Dokument 4

KomKon 2

Ural/Norden

Bericht Nr. 013/99

Datum: 26. März’99

Autor: T. Glumow, Inspektor

Projekt 009: »Besuch der alten Dame«

Betr.: Fukamiphobie, Geschichte der Novelle zum »Gesetz über die obligatorische Bioblockade«


Bei der Analyse von Fällen aus den letzten einhundert Jahren, in denen Massenphobien auftraten, kam ich zu folgendem Schluss: Im Rahmen des Projekts 009 könnten die Ereignisse von Interesse sein, die der Annahme der bekannten Gesetzesnovelle »Über die Bioblockade« durch den Weltrat am 02. 02.’85 vorangingen.

Es ist in Betracht zu ziehen:

1. Die Bioblockade, auch Tokio-Verfahren genannt, wird auf der Erde und den Äußeren Welten seit rund einhundertfünfzig Jahren angewandt. »Bioblockade« ist kein professioneller Terminus und wird hauptsächlich von Journalisten benutzt. Die Mediziner nennen das Verfahren »Fukamisation« zu Ehren der Schwestern Nathalie und Hoshiko Fukami, die sie theoretisch begründet und als Erste in der Praxis eingesetzt haben. Mit der Fukamisation soll eine Erhöhung der natürlichen Anpassungsfähigkeit des menschlichen Organismus an die äußeren Bedingungen erreicht werden (Bioadaption). In ihrer klassischen Form wird das Fukamisationsverfahren ausschließlich bei Kleinkindern angewandt, beginnend mit der letzten Phase der intrauterinären Entwicklung. Soweit ich herausfinden und verstehen konnte, besteht das Verfahren aus zwei Etappen.

Die Injektion des UNBLAF-Serums (einer Kultur von »Lebensbakterien«) erhöht die Widerstandsfähigkeit des Organismus gegenüber sämtlichen bekannten (Viren-, Bakterienund Sporen-)Infektionen sowie allen organischen Giften um ein Vielfaches (Bioblockade im eigentlichen Sinne).

Ebenso verbessert eine Aktivierung des Hypothalamus durch Mikrowellenstrahlung die Fähigkeit des Organismus enorm, sich an physikalische Umwelteinflüsse anzupassen - harte Strahlung, ungünstige Zusammensetzung des Gases in der Atmosphäre oder hohe Temperaturen. Außerdem erhöht sich die Fähigkeit des Organismus zur Regeneration verletzter innerer Organe; das von der Retina wahrgenommene Spektrum wird breiter; die Fähigkeit zur Psychotherapie nimmt zu usw.

Der vollständige Text zur Durchführung der Fukamisation ist weiter unten angeführt.

2. Bis zum Jahr’85 wurde das Fukamisationsverfahren nach dem »Gesetz über die obligatorische Bioblockade« allgemeinverbindlich angewandt. Im Jahre’82 ging dem Weltrat


Instruktion

zur Durchführung der schrittweisen pränatalen und postnatalen Fukamisation von Neugeborenen

1. Genauen Zeitpunkt für den Beginn des Geburtsvorgangs entsprechend der Methode des Ganzen Vielfachen ermitteln (empfohlene Diagnostiken: Radioimmunanalysator NIMBUS, Sets FDC 4 und FDC 8).

2. Spätestens 18 Stunden vor Beginn der ersten Kontraktionen der Gebärmutter Volumen des Fötus und Volumen des Fruchtwassers separat ermitteln.

3. Notwendige Dosis des UNBLAF-Serums feststellen. Eine vollständige, stabile, langfristige Immunisierung gegen Eiweiß-Agentien und organische Verbindungen mit eiweißähnlicher und haptoider Struktur wird bei einer Dosierung von 6,8 Gamma-Mol pro Gramm Lymphgewebe erreicht. Anmerkung: a) Bei einem Volumenindex von weniger als 3,5 wird die Dosis um 16 % erhöht. b) Bei Mehrlingen wird die Menge des verabreichten Serums um 8 % pro Fötus vermindert (bei Zwillingen 8 %, bei Drillingen 16 % usw.).

4. 6 Stunden vor Beginn der ersten Muskelkontraktion der Gebärmutter die errechnete Menge des UNBLAF-Serums mit dem Nullinjektor durch die vordere Bauchdecke in die Amnionhöhle einführen. Die Injektion ist von der Seite vorzunehmen, die dem Rücken des Fötus gegenüberliegt.

5. 15 Minuten nach der Geburt Szintigrafie des Thymus des Neugeborenen vornehmen. Bei einem Thymusindex von weniger als 3,8 zusätzlich 2,6 Gamma-Mol des UNBLAF-Serums in die Nabelvene injizieren.

6. Bei Anstieg der Körpertemperatur das Neugeborene unverzüglich in einer sterilen Box unterbringen. Die erste normale Fütterung darf frühestens 12 Stunden nach Erreichen der Normaltemperatur erfolgen.

7. 72 Stunden nach der Geburt wird die Mikrowellen-Aktivierung der Adaptogenese-Zonen des Hypothalamus durchgeführt. Die topografische Lage der Zonen wird mit dem Programm BINAR-1 berechnet. Die Volumina der Hypothalamus-Zonen müssen entsprechen:

Zone 1: 36-42 Neuronen

Zone 2: 178-194 Neuronen

Zone 3: 125-139 Neuronen

Zone 5: 460-510 Neuronen

Anmerkung: Bei der Messung sicherstellen, dass das Geburtshämatom vollständig absorbiert ist. Die erhaltenen Daten werden in den BIOFAK-IMPULS eingegeben. Die Korrektur des IMPULSES von Hand ist strikt untersagt!

8. Das Neugeborene in die Operationskammer des BIOFAK-IMPULSES legen. Bei Ausrichtung des Kopfes besonders , dass die Abweichung auf der Skala »Sterotaxie« nicht mehr als 0,014 beträgt.

9. Die Mikrowellen-Aktivierung der Adaptogenese-Zonen des Hypothalamus erfolgt bei Erreichen des zweiten Tiefschlaf-Niveaus, was 1,8-2,1 mV Alpharhythmus des Enzephalogramms entspricht.

10. Alle Berechnungen sind unbedingt in die persönliche Karte des Neugeborenen einzutragen.

Was die Ereignisse angeht, die im Februar’85 zur Annahme der Novelle des »Gesetzes über die obligatorische Bioblockade« führten, habe ich Folgendes herausgefunden:


1. In den 150 Jahren, in denen die Fukamisation global praktiziert wird, wurde kein einziger Fall bekannt, in dem das Verfahren einem Behandelten geschadet hätte. Deswegen waren Fälle, in denen Mütter die Fukamisation verweigerten, bis zum Frühjahr’81 auch außerordentlich selten. Die überwiegende Mehrheit der Ärzte, die ich konsultierte, hatte davon bis zum angegebenen Zeitpunkt nicht einmal gehört. Bekenntnisse gegen die Fukamisation - theoretischer oder propagandistischer Natur - hatte es hingegen bereits mehrfach gegeben. Hier die einschlägigen Publikationen dazu aus unserem Jahrhundert:


C. DEBOUQUET: Den Menschen bauen? Lyon’32.

Eine postume Ausgabe des letzten Buchs Dubouquets, eines bedeutenden (heute vergessenen) Anti-Eugenikers. Der zweite Teil des Buchs befasst sich ausschließlich mit der Kritik der Fukamisation als eines »skrupellosen, subversiven Eindringens in den menschlichen Organismus im Naturzustand«. Dubouquet unterstreicht den irreversiblen Charakter der von der Fukamisation bewirkten Veränderungen (»… niemandem ist es jemals gelungen, einen aktivierten Hypothalamus wieder


K. PUMIVUR: Der Reader - Rechte und Pflichten. Bangkok’15. Der Autor, Vizepräsident der Weltassoziation der Reader, befürwortet und propagiert die maximale aktive Beteiligung der Reader an allem Tun der Menschheit. Seine Aktionen gegen die Fukamisation begründet er mit Daten aus einer privaten Statistik. Diesen zufolge wirke sich die Fukamisation ungünstig auf die Ausbildung des Reader-Potenzials beim Menschen aus: In der Epoche der Fukamisation sei der relative Anteil der Reader in der Bevölkerung zwar nicht zurückgegangen, doch sei in diesem Zeitraum kein einziger Reader aufgetaucht, der den Readern an der Wende vom 21. zum 22. Jahrhundert an Kraft gleichkomme. Der Autor ruft dazu auf, die Fukamisationspflicht abzuschaffen - fürs Erste wenigstens für die Kinder und Enkel von Readern. (Die Materialien des Buches sind hoffnungslos veraltet: In den dreißiger Jahren tauchte eine ganze Reihe von Readern mit sehr großer Kraft auf - Alexander Solemba, Peter Dzomny und andere.)


AUGUST XESIS: Der Stein des Anstoßes. Athen’37.

Die Broschüre des bekannten Theoretikers und Predigers des Noophilismus beinhaltet eine scharfe Kritik an der Fukamisation, wobei diese Kritik eher poetischer als rationaler Natur ist. Nach den Vorstellungen des Noophilismus dient das Weltall als Gefäß für den Nookosmos, in den nach dem Tod der mental-emotionale Code der menschlichen Persönlichkeit einfließt. Insofern stellt der Noophilismus eine Art Vulgarisierung der Theorie von Jakovitz dar. Anscheinend aber kennt sich Xesis mit der Fukamisation gar nicht aus: Er stellt sie sich


J. TOCEYVILLE: Homo audax. Birmingham’51.

Die Monografie ist ein typisches Beispiel für eine ganze Reihe von Büchern und Broschüren, die für eine Drosselung des technologischen Fortschritts eintreten. Charakteristisch für alle Bücher dieser Art ist die Apologetik erstarrter Zivilisationen, wie man sie etwa auf der Tagora oder bei der Biozivilisation der Leonida findet. Darin heißt es, die Zeit des technologischen Fortschritts auf der Erde sei vorbei, und die Expansion der Menschheit in den Kosmos stelle eine Art soziale Verschwendung dar, die in der Perspektive zu bitterer Enttäuschung führen werde. Der Vernunftbegabte Mensch werde zum Tollkühnen Menschen, dem bei der Jagd nach der Quantität rationaler und emotionaler Information deren Qualität abhandenkomme. (Dabei wird vorausgesetzt, dass die Information über den Psychokosmos von sehr viel höherer Qualität ist, als jene über den Äußeren Kosmos (im weitesten Sinne des Wortes)). Die Fukamisation leiste der Menschheit einen Bärendienst, weil gerade sie die Mutation des Homo sapiens zum Homo audax begünstige, indem sie seine expansionistischen Potenzen erweitere und so de facto stimuliere. Es wird vorgeschlagen, in der ersten Phase zumindest auf die Aktivierung des Hypothalamus zu verzichten.


C. OXOVIEW: Bewegung auf der Vertikalen. Kalkutta’61. »C. Oxoview« ist das Pseudonym eines Wissenschaftlers oder einer Gruppe von Wissenschaftlern, die die Idee vom sogenannten vertikalen Progress des Menschen formuliert und in

Der Verfasser betont, derlei Effekte stellten zwar für die überwiegende Mehrheit der Menschen keine unmittelbare Gefahr dar, illustrierten aber auf eindrucksvolle Weise, dass die Fukamisation längst nicht so gut erforscht sei, wie ihre Anhänger behaupteten. Es ist nicht zu leugnen, dass das Material sorgfältig ausgesucht und effektvoll präsentiert ist. Mehrere, sehr beeindruckende Absätze sind beispielsweise den sogenannten G-Allergien gewidmet, bei denen eine Aktivierung des Hypothalamus kontraindiziert ist. Die G-Allergie tritt sehr selten auf und kann bereits im Mutterleib problemlos diagnostiziert werden. Sie stellt keine Gefahr dar, weil die Säuglinge dem zweiten Fukamisationsschritt einfach

Die Monografie wurde mehrfach aufgelegt, und es scheint, als habe sie bei der Erörterung der Gesetzesnovelle keine geringe Rolle gespielt. Die letzte Auflage des Buches (Los Angeles’99) enthält interessanterweise kein einziges Wort über die Fukamisation: Es scheint, als sei der Autor durch die Gesetzesnovelle voll und ganz zufriedengestellt und am Schicksal der verbliebenen 99,9… Prozent der Menschheit, die ihre Kinder weiterhin der Fukamisation unterziehen, nicht mehr interessiert.


