2. JUNI’78

Eine unerwartete Reaktion Seiner Exzellenz

Er hörte mir bis zum Ende und ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen zu. Das war ein schlechtes Zeichen. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass seine Unzufriedenheit vielleicht nicht mit mir zusammenhing, sondern mit anderen, mir unbekannten Umständen. Als er mich aber bis zu Ende angehört hatte, sagte er finster: »Bei der Glumowa hast du fast nichts erreicht.«

»Ich war an die Legende gebunden«, antwortete ich trocken.

Er widersprach nicht. »Was gedenkst du als Nächstes zu tun?«, fragte er.

»Ich glaube, hierher wird er nicht wieder zurückkommen.« »Das glaube ich auch. Und zu Maja Glumowa?« »Schwer zu sagen. Das heißt, eigentlich kann ich gar nichts sagen; ich verstehe es nicht. Aber die Möglichkeit besteht natürlich.«

»Wie ist deine Meinung: Wozu hat er sich überhaupt mit ihr getroffen?«

»Das ist es eben, was ich nicht verstehe, Exzellenz. Es sieht ganz so aus, als hätten sie sich geliebt und sich ihren Erinnerungen hingegeben. Nur war die Liebe nicht ganz das, was man sonst darunter versteht, und die Erinnerungen waren nicht einfach nur Erinnerungen. Sonst wäre Maja Glumowa nicht in einem solchen Zustand gewesen. Gewiss, wenn er sich wie ein Schwein hat volllaufen lassen, ist er vielleicht ausfallend geworden, hat sie gekränkt oder verletzt. Vor allem, wenn man bedenkt, was für eine seltsame Beziehung die beiden als Kinder hatten.«

»Übertreib nicht«, knurrte Seine Exzellenz. »Sie sind längst keine Kinder mehr. Stellen wir die Frage so: Wenn er sie wieder

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Aber wahrscheinlich schon. Er bedeutet ihr immer noch sehr viel. Sie wäre niemals so verzweifelt gewesen wegen eines Menschen, der ihr gleichgültig ist.«

»Das ist Lyrik«, knurrte Seine Exzellenz und schnauzte mich plötzlich an: »Du hättest herausfinden müssen, warum er sie zu sich bestellt hat! Worüber sie gesprochen haben! Was er zu ihr gesagt hat!«

Jetzt wurde ich wütend. »Nichts davon konnte ich herausfinden«, sagte ich. »Sie war hysterisch. Und als sie zu sich kam, saß ein Idiot von einem Journalisten vor ihr mit einem zolldicken Fell.«

Er unterbrach mich. »Du musst dich noch einmal mit ihr treffen.«

»Nur, wenn ich meine Legende ändern darf!«

»Was schlägst du vor?«

»Zum Beispiel: Ich bin von der KomKon. Auf einem bestimmten Planeten ist ein Unglück geschehen. Lew Abalkin war Augenzeuge. Aber das Unglück hat ihn so sehr erschüttert, dass er auf die Erde geflohen ist und jetzt niemanden sehen will. Er ist psychisch angeschlagen, beinahe krank. Wir suchen ihn, um zu erfahren, was sich dort ereignet hat.«

Seine Exzellenz schwieg, mein Vorschlag gefiel ihm nicht; er sah unzufrieden aus. Ich betrachtete eine Zeit lang die Glatze mit den Sommersprossen, die den Bildschirm fast vollständig ausfüllte, um dann, etwas zurückhaltender, zu erläutern: »Verstehen Sie, Exzellenz, ich kann jetzt nicht mehr so lügen wie am Anfang. Sie war schon darauf gekommen, dass ich nicht zufällig bei ihr auftauchte. Ich konnte sie, wie es scheint, vom Gegenteil überzeugen. Wenn ich aber noch einmal in derselben Rolle auftauche, widerspricht das nun wirklich dem gesunden Menschenverstand! Entweder sie glaubt,

Ich glaube, das klang recht logisch. Zudem fiel mir im Moment keine bessere Vorgehensweise ein. In der Rolle des blöden Journalisten würde ich jedenfalls nicht wieder bei ihr auftauchen. Letzten Endes aber weiß Seine Exzellenz am besten, was wichtiger ist: den Mann zu finden oder das Fahndungsgeheimnis zu wahren.

Ohne aufzuschauen, fragte er: »Warum warst du heute Morgen im Museum?«

Ich war überrascht. »Was heißt - warum? Ich wollte mit Maja Glumowa sprechen.«

Er hob langsam den Kopf, und ich sah seine Augen. Die Pupillen weiteten sich über die ganze Iris aus. Ich zuckte buchstäblich zurück. Kein Zweifel, ich hatte gerade etwas ganz Fürchterliches gesagt. Wie ein Schuljunge begann ich zu stottern: »Aber sie arbeitet doch da. Wo sollte ich mich denn sonst mit ihr unterhalten? Zu Hause war sie nicht zu erreichen.«

»Die Glumowa arbeitet im Museum für Außerirdische Kulturen?«, fragte er, die Worte sehr deutlich artikulierend.

»Ja, aber was ist denn …?«

»In der Spezialabteilung für Objekte ungeklärter Bestimmung …«, sagte er leise. War es eine Frage oder eine Feststellung? Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als ich sah, wie sich sein linker Mundwinkel nach unten und nach links verzog.

»Ja«, flüsterte ich.

Seine Augen verschwanden; die Glatze füllte wieder den ganzen Bildschirm aus.

