2. JUNI’78

»Ossinuschka«. Doktor Goannek

Vom Ostufer aus erschien »Ossinuschka« wie eine verstreute Ansammlung weißer und roter Dächer, die im rotgrünen Dickicht der Ebereschen versanken. Es gab einen schmalen Streifen Strand sowie einen hölzernen Bootssteg, an den die vielen bunten Boote immer wieder anstießen. Auf dem ganzen sonnenüberfluteten Hang war kein Mensch zu sehen; nur auf dem Bootssteg selbst saß ein Mann in weißer Kleidung, mit herabhängenden nackten Beinen, vielleicht ein Angler; er saß ganz still, fast unbeweglich.

Ich zog mich aus, warf meine Kleidungsstücke auf den Sitz und ließ mich leise ins Wasser gleiten. Es war sehr schön, das Wasser des Welje-Sees, klar und süß, das Schwimmen ein reines Vergnügen.

Als ich den Bootssteg hochgeklettert war und auf einem Bein über die sonnenwarmen Bretter hüpfte, um Wasser aus dem Ohr zu schütteln, wandte der weiß angezogene Mann endlich seine Aufmerksamkeit von dem Schwimmer ab und sah mich über die Schulter hinweg an. Interessiert erkundigte er sich: »Und so kommen Sie den ganzen Weg von Moskau hierher - bloß mit einer Badehose?«

Wieder hatte ich es mit einem etwa Hundertjährigen zu tun. Er war fast so hager wie seine Angelrute aus Bambus, sein Gesicht jedoch nicht gelblich, sondern eher braun, fast schwarz. Vielleicht lag das aber auch an dem Kontrast zu seiner makellos weißen Kleidung. Seine blauen Augen waren eher klein, wirkten aber sehr jung und fröhlich. Die strahlend weiße Mütze mit der großen Sonnenblende bedeckte seinen sicherlich kahlen Kopf und ließ ihn wie einen pensionierten Jockey aussehen oder wie einen Jungen aus einem Buch von Mark Twain, der die Sonntagsschule schwänzt.

»Es soll hier sehr viele Fische geben«, sagte ich und hockte mich neben ihn.

»Schwindel«, erwiderte er kurz und in harschem Ton.

»Man sagt, hier könne man seine Zeit sehr angenehm verbringen«, sagte ich.

»Kommt drauf an, wer man ist.«

»Es soll auch ein beliebter Kurort sein.«

»War es«, sagte er.

Jetzt fiel mir nichts mehr ein. Wir schwiegen.

»Vor drei Jahren, junger Mann«, erklärte er in belehrendem Ton, »war hier ein beliebter Kurort. Oder, wie sich mein Urenkel Brjatscheslaw ausdrückt, ›drei Jahre zurück‹. Jetzt aber gibt es hier keine Erholung mehr ohne eisiges Wasser, ohne Mückenschwärme, ohne ungegartes, rohes Essen und dichten Urwald. ›Starrender Fels mein Aufenthalt‹, sehen Sie - wie Taimyr- und Baffinland … Raumfahrer?«, fragte er plötzlich. »Progressor? Ethnologe?«

»War ich«, antwortete ich nicht ohne Schadenfreude.

»Und ich bin Arzt«, sagte er prompt. »Ich nehme an, Sie brauchen mich nicht? In den letzten drei Jahren hat mich hier kaum jemand gebraucht. Sicher, die Erfahrung lehrt, dass ein Patient selten allein kommt. Gestern zum Beispiel bin ich gebraucht worden. Warum also nicht auch heute? Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht brauchen?«

»Nur als angenehmen Gesprächspartner«, sagte ich aufrichtig.

»Na, wenigstens dafür schönen Dank«, erwiderte er. »Dann kommen Sie, gehen wir Tee trinken.«

Doktor Goannek bewohnte eine geräumige Blockhütte neben dem medizinischen Pavillon, die mit allem Notwendigen ausgestattet war: einer Außentreppe mit Geländer, geschnitzten Fensterrahmen, einem Wetterhahn, einem russischen Ultraschallofen mit automatischer Temperaturregelung, integrierter Wanne und Doppelliege sowie einem zweistöckigen

Doktor Goanneks Tee bestand aus kalter Rübensuppe, Hirsebrei und Kürbis sowie aus schäumendem Kwass mit Rosinen. Tee als solchen gab es nicht: Nach seiner festen Überzeugung verursachte der Genuss von starkem Tee die Bildung von Steinen, und dünnen Tee hielt er für kulinarischen Nonsens.