Anmerkung: Ich möchte am Ende dieses Abschnitts ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich die hier verwendeten Materialien unter dem Aspekt ihrer Relevanz, und zwar aus meiner persönlichen Sicht heraus, ausgesucht und kommentiert habe. Ich bitte um Verzeihung, falls mein nicht allzu hoher Bildungsstand Anlass zur Unzufriedenheit geben sollte.


2. Die erste Verweigerung der Fukamisation, die eine ganze Epidemie von Verweigerungen nach sich zog, wurde offenbar im Kreißsaal der Siedlung K’sawa (Äquatorialafrika) registriert. Am 17. 04.’81 verboten alle drei werdenden Mütter, die sich im Laufe des Tages im Kreißsaal aufhielten, dem Personal, die Fukamisationsprozedur an ihnen vorzunehmen - unabhängig voneinander und in unterschiedlicher Weise, aber sehr entschieden.

Die Kreißende A (erste Geburt) begründete ihre Verweigerung mit einem entsprechenden Wunsch ihres Mannes, der kurz zuvor tödlich verunglückt war. Die Kreißende B (zweite Geburt) versuchte nicht einmal, ihre Weigerung zu erklären; schon der geringste Versuch, sie von ihrer Meinung abzubringen, versetzte sie in einen hysterischen Zustand. »Ich will einfach nicht!«, wiederholte sie. Die Kreißende C (dritte Geburt) war sehr verständig, ruhig und begründete ihre Weigerung mit dem Wunsch, über das Schicksal des Kindes nicht ohne sein Wissen und Einverständnis zu entscheiden. »Wenn es größer ist, soll es selbst entscheiden«, sagte sie.

Ich führe diese Argumente hier an, weil sie sehr typisch sind. Sie wurden in 95 Prozent der Fälle, und nur mit leichten Abwandlungen, von den »Verweigerinnen« angegeben. In der Literatur findet man dazu die folgende Klassifikation: Weigerung vom Typ A: eine rationale, aber im Grunde nicht verifizierbare Begründung - 20 Prozent. Weigerung vom Typ B: Phobie im engeren Sinn, hysterisches, irrationales Verhalten - 65 Prozent. Weigerung vom Typ C: ethische Erwägungen - 10 Prozent. Selten ist die Weigerung vom Typ R: sehr unterschiedlich in Form und Inhalt, bezieht sich auf religiöse Beweggründe oder besondere philosophische Lehren usw. - 5 Prozent.

Am 18. April kam es im selben Krankenhaus zu zwei weiteren Verweigerungen; auch in den Kreißsälen der Region wurden solche registriert. Zum Monatsende zählten die Fälle von Verweigerung schon viele Hundert und waren in allen Regionen des Erde zu verzeichnen. Und am 5. Mai traf die erste Meldung von einer Verweigerung außerhalb der Erde ein (Mars, Große Syrte). Die Epidemie von Weigerungen dauerte - mal aufflammend, mal abflauend - bis’85 an, so dass zu dem Zeitpunkt, als die Gesetzesnovelle angenommen wurde, die Gesamtzahl der »Verweigerinnen« bei rund 50 000 lag (1 Promille aller Gebärenden).

Die Gesetzmäßigkeiten der Epidemie sind phänomenologisch sehr gut erforscht und dokumentiert, fanden aber dennoch keine auch nur halbwegs überzeugende Erklärung.

Es gab beispielsweise zwei geografische Zentren für die Ausbreitung der Epidemie: Eins lag in Äquatorialafrika, das andere in Nordostsibirien. Es liegt nahe, hier eine Analogie zu den wahrscheinlichen Entstehungs- und Ausbreitungszentren der Menschheit zu entdecken, doch erklärt diese freilich nichts.

Ein zweites Beispiel. Die Verweigerungen erfolgten immer individuell, aber die erste Weigerung in einem Kreißsaal zog immer weitere nach sich. So entstand der Terminus einer »Kette von Verweigerungen aus n Gliedern«, wobei n ziemlich groß sein kann. Eine »Kette« im Kreißsaal der Frauenklinik von Gowekai begann am 11. 09.’83, dauerte bis 21. 09.’83 und umfasste alle werdenden Mütter, die nacheinander in den Kreißsaal kamen, so dass die Kette aus insgesamt 19 Gliedern bestand.

In einigen Krankenhäusern kam es immer wieder zu Verweigerungsepidemien, so im Berner Säuglingspalast, wo sie zwölfmal hintereinander auftrat.

Dennoch: In den allermeisten Kreißsälen auf der Erde hatte man von den Verweigerungsepidemien nicht einmal etwas gehört, ebenso wenig in den meisten außerirdischen Siedlungen. An den Orten jedoch, wo Epidemien auftraten (Große Syrte, Saula-Basis, Kurort), entwickelten sie sich nach den für die Erde typischen Gesetzmäßigkeiten.

3. Den Ursachen für die Entstehung der Fukamiphobie ist eine umfangreiche Literatur gewidmet. Ich habe mir die fundiertesten Arbeiten, die mir Prof. Deruyod vom Psychologischen Zentrum in Lhasa empfohlen hat, genauer angesehen. Um eine sachkundige Zusammenfassung dieser Arbeiten zu liefern, fehlt mir die nötige Ausbildung. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass es bislang keine anerkannte Theorie der Fukamiphobie gibt. Stattdessen beschränke ich mich an


FRAGE: Halten Sie es für möglich, dass bei einem gesunden, glücklichen Menschen eine Phobie auftritt?

ANTWORT: Eigentlich ist das unmöglich. Eine Phobie entsteht beim gesunden Menschen immer infolge übermäßiger physischer und psychischer Belastung. Und dann wird man ihn nicht mehr glücklich nennen oder sagen können, bei ihm sei alles in Ordnung. Allerdings ist sich der Mensch in unserer heutigen, turbulenten Zeit nicht immer darüber im Klaren, dass er überanstrengt ist … Subjektiv kann er sich durchaus für erfolgreich oder gar zufrieden halten; eine bei ihm auftretende Phobie kann daher aus der Sicht eines Laien unerklärlich sein.

FRAGE: Und was die Fukamiphobie betrifft?

ANTWORT: Sie wissen, in bestimmter Hinsicht ist die Schwangerschaft noch heute ein Geheimnis. Erst vor sehr kurzer Zeit haben wir herausgefunden, dass die Psyche einer schwangeren Frau eine binäre Psyche ist - das Ergebnis einer unglaublich komplizierten Wechselwirkung zwischen der wohlausgeformten Psyche eines erwachsenen Menschen und der pränatalen Psyche eines Kindes, und über diese Wechselwirkung wissen wir bis heute praktisch nichts. Hinzu kommen die unvermeidlichen physischen Belastungen und neurotischen Störungen, so dass hier ein günstiger Nährboden für Phobien entsteht. Aus dem Gesagten jedoch zu schließen, wir hätten irgendetwas von dieser wunderlichen Geschichte erklärt - das wäre unseriös und sehr voreilig.

FRAGE: Gibt es irgendwelche Besonderheiten der »Verweigerinnen« im Vergleich zu den anderen werdenden Müttern, physiologische oder psychologische zum Beispiel? Sind solche Untersuchungen durchgeführt worden?

ANTWORT: Vielfach. Und es konnte nichts Konkretes dabei festgestellt werden. Persönlich war ich immer der Ansicht und bin es noch heute, dass die Fukamiphobie eine Universalphobie ist, wie zum Beispiel die Phobie gegen den Null-Transport. Nur, dass die Null-T-Phobie sehr verbreitet ist; Furcht vor dem ersten Null-T-Übergang empfindet praktisch jeder - unabhängig von Geschlecht und Beruf. Später verliert sich diese Angst spurlos. Die Fukamiphobie hingegen ist zum Glück eine sehr seltene Erscheinung. Ich sage »zum Glück«, denn Wege zur Heilung der Fukamiphobie sind nicht gefunden worden.

FRAGE: Habe ich Sie richtig verstanden, Professor, dass keine einzige konkrete Ursache bekannt ist, die Fukamiphobie hervorruft?

ANTWORT: Keine, die gesichert wäre. Es gibt allerdings verschiedenste Hypothesen dazu, Dutzende.

FRAGE: Zum Beispiel?

ANTWORT: Die Propaganda der Fukamisationsgegner zum Beispiel. Auf ein leicht zu beeindruckendes Gemüt, noch dazu in der Schwangerschaft, könnte die Propaganda durchaus Eindruck machen. Oder, zweites Beispiel, die Hypertrophie des Mutterinstinkts - das instinktive Bedürfnis, sein Kind von allen äußeren Einwirkungen abzuschirmen, auch von den nützlichen. Sie möchten widersprechen? Nicht nötig. Ich stimme völlig mit Ihnen überein. All diese Hypothesen erklären - im günstigsten Fall - eine sehr kleine Menge der Fakten. Weder die »Weigerungsketten« noch die geografischen Besonderheiten der Epidemie konnte man bisher erklären. Erst recht unbegreiflich ist die Tatsache, warum sie ausgerechnet im Frühjahr’81 einsetzte, und zwar nicht nur auf der Erde, sondern auch weit entfernt.

FRAGE: Und warum es im Jahre’85 aufhörte - kann man das erklären?

ANTWORT: Stellen Sie sich vor, ja. Die Tatsache, dass die Novelle angenommen wurde, hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Epidemie verebbte. Natürlich blieb auch dabei vieles unklar, aber das sind schon Details.

FRAGE: Was meinen Sie, könnte die Epidemie auch aufgrund unvorsichtiger Experimente ausgebrochen sein?

ANTWORT: Theoretisch ist das möglich. Aber wir haben diese Hypothese seinerzeit überprüft. Auf der Erde werden keinerlei Experimente durchgeführt, die in der Lage wären, Massenphobien hervorzurufen. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass die Fukamiphobie gleichzeitig auch außerhalb der Erde auftrat.

FRAGE: Welche Arten von Experimenten könnten denn Phobien hervorrufen?

ANTWORT: Wahrscheinlich habe ich mich nicht exakt ausgedrückt. Ich kann Ihnen eine ganze Reihe technischer Methoden nennen, mit denen sich bei Ihnen, einem gesunden Menschen, eine Phobie erzeugen ließe. Beachten Sie: irgendeine. Wenn ich Sie beispielsweise in einem bestimmten Rhythmus mit einem Neutrinokonzentrat bestrahle, bekommen Sie eine Phobie. Aber was für eine Phobie wäre das? Platzangst? Höhenangst? Angst vor der Angst? Das kann ich vorher nicht sagen. Um bei einem Menschen jedoch eine bestimmte Phobie wie z. B. die Fukamiphobie auszulösen, die Angst vor der Fukamisation - nein, davon kann keine Rede sein. Höchstens in Verbindung mit Hypnose. Aber wie sollte man so etwas praktisch realisieren? Nein, das ist sicher nicht realistisch.


4. Trotz ihrer geografischen (und kosmografischen) Streuung blieben die Fälle von Fukamiphobie eine in der medizinischen Praxis sehr seltene Erscheinung, und sie allein hätten schwerlich zu Veränderungen in der Gesetzgebung geführt. Die Epidemie der Fukamiphobie verwandelte sich jedoch sehr rasch

August’81: die ersten registrierten Proteste von Vätern, vorerst noch privater Natur (Beschwerden an lokale und regionale medizinische Verwaltungen, vereinzelte Eingaben an die lokalen Räte).

Oktober’81: die erste kollektive Petition von 129 Vätern und zwei Geburtshelfern an die Kommission zum Schutz von Mutter und Kind beim Weltrat.

Dezember’81: Auf dem XVII. Weltkongress der Geburtshelfer-Assoziation spricht sich erstmals eine Gruppe von Ärzten und Psychologen gegen die Fukamisationspflicht aus.

Januar’82: Bildung der Initiativgruppe VEPI (benannt nach den Initialen der Gründer), einer Vereinigung von Ärzten, Psychologen, Soziologen, Philosophen und Juristen. Es war die Gruppe VEPI, die den Kampf um die Annahme der Novelle begonnen und zu Ende geführt hat.

Februar’82: erste Versammlung und Kundgebung der Fukamisationsgegner vor dem Gebäude des Weltrates.