»Exzellenz …«

»Schweig!«, schnauzte er. Und dann schwiegen wir beide sehr lange.

»So«, sagte er schließlich mit normaler Stimme. »Du fährst jetzt nach Hause. Bleibst dort und gehst nicht außer Haus. Es kann sein, dass ich dich von einer Minute auf die andere brauche. Wahrscheinlich nachts. Wie lange wirst du unterwegs sein?«

»Zweieinhalb Stunden.«

»Warum so lange?«

»Ich muss noch über den See schwimmen.«

»Gut. Wenn du zu Hause bist, erstatte Meldung. Beeil dich.«

Und der Bildschirm wurde dunkel.



Aus dem Bericht Lew Abalkins

Der Regen wird wieder stärker, der Nebel immer dichter, so dass von der Straßenmitte aus die Häuser rechts und links kaum noch zu sehen sind. Die Experten geraten in Panik - sie befürchten, bald könnten die bio-optischen Umsetzer versagen. Ich beruhige sie. Kaum sind sie beruhigt, fordern sie mich auf, den Nebelscheinwerfer einzuschalten. Nachdrücklich. Also tue ich ihnen den Gefallen. Gerade wollen sie triumphieren, als sich Wepl mitten auf der Straße auf seinen Schwanz setzt und verkündet, er werde keinen weiteren Schritt mehr tun, solange dieser blöde Regenbogen nicht verschwinde, der ihm Schmerzen in den Ohren und Kribbeln zwischen den Zehen verursache. Er, Wepl, könne auch ohne die unsinnigen Scheinwerfer bestens sehen. Und wenn die Experten nichts sähen, dann bräuchten sie auch nichts zu sehen. Sie sollten

Einer der Experten ist so unvorsichtig, Wepl zu drohen, er bekäme kein Mittagessen, wenn er störrisch bliebe. Wepls Stimme wird lauter. Er sagt, er, Wepl, sei sein Leben lang sehr gut, ja bestens, ohne Experten ausgekommen. Mehr noch, wir würden uns hier immer gerade dann am wohlsten fühlen, wenn von Experten weder etwas zu sehen noch zu hören sei. Was aber den Experten anginge, der es anscheinend auf seinen, Wepls, Haferbrei mit Bohnen abgesehen habe … Und so weiter und so fort.

Ich stehe im Regen, der immer stärker und stärker wird, höre mir dieses Experten-Bohnen-Gefasel an und schaffe es nicht, aus einer Art tiefen Betäubung, einem Schlaf zu erwachen. Mir ist, als sähe ich mir eine besonders dumme Theatervorstellung an, die weder Anfang noch Ende hat, wo alle handelnden Personen ihre Rollen vergessen haben und einfach sagen, was ihnen in den Sinn kommt, in der vergeblichen Hoffnung, alles werde irgendwie wieder ins Lot kommen. Diese Vorstellung wird speziell für mich gegeben, um mich möglichst lange auf meinem Platz zu halten, damit ich mich keinen Schritt fortbewege. In der Zwischenzeit aber sorgt jemand hinter den Kulissen eilig dafür, dass ich endgültig begreife: Es hat alles keinen Sinn, da kann man nichts machen, nur wieder nach Hause zu gehen …

Mit großer Anstrengung reiße ich mich zusammen und schalte den verdammten Scheinwerfer aus. Wepl bricht eine

»Macht dir das Spaß?«, frage ich Wepl leise.

Er schielt mit dem kugeligen Auge herüber.

»Ziemlich intrigant«, sage ich. »Ihr Kopfler seid überhaupt alle Intriganten und Streithammel …«

»Es ist feucht«, sagt Wepl unpassenderweise. »Und jede Menge Frösche. Man weiß nicht, wohin man den Fuß setzen soll … Wieder Lastwagen«, teilt er mit.

Aus dem Nebel dringt deutlich und streng der Gestank von nassem rostigem Eisen zu uns, und eine Minute später stehen wir inmitten einer riesigen, ungeordneten Ansammlung unterschiedlichster Autos.

Da stehen offene Lastwagen und geschlossene Lastwagen mit Kofferaufbau, riesige Tieflader, winzige, tropfenförmige Sportwagen, aber auch grässliche Konstruktionen mit Autosteuerung und acht mannshohen Rädern. Sie stehen mitten auf der Straße, auf den Fußwegen, kreuz und quer, die Stoßstangen ineinandergerammt, manche hängen halb übereinander - und sind so verrostet, dass sie beim geringsten Stoß gewiss auseinanderfallen werden. Hunderte Autos. Schnell voranzukommen ist unmöglich; wir müssen um sie herumgehen, über sie drüberklettern, uns zwischen ihnen hindurchzwängen. Alle Wagen sind zudem mit Hausrat beladen, und auch der ist längst bis zur Unkenntlichkeit verfault, verrottet und verrostet …

Irgendwo, ganz am Rande meiner Wahrnehmung, plappern noch die zurechtgewiesenen Experten, tönt Vanderhoeze mir aufgeregt ins Ohr; aber ich habe gerade keine Zeit für sie: Fluchend ziehe ich meinen Fuß aus dem stinkenden Morast halbverwester Lumpen und breche gleich danach, wieder fluchend,

Aber dann, ganz plötzlich, hört das chaotische Labyrinth auf.

Ringsumher stehen zwar noch immer Autos, Hunderte von Autos, jetzt aber relativ geordnet, zu beiden Seiten der Fahrbahn und auf dem Fußweg aufgereiht, wobei die Mitte der Straße wieder völlig frei ist.

