich verschlagen hat. Und jetzt sag mir doch bitte: was ist an deiner Erklärung besser als an unserer? Eine statistische Fluktuation, per definitionem unvorhersagbar und unlenkbar. Oder die Wanderer, die natürlich auch nicht ohne sind, bei denen man aber - zumindest im Prinzip - hoffen kann, dass man sie einmal zu fassen bekommt. Ich verstehe, ›statistische Fluktuation‹ klingt weitaus seriöser, wissenschaftlicher, neutraler - nicht wie diese gemeinen, jedem schon zum Halse heraushängenden, billig-romantischen und banal-legendären …«

»Warte, mach dich nicht lustig, bitte«, sagte Assja. »Niemand leugnet deine Wanderer. Davon rede ich doch gar nicht. Du hast mich ganz aus dem Konzept gebracht. Das machst du immer! Mich genauso wie deinen Maxim, und dann läufst du geknickt herum und willst, dass man dich tröstet. Was ich sagen wollte: Gut, mögen sich also die Wanderer in unser Leben einmischen. Aber darum geht es nicht. Wieso aber ist das schlecht? Das ist es, was ich dich frage! Warum macht ihr aus ihnen Schreckgespenster? Das ist, was ich nicht verstehen kann! Niemand versteht das. Warum es zum Beispiel positiv ist, wenn du die Geschichte anderer Welten begradigst; wenn aber andere sich anschicken deine Geschichte zu begradigen … Schließlich weiß heute jedes Kind, dass eine Superintelligenz prinzipiell gut ist!«

»Die Superintelligenz ist supergut«, sagte Toivo.

»Und? Dann erst recht!«

»Nein«, sagte Toivo. »Kein ›dann erst recht‹. Wir wissen, was ›gut‹ ist, obwohl auch das nicht ganz sicher ist. Was aber supergut ist …«

Assja schlug sich wieder aufs Knie. »Ich verstehe es nicht! Unbegreiflich! Woher nimmst du die Annahme einer Bedrohung? Erklär es mir, bring es mir bei!«

»Ihr alle versteht unseren Standpunkt völlig falsch«, sagte Toivo schon recht ärgerlich. »Niemand glaubt, dass die Wanderer uns Menschen Böses wollen. Das ist in der Tat sehr unwahrscheinlich. Wir fürchten etwas anderes, etwas ganz anderes! Wir fürchten, dass sie hier Gutes tun werden - und zwar, wie sie es verstehen!«

»Das Gute ist immer gut!«, erklärte Assja nachdrücklich.

»Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Oder weißt du es etwa wirklich nicht? Aber ich habe es dir doch erklärt. Ich war ganze drei Jahre Progressor, ich habe Gutes getan, nur Gutes, nichts als Gutes. Aber bei Gott, wie haben sie mich gehasst, diese Leute! Und auf ihre Weise hatten sie Recht. Denn da waren Götter gekommen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Niemand hatte sie gerufen, aber sie haben sich hereingedrängt und angefangen, Gutes zu tun. Eben jenes Gute, das immer gut ist. Und sie haben es heimlich getan, weil sie von vorneherein wussten, dass die Sterblichen ihre Ziele nicht begreifen würden. Und wenn sie sie begriffen, würden sie sie nicht akzeptieren. Das sind die ethischen und moralischen Gegebenheiten in dieser verfluchten Situation! Der hörige Feudalbauer in Arkanar versteht nicht, was Kommunismus ist. Der kluge Bourgeois dreihundert Jahre später versteht es und schreckt entsetzt davor zurück. Das sind Binsenweisheiten, aber wir sind nicht imstande, sie auf uns selbst anzuwenden. Warum? Weil wir keine Vorstellung davon haben, was uns die Wanderer anbieten werden. Die Analogie funktioniert nicht! Doch zwei Dinge weiß ich. Erstens: Sie kamen ungebeten. Zweitens: Sie kamen heimlich. Und das heißt, sie gehen zum einen davon aus, dass sie besser wissen als wir, was gut für uns ist. Und zum anderen sind sie von vorneherein davon überzeugt, dass wir ihre Ziele entweder nicht begreifen oder nicht akzeptieren werden. Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber ich will das nicht. Ich will-es-nicht! Und basta!«, sagte er entschieden.