Juni’82: formale Bildung einer Opposition gegen das »Gesetz« innerhalb der Kommission zum Schutz von Mutter und Kind.

Die weitere Chronologie der Ereignisse ist meiner Meinung nach nicht von besonderem Interesse. Die dreieinhalb Jahre, die der Weltrat zur Prüfung und Annahme der Gesetzesnovelle benötigte, sind durchaus typisch. Für untypisch halte ich indes das Verhältnis zwischen der Anzahl der Personen in der Anhängerschaft der Novelle und der Anzahl der Personen, die zum professionellen Stab gehörten. Für gewöhnlich liegt die Massenanhängerschaft eines neuen Gesetzes bei mindestens zehn Millionen Menschen, während zum professionellen Stab, der ihre Interessen in qualifizierter Weise vertritt (Juristen, Soziologen, Spezialisten für das Problem), nur ein paar Dutzend Leute gehören. In unserem Fall aber

5. Nach der Annahme der Novelle hörten die Verweigerungen zwar nicht auf, aber ihre Zahl ging merklich zurück. Das Wichtigste aber war, dass sich im Laufe des Jahres’85 die Epidemie veränderte, bzw. konnte man sie eigentlich nicht mehr als Epidemie bezeichnen. Jegliche Gesetzmäßigkeiten (die »Weigerungsketten«, die geografischen Konzentrationen) verschwanden. Die Weigerungen waren nun völlig zufällig und sporadisch, wobei die Motivierungen vom Typ A und B überhaupt nicht mehr vorkamen und stattdessen Verweise auf die Gesetzesnovelle überwogen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Ärzte heutzutage die Verweigerung der Fukamisation überhaupt nicht mehr einer Fukamiphobie zuschreiben. Interessant ist zudem, dass viele Frauen, die die Fukamisation zur Zeit der Epidemie kategorisch ablehnten und aktiv an der Bewegung für die Gesetzesänderung teilnahmen, heute jegliches Interesse an dieser Frage verloren haben. Bei einer Geburt machen sie nicht einmal von ihrem Recht Gebrauch, sich auf die Novelle zu berufen. Von den Frauen, die sich im Zeitraum’81-’85 der Fukamisation verweigerten, lehnten diese bei der nächsten Geburt nur noch zu 12 Prozent ab. Dass die Fukamisation ein drittes Mal verweigert wird, kommt ganz selten vor: Im Laufe von 15 Jahren wurden nur einige Fälle verzeichnet.

6. Zwei Umstände möchte ich besonders hervorheben:

a. Das nahezu völlige Verschwinden der Fukamiphobie nach der Annahme der Gesetzesnovelle wird für gewöhnlich mit

b. Die Fukamiphobie-Epidemie stimmt zeitlich mit dem Auftauchen des »Pinguin-Syndroms« überein (siehe meinen Bericht Nr. 011/99).

Sapienti sat.

T. Glumow


Heute weiß ich, dass es genau dieser Bericht gewesen ist, der in meinem Bewusstsein etwas auslöste: einen kleinen Impuls, einen Schub - etwas, das mich schließlich zur Großen Offenbarung führen sollte. Dabei begann, so lächerlich das klingen mag, dieser Impuls damit, dass ich mich über Toivos grobe, sehr direkte Andeutungen ärgerte, die er zur angeblich verhängnisvollen Rolle der »Vertikalisten« bei der Gesetzesänderung gemacht hatte. Im Original des Berichts ist dieser Absatz dick von mir angestrichen. Ich weiß noch genau, dass ich damals vorhatte, Toivo wegen seiner übertriebenen Phantasie zur Rede zu stellen. Aber dann erfuhr ich von Hexenmeisters Besuch im Institut der Sonderlinge. Und in dem Moment - endlich - kam mir die Erleuchtung … Jetzt hatte ich anderes im Kopf, als jemanden zur Rede zu stellen.

Ich befand mich auf einmal in der fürchterlichen Lage, dass es niemanden gab, mit dem ich offen hätte sprechen können.

Zu dieser Zeit lag Gorbowski in seinem Haus in Krāslava im Sterben.

Zu dieser Zeit bereitete sich Athos-Sidorow auf einen weiteren Aufenthalt im Krankenhaus vor, und es war nicht sicher, ob er je zurückkehren würde.

Zu dieser Zeit lud sich Danil Logowenko erstmals nach langer Zeit wieder auf eine Tasse Tee zu mir ein, schwelgte den ganzen Abend in Erinnerungen und erzählte dabei nichts als Belanglosigkeiten.

Zu dieser Zeit hatte ich noch nichts entschieden.

Und dann brachen die Ereignisse in Malaja Pescha über uns herein.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai holte mich der Katastrophendienst aus dem Bett. In Malaja Pescha, gelegen am Fluss Pescha, der in die Tschescha-Bucht der Barentssee mündet, waren Monstren aufgetaucht und hatten unter den Bewohnern

Den geltenden Richtlinien entsprechend musste ich nun einen meiner Inspektoren an den Ort des Geschehens schicken. Ich schickte Toivo.

Leider ist Inspektor Glumows Bericht über die Ereignisse und seine Maßnahmen in Malaja Pescha verlorengegangen - ich habe ihn zumindest nicht mehr finden können. Da ich aber an dieser Stelle so genau wie möglich schildern will, wie Toivo Glumow die Untersuchung führte, muss ich die Ereignisse rekonstruieren und mich dabei auf mein Gedächtnis und auf Gespräche mit Augenzeugen stützen.

Man sieht gleich, dass die vorliegende Rekonstruktion (wie alle folgenden) neben den gesicherten Fakten auch Schilderungen, Metaphern, Epitheta, Dialoge und ähnliche belletristische Elemente enthält. Mir ist wichtig, dass der Leser Toivo genauso lebendig vor sich sieht, wie er mir in Erinnerung geblieben ist. Und da reichen Dokumente allein nicht aus. Wer möchte, kann meine Rekonstruktionen auch als eine besondere Art der Zeugenaussage betrachten.



Malaja Pescha. 6. Mai ’99. Früher Morgen


Aus der Vogelperspektive sah Malaja Pescha genauso aus, wie es in der vierten Morgenstunde auszusehen hatte. Verschlafen. Friedlich. Leer. Ein Dutzend bunter Dächer im Halbkreis, ein von Gras überwucherter Platz, ein paar verstreut umherstehende Gleiter, der gelbe Klubpavillon am Abhang über dem Fluss. Der Fluss wirkte reglos, eiskalt und unwirtlich, weiße Nebelschwaden hingen über dem Schilf am anderen Ufer.

Auf der Außentreppe des Klubs stand ein Mann. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und beobachtete den Gleiter. Sein Gesicht kam Toivo bekannt vor, was nicht verwunderlich

Er landete neben der Treppe und sprang auf das feuchte Gras. Der Morgen hier war kalt. Der Mann trug einen großen, warmen Anorak mit vielen Taschen und Schlaufen für all die Phiolen, Regulatoren, Löschgeräte, Brandsätze und sonstigen Apparate, die zur ordnungsgemäßen Ausübung des Katastrophendienstes benötigt werden.

»Guten Morgen«, sagte Toivo. »Basil, nicht wahr?«

»Guten Morgen, Glumow«, antwortete er und gab ihm die Hand. »Richtig, Basil. Warum kommen Sie so spät?«

Toivo erklärte, dass der Null-T in Malaja Pescha wohl gerade keine Passagiere annehme und er in Nishnaja Pescha herausgekommen sei. Dort habe er einen Gleiter nehmen und noch vierzig Minuten den Fluss entlang nach Malaja Pesha fliegen müssen.

»Verstehe«, sagte Basil und blickte sich um zum Pavillon. »Das habe ich mir schon gedacht. Wissen Sie, die haben in ihrer Panik die Null-Kabine derart demoliert …«

»Es ist also bisher niemand zurückgekehrt?«

»Nein, niemand.«

»Und weiter ist nichts vorgefallen?«

»Nein. Unsere Leute haben die Durchsuchung vor anderthalb Stunden abgeschlossen, dabei nichts Wesentliches gefunden und sind dann nach Hause geflogen, um die Analysen zu machen. Mich haben sie gebeten, hier zu bleiben und niemanden auf das Gelände zu lassen. Die ganze Zeit über habe ich versucht, die Null-Kabine zu reparieren.«

»Haben Sie es geschafft?«

»Ich glaube, ja.«

Die Cottages in Malaja Pescha waren recht altmodisch, im vorigen Jahrhundert erbaut, Gebrauchsarchitektur, auf Natur getrimmte Organik; die Farben waren über die Jahre giftig grell geworden. Jedes Cottage stand inmitten eines undurchdringlichen

»Was für Analysen?«, fragte Toivo.

»Nun, es sind ziemlich viele Spuren zurückgeblieben. Das Mistzeug ist anscheinend aus dem Cottage dort herausgekrochen und hat sich dann nach allen Seiten hin verteilt.« Basil wies in die verschiedenen Richtungen. »An den Sträuchern, im Gras oder auf den Veranden ist leicht angetrockneter Schleim zurückgeblieben, Schuppen, Büschel von so etwas …«

»Was haben Sie selbst gesehen?«

»Nichts. Als wir eintrafen, war hier alles so wie jetzt, nur, dass Nebel über dem Fluss lag.«

»Zeugen waren also nicht mehr da?«

»Zuerst dachten wir, alle hätten Hals über Kopf das Weite gesucht. Aber dann stellte sich heraus, dass in dem Häuschen dort, am Rande, direkt am Ufer, eine steinalte, aber noch sehr rüstige Frau lebt, die gar nicht daran dachte zu fliehen.«

»Warum?«, erkundigte sich Toivo. »Keine Ahnung!«, erwiderte Basil achselzuckend. »Können Sie sich das vorstellen? Ringsum Angst und Schrecken, alles rennt in Panik durcheinander, die Tür zur Null-Kabine ist aus den Angeln gerissen, doch sie lässt das völlig kalt. Und als wir landen, aufmarschieren, mit blankgezogenen Säbeln, die Bajonette aufgepflanzt, tritt sie plötzlich auf die Vortreppe hinaus und bittet uns in strengem Ton, leiser zu sein, denn, sehen Sie, unser Lärm stört sie beim Schlafen!«

»Gab es überhaupt eine Panik?«

»Also wirklich!«, sagte Basil und hob warnend die Hand. »Als es losging, befanden sich hier achtzehn Menschen. Neun sind in Gleitern geflohen, fünf durch die Kabine, und drei

Toivo fragte: »Was meinte sie damit?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Basil unwillig. »Ich sagte Ihnen ja: Die Alte ist merkwürdig.«

Toivo schaute auf das grell rosafarbene Cottage, in dem die Frau wohnte. Das Gärtchen sah merklich gepflegter aus als die anderen. Neben dem Cottage stand ein Gleiter.

»Ich rate Ihnen, sie nicht zu beunruhigen«, sagte Basil. »Es ist besser, wenn sie von selbst aufwacht, und dann …«

In diesem Moment meinte Toivo, eine Bewegung hinter sich zu spüren und wandte sich abrupt um. Aus der Tür des Klubs schaute ein bleiches Gesicht hervor, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Ein paar Sekunden lang schwieg der Unbekannte, dann bewegten sich seine blassen Lippen, und er bemerkte mit belegter Stimme: »Eine haarsträubende Geschichte, nicht wahr?«

»Stopp, stopp, stopp!«, sagte Basil in freundlichem Ton und ging ihm mit vorgestreckten Handflächen entgegen, »entschuldigen Sie, aber Sie dürfen nicht hier durch. Katastrophenschutz.«

Der Unbekannte trat über die Schwelle und blieb gleich wieder stehen. »Ich möchte ja gar nicht …«, sagte er und räusperte sich. »Aber die Umstände … Sagen Sie, sind Grigori und Elja schon zurückgekehrt?«

Der Mann sah sehr merkwürdig aus. Er trug einen dicken Pelzmantel und kunstvoll bestickte Fellstiefel. Sein Mantel

»Nein, nein«, erwiderte Basil und trat näher auf ihn zu. »Noch ist niemand zurückgekehrt. Hier laufen noch Untersuchungen; wir lassen niemanden durch.«

»Einen Moment, Basil«, sagte Toivo und wandte sich an den Unbekannten. »Wer sind Grigori und Elja?«

»Anscheinend bin ich wieder falsch«, murmelte der Unbekannte fast verzweifelt und blickte hinter sich; dort, im Innern des Pavillons, glänzte die polierte Oberfläche der Null-T-Kabine. »Verzeihen Sie, ist das … Nein, ich habe es wieder vergessen … Malaja Pescha - oder nicht?«

»Das ist Malaja Pescha«, erklärte Toivo.