Ich schaue Wepl an. Der schüttelt sich wütend, kratzt sich mit allen vier Pfoten zugleich, leckt sich den Rücken, spuckt, flucht … und fängt wieder an, sich zu schütteln, zu kratzen und zu lecken.

Vanderhoeze erkundigt sich besorgt, warum wir abseits der Marschroute gingen und was das für ein Warenlager gewesen sei. Ich erkläre, dass es gar kein Warenlager gewesen sei. Wir haben eine Diskussion zum Thema: Wenn das Spuren einer Evakuierung sind, warum ist die Bevölkerung dann vom Stadtrand zum Zentrum hin evakuiert worden?

»Zurück gehe ich auf diesem Weg aber nicht«, erklärt Wepl, hebt seine Pfote und zerdrückt mit einem wütenden Schlag einen vorbeihüpfenden Frosch auf der Fahrbahn.

Um zwei Uhr nachmittags verbreitet der Stab die erste zusammenfassende Meldung. Es hat hier eine ökologische Katastrophe

Die Straße wird breiter. Häuser und Wagenreihen auf beiden Seiten der Straße verschwinden nun völlig im Nebel, und ich habe das Gefühl, als sei vor mir ein offener, freier Platz. Noch ein paar Schritte, und vor uns taucht eine gedrungene quadratische Silhouette aus dem Nebel auf. Es ist wieder ein Panzerwagen - genauso einer wie der, den wir unter der umgestürzten Wand gesehen haben. Aber dieser hier ist unter dem eigenen Gewicht zusammengesackt, fast schon in den Asphalt hineingewachsen. Alle Luken stehen weit offen. Zwei kurze MG-Läufe - einst bedrohlich jedem entgegengereckt, der auf den Platz trat - sind abgesackt und hängen schlaff und trostlos in der Öffnung; rostige Tropfen rinnen heraus auf den schiefen Schutzschild. Im Vorbeigehen gebe ich der offenen Seitentür einen Tritt, aber sie ist festgerostet.

Vor mir sehe ich nichts. Der Nebel auf dem Platz ist sehr sonderbar - unnatürlich dicht, als läge er schon seit vielen, vielen Jahren hier und sei mit der Zeit abgestanden, wie Milch geronnen, durch die eigene Schwere abgesunken.

»Unter die Füße!«, kommandiert Wepl plötzlich.

Ich sehe nach unten und sehe nichts. Stattdessen wird mir plötzlich klar, dass unter unseren Füßen kein Asphalt mehr

»Du kannst deinen Scheinwerfer einschalten«, knurrt Wepl.

Aber ich sehe auch ohne den Scheinwerfer, dass der Asphalt hier nahezu lückenlos mit einer dicken, unappetitlichen Schicht überzogen ist - einer feuchten Masse, wie zusammengepresst, auf der in den verschiedensten Farben dicker Schimmel wächst. Ich ziehe das Messer heraus, hebe eine Lage dieser Schicht ab, und stoße auf einen Lappen oder das Stück eines Gurts. Darunter schaut in trübem Grün etwas Rundes heraus (ein Knopf oder eine Schnalle?), und ein paar Drahtfedern beginnen sich langsam zu strecken …

»Alle sind sie hier gegangen«, sagt Wepl in einem merkwürdigen Tonfall.

Ich stehe auf und gehe weiter über das Weiche, Glitschige. Ich versuche, meine Phantasie im Zaum zu halten, aber es gelingt mir nicht. Alle sind sie hier gegangen, auf genau diesem Weg, haben ihre Sportwagen und Laster, die sie nicht mehr brauchten, stehen lassen. Hunderttausende, Millionen sind von der Hauptstraße auf diesen Platz geströmt, um den Panzerwagen herum, bestückt mit bedrohlichen, aber machtlosen Maschinengewehren. Haben im Gehen das wenige fallen lassen, was sie hatten mitnehmen wollen. Sind gestolpert und gestürzt, ohne wieder aufstehen zu können. Und alles, was zu Boden fiel, wurde von Millionen Füßen zertreten, wieder und wieder zertreten. Und ich weiß nicht, warum, doch mir scheint, als wäre das alles in der Nacht passiert - Massen von Menschen, erhellt von einem unwirklichen, toten Licht, eine Stille wie im Traum …

»Eine Grube«, sagt Wepl.

Ich habe den Scheinwerfer eingeschaltet. Keine Spur von einer Grube. So weit der Lichtstrahl reicht, ist auf dem großen, ebenen Platz nur das Leuchten des lumineszierenden Schimmels zu sehen - zahllose trübe Feuerchen … Zwei

»Stufen!«, sagt Wepl wie verzweifelt. »Mit Löchern! Tief! Ich sehe kein …«

Ich bekomme eine Gänsehaut. Noch nie habe ich Wepl mit einer so sonderbaren Stimme sprechen hören. Ich sehe nicht hin, aber lege die Hand auf seinen großen Kopf mit der hohen Stirn und spüre das nervöse Zucken des dreieckigen Ohrs. Der furchtlose Wepl ist erschrocken. Der furchtlose Wepl schmiegt sich an mein Bein, genauso wie sich seine Vorfahren an die Beine ihrer Herren geschmiegt haben, wenn sie vor der Höhle etwas Unbekanntes oder Gefährliches witterten …