Doktor Goannek war schon sehr lange in »Ossinuschka«; vor zwölf Jahren hatte er die hiesige Praxis übernommen. Kennengelernt hatte er »Ossinuschka« als gewöhnlichen Kurort, wie es sie zu Tausenden gab, und dann seinen sensationellen Aufstieg miterlebt - als es in der Kurortkunde hieß, nur die gemäßigte Zone garantiere optimale Erholung. Und er hatte »Ossinuschka« auch jetzt nicht verlassen, wo sich der Kurort, wie es schien, in hoffnungslosem Niedergang befand.

Die diesjährige Saison hatte wie immer im April begonnen und bisher nur drei Leute nach »Ossinuschka« gelockt. Mitte Mai kam ein Ehepaar - zwei vollkommen gesunde Umweltreiniger, die aus dem Nordatlantik anreisten, wo sie eine Unmenge radioaktiven Mülls beseitigt hatten. Das Paar - ein Bantu-Afrikaner und eine Malayin - hatte die Hemisphären verwechselt und geglaubt, es könne hier im Mai Ski laufen. Nachdem es einige Tage durch die umliegenden Wälder gewandert war, machte es sich eines Nachts mit unbekanntem Ziel davon und schickte erst eine Woche später ein Telegramm von den Falkland-Inseln, mit entsprechenden Entschuldigungen.

Und dann war gestern früh ganz unverhofft noch ein sonderbarer junger Mann in »Ossinuschka« aufgetaucht. Wieso sonderbar? Zum einen war unklar, wie er hierhergekommen war, denn er hatte weder Land- noch Wasserfahrzeug dabei.

Der letzte Punkt kam dem Touristen Kammerer ein wenig seltsam vor, doch Doktor Goannek lieferte die entsprechende Erläuterung augenblicklich nach: Der junge Mann hatte nicht nach Doktor Goannek persönlich gesucht, sondern überhaupt nach einen Arzt, und das so schnell wie möglich. Er klagte über nervöse Erschöpfung, und die hatte er in der Tat, und zwar in einem so hohen Maße, dass ein erfahrener Arzt wie Doktor Goannek sie mit bloßem Auge erkennen konnte. Die nachfolgende, eingehende Untersuchung ergab zum Glück keinerlei pathologischen Befund. Es war großartig, wie heilsam sich die erfreuliche Diagnose auf den jungen Mann auswirkte. Er blühte förmlich auf und empfing, als wäre nichts gewesen, schon nach zwei, drei Stunden wieder Gäste, beziehungsweise handelte es sich dabei weniger um Gäste, als vielmehr um eine junge Dame. Nein, diese war auf ganz gewöhnliche Weise gekommen - mit einem Standard-Gleiter. Und das war auch richtig so: Für einen jungen Mann gibt es prinzipiell keine heilsamere Therapie als eine bezaubernde junge Frau. In seiner jahrelangen praktischen Tätigkeit hatte Doktor Goannek oft genug solche Fälle erlebt. Zum Beispiel … Doktor Goannek führte Beispiel Nummer eins an. Oder sagen wir … Es folgte Beispiel Nummer zwei. Die beste Psychotherapie für junge Frauen sei dementsprechend … Und Doktor

Sofort beeilte sich auch der Tourist Kammerer, mit einem Beispiel aus eigener Erfahrung aufzuwarten und erzählte, wie er sich als Progressor seinerzeit auch einmal am Rande eines Nervenzusammenbruchs befunden hatte. Doch dieses armselige, untaugliche Beispiel wies Doktor Goannek empört zurück. Bei den Progressoren nämlich lag die Sache ganz anders - viel komplizierter, doch in gewissem Sinne auch wieder einfacher. Jedenfalls hätte sich Doktor Goannek nie erlaubt, ohne Konsultation eines Spezialisten irgendwelche psychotherapeutischen Mittel bei dem jungen Mann anzuwenden, wenn dieser ein Progressor gewesen wäre.