»Dann müssen Sie ihn kennen: Grigori Alexandrowitsch Jarygin. Soviel ich weiß, wohnt er jeden Sommer hier.« Plötzlich zeigte er mit der Hand in eine Richtung und rief freudig aus: »Da ist es ja, dort, das Cottage! Dort auf der Veranda hängt mein Regenumhang!«

Und dann klärte sich alles auf. Der Unbekannte erwies sich als Zeuge. Er hieß Anatoli Sergejewitsch Krylenko, war Viehzuchttechniker und arbeitete tatsächlich im Steppengürtel, im Asgirer Agrarkomplex. Am Vortag war er auf der Jahresausstellung in Archangelsk zufällig auf seinen Schulfreund Grigori Jarygin gestoßen, den er seit zehn Jahren nicht gesehen hatte. Natürlich nahm ihn Jarygin mit zu sich nach Hause, hierher, nach … nach … ja richtig, nach Malaja Pescha. Sie hatten zu dritt einen wunderschönen Abend verbracht - er, Jarygin und dessen Frau Elja. Sie waren Boot gefahren, im Wald spazieren gegangen und gegen zehn Uhr zurückgekehrt, in dieses Cottage dort. Dann hatten sie zu Abend gegessen

Diesen für die Untersuchung besonders wichtigen Teil seiner Erzählung gab Anatoli Sergejewitsch, gelinde gesagt, sehr unverständlich wieder. Es war, als bemühe er sich vergeblich, einen unheimlichen, verworrenen Traum zu erzählen.

Die Augen blickten aus dem Garten. Sie kamen näher, blieben aber die ganze Zeit im Garten. Zwei riesige Augen, dass einem vom Ansehen übel wurde. Immerzu sickerte etwas über diese Augen. Und links an der Seite war noch ein drittes … oder drei? Und irgendetwas wälzte, wälzte und wälzte sich über das Geländer der Veranda und sickerte schon heran bis zu den Füßen. Es war unmöglich sich zu bewegen. Grigori war irgendwo verschwunden und nicht mehr zu sehen. Elja war in der Nähe, aber auch nicht mehr zu sehen. Man konnte nur hören, wie sie hysterisch kreischte - oder lachte? Da öffnete sich die Tür zum Zimmer. Darin wimmelte es hüfthoch von zappelnden, gallertartigen Leibern, aber die Augen dieser Leiber waren da draußen, hinter den Sträuchern …

Da begriff Anatoli Sergejewitsch, dass hier etwas ganz Furchtbares vor sich ging und noch Schlimmeres bevorstand. Er riss die Füße aus den am Boden festgeklebten Sandalen, sprang über den Tisch, stürzte in den Wald, und als er um die Ecke des Hauses bog … Nein, er war nicht um die Ecke gebogen … Hm, das war merkwürdig, er war in den Wald gestürmt, fand sich aber plötzlich auf dem Platz wieder … Dann rannte er darauflos und sah auf einmal den Klubpavillon, und durch die offenen Türen den fliederfarbenen Lichtblitz des Null-T … Er wusste, er war gerettet … und stürmte in die Kabine, hämmerte mit den Fingern auf die Tasten, und dann, endlich, startete die Automatik.

Damit hatte die Tragödie ein Ende. Was nun begann, glich eher einer Komödie: Der Null-Transporter spuckte Anatoli Sergejewitsch in der Ortschaft Roosevelt aus, gelegen auf der Peter-I.-Insel. Diese liegt in der Bellingshausener See, das Thermometer zeigt 49 Grad unter null, die Windgeschwindigkeit beträgt achtzehn Meter pro Sekunde. Der Ort steht den Winter über leer.

Aber im Klub der Polararbeiter ist die Automatik eingeschaltet, es ist warm dort, gemütlich, und in der Bar glitzern in Regenbogenfarben Flaschen mit allerlei Flüssigkeiten, wohl, um die Finsternis der Polarnächte aufzuhellen. Anatoli Sergejewitsch - im bunt gemusterten Hemd und Shorts, noch immer tropfnass vom Tee oder von der durchlebten Angst, erhält die notwendige Atempause und kommt langsam wieder zu sich. Und da erfasst ihn, wie zu erwarten, eine unerträgliche Scham. In Panik ist er davongelaufen wie der letzte Feigling - von solchen Feiglingen hatte er bisher nur in historischen Romanen gelesen. Er hat Elja und noch eine Frau, die er flüchtig im Nachbarcottage gesehen hatte, im Stich gelassen. Er erinnert sich an die Kinderstimmen am Fluss und sieht, dass er auch diese Kinder im Stich gelassen hat. Ein verzweifelter Impuls zu handeln ergreift von ihm Besitz, doch seltsam - er stellt sich nicht sofort ein. Und auch als er sich einstellt, hält er sich gerade die Waage mit dem ungeheuren Entsetzen, das er bei dem Gedanken empfindet, dass er, Anatoli Sergejewitsch, dorthin zurückkehren soll - auf die Veranda, zu den grausigen, triefenden Augen, zu den ekelhaft wabernden Gallertleibern …

In diesem Moment stürzte eine lärmende Gruppe von Glaziologen in den Klub und fand dort Anatoli Sergejewitsch, der händeringend vor Gram noch immer keinen Entschluss fassen konnte. Die Glaziologen hörten sich seine Geschichte mit großem Mitgefühl an und beschlossen begeistert, ihn bei der Rückkehr auf die schreckliche Veranda zu begleiten. Doch

Sie riefen also bei der Notrufzentrale an, welche sich bedankte und mitteilte, man nehme die Meldung zur Kenntnis. Eine halbe Stunde später rief der Diensthabende der Notrufzentrale persönlich in der Dienststelle an und sagte, die Mitteilung sei bestätigt worden; dann bat er Anatoli Sergejewitsch an den Apparat. Anatoli Sergejewitsch schilderte in groben Zügen, was ihm widerfahren und wie er an den Rand der Antarktis geraten war. Der Diensthabende konnte ihn dahingehend beruhigen, dass niemand zu Schaden gekommen war und das Ehepaar Jarygin wohlauf sei, so dass alle voraussichtlich am nächsten Tag nach Malaja Pescha zurückkehren könnten. Er, Anatoli Sergejewitsch, solle aber jetzt besser ein Beruhigungsmittel nehmen und sich eine Weile ausruhen.

So nahm Anatoli Sergejewitsch ein Beruhigungsmittel und legte sich auf dem Sofa in der Dienststelle hin. Doch er hatte keine Stunde geschlafen, als er wieder diese triefenden Augen

»Nein«, sagte Anatoli Sergejewitsch zu Toivo, »sie haben nicht versucht mich zurückzuhalten. Sie haben offensichtlich verstanden, wie ich mich fühlte. Nie hätte ich geglaubt, dass mir so etwas passieren könnte. Freilich, ich bin kein Fährtensucher oder Progressor, aber auch ich habe gefährliche Situationen erlebt und mich immer anständig verhalten. Ich kann wirklich nicht verstehen, was mit mir los war. Ich versuche es mir zu erklären, aber es gelingt mir nicht. Als wäre etwas über mich gekommen …« Plötzlich wurde sein Blick unruhig. »Und nun rede ich zwar mit Ihnen, aber in mir ist alles wie aus Eis. Vielleicht haben wir uns alle mit etwas vergiftet?«

»Halten Sie es für möglich, dass es eine Halluzination gewesen ist?«, erkundigte sich Toivo.

Anatoli Sergejewitsch zog die Schultern hoch, als fröstele ihn, und blickte zum Cottage der Jarygins hinüber. »Ich weiß nicht«, sagte er zögernd. »Nein, ich kann nichts dazu sagen.«

»Gut, gehen wir nachsehen«, schlug Toivo vor.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Basil.

»Nicht nötig«, antwortete Toivo. »Ich werde dort länger zu tun haben. Halten Sie inzwischen die Stellung.«

»Soll ich wen gefangen nehmen?«, fragte Basil eifrig.

»Unbedingt«, sagte Toivo. »Ich brauche Gefangene. Alle, die auch nur das Geringste mit eigenen Augen gesehen haben.«

Und dann ging er mit Anatoli Sergejewitsch über den Platz. Dieser sah entschlossen und tatkräftig aus, doch je näher er dem Haus kam, umso angespannter wurde sein Gesicht, seine Kiefermuskeln traten hervor, und er biss sich auf die Unterlippe, als müsse er starke Schmerzen ertragen. Toivo hielt es für angebracht, ihm eine kleine Pause zu gönnen. Fünfzig Schritt vor der Hecke blieb er stehen - als wolle er sich nochmals

Toivo stellte Fragen, Anatoli Sergejewitsch antwortete. Toivo nickte mit wichtiger Miene und ließ sich anmerken, wie wichtig das, was er zu hören bekam, für die Untersuchung sei. Allmählich fasste Anatoli Sergejewitsch wieder Mut, seine Anspannung löste sich, und sie betraten die Veranda nun schon fast als Kollegen.

Auf der Veranda herrschte Unordnung. Der Tisch stand schief, einer der Stühle war umgestürzt, die Zuckerdose war in eine Ecke gerollt und hatte eine Spur von Zuckerkristallen hinterlassen. Toivo fasste den Teekocher an - er war noch heiß. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf Anatoli Sergejewitsch. Der war wieder bleich geworden, und seine Kiefermuskeln arbeiteten. Er schaute auf ein Paar Sandalen, die sich verwaist und eng beieinanderstehend unter einem entfernten Stuhl befanden. Offensichtlich waren es seine. Sie waren geschlossen, und man konnte sich kaum vorstellen, wie es Anatoli Sergejewitsch gelungen war, seine Beine dort herauszuziehen. Aber weder auf- noch unter ihnen, noch daneben sah Toivo irgendwelche Spuren einer Flüssigkeit.

»Haushaltskyber mögen sie hier anscheinend nicht«, bemerkte Toivo nüchtern, um Anatoli Sergejewitsch aus dem durchlebten Schrecken in den Alltag zurückzuholen.

»Ja«, murmelte der. »Das heißt … Ja, wer mag die schon heutzutage. Sehen Sie da - meine Sandalen …«

»Ich sehe sie«, erwiderte Toivo gleichmütig. »Standen die Fenster eigentlich alle so offen?«

»Ich weiß nicht mehr. Das dort war offen, da bin ich rausgesprungen.«

»Verstehe«, sagte Toivo und schaute hinaus in den kleinen Garten.

Ja, es gab Spuren hier. Viele, viele Spuren: eingedrückte Sträucher, abgebrochene Zweige, das verwüstete Blumenbeet. Und das Gras unterhalb des Geländers sah aus, als hätten sich Pferde darin gewälzt. Wenn sich hier Tiere aufgehalten hatten, dann waren es ungeschlachte große Tiere gewesen, und sie hatten sich nicht an das Haus herangeschlichen, sondern waren geradewegs darauf zugestürmt - vom Platz herüber, quer durch die Hecke und dann durch die offenen Fenster direkt in die Zimmer.

Toivo ging quer über die Veranda und öffnete die Tür zum Haus. Dort war keinerlei Unordnung zu sehen. Jedenfalls keine, wie sie schwere plumpe Leiber hätten hervorrufen müssen.

Da standen ein Sofa und drei Sessel. Ein Tischchen war nicht zu sehen, anscheinend war es versenkbar. Es gab nur ein Steuerpult, das sich in der Armlehne des großen Sessels befand, und Serviceterminals vom System »Polykristall« in den übrigen Sesseln und im Sofa. An der vorderen Wand hing eine Landschaft von Lewitan und eine altertümliche Chromophotonal-Kopie mit dem rührenden kleinen Dreieck links unten, damit sie nur ja kein Kenner für das Original hielte. Und an der Wand links eine Federzeichnung in einem selbst gebauten Holzrahmen, ein zorniges Frauengesicht. Ein schönes übrigens …

Bei genauerer Betrachtung entdeckte Toivo Abdrücke von Schuhsohlen auf dem Fußboden: Anscheinend war jemand vom Einsatztrupp vorsichtig durch das Wohn- ins Schlafzimmer gegangen. Zurück führten keine Spuren, der Mann war durch das Schlafzimmerfenster ausgestiegen. Der Fußboden im Wohnzimmer war also von einer ziemlich dicken Schicht aus feinem braunem Staub bedeckt. Und nicht nur der Fußboden. Die Sitzflächen der Sessel. Die Armlehnen. Das Sofa. An den Wänden aber war nichts zu sehen.