»Da ist kein Boden«, sagt er verzweifelt. »Das verstehe ich nicht. Es gibt immer einen Boden. Sie sind alle dort hineingegangen, aber da ist kein Boden, und niemand ist zurückgekehrt. Müssen wir dort hinein?«

Ich hocke mich wieder hin, umarme ihn. »Ich sehe hier keine Grube«, sage ich in der Kopflersprache. »Ich sehe nur ein ebenes, rechteckiges Stück Asphalt.«

Wepl atmet schwer, seine Muskeln sind angespannt, und er drückt sich immer enger an mich. »Du kannst es nicht sehen«, sagt er. »Es sind vier Treppen mit löchrigen Stufen. Abgetreten. Glänzend. Immer tiefer und tiefer. Und nirgendwohin. Ich will nicht da hinunter. Befiehl es nicht.«

»Wepl«, sage ich. »Was ist denn mit dir los? Wie könnte ich dir etwas befehlen?«

»Bitte mich nicht«, sagt er, »ruf nicht, fordere mich nicht auf.«

»Wir gehen jetzt von hier weg«, antworte ich.

»Ja, und zwar schnell!«

Ich diktiere eine Meldung. Vanderhoeze hat meine Leitung gleich zum Stab weitergeschaltet, und als ich fertig bin, weiß schon die ganze Expedition Bescheid. Großes Durcheinander, Geschrei. Hypothesen werden aufgestellt, Maßnahmen vorgeschlagen. Viel Lärm. Wepl kommt allmählich zu sich: Er schielt mit dem gelben Auge herüber und leckt sich in einem fort. Schließlich schaltet sich Komow selbst ein. Das Geschrei hört auf. Wir bekommen den Befehl, weiter vorzudringen, und folgen ihm bereitwillig.

Wir machen einen Bogen um das unheimliche Rechteck, überqueren den Platz, passieren einen zweiten Panzerwagen, der die Hauptstraße auf der gegenüberliegenden Seite blockiert, und stehen erneut zwischen zwei Kolonnen verlassener Fahrzeuge. Wepl läuft munter voraus. Er ist wieder ganz der Alte - energiegeladen, streitsüchtig und hochmütig. Insgeheim muss ich lächeln. Mir an seiner Stelle wäre es schrecklich peinlich, wenn ich mich auf dem Platz nicht im Griff gehabt und einen solch panischen Anfall bekommen hätte, ja, mich gefürchtet hätte wie ein Kind … Nicht aber Wepl. Er quält sich deswegen ganz und gar nicht. Ja, er hat sich gefürchtet und es nicht verbergen können, aber er sieht darin nichts Beschämendes, nichts Peinliches.

Jetzt beginnt er laut zu überlegen: »Sie sind alle unter die Erde gegangen. Wenn es da einen Boden gäbe, würde ich denken, sie lebten jetzt alle unter der Erde, sehr tief, unhörbar. Aber da ist kein Boden! Und ich verstehe nicht, wo sie dort leben sollten. Ich begreife nicht, warum es da keinen Boden gibt und wie das sein kann.«

»Versuch es zu erklären«, sage ich zu ihm. »Das ist sehr wichtig.«

Aber Wepl kann es nicht erklären. Er wiederholt nur, wie unheimlich, ja furchterregend es sei. Die Planeten sind rund, versucht er zu erläutern, und dieser Planet hier ist auch rund, ich habe es selbst gesehen, aber auf diesem Platz ist er nicht

»Aber warum habe ich dieses Loch nicht gesehen?«

»Weil es zugeklebt ist. Du kannst es nicht sehen. Für solche wie dich ist es zugeklebt, nicht aber für solche wie mich …«

Dann, plötzlich, wittert er wieder Gefahr - eine gewöhnliche und nicht besonders große. Lange war sie verschwunden. Jetzt ist sie wieder da.

Eine Minute später bricht von der Fassade eines Hauses rechts von uns der Balkon im zweiten Stock ab und stürzt hinunter. Sofort frage ich Wepl, ob sich jetzt die Gefahr verringert habe. Er antwortet umgehend: Ja, ein wenig, aber nicht sehr. Ich will ihn fragen, von welcher Seite uns die Gefahr jetzt droht, als mich plötzlich im Rücken ein starker Luftschwall trifft. In meinen Ohren pfeift es. Wepl sträubt sich das Fell.

Es ist, als wehe ein Orkan durch die Straße - ein heißer, mit dem Geruch von Eisen versetzter Orkan. Zu beiden Seiten der Straße stürzen krachend Balkons und Simse herab. Von einem langen niedrigen Haus löst sich das Dach; alt und löchrig, wie es ist, fliegt es - langsam kreisend und in Stücke brechend - auf das Pflaster und verschwindet in einer gelben Staubwolke.

»Was geht da bei euch vor?«, schreit Vanderhoeze.

»Irgendein Luftzug«, antworte ich.

Ein neuer Windstoß lässt mich wider Willen vorwärtslaufen. Das ist irgendwie demütigend.

»Abalkin! Wepl!«, brüllt Komow. »Haltet euch in der Mitte! Bleibt weg von den Häusern. Ich blase gerade den Platz durch; es kann bei euch zu Einstürzen kommen …«

Und ein dritter, kurzer und heißer Orkan braust die Hauptstraße entlang - just in dem Moment, als Wepl versucht, sich gegen den Wind zu drehen. Schon wird er von den Füßen gerissen

»Ist es jetzt vorbei?«, fragt er gereizt, als sich der Orkan legt; er versucht nicht einmal, wieder auf die Füße zu kommen.