Ohne ein Wort zu sagen, sprang Assja vom Fensterbrett und ging Tee kochen. Toivo legte sich aufs Sofa. Durch das Fenster drang sehr leise das Summen eines exotischen Musikinstruments. Ein riesiger Schmetterling kam auf einmal hereingeflogen, beschrieb einen Kreis über dem Tisch, setzte sich auf den Bildschirm des Visors und entfaltete seine flauschigen schwarz-gemusterten Flügel. Toivo streckte ohne aufzustehen die Hand zum Servicepult aus, bekam es jedoch nicht zu fassen und ließ den Arm sinken.

Assja kam mit einem Tablett herein, füllte die Gläser mit Tee und setzte sich neben ihn.

»Schau«, flüsterte Toivo und wies mit den Augen auf den Schmetterling.

»Ist der schön«, erwiderte Assja ebenfalls flüsternd.

»Ob er vielleicht eine Weile bei uns wohnen will?«

»Nein, das wird er nicht wollen«, sagte Assja.

»Aber wieso! Weißt du noch, die Kasarjanows hatten eine Libelle …«

»Die hat aber nicht bei ihnen gewohnt. Sie war nur zu Besuch.«

»Dann kann der Schmetterling ja auch hier zu Besuch bleiben. Wir werden ihn Bummler nennen.«

»Warum Bummler?«

»Wie sonst?«

»Onyx«, sagte Assja.

»Nein«, entschied Toivo. »Was denn für ein Onyx? Bummler soll er heißen - der Bummler, der einkehrt. Und der Bildschirm wird ab sofort die Einkehr.«


Ich will natürlich nicht behaupten, dass das Gespräch zwischen Toivo und Assja am späten Abend des 8. Mai wörtlich so verlief. Doch ich weiß, dass sie im Allgemeinen viel über diese Themen sprachen, sich stritten und verschiedener Meinung waren. Und dass keiner von ihnen je den anderen zu überzeugen vermochte, das weiß ich ebenso.

Assja war es nicht möglich, ihrem Mann den ihr eigenen, grenzenlosen Optimismus zu vermitteln. Ihr Optimismus speiste sich aus der Atmosphäre um sie herum, aus den Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, aus ihrer Arbeit selbst, die viel mit Geschmack und Güte zu tun hatte. Toivo indes befand sich jenseits dieser optimistischen Welt, in einer Sphäre ständiger Sorge und Wachsamkeit. Hier ließ sich Optimismus nur schwer von einem Menschen auf den anderen übertragen, höchstens unter günstigen Umständen und nicht für lange.

Doch auch Toivo schaffte es nicht, aus seiner Frau eine Gleichgesinnte zu machen, sie mit seinem Gefühl einer sich nähernden Gefahr anzustecken. Seinen Überlegungen fehlte es an Konkretheit. Sie waren abstrakt, konstruiert, eine Weltanschauung, für die Assja keinerlei Bestätigung fand; sie waren eine Art Berufskrankheit. Toivo konnte sie weder mit seiner Angst, noch mit seinem Abscheu, seinem Zorn oder seinem Hass anstecken.

Deshalb wurden sie vom Sturm so unvorbereitet getroffen, wie zwei isolierte Wesen, als hätte es diese Diskussionen, die Streitgespräche und erbitterten Versuche, einander zu überzeugen, nie gegeben.

Am Morgen des 9. Mai begab sich Toivo noch einmal nach Charkow, um sich mit dem Hellseher Hirota zu treffen und

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