Toivo kehrte auf die Veranda zurück. Anatoli Sergejewitsch saß auf der Vortreppe. Den Polarmantel hatte er abgelegt, die Fellstiefel auszuziehen aber hatte er anscheinend vergessen, so dass er einen ziemlich albernen Anblick bot. Seine Sandalen hatte er nicht angefasst, sie standen noch immer unter dem Stuhl. Spuren von Nässe waren nirgendwo zu erkennen - aber die Sandalen ebenso wie der Boden rundum waren mit demselben braunen Staub überzogen.

»Und, wie geht es Ihnen?«, fragte Toivo noch von der Schwelle aus.

Anatoli Sergejewitsch zuckte zusammen und drehte sich abrupt um. »Na ja, langsam komme ich wieder zu mir.«

»Wunderbar. Nehmen Sie Ihren Regenumhang und machen Sie sich auf den Heimweg. Oder wollen Sie auf die Jarygins warten?«

»Ich weiß nicht recht«, antwortete Anatoli Sergejewitsch unschlüssig.

»Wie Sie möchten«, sagte Toivo. »Hier gibt es auf jeden Fall keinerlei Gefahr, und es wird auch keine mehr geben.«

»Haben Sie etwas herausfinden können?«, fragte Anatoli Sergejewitsch und stand auf.

»So einiges. Es waren tatsächlich Ungeheuer hier, aber in Wirklichkeit sind sie nicht gefährlich. Sie können einen erschrecken, aber nicht mehr.«

»Sie wollen sagen, es kam aus dem Labor?«

»Es sieht so aus.«

»Aber wozu? Wer?«

»Dem werden wir nachgehen«, sagte Toivo.

»Während Sie dem nachgehen, werden sie andere in Schrecken versetzen.« Anatoli Sergejewitsch nahm den Mantel vom Geländer, blieb aber noch eine Weile stehen und starrte auf seine Fellstiefel. Fast sah es aus, als werde er sich gleich wieder hinsetzen und die Stiefel wütend von seinen Füßen

Er sah Toivo noch einmal kurz an, wandte sich dann ab und ging, ohne sich umzudrehen, die Stufen hinunter, schritt über das zerdrückte Gras, den demolierten Zaun, quer über den Platz - geduckt, und immer noch ziemlich albern in den hohen Fellstiefeln der Polarforscher und dem bunt gemusterten Hemd der Viehzüchter, ging immer schnelleren Schrittes zu dem gelben Klubpavillon. Auf halbem Weg aber wandte er sich scharf nach links, sprang in den Gleiter, der vor dem Nachbarcottage stand, und stieg damit steil in den blassblauen Himmel auf.

Es ging auf fünf Uhr morgens.


Das ist mein erster Rekonstruktionsversuch, und ich habe mir große Mühe gegeben. Er wurde allerdings dadurch erschwert, dass ich damals nicht in Malaja Pescha gewesen bin. Aber es standen mir viele Videos zur Verfügung, die Toivo Glumow, der Katastrophenschutz und die Mannschaft Flemings aufgezeichnet hatten. Insofern kann ich mich zumindest für die topografische Exaktheit verbürgen. Und was die Dialoge angeht, so kann ich mich, wie ich denke, für deren Genauigkeit auch verbürgen.

Mit der Rekonstruktion habe ich unter anderem zeigen wollen, wie damals der typische Anfang einer typischen Untersuchung aussah. Der Vorfall. Die Einsatztruppe des Katastrophenschutzes. Die Entsendung eines Inspektors der Abteilung BV. Der erste Eindruck, der in den meisten Fällen stimmte: Jemand hat sich eine Schlamperei oder einen dummen Scherz erlaubt. Und die wachsende Enttäuschung: wieder nichts, wieder eine Niete … Wie schön es wäre, jetzt einfach Schluss zu machen und nach Hause zu gehen um

Jetzt ein paar Worte über Fleming.

Sein Name wird in meinen Memoiren des Öfteren auftauchen - mit der Großen Offenbarung allerdings hatte er nichts zu tun. In der KomKon 2 war der Name Alexander Jonathan Fleming damals in aller Munde. Er war einer der wichtigsten Spezialisten für die Konstruktion künstlicher Organismen. In seinem Zentralinstitut in Sidney wie auch in den zahlreichen Filialen züchtete Fleming mit größtem Fleiß und Kühnheit eine ungeheure Zahl absonderlicher Wesen, für deren Erschaffung Mutter Natur nicht genügend Phantasie besessen hatte. Seine Mitarbeiter verletzten in ihrem Eifer ununterbrochen die bestehenden Gesetze und Beschränkungen des Weltrates auf dem Gebiet von Grenzexperimenten. Bei all unserer unwillkürlichen, menschlichen Begeisterung für Flemings Genie verabscheuten wir seine Kompromisslosigkeit, Hartnäckigkeit und Skrupellosigkeit, die auf seltsame Art und Weise mit der Fähigkeit verbunden waren, sich immer und überall herauszuwinden. Heute kennt jeder Schüler die Fleming’schen Biokomplexe oder seine lebenden Brunnen. Damals aber war er der breiten Öffentlichkeit eher durch Skandale bekannt.

Für meine Darlegungen ist wichtig, dass eine der Subfilialen von Flemings Sidney-Institut just an der Mündung der Pescha lag, in der Wissenschaftlersiedlung Nishnaja Pescha, nur vierzig Kilometer von Malaja Pescha entfernt. Als er davon erfuhr, horchte Toivo zwangsläufig auf und nahm an: Aha, die stecken also dahinter!

Apropos. Eine der nützlichsten Schöpfungen Flemings sind die Krabbenkrebse, die weiter unten erwähnt werden. Sie kamen zur Welt, als Fleming noch ein junger Mitarbeiter in einer Fischfarm am Onegasee war. Die Krabbenkrebse erwiesen sich als Geschöpfe mit phänomenalen Geschmackseigenschaften,



Malaja Pescha. 6. Mai ’99. 6 Uhr morgens


Am 5. Mai gegen 23 Uhr brach in der Datschensiedlung Malaja Pescha (dreizehn Cottages, achtzehn Bewohner) Panik aus. Ursache dafür war das Auftauchen einer (unbekannten) Anzahl quasibiologischer Wesen von außergewöhnlich absto-ßendem, ja furchterregendem Aussehen. Die Wesen bewegten sich vom Cottage Nr. 7 ausgehend in neun exakt bestimmbare Richtungen. Diese lassen sich anhand von niedergedrücktem Gras, beschädigten Hecken, Flecken eingetrockneten Schleims am Laub, an der Fundamentverkleidung, den Außenwänden der Häuser und auf den Fenstersimsen verfolgen. Alle neun Spuren enden im Innern von Wohnräumen, und zwar in den Cottages Nr. 1, 4, 10 (jeweils auf der Veranda), Nr. 2, 3, 9, 12 (in den Wohnzimmern), Nr. 6 und 13 (in den Schlafzimmern). Die Cottages Nr. 4 und 9 sind dem Anschein nach unbewohnt.

Nun hatte in Cottage Nr. 7, wo die Invasion ihren Anfang nahm, aber ganz offensichtlich jemand gewohnt - und jetzt galt es nur noch festzustellen, wer. War es ein dummer Witzbold oder ein verantwortungsloser Leichtfuß? Hatte er die Embryophoren absichtlich gestartet oder nur den Moment verschwitzt, als sie sich selbst in Gang setzten? Wenn er es verschwitzt hatte, geschah es aus Unwissenheit oder grober Fahrlässigkeit?

Zwei Dinge aber stimmten nachdenklich. Erstens fand Toivo keine Spuren von den Embryophoren-Hüllen. Und zweitens konnte er anfangs keine persönlichen Daten über den Bewohner von Cottage Nr. 7 herausbekommen. Oder über die Bewohner.

Zum Glück ist unsere Welt im Großen und Ganzen sehr gerecht eingerichtet. Denn plötzlich erschallten auf dem Platz laute, ungehaltene Stimmen, und nach einer Minute stellte sich heraus, dass im Zentrum dieser Aufregung der bereits gesuchte Bewohner stand - zudem war er nicht allein, sondern mit einem Gast gekommen.

Der Bewohner war ein stämmiger Mann, fast wie aus Eisen gegossen. Er trug einen Marschanzug und einen Sack aus Segeltuch, aus dem seltsam summende und knirschende Töne zu hören waren. Was den Gast betraf, so erinnerte er Toivo lebhaft an den guten alten Duremar, wie er tropfnass aus dem Teich Tante Tortillas kam - groß und hager, mit langen Haaren, einer langen Nase und einem langen undefinierbaren Gewand, an dem allmählich trocknender Algenschlamm klebte. Es stellte sich heraus, dass der Bewohner Ernst Jürgen hieß, als Orthomaster-Operator auf dem Titan arbeitete und gerade Urlaub auf der Erde machte. Jedes Jahr verbringe er seinen Urlaub auf der Erde, einen Monat im Winter und einen im Sommer, und sommers immer hier an der Pescha, in dem Cottage da … Was denn für Ungeheuer? Wovon reden Sie eigentlich, junger Mann? Was kann es in Malaja Pescha für Ungeheuer geben, denken Sie doch mal nach, und so was gehört zum Katastrophenschutz, Sie haben wohl nichts zu tun, oder …?

Duremar der Gast hingegen erwies sich als echter Erdenmensch. Mehr noch: Er stammte fast aus dem Ort. Sein Familienname war Tolstow, und genannt wurde er Lew Nikolajewitsch. Doch bemerkenswert war etwas anderes: Es zeigte sich nämlich, dass er ganze vierzig Kilometer von hier entfernt wohnte und arbeitete, und zwar in Nishnaja Pescha, wo schon seit ein paar Jahren eine kleine Filiale in Betrieb war - eingerichtet von der Firma des schon erwähnten und nicht ganz unbekannten Fleming!

Außerdem handelte es sich bei Ernst Jürgen und seinem alten Freund Ljowa Tolstow um leidenschaftliche Feinschmecker:

Diesem lauten, kuriosen Menschen schien es absolut unmöglich, dass sich auf der Erde - nicht bei ihm auf dem Titan, nicht irgendwo auf der Pandora und auch nicht auf der Jaila, nein, auf der Erde, in Malaja Pescha! - Dinge ereignet haben sollten, die zu Angst und Panik geführt hatten. Was für ein interessantes Exemplar eines professionellen Raumfahrers! Da sieht er, dass die Siedlung leer steht, sieht einen Mann vom Katastrophenschutz vor sich, sieht einen Vertreter der KomKon 2 und bestreitet auch gar nicht deren Autorität - aber jede Erklärung dafür ist ihm lieber als die, dass auf seiner beschaulichen, heimatlichen Erde etwas nicht in Ordnung sein könnte. Dann aber, als man ihn überzeugt hatte, dass es sich tatsächlich um ein BV handelte, verlor er die Fassung wie ein kleines Kind, schmollte, presste die Lippen zusammen und ging beiseite. Seinen Sack mit den wertvollen Krabbenkrebsen schleifte er dabei über den Boden hinter sich her und setzte sich auf die Vortreppe seines Cottages, von allen abgewandt, wollte niemanden sehen, von nichts mehr etwas hören. Von Zeit zu Zeit zuckte er mit den Schultern und seufzte laut: »So was nennt sich nun Urlaub … Da kommt man einmal im Jahr hierher, und dann so was … unmöglich, gar nicht auszudenken …«

Toivo allerdings interessierte sich mehr für die Reaktion seines Freundes Lew Nikolajewitsch Tolstows, der ein Mitarbeiter Flemings war und Spezialist für die Entwicklung und Aktivierung künstlicher Organismen. Der Spezialist reagierte so: anfangs völliges Unverständnis, dann unstete, weit aufgerissene Augen und das unsichere Lächeln eines Menschen, der annimmt, dass man ihm einen ziemlich albernen Streich spielt. Dann Betroffenheit, die Augenbrauen fest zusammengezogen, der Blick geht ins Leere, beziehungsweise ist nach innen gerichtet, der Unterkiefer bewegt sich, er denkt nach. Und dann, am Ende, ein Ausbruch gekränkten Berufsstolzes. Wissen Sie eigentlich, wovon Sie da reden? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, eine Vorstellung von der Thematik? Haben Sie jemals ein künstliches Wesen gesehen? Ach, nur in den Nachrichten? Also: Es gibt keine künstlichen Lebewesen, und es kann auch keine geben, die imstande wären, durch das Fenster zu Leuten ins Schlafzimmer zu kriechen. Zuerst einmal sind künstliche Lebewesen sehr langsam und schwerfällig, und wenn sie sich bewegen - dann nicht auf die Menschen zu, sondern von ihnen weg. Sie vertragen nämlich kein natürliches Biofeld, nicht einmal das einer Katze. Außerdem, was heißt »ungefähr so groß wie eine Kuh«? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viel Energie der Embryophor braucht, um sich zu so einer Masse zu entwickeln, selbst wenn er eine Stunde Zeit dazu hätte? Hier wäre nichts übrig geblieben, nichts, nicht einmal eine Kuh. Es hätte ausgesehen wie nach einer Explosion!