»Vorbei«, sagt Komow. »Ihr könnt weitergehen.«

»Vielen, vielen Dank«, zischt Wepl giftig.

Im Äther kichert jemand, der sich nicht beherrschen kann. Anscheinend Vanderhoeze.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagt Komow. »Aber ich musste den Nebel auflösen.«

Als Antwort stößt Wepl den längsten und ausgefeiltesten Fluch der Kopflersprache aus; dann steht er auf, schüttelt sich ausgiebig und erstarrt in unbequemer Haltung.

»Lew«, sagt er. »Keine Gefahr mehr. Gar keine. Weggeweht.«

»Wenigstens etwas«, antworte ich.

Eine Nachricht von Espada, in der er uns eine äußerst emotionale Beschreibung des Obersten Gatta’uchs liefert. Ich sehe ihn wie lebendig vor mir: einen schrecklich schmutzigen, stinkenden Greis voller Ausschlag und Grinden. Er sieht aus, als sei er zweihundert, behauptet aber, er sei einundzwanzig. In einem fort krächzt er, hustet, spuckt aus und schnäuzt sich. Auf den Knien hält er ein automatisches Gewehr und ballert damit von Zeit zu Zeit über Espadas Kopf hinweg ins Blaue. Er hat keine Lust, auf Fragen zu antworten, stellt aber unablässig selbst welche; die Antworten hört er betont unaufmerksam an und erklärt jede zweite lauthals zur Lüge.

Die Hauptstraße mündet in den nächsten Platz. Nein, es ist weniger ein Platz als vielmehr eine halbrunde Parkanlage. Sie liegt auf der rechten Seite; dahinter erstreckt sich ein langes Gebäude mit einer gebogenen, gelb gestrichenen Fassade mit falschen Säulen darauf. Auch das Gebüsch der Parkanlage

Es ist hell und glänzt wie neu, als wäre es erst heute Morgen zwischen den gelben Büschen aufgestellt worden. Ein Zylinder, zwei Meter hoch und etwa einen im Durchmesser, aus einem halbdurchsichtigen, bernsteinartigen Material. Er steht senkrecht, und die ovale Tür ist fest verschlossen.

Bei Vanderhoeze an Bord flammt Enthusiasmus auf, Wepl aber demonstriert aufs Neue seine Gleichgültigkeit, ja, Verachtung gegenüber Gegenständen, für die sich »sein Volk nicht interessiert«: Er beginnt sich augenblicklich zu kratzen und wendet dem »Glas« dabei sein Hinterteil zu.

Ich gehe einmal um das »Glas« herum, entdecke einen kleinen Vorsprung an der ovalen Tür, nehme ihn zwischen zwei Finger, ziehe die Tür einen Spalt weit auf und schaue hinein. Ein Blick reicht aus. Was ich sehe, ist entsetzlich. Abstoßend. Ungeheuerlich. Das gesamte Innere des »Glases« ist mit langen, ekelhaften und in unzähligen Gelenken eingeknickten Gliedmaßen ausgefüllt. Scheren, einen halben Meter groß, sind vorgestreckt und übersät mit Dornen. Stumpf und finster, werde ich aus einer Doppelreihe trüber, mattgrüner Augen angestarrt: eine gigantische Krebsspinne von der Pandora, in ihrer ganzen Pracht …

Nicht die Angst ließ mich reagieren, sondern der rettende Reflex auf etwas vollkommen Unvorhergesehenes. Ehe ich wusste, wie mir geschah, stemmte ich mich schon aus ganzer Kraft mit der Schulter gegen die zugeschlagene Tür und mit den Füßen in den Erdboden, schweißnass von Kopf bis Fuß und am ganzen Leibe zitternd.

Aber Wepl ist schon bei mir, bereit zu sofortigem, entschlossenem Kampf: Er wippt auf seinen federnden Beinen hin und her, wiegt erwartungsvoll den großen Kopf, und seine blendend weißen Zähne glitzern in den Winkeln seiner Schnauze.

Ich taste nach dem Griff des Scorchers und zwinge mich, die verdammte Tür loszulassen. Langsam gehe ich rückwärts, den Scorcher im Anschlag. Wepl folgt mir und wird dabei immer ärgerlicher.

»Ich habe dich etwas gefragt!«, ruft er entrüstet.

»Was denn«, presse ich zwischen den Zähnen hervor, »witterst du immer noch nichts?«

»Wo? Etwa in der Kabine da? Dort ist nichts!«

Vanderhoeze und seine Experten reden aufgeregt auf mich ein. Ich höre nicht auf sie. Ich weiß selbst, dass ich die Tür mit einem Balken verkeilen könnte, falls sich einer findet, oder gleich die ganze Kabine mit dem Scorcher verbrennen … Ich gehe noch weiter zurück, und lasse dabei kein Auge von der Tür des »Glases«.

»In der Kabine ist nichts!«, wiederholt Wepl hartnäckig. »Nichts und niemand. Und das seit vielen, vielen Jahren. Soll ich die Tür öffnen und dir beweisen, dass dort nichts ist?«

»Nein«, sage ich und bringe nur mit Mühe meine Stimme unter Kontrolle. »Wir gehen jetzt hier weg.«

»Ich mache nur die Tür auf …«

»Wepl«, sage ich. »Du irrst.«

»Wir irren uns nie. Ich gehe. Du wirst sehen.«

»Du irrst dich!«, herrsche ich ihn an. »Wenn du jetzt nicht mit mir kommst, dann heißt das, dass du nicht mein Freund bist und ich dir vollkommen gleichgültig bin!«

Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe. Den Scorcher, entsichert und auf Dauerentladung eingestellt, behalte in der Hand. Mein Rücken ist so groß, so breit wie die ganze Straße - und völlig ungeschützt.