Aber das war er natürlich nicht und hätte es auch schwerlich werden können: Von seiner nervlichen Konstitution her war der junge Mann dafür kaum geeignet. Nein, das war kein Progressor, sondern ein Schauspieler oder Maler, der gerade einen schwerwiegenden Misserfolg oder eine tiefgreifende Schaffenskrise erlebt hatte. Und es war gewiss nicht das erste und auch nicht das zweite Mal, dass Doktor Goannek in seiner langjährigen Praxis einen solchen Fall erlebte. Da war zum Beispiel … Und Doktor Goannek begann wieder, Fälle auszubreiten, einer schöner als der andere, wobei er die echten Namen selbstverständlich gegen alle möglichen XYs, Betas oder Alphas austauschte.

Der Tourist Kammerer, vormals Progressor und von Natur aus ein wenig grob, unterbrach diese lehrreichen Darlegungen recht unhöflich, indem er erklärte, um keinen Preis mit einem halbverrückten Künstler im selben Kurort wohnen zu wollen. Das war eine unbedachte Bemerkung, und man verwies den Touristen Kammerer sofort in seine Schranken. Zunächst wurde das Wort »halbverrückt« analysiert, nach Strich und Faden kritisiert und schließlich als medizinisch nicht zutreffend und zudem vulgär vom Tisch gefegt. Erst danach erklärte

Der ehemalige Progressor Kammerer blieb völlig unempfindlich gegen das Gift, das der Doktor versprühte, und fasste alles wörtlich auf. Er äußerte seine volle Zufriedenheit, dass der Kurort jetzt frei sei von nervös erschöpften Kunstschaffenden und man sich ungestört und nach eigenem Geschmack einen passenden Platz für den Aufenthalt aussuchen könne.

»Wo hat denn dieser Neurastheniker gewohnt?«, fragte er geradeheraus und erläuterte: »Nicht, dass ich womöglich dorthin gehe.«

Dieses Gespräch fand bereits auf der Außentreppe mit dem Ziergeländer statt. Doktor Goannek war ein wenig schockiert und wies daher bloß schweigend auf eine malerische Hütte mit der großen, in blauer Schrift gemalten Zahl sechs. Sie stand ein wenig abseits von den übrigen Gebäuden unmittelbar am Abhang.

»Hervorragend«, erklärte der Tourist Kammerer. »Da gehen wir also nicht hin. Stattdessen gehen wir beide erst einmal dorthin … Mir gefällt, dass da die Ebereschen noch dichter zusammenstehen.«

Zweifellos hatte der leutselige Doktor Goannek anfangs die Absicht gehabt, sich als Führer und Ratgeber für den Kurort anzubieten und sich, sollte dies abgelehnt werden, notfalls auch aufzudrängen. Doch der Tourist und ehemalige Progressor Kammerer kam ihm jetzt allzu ruppig und ungehobelt vor.

»Selbstverständlich«, sagte er trocken. »Ich empfehle Ihnen, diesen Pfad dort entlangzugehen. Dann finden Sie das Haus Nummer zwölf.«

»Was? Und Sie?«

»Entschuldigen Sie mich bitte. Wissen Sie, nach dem Tee ruhe ich mich immer ein wenig in der Hängematte aus.«

Zweifellos hätte ein einziger, bittender Blick genügt und Doktor Goannek hätte nachgegeben, wäre seiner Gewohnheit um der Gastfreundschaft willen untreu geworden. Deshalb beeilte sich der ruppige, vulgäre Kammerer, dem Ganzen noch etwas hinzuzusetzen.

»Ja, ja, das verdammte Alter«, ließ er sich mitfühlend vernehmen, und der Fall war erledigt.

Innerlich kochte Doktor Goannek vor Wut und Empörung, doch er begab sich schweigend zu seiner Hängematte. Ich aber tauchte im Dickicht der Ebereschen unter und lief schräg über den Abhang zur Hütte des Neurasthenikers.

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