Ob er es für möglich halte, dass hier Embryophoren eines ihm unbekannten Typs in Gang gesetzt wurden?

Ausgeschlossen. Solche Embryophoren sind in der Natur nicht möglich.

Was denn seiner Meinung nach dann vorgefallen sei?

Lew Tolstow wusste es nicht. Er verstand nicht, was geschehen war. Er müsse sich umsehen, um zu einem Schluss zu kommen. Toivo ließ ihn sich umsehen.

Er und Basil machten sich auf den Weg zum Klub, um etwas zu essen. Jeder von ihnen nahm ein belegtes Brot mit kaltem Fleisch, und als Toivo ging, um Kaffee zu kochen, hörte er, wie Basil mit vollem Mund protestierte: »W-w-w!«

Dann schluckte er einen gewaltigen Brocken hinunter und rief, an Toivo vorbeisehend, laut und deutlich: »Maschine stopp! Wo willst du denn hin, Kleiner?«

Toivo wandte sich um und sah einen Jungen von etwa zwölf Jahren, mit abstehenden Ohren, braungebrannt, bekleidet mit Shorts und einem leichtem Anorak. Der schallende Ruf Basils ließ ihn unmittelbar am Ausgang des Pavillons stehen bleiben.

»Nach Hause«, sagte er herausfordernd.

»Komm doch bitte mal her!«, sagte Basil.

Der Junge kam näher und blieb stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

»Wohnst du hier?«, fragte Basil freundlich.

»Wir haben hier gewohnt«, antwortete der Junge. »In der Sechs. Jetzt werden wir nicht mehr hier wohnen.«

»Wer sind ›wir‹?«, wollte Toivo wissen.

»Ich, Mama und Vater. Das heißt, wir sind immer hierher ins Grüne gefahren, aber wir wohnen in Petrosawodsk.«

»Und wo sind Mama und Vater?«

»Sie schlafen. Zu Hause.«

»Sie schlafen«, wiederholte Toivo. »Wie heißt du?«

»Kir.«

»Deine Eltern wissen, dass du hier bist?«

Kir druckste herum, trat von einem Fuß auf den anderen und sagte dann: »Ich bin nur kurz zurückgekommen, um die Galeere zu holen. Ich habe einen ganzen Monat daran gebaut.«

»Die Galeere …«, wiederholte Toivo und musterte den Jungen. Sein Gesicht ließ eigentlich nur Langeweile erkennen. Und es schien ihn nur eines zu beunruhigen: dass er

»Wann seid ihr von hier abgereist?«

»Heute Nacht. Alle sind abgereist, wir auch. Aber die Galeere haben wir vergessen.«

»Warum seid ihr denn abgereist?«

»Es gab eine Panik. Wissen Sie das denn nicht? Hier war der Teufel los! Mama ist so erschrocken, und da sagte Vater: ›Wisst ihr was, wir reisen ab und fahren nach Hause.‹ Da haben wir uns in den Gleiter gesetzt und sind geflogen … Kann ich jetzt gehen?«

»Warte noch einen Moment. Warum hat es denn deiner Meinung nach die Panik gegeben?«

»Weil diese Tiere aufgetaucht sind. Sie sind aus dem Wald gekommen, oder vom Fluss. Alle sind vor ihnen erschrocken und weggelaufen. Ich habe geschlafen, Mama hat mich geweckt.«

»Und du bist nicht erschrocken?«

Er zuckte mit den Achseln. »Na ja, am Anfang habe ich mich auch erschrocken … Ich werde geweckt, alle schreien, brüllen, alle rennen herum, und ich weiß nicht, warum.«

»Und dann?«

»Ich sage doch: Wir haben uns in den Gleiter gesetzt und sind geflogen.«

»Hast du die Tiere gesehen?«

Plötzlich lächelte er. »Ja, habe ich. Eins ist direkt durch das Fenster hereingekrochen, so eins mit Hörnern, nur, dass die Hörner nicht hart waren, sondern weich wie bei einer Schnecke, sehr ulkig …«

»Das heißt, du selbst bist nicht erschrocken?«

»Nein, ich sagte Ihnen doch: Ich habe mich erschrocken. Als Mama hereingerannt kam, ganz weiß, und ich dachte - irgendein Unglück, ich dachte, es ist etwas mit Papa, natürlich war ich erschrocken, warum sollte ich Sie beschwindeln?«

»Verstehe. Aber vor den Tieren hattest du keine Angst?«

Kir sagte ärgerlich: »Warum sollte ich mich denn vor ihnen fürchten? Sie sind doch völlig harmlos, lustig. Sie sind weich und seidig, wie Mungos, nur ohne Fellchen. Ja, sie sind groß, na und? Ein Tiger ist auch groß, soll ich mich etwa deshalb vor ihm fürchten? Ein Elefant ist groß, ein Wal ist groß. Manche Delfine auch. Diese Tiere waren jedenfalls nicht größer als Delfine, und genauso lieb.«

Toivo schaute zu Basil. Der hörte dem sonderbaren Jungen verblüfft zu und hielt dabei sein angebissenes Brot in der Hand.

»Und sie riechen auch gut!«, fuhr Kir begeistert fort. »Nach Beeren riechen sie! Ich denke, sie fressen auch Beeren. Man müsste sie zähmen, aber vor ihnen davonlaufen - warum?« Er seufzte. »Jetzt sind sie wahrscheinlich weg, irgendwo in der Taiga. Wen wundert’s? So, wie alle sie angeschrien, getrampelt, mit den Armen gefuchtelt haben! Natürlich sind sie erschrocken! Wie soll man sie jetzt wieder hierherlocken?« Er senkte den Kopf und hing seinen betrübten Gedanken nach.

Toivo sagte: »Verstehe. Deine Eltern sind aber anderer Meinung, oder?«

Kir winkte ab. »Ach die. Mit meinem Vater geht es ja noch, aber Mama sagt kategorisch: Keinen Fuß setze ich mehr dorthin, niemals, um keinen Preis! Jetzt fliegen wir auf die Pandora, zum Kurort. Aber dort gibt es ja keine … Oder doch? Wie heißen sie eigentlich, wissen Sie das?«

»Ich weiß es nicht, Kir«, sagte Toivo.

»Und hier ist kein Einziges geblieben?«

»Kein Einziges.«

»Das habe ich mir gedacht.« Kir seufzte und fragte: »Kann ich jetzt meine Galeere holen?«

Basil war endlich zu sich gekommen. Er stand geräuschvoll auf und antwortete: »Gehen wir, ich komme mit. Ja?«, vergewisserte er sich bei Toivo.

»Natürlich«, erwiderte Toivo.

»Weshalb wollen Sie denn mitkommen?«, fragte Kir befremdet, doch Basil hatte ihm schon die Hand auf die Schulter gelegt.

»Gehen wir, gehen wir«, sagte er. »Ich wollte schon immer einmal eine richtige Galeere sehen.«

»Es ist ja keine richtige, nur ein Modell.«

»Dann erst recht. Ich wollte schon immer einmal ein Modell von einer richtigen Galeere sehen.«

Sie gingen. Toivo trank die Tasse Kaffee aus und verließ dann ebenfalls den Pavillon.

Die Sonne schien schon recht warm, am Himmel war kein Wölkchen. Blaue Libellen schwirrten über das üppige Gras des Platzes. Und durch dieses Schwirren hindurch sah Toivo eine Gestalt, die sich federleicht, fast schwebend auf den Pavillon zubewegte. Es war die alte Frau, die wie ein wunderliches Taggespenst, majestätisch und mit dem Ausdruck absoluter Unnahbarkeit, so leichtfüßig auf ihn zukam, als berühre sie mit ihren Füßen nicht einmal das Gras. Ihr hochgeschlossenes, schneeweißes Kleid hatte sie mit ihrer braunen Hand, die Toivo an eine Vogelkralle erinnerte, sehr elegant hochgerafft. Sie blieb vor ihm stehen. Ihr Gesicht war braun und schmal, und sie überragte Toivo um eine Kopflänge. Toivo verbeugte sich respektvoll, und sie erwiderte seinen Gruß mit einem wohlwollenden Kopfnicken.

»Sie dürfen mich Albina nennen«, sagte sie huldvoll und in angenehmem Bariton.

Toivo stellte sich ebenfalls vor.

Sie runzelte die braune Stirn unter dem dichten Schopf weißer Haare. »Die KomKon? Nun gut, meinetwegen die KomKon. Seien Sie so freundlich, Toivo, und sagen Sie mir bitte, welche Erklärung die KomKon hat für das, was hier passiert ist?«

»Was meinen Sie genau?«, fragte Toivo.

Diese Frage schien ihr zu missfallen. »Konkret, mein Lieber, meine ich Folgendes: Wie konnte es geschehen, dass heute, auf unserer Erde, am Ende unseres Jahrhunderts, Lebewesen, die den Menschen um Hilfe und Barmherzigkeit angerufen haben, weder Barmherzigkeit noch Hilfe zuteilwurde - und sie, im Gegenteil, verfolgt, eingeschüchtert und körperlich auf die grausamste Art und Weise traktiert wurden? Ich will keine Namen nennen, aber sie haben mit Harken auf sie eingeschlagen, sie haben sie wild angeschrien, sie haben sogar versucht, sie mit Gleitern zu zerquetschen. Ich hätte es nie geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Wissen Sie, was das ist: Barbarei? Das war Barbarei! Ich schäme mich.«

Sie verstummte, ohne den durchdringenden Blick ihrer zornigen schwarzen und sehr jung wirkenden Augen von Toivo zu wenden. Sie erwartete eine Antwort, und Toivo murmelte: »Darf ich Ihnen einen Sessel herauszubringen?«

»Nein, dürfen Sie nicht«, sagte sie. »Ich habe nicht vor, mich hier mit Ihnen niederzulassen. Ich möchte Ihre Meinung darüber hören, was mit den Menschen dieser Siedlung passiert ist. Ihre Meinung als Fachmann. Was sind Sie? Soziologe, Pädagoge, Psychologe? Also, ich bitte um eine Erklärung. Verstehen Sie, es geht nicht um Sanktionen. Wir müssen verstehen, wie es geschehen konnte, dass Menschen, die gestern noch wohlerzogen und zivilisiert - ich würde sogar sagen, reizende Menschen! - waren, heute plötzlich ihre Menschlichkeit verlieren! Wissen Sie, wodurch sich der Mensch von allen anderen Wesen auf der Welt unterscheidet?«

»Äh … durch die Vernunft?«, meinte Toivo.

»Nein, mein Lieber! Durch die Barmherzigkeit! Die Barmher-zig-keit!«

»Ja, gewiss«, sagte Toivo. »Aber woraus folgt denn, dass diese Wesen gerade Barmherzigkeit brauchten?«

Sie blickte ihn voller Abscheu an. »Haben Sie sie gesehen?«, fragte sie.