Mit äußerst unzufriedenem, mürrischem Ausdruck tappt Wepl links hinter mir her. Er knurrt und sucht Streit. Als wir etwa zweihundert Schritt von der Kabine entfernt sind, ich

Ohne auch nur einen einzigen Laut von sich gegeben zu haben, schließt er die Tür und kommt zurück. Ein gedemütigter, vernichteter Wepl. Ein Wepl, der seine komplette Untauglichkeit vorbehaltlos eingesteht und deshalb in Zukunft jedwede Behandlung zu dulden bereit ist. Er kehrt zurück, setzt sich zu meinen Füßen und senkt den Kopf. Wir schweigen. Ich vermeide es, ihn anzusehen. Ich schaue auf das »Glas« und merke, wie Rinnsale von Schweiß auf meinen Schläfen trocknen, wie die Haut spannt, das quälende Zittern in den Muskeln aufhört und von einem dumpfen, ziehenden Schmerz abgelöst wird. Am liebsten würde ich jetzt zischen: »Du Mistvieh, Idiot!«, und ihm dann mit ganzer Kraft eine Ohrfeige auf seinen dummen, sturen und hirnlosen Kopf versetzen. Aber ich sage nur: »Wir haben Glück gehabt. Aus irgendeinem Grund greifen sie hier nicht an.«

Eine Mitteilung vom Stab. Man geht davon aus, dass es sich bei »Wepls Rechteck« um den Eingang zu einem interspatialen Tunnel handelt, durch den die ganze Bevölkerung des Planeten evakuiert worden ist. Vermutlich von den Wanderern

Wir gehen durch einen ungewohnt leeren Stadtteil - keinerlei Getier, sogar die Mücken sind verschwunden. Mir gefällt das nicht, aber Wepl kann nichts Beunruhigendes entdecken.

»Diesmal seid ihr zu spät gekommen«, knurrt er.

»Ja, sieht so aus«, stimme ich zu.

Es ist das erste Mal seit dem Zwischenfall mit der Krebsspinne, dass Wepl etwas sagt. Anscheinend möchte er lieber über etwas reden, was nicht damit zusammenhängt - ein Wunsch, der bei Wepl recht selten ist.

»Die Wanderer«, brummt er. »Andauernd höre ich: die Wanderer, die Wanderer … Wisst ihr denn gar nichts über sie?«

»Sehr wenig. Wir wissen, dass es eine Superzivilisation ist, dass sie weitaus mächtiger sind als wir. Wir nehmen an, dass es sich nicht um Humanoide handelt. Und wahrscheinlich haben sie schon vor sehr langer Zeit unsere ganze Galaxis erschlossen. Außerdem nehmen wir an, dass sie kein Zuhause haben - in unserem oder in eurem Sinne des Wortes. Deshalb nennen wir sie auch die Wanderer

»Wollt ihr ihnen begegnen?«

»Ja, wie soll ich es sagen … Komow würde alles dafür geben. Ich dagegen würde es vorziehen, ihnen nicht zu begegnen.«

»Fürchtest du sie?«

Ich habe keine Lust, über diese Frage zu sprechen. Schon gar nicht jetzt.

»Siehst du, Wepl«, sage ich, »das ist eine lange Geschichte. Du solltest dich besser wieder ein bisschen hier umsehen. Mir scheint, du bist ein wenig unaufmerksam geworden.«

»Ich sehe mich um. Alles ist ruhig.«

»Hast du bemerkt, dass alles Getier verschwunden ist?«

»Das liegt daran, dass hier des Öfteren Menschen sind«, sagt Wepl.

»Ach so? Da hast du mich aber beruhigt.«

»Jetzt sind keine da. Fast keine.«

Das zweiundvierzigste Viertel geht zu Ende, und wir kommen an eine Kreuzung. Plötzlich sagt Wepl: »Hinter der Ecke steht ein Mensch. Allein.«

Es ist ein gebrechlicher alter Mann mit einem schwarzen, fersenlangen Mantel und einer Pelzmütze, deren Ohrenklappen

Er belädt gerade ein Wägelchen, das auf hohen schmalen Rädern steht und aussieht wie ein Kinderwagen: Zuerst schleppt er sich durch ein zerbrochenes Schaufenster, verschwindet dort für längere Zeit und kommt dann langsam wieder heraus. Dabei stützt er einen Arm gegen die Wand und drückt mit dem anderen, gekrümmten Arm immer zwei oder drei Dosen mit grellen Etiketten an die Brust. Jedes Mal, wenn er es bis zu seinem Wägelchen geschafft hat, lässt er sich erschöpft auf einen kleinen dreibeinigen Klappstuhl sinken, sitzt eine Zeit lang unbeweglich da und beginnt dann, ebenso langsam wie vorsichtig, die Dosen aus dem gekrümmten Arm in den Wagen zu legen. Hat er es geschafft, ruht er sich wieder aus, als schliefe er im Sitzen. Danach steht er mit wackligen Beinen auf und geht erneut zum Schaufenster.

Wir stehen hinter der Ecke und geben uns keine Mühe, uns zu verstecken; wir wissen, dass der Alte um sich herum weder etwas sieht noch hört. Wepls Worten zufolge ist er hier ganz allein, ringsum ist niemand, allenfalls sehr weit weg. Ich habe keine Lust, mit dem Alten Kontakt aufzunehmen, werde es aber offensichtlich tun müssen - und sei es, um ihm beim Einsammeln der Dosen zu helfen. Aber ich habe Angst, ihn zu erschrecken. Ich bitte Vanderhoeze, ihn Espada zu zeigen, soll Espada feststellen, was er für einer ist - »Zauberer«, »Soldat« oder »Mensch«.

Der Alte hat nun zum zehnten Mal seine Dosen abgeladen und ruht sich wieder aus, zusammengesunken auf dem dreibeinigen Stühlchen. Sein Kopf zittert ein bisschen und sinkt

»Ich habe bisher nichts dergleichen gesehen«, erklärt Espada. »Sprechen Sie mit ihm, Lew.«

»Er ist wirklich sehr alt«, sagt Vanderhoeze zweifelnd.

»Gleich wird er sterben«, knurrt Wepl.

»Eben«, sage ich. »Insbesondere wenn ich in diesem merkwürdigen, regenbogenfarbenen Anzug vor ihm auftauche …«

Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, da kippt der Alte nach vorn und fällt seitwärts auf die Straße.

»Schon vorbei«, sagt Wepl. »Wir können hingehen und ihn uns ansehen, wenn es dich interessiert.«

Der Alte ist tot; er atmet nicht, und es ist kein Puls mehr zu spüren. Alles deutet auf einen Infarkt und vollkommene physische Erschöpfung hin. Nicht vom Hunger - er war einfach sehr, sehr alt und hinfällig. Ich knie mich neben ihn und betrachte sein grünlich-weißes, hageres Gesicht, die buschigen grauen Augenbrauen, den leicht geöffneten, zahnlosen Mund, die eingefallenen Wangen. Ein sehr menschliches, irdisches Gesicht. Der erste normale Mensch in dieser Stadt - tot. Und ich kann nichts tun, denn ich habe nur die Feldausrüstung bei mir.

Ich spritze ihm zwei Ampullen Nekrophag und sage Vanderhoeze, dass er Ärzte herschicken soll. Ich will mich nicht länger hier aufhalten. Das wäre sinnlos. Er wird nicht mehr sprechen, und wenn, dann nicht sehr bald. Bevor ich gehe, bleibe ich noch eine Minute lang bei ihm stehen, betrachte das halb mit Konservendosen gefüllte Wägelchen, den umgekippten Klappstuhl, und denke, dass der Alte dieses Stühlchen sicherlich immer mitgeschleppt und sich alle paar Minuten zum Ausruhen daraufgesetzt hat.

Gegen sechs Uhr abends beginnt es zu dämmern. Nach meinen Berechnungen haben wir bis zum Ende unserer Route noch zwei Stunden Weg vor uns, und ich schlage Wepl vor,

Wir setzen uns auf den Rand eines großen, ausgetrockneten Springbrunnens, der sich am Fuße eines geflügelten, steinernen Fabelwesens befindet. Ich öffne die Proviantpakete, wir essen. Ringsumher sehen wir den matten Widerschein der Häusermauern, es ist totenstill. Mir fällt ein, dass jetzt auf Dutzenden der zurückgelegten Kilometer unserer Marschroute keine tödliche Leere mehr herrscht, sondern Menschen am Werk sind. Ein angenehmer Gedanke.

Beim Essen spricht Wepl nie. Ist er jedoch satt, plaudert er gern.

»Dieser Alte«, sagt er, während er sich sorgfältig die Pfote ableckt, »ob sie ihn wirklich wieder lebendig gemacht haben?«

»Ja.«

»Er lebt wieder, geht, spricht?«

»Sprechen wird er wohl kaum, und gehen erst recht nicht, aber er lebt.«

»Schade«, brummt Wepl.

»Schade?«

»Ja. Schade, dass er nicht sprechen kann. Es wäre interessant zu erfahren, was dort ist …«

»Wo?«

»Dort, wo er war, als er nicht mehr lebte.«

Ich lache. »Du meinst, dass dort etwas ist?«

»Muss es ja. Ich muss schließlich irgendwo hingeraten, wenn ich nicht mehr da bin.«

»Wohin gerät der elektrische Strom, wenn man ihn ausschaltet?«, frage ich.

»Das habe ich auch nie begreifen können«, gesteht Wepl. »Aber dein Argument ist ungenau. Ja, ich weiß nicht, wohin der elektrische Strom gerät, wenn man ihn ausschaltet. Aber ich weiß ebenso wenig, wo er herkommt, wenn man ihn einschaltet.

»Aber wo warst du, als es dich noch nicht gab?«, frage ich listig.