»Nein.«

»Wie kommen Sie dann dazu, darüber zu urteilen?«

»Ich urteile nicht darüber«, entgegnete Toivo. »Ich will ja gerade herausfinden, was sie wollten …«

»Ich glaube, Ihnen ziemlich deutlich gesagt zu haben, dass diese Lebewesen, diese armen Tiere bei uns Hilfe suchten! Sie waren dem Tode nahe, konnten jeden Moment sterben! Und sie sind gestorben, wissen Sie das etwa nicht? Vor meinen Augen sind sie gestorben und zu Nichts geworden, zu Staub, und ich konnte nichts tun - ich bin Tänzerin und kein Biologe, kein Arzt. Ich habe gerufen, aber es konnte mich niemand hören in diesem Tohuwabohu, in dieser Orgie von Grausamkeit und Barbarei. Und dann, als endlich Hilfe eintraf, war es zu spät, sie waren nicht mehr am Leben. Keines von ihnen! Und diese Wilden … Ich weiß nicht, wie ich ihr Verhalten erklären soll. Vielleicht war es eine Massenpsychose, eine Vergiftung? Ich war immer dagegen, Pilze zu essen. Sicher sind sie, als sie wieder zu sich kamen, vor Scham davongelaufen! Haben Sie sie gefunden?«

»Ja«, sagte Toivo.

»Haben Sie mit ihnen gesprochen?«

»Ja. Mit einigen. Nicht mit allen.«

»Dann sagen Sie mir bitte: Was war mit ihnen geschehen? Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen, wenigstens vorläufig?«

»Sehen Sie … meine Dame …«

»Sie können mich Albina nennen.«

»Danke. Sehen Sie, es ist so … Soweit uns bekannt ist, hat die Mehrheit Ihrer Nachbarn diese Invas… dieses Ereignis anders aufgefasst als Sie.«

»Natürlich!«, erwiderte Albina von oben herab. »Das habe ich mit eigenen Augen gesehen!«

»Nein, nein. Ich will sagen: Sie sind erschrocken. Sie sind zu Tode erschrocken. Sie haben vor Grauen fast den Verstand verloren. Sie haben sogar Angst, hierher zurückzukehren. Einige wollen nach dem, was sie durchgemacht haben, die Erde verlassen. Und soweit ich sehe, sind Sie der einzige Mensch, der einen Hilferuf vernommen hat …«

Sie hörte majestätisch, doch sehr aufmerksam zu.

»Nun«, bemerkte sie, »offensichtlich schämen sie sich so sehr, dass sie sich auf die Angst berufen müssen. Glauben Sie ihnen nicht, mein Lieber, glauben Sie es nicht! Es war eine ganz primitive, schändliche Xenophobie, ähnlich den Rassenvorurteilen. Ich weiß noch, als Kind hatte ich hysterische Angst vor Spinnen und Schlangen. Und hier ist es dasselbe.«

»Das mag durchaus sein. Aber etwas möchte ich doch gern genauer wissen. Diese Wesen haben um Hilfe gebeten; sie brauchten Barmherzigkeit. Doch wie kam das zum Ausdruck? Denn wenn ich Sie richtig verstehe, haben sie nicht gesprochen, nicht einmal gestöhnt …«

»Mein Lieber! Sie waren krank, sie lagen im Sterben! Was hat es schon zu sagen, dass sie schweigend starben? Ein auf den Strand geworfener Delfin gibt schließlich auch keinen Laut von sich. Jedenfalls hören wir ihn nicht, und trotzdem ist uns klar, dass wir ihm helfen müssen und eilen ihm zu Hilfe. Dort kommt ein Junge, Sie können hier nicht hören, was er sagt, aber Sie sehen, dass er munter ist, fröhlich, glücklich.«

Aus dem Cottage Nr. 6 näherte sich Kir, und er war in der Tat munter, fröhlich und glücklich. Basil, der neben ihm ging, trug ehrfurchtsvoll das große schwarze Modell einer antiken Galeere in Händen. Er stellte anscheinend Fragen, und Kir antwortete ihm, beschrieb mit seinen Händen Abmessungen, Formen, komplizierte Wechselwirkungen. Anscheinend war auch Basil ein großer Modellbauer von antiken Galeeren.

Albina schaute genauer hin: »Aber das ist ja Kir!« »Ja«, sagte Toivo. »Er ist zurückgekommen, um sein Modell zu holen.«

»Kir ist ein guter Junge«, erklärte Albina. »Aber sein Vater hat sich widerwärtig aufgeführt. Guten Morgen, Kir!«

Kir war so ins Gespräch vertieft, dass er sie erst jetzt bemerkte. Er blieb stehen und sagte schüchtern: »Guten Morgen.« Die Begeisterung war von seinem Gesicht gewichen, wie übrigens auch von dem Basils.

»Wie geht es deiner Mama?«, erkundigte sich Albina.

»Danke. Sie schläft.«

»Und der Papa? Wo ist dein Vater, Kir? Ist er irgendwo hier?«

Kir schüttelte schweigend den Kopf und machte ein finsteres Gesicht.

»Und du bist die ganze Zeit über hiergeblieben?«, rief Albina anerkennend und warf Toivo einen triumphierenden Blick zu.

»Er ist wegen seines Modells zurückgekommen«, erinnerte Toivo sie.

»Egal. Du hattest doch keine Angst, hierher zurückzukehren, Kir?«

»Aber warum sollte ich denn Angst vor ihnen haben, Oma Albina?«, murmelte Kir gekränkt und wollte seitwärts an ihr vorbeigehen.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte Albina giftig. »Dein Vater zum Beispiel …«

»Vater hatte überhaupt keine Angst. Das heißt, er hatte welche, aber nur um mich und Mama. Er hat in dem Durcheinander einfach nicht begriffen, wie lieb sie sind …«

»Nicht lieb, sondern unglücklich!«, berichtigte ihn Albina.

»Aber nein, warum denn unglücklich, Oma Albina?«, widersprach ihr Kir entrüstet, wobei er seine Arme ausbreitete, wie ein ungeschickter Tragöde. »Sie sind doch lustig, sie

Oma Albina lächelte herablassend.


An dieser Stelle muss ich nun unbedingt einen Aspekt hervorheben, der für den Mitarbeiter Toivo Glumow charakteristisch war. Hätte sich an seiner Stelle ein unerfahrener Praktikant befunden, wäre dieser nach der Unterredung mit Duremar zu dem Schluss gekommen, dass der versuchte, ihn in die Irre zu führen. Er hätte gedacht, dass die Sache im Großen und Ganzen auf der Hand liege: dass Fleming einen Embryophor neuen Typs geschaffen habe, seine Ungeheuer ausgebrochen seien, und man sich jetzt wieder beruhigt schlafen legen könne, um am Vormittag der Obrigkeit Bericht zu erstatten.

Ein erfahrener Mitarbeiter dagegen, wie beispielsweise Sandro Mtbewari, hätte nicht mit Basil Kaffee getrunken: Ein Embryophor neuen Typs ist kein Spaß, Sandro hätte unverzüglich fünfundzwanzig Anfragen an alle nur denkbaren Instanzen geschickt und wäre sofort nach Nishnaja Pescha gestürzt, um Flemings Stümpern und Halunken an die Gurgel zu gehen, bevor sie sich vorbereiten konnten, ihm die gekränkte Unschuld vorzuspielen.

Toivo Glumow aber rührte sich nicht vom Fleck. Warum? Er hatte den Gestank von Schwefel gerochen. Nein, nicht den Gestank - nur einen Hauch. Ein sensationeller Embryophor? Gewiss, das ist ernst. Aber es riecht nicht nach Schwefel. Eine hysterische Panik? Schon eher. Doch die Hauptsache war diese seltsame alte Frau aus dem Cottage Nr. 1. Das ist es! Panik, Hysterie, Flucht, der Katastrophenschutz, und sie bittet, man möge keinen Lärm machen und sie nicht beim Schlafen stören. Dafür gab es keine herkömmliche Erklärung. Und Toivo versuchte auch nicht, eine zu finden. Er blieb einfach vor Ort und wartete ab; er wartete, bis die Alte aufstand, um

Ihm war »eingefallen, mit Basil zu frühstücken« - so drückte er sich aus. Wohl, um keine Zeit darauf zu verschwenden, Worte zu finden für die vagen, beunruhigenden Empfindungen, die ihn zum Bleiben veranlasst hatten.



Malaja Pescha. Am selben Tag. 8 Uhr morgens


Kir zwängte sich mit seiner Galeere in Händen in die Null-T-Kabine und verschwand nach Petrosawodsk. Basil zog seinen dicken Spezialanorak aus, warf sich ins Gras und nickte, wie es schien, auf dem schattigen Fleckchen ein. Oma Albina schwebte zurück ins Cottage Nr. 1.

Toivo machte sich nicht die Mühe, zum Pavillon zu gehen; er setzte sich einfach mit überkreuzten Beinen ins Gras - und wartete.

Aber es ereignete sich nichts Besonderes in Malaja Pescha. Aus dem Cottage Nr. 7 hörte man von Zeit zu Zeit einen gekränkten Aufschrei Ernst Jürgens - mal über das Wetter, mal über den Fluss, mal über den Urlaub. Albina, noch immer ganz in Weiß, erschien auf ihrer Veranda und setzte sich unter die Markise. Ihre Stimme klang herüber, melodisch, leise - anscheinend sprach sie mit jemandem per Videofon. Mehrmals tauchte Duremar-Tolstow in Toivos Blickfeld auf; er strich zwischen den Cottages umher, hockte sich hin, um den

Um halb acht stand Toivo auf, ging in den Klub und rief seine Mutter per Videofon an. Der übliche Kontrollanruf. Er fürchtete, den Tag über sehr beschäftigt zu sein und keine Zeit zum Anrufen mehr zu finden. Sie sprachen über dies und das … Toivo erzählte, dass er eine alte Ballerina namens Albina getroffen habe. Ob das nicht Albina die Große sei, von der man ihm als Kind so vorgeschwärmt hatte? Sie überlegten kurz und kamen zu dem Schluss, dass das durchaus möglich war. Doch es hatte noch eine berühmte Ballerina Albina gegeben, die etwa fünfzig Jahre älter war als Albina die Große. Dann verabschiedeten sie sich bis zum nächsten Tag.

Von draußen hörte Toivo nun ein jammervolles Geschrei: »Und die Krebse? Ljowa, die Krebse!«

Ljowa Tolstow näherte sich schnellen Schrittes dem Klub. Mit der linken Hand winkte er verärgert ab, mit der rechten presste er sich ein großes Paket an die Brust. Am Eingang zum Pavillon blieb er stehen und schrie mit hoher, schriller Stimme zum Cottage Nr. 7 hinüber: »Ich komme ja wieder! Bald!« Da bemerkte er, dass Toivo ihn ansah, und erklärte wie zur Entschuldigung: »Eine sehr merkwürdige Geschichte. Jetzt muss ich der Sache doch nachgehen. Mir Klarheit verschaffen.« Damit verschwand er in der Null-T-Kabine.

Daraufhin geschah längere Zeit wieder nichts. Toivo beschloss, bis acht Uhr zu warten.

Um fünf Minuten vor acht tauchte ein Gleiter aus dem Wald auf, flog ein paar Runden über Malaja Pescha, ging dabei allmählich tiefer und landete sanft vor dem Cottage Nr. 10. Dort hatte, der Einrichtung nach zu urteilen, die Familie eines Künstlers gewohnt. Aus dem Gleiter sprang ein hochgewachsener Mann, der leichtfüßig die Stufen zur Veranda hinauflief und dann nach hinten gewandt rief: »Alles in Ordnung! Es ist nichts und niemand zu sehen!« Während

Wie sich herausstellte, war sie Künstlerin, hieß Sossja Ljadowa, und es war ihr Selbstporträt gewesen, das Toivo im Cottage der Jarygins gesehen hatte. Sie war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und studierte an der Akademie, im Atelier Komowskij-Korsakows. Etwas Bedeutendes hatte sie noch nicht geschaffen. Sie war schön, wesentlich schöner als ihr Selbstporträt. Etwas an ihr erinnerte Toivo an seine Assja; doch hatte er Assja nie im Leben so verängstigt gesehen.

Der Mann hieß Oleg Olegowitsch Pankratow und war Lektor des Syktywkarer Lehrkreises. Zuvor war er fast dreißig Jahre lang Astroarchäologe gewesen, hatte in Fokins Gruppe gearbeitet, an der Expedition zum Kala-i-Mug (auch bekannt als »Morohashis paradoxer Planet«) teilgenommen, die ganze Welt kennengelernt und alles gesehen. Er war ein sehr ruhiger, fast ein wenig phlegmatischer Mann mit Händen so groß wie Schaufeln - verlässlich, solide, gründlich, und mit nichts aus der Ruhe zu bringen; sein Gesicht war weiß und rosig, er hatte blaue Augen, eine Kartoffelnase und einen mächtigen, rotblonden Bart wie Ilja Muromez.