Aber für Wepl ist das kein Problem. »Ich war im Blut meiner Eltern. Und vorher im Blut der Eltern meiner Eltern.«

»Also wirst du, wenn es dich nicht mehr gibt, im Blut deiner Kinder sein …«

»Und wenn ich keine Kinder habe?«

»Dann wirst du in der Erde sein, im Gras, in den Bäumen.«

»Das stimmt nicht! Im Gras und in den Bäumen wird mein Körper sein. Aber wo bin dann ich selbst?«

»Im Blut deiner Eltern warst auch nicht du selbst, sondern dein Körper. Schließlich kannst du dich nicht daran erinnern, wie es im Blut deiner Eltern gewesen ist.«

»Wieso kann ich mich nicht erinnern?«, wundert sich Wepl. »An sehr vieles erinnere ich mich!«

»Ja, richtig«, murmele ich und gebe mich geschlagen, »ihr habt ja ein Erbgedächtnis.«

»Nennen kann man es, wie man will«, brummt Wepl. »Aber ich begreife wirklich nicht, wohin ich gerate, wenn ich jetzt auf der Stelle sterbe. Ich habe ja keine Kinder.«

Ich beschließe, die Diskussion abzubrechen. Mir ist klar, dass ich Wepl niemals werde begreiflich machen können, dass dort nichts ist. Deshalb packe ich schweigend das Proviantpaket zusammen, lege es in den Rucksack und setze mich bequem hin, strecke die Beine aus.

Wepl hat auch die zweite Pfote sorgfältig abgeleckt, das Fell auf seinen Backen in Ordnung gebracht und nimmt die Unterhaltung wieder auf.

»Ich wundere mich über dich, Lew«, sagt er. »Über euch alle. Habt ihr es wirklich noch nicht satt hier?«

»Wir arbeiten hier«, antworte ich träge.

»Wozu Arbeit ohne Sinn tun?«

»Warum denn ohne Sinn? Du siehst doch, wie viel wir an einem einzigen Tag erfahren haben.«

»Eben deshalb frage ich ja: Wozu wollt ihr etwas erfahren, was keinen Sinn hat? Was wollt ihr damit anfangen? In einem fort und ständig erfahrt ihr etwas, aber ihr fangt ja doch nichts damit an.«

»Zum Beispiel?«, frage ich.

Wepl ist groß im Diskutieren. Gerade hat er einen Sieg über mich errungen, und jetzt versucht er es offenbar ein zweites Mal.

»Zum Beispiel die Grube ohne Boden, die ich vorhin gefunden habe. Wer kann eine Grube ohne Boden gebrauchen und wozu?«

»Es ist eigentlich keine Grube«, sage ich. »Eher die Tür zu einer anderen Welt.«

»Könnt ihr durch diese Tür gehen?«, erkundigt sich Wepl.

»Nein«, gebe ich zu. »Können wir nicht.«

»Wozu braucht ihr dann eine Tür, durch die ihr sowieso nicht gehen könnt?«

»Heute können wir es nicht, aber morgen werden wir es vielleicht können.«

»Morgen?«

»Im weiteren Sinne. Übermorgen. In einem Jahr …«

»Eine andere Welt, eine andere Welt«, knurrt Wepl. »Habt ihr etwa nicht genug Platz auf dieser?«

»Wie soll ich sagen … Vielleicht ist es ja unserer Phantasie zu eng hier.«

»Klar doch!«, bemerkt Wepl giftig. »Und kaum seid ihr in der anderen Welt angekommen, schon fangt ihr an, sie nach dem Bild eurer eigenen umzumodeln. Und natürlich wird es eurer Phantasie dann wieder zu eng, und ihr sucht euch noch irgendeine Welt und fangt wieder an, sie umzumodeln …«

Plötzlich hält er in seiner Philippika inne, und im selben Moment spüre ich die Anwesenheit eines Fremden. Ganz nahe. Zwei Schritte weiter. Dort, am Sockel des Fabelwesens.

Es scheint ein ganz normaler Eingeborener zu sein, wohl einer aus der Kategorie »Menschen« - ein kräftiger, stattlicher Mann in Leinenhosen und mit einer Windjacke auf dem bloßen Oberkörper; an einem Riemen um den Hals trägt er ein automatisches Gewehr. Eine ungekämmte Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht; Wangen und Kinn sind glatt rasiert. Er steht völlig reglos am Sockel; nur seine Augen wandern ruhig von mir zu Wepl und zurück. Anscheinend sieht er in der Dunkelheit nicht schlechter als wir. Ich verstehe nicht, wie er lautlos und unbemerkt so nah an uns herankommen konnte.

Ich fasse mit der Hand vorsichtig hinter den Rücken und schalte den Lingar meines Translators ein.

»Komm her und setz dich, wir sind Freunde«, sage ich, indem ich nur die Lippen bewege.

Mit einer halben Sekunde Verzögerung dringen aus dem Lingar die entsprechenden, sogar recht angenehmen Kehllaute.

Der Unbekannte zuckt zusammen und weicht einen Schritt zurück.

»Hab keine Angst«, sage ich. »Wie heißt du? Ich heiße Lew und er Wepl. Wir sind keine Feinde. Wir wollen mit dir sprechen.«

Nein, das wird nichts. Der Unbekannte weicht noch einen Schritt zurück und verschwindet schon halb hinter dem Sockel. Sein Gesicht ist noch immer ausdruckslos, und es ist nicht einmal klar, ob er versteht, was man ihm sagt.

Aber ich gebe nicht auf. »Wir haben gutes Essen. Vielleicht bist du hungrig oder willst trinken? Setz dich zu uns, ich gebe dir gern etwas ab.«

Mir ist plötzlich eingefallen, dass dem Eingeborenen dieses »wir« und »zu uns« seltsam vorkommen muss, und ich bin

»Er geht«, knurrt Wepl.

Und gleich sehe ich den Eingeborenen wieder: Er überquert mit langen, geräuschlosen und gleichsam schwebenden Schritten die Straße, betritt den gegenüberliegenden Gehweg, und ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, verschwindet er um die Ecke.

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