So war es kein Wunder, dass die Eheleute sich während der nächtlichen Ereignisse völlig unterschiedlich verhalten hatten. Oleg Olegowitsch war beim Anblick der lebenden »Säcke«, die durchs Fenster ins Schlafzimmer gekrochen kamen, natürlich sehr erstaunt gewesen, hatte sich aber nicht erschrocken. Vielleicht, weil ihm gleich die kleine Filiale in Nishnaja Pescha eingefallen war, die er seinerzeit mehrere Male besucht hatte, und auch der Anblick der »Monstren« selbst rief bei ihm kein Gefühl von Gefahr hervor. Er hatte vor allem Ekel empfunden, Ekel und Abscheu, doch keinerlei

»Ja, wir alle haben uns nicht gerade vorbildlich benommen, aber trotzdem darf man sich nicht so gehen lassen, wie das einige getan haben. Mancher ist ja noch immer nicht zu sich gekommen. Frolow haben wir gleich ins Krankenhaus nach Sula gebracht, wo man ihn förmlich vom Gleiter wegreißen musste, er war völlig außer sich. Und die Grigorjans wollten sich mit ihren Kindern nicht einmal mehr in Sula aufhalten, sie sind alle vier in die Null-Kabine gestürzt und nach Mirza-Charle aufgebrochen. Grigorjan hat uns zum Abschied zugerufen: ›Irgendwohin, bloß recht weit weg und für immer!‹«

Sossja aber konnte die Grigorjans gut verstehen; sie selbst hatte noch niemals solches Grauen empfunden. Dabei ging es gar nicht darum, ob diese Tiere nun gefährlich waren oder nicht. »Uns alle trieb die Angst … Misch dich nicht ein, Oleg, ich rede von uns normalen, unvorbereiteten Leuten, nicht von solchen Teufelskerlen wie dir … Uns trieb die Angst, aber nicht, weil wir uns davor gefürchtet hätten, aufgefressen, erdrosselt, bei lebendigem Leibe verschlungen zu werden oder so etwas. Nein, es war ein ganz anderes Gefühl!« Sossja hatte Mühe, eine halbwegs zutreffende Beschreibung dafür zu finden. Die beste und verständlichste schien ihr folgende: »Es war keine Angst. Es war das Gefühl, es unmöglich ertragen zu können, sich mit diesen Biestern im selben Raum, in

Nämlich: Diese Ungeheuer waren schön! Sie waren in einem solchen Maße schrecklich und widerwärtig, dass sie auf ihre Weise ganz und gar vollkommen waren - die vollkommene Hässlichkeit. Die ästhetische Nahtstelle des ideal Hässlichen und des ideal Schönen. Jemand hat einmal gesagt, dass ideale Hässlichkeit wohl dieselben ästhetischen Empfindungen in uns hervorrufen müsse wie ideale Schönheit. Bis vorige Nacht war ihr das immer paradox vorgekommen. Aber es war nicht paradox! Oder sei sie jetzt schon so durcheinander … ihre Gedanken völlig unangebracht?

Sie zeigte Toivo einige Skizzen, die sie zwei Stunden nach der Panik aus dem Gedächtnis heraus angefertigt hatte. In einem leerstehenden Häuschen hatten Oleg und sie sich einquartiert. Anfangs hatte ihr Oleg Tonic zu trinken gegeben und versucht, sie mit Psychomassage wieder zu sich zu bringen. Doch als das alles nichts half, griff sie sich ein Blatt Papier, irgendeinen schrecklichen Stift, hart und klobig, und begann hastig, Linie für Linie, Schatten für Schatten, auf Papier zu übertragen, was ihr als Albtraum noch vor Augen stand und die wirkliche Welt verdeckte.

Auf den Zeichnungen war nichts Besonderes zu sehen. Ein Netz von Linien, bekannte Dinge ließen sich erahnen: das Verandageländer, der Tisch, die Sträucher, und über allem - verschwommene Schatten undefinierbarer Formen. Sicher, die Zeichnungen vermittelten ein Gefühl von Beunruhigung, Unbehagen … Oleg Olegowitsch fand, dass die Skizzen durchaus etwas hatten. Obwohl, seiner Meinung nach sei alles viel einfacher und scheußlicher gewesen. Aber er stehe der Kunst auch ziemlich fern, sei nur ein unqualifizierter Kunstliebhaber, nicht mehr …

Er fragte Toivo, was man herausgefunden hätte. Toivo erzählte ihm von seinen Vermutungen: Fleming, Nishnaja

Nun lebte Oleg Olegowitsch ungemein auf, schlug mit den schaufelgroßen Händen auf die Armlehnen des Sessels und auf den Tisch, warf bald Toivo, bald Sossja triumphierende Blicke zu und rief unter lautem Lachen: »Sieh an, der kleine Kir! So ein Prachtkerl! Ich habe ja immer gesagt, dass aus ihm noch was wird. Und dann unsere gute Albina! Von wegen zierlich-manierlich.« Worauf Sossja recht heftig wurde und erklärte, daran sei wohl nichts Verwunderliches, Kinder und Alte seien schon immer vom selben Schlag gewesen. »Und die Raumflieger!«, rief Oleg Olegowitsch. »Vergiss die Raumflieger nicht, Liebste!« Dann lieferten sie sich - halb im Ernst und halb im Scherz - ein Wortgefecht, bis es zu einem kleinen Zwischenfall kam.

Oleg Olegowitsch, der seiner Liebsten bisher mit einem Lächeln von einem bis zum anderen Ohr gelauscht hatte, hörte plötzlich auf zu lächeln. Die Fröhlichkeit auf seinem Gesicht wich einem Ausdruck von Bestürzung, so, als hätte ihn etwas bis ins Mark erschüttert. Toivo folgte seinem Blick und sah Folgendes: Der untröstliche, enttäuschte Ernst Jürgen stand in der Tür seines Cottages Nr. 7. Er trug jetzt nicht mehr seine Krabbenkrebsfang-Montur, sondern einen weiten beigefarbenen Anzug. Er hatte sich an einen Pfosten angelehnt, hielt in einer Hand eine flache Bierdose und in der anderen ein riesiges Butterbrot, das mit etwas Rotweißem belegt war. Mal führte er die eine Hand zum Mund und mal die

»Da ist ja auch Ernst!«, rief Sossja aus. »Und du sagst …«

»Ich werd verrückt!«, sagte Oleg Olegowitsch langsam und sah noch genauso bestürzt aus wie zuvor.

»Wie du siehst, ist Ernst auch nicht erschrocken«, bemerkte Sossja giftig.

»Das sehe ich«, gab Oleg Olegowitsch zu.

Er wusste etwas über diesen Ernst Jürgen und hatte auf gar keinen Fall erwartet, ihn nach den nächtlichen Ereignissen hier zu sehen. Ernst Jürgen hatte hier nichts zu schaffen. Er hatte nicht auf seiner Veranda in Malaja Pescha zu stehen, Bier zu trinken und gekochte Krabbenkrebse zu essen. Ernst Jürgen hatte sofort und ohne sich noch einmal umzusehen das Weite zu suchen - auf seinen Titan oder noch weiter.

Eilends klärte Toivo das Missverständnis auf und erzählte, dass Ernst Jürgen gestern Nacht nicht in der Siedlung, sondern mehrere Kilometer flussabwärts auf Krabbenkrebsfang gewesen war. Nun schien Sossja sehr betrübt. Oleg Olegowitsch jedoch, so kam es Toivo vor, atmete geradezu erleichtert auf. »Das ist ja ganz was anderes!«, sagte er. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Und obwohl ihn niemand gefragt hatte, was der Grund für seine Bestürzung gewesen war, begann er nun plötzlich mit Erklärungen: In der Nacht, als die Panik herrschte, habe es ihn nämlich sehr irritiert mit anzusehen, wie Ernst Jürgen sich auf die schändlichste Weise, mit den Ellenbogen an allen vorbei in die Null-Kabine gedrängt hatte. Jetzt aber sei ihm klar, dass er sich getäuscht hatte, dass es nicht so gewesen sei und, wie man sieht, auch nicht so gewesen sein konnte. Doch im ersten Moment, als er Ernst Jürgen mit der Bierdose erblickt hatte …

Niemand weiß, ob Sossja ihm glaubte, Toivo jedoch glaubte ihm kein Wort. Es war nichts dergleichen vorgefallen. Oleg

Und dann fiel ein Schatten auf Malaja Pescha, und ringsum hörte man ein sanftes Summen. Der aufgeschreckte Basil schoss hinter dem Pavillon hervor und warf im Laufen seinen Anorak über. Aber gleich strahlte wieder die Sonne über Malaja Pescha, und auf das Gras senkte sich majestätisch, goldschimmernd und glänzend wie ein riesiger Brotlaib, ohne einen einzigen Grashalm zu krümmen, ein Pseudograv der »Puma«-Klasse, einer der ganz neuen, supermodernen … Sofort öffneten sich die vielen ovalen Luken und daraus sprangen zahllose geschäftige, laute Menschen, braungebrannt und langbeinig. Sie schleppten Kästen mit Trichteröffnungen herbei, zogen Schläuche mit wunderlichen Endstücken hinter sich her, ließen Blitz-Kontaktoren aufflammen, liefen aufgeregt durcheinander und gestikulierten. Und derjenige von ihnen, der am aufgeregtesten hin und her lief, am meisten gestikulierte, Kisten herbeischleppte und Schläuche hinter sich herzog, war Lew Duremar-Tolstow - immer noch in denselben Sachen, an denen die eingetrocknete, grüne Algenmasse klebte …



Das Arbeitszimmer des Leiters der Abteilung BV.

6. Mai ’99. Gegen 13 Uhr


»Und was haben sie mit all ihrer Technik herausgefunden?«, fragte ich.

Toivo schaute gelangweilt aus dem Fenster. Sein Blick folgte den dichten Wolken, die langsam über den südlichen Stadtrand von Swerdlowsk dahinschwebten.

»Nichts wirklich Neues«, antwortete er. »Sie haben die Tierart rekonstruiert, die am wahrscheinlichsten ist, und ihre Analysen ergaben dasselbe wie die des Katastrophenschutzes. Sie haben sich gewundert, dass keine Hüllen von Embryophoren übrig geblieben sind, haben über die Energetik gestaunt und steif und fest behauptet, so etwas sei unmöglich.«

»Hast du Anfragen gestellt, Erkundigungen eingezogen?«, zwang ich mich zu fragen.

Ich möchte noch einmal betonen, dass ich zu dem Zeitpunkt bereits alles durchschaute, alles wusste und alles verstand, aber noch keine Ahnung hatte, was ich mit diesem Wissen anfangen sollte. Mir wollte nichts einfallen, und meine Mitarbeiter und Kollegen störten mich nur. Besonders Toivo Glumow.

Nichts hätte ich lieber getan, als ihn sofort in Urlaub zu schicken, sie alle in Urlaub zu schicken, bis zum letzten Praktikanten. Und dann alle Nachrichtenkanäle abzuschalten, mich abzuschirmen, die Augen zu schließen und zumindest einen Tag lang völlig allein zu sein. Und mein Gesicht nicht mehr unter Kontrolle halten zu müssen. Nicht daran denken zu müssen, welche von meinen Worten natürlich klangen und welche nicht. Um an nichts denken zu müssen; damit im Kopf gähnende Leere entstünde und sich in dieser Leere die gesuchte Lösung von selbst einstellte. Das war eine Art Halluzination, wie man sie bekommt, wenn man einen lästigen Schmerz allzu lange ertragen muss. Ich ertrug ihn nun schon über fünf Wochen, meine Kräfte gingen zur Neige, aber noch gelang es mir, mein Gesicht zu kontrollieren, mein Verhalten zu steuern und angebrachte Fragen zu stellen.

»Hast du Erkundigungen eingezogen?«, fragte ich Toivo Glumow.

»Erkundigungen habe ich eingezogen«, antwortete er monoton. »Bei Bürgermeyer in der PV ›Embryomechanik‹. Bei

»Gut«, sagte ich. »Warten wir.«

Jetzt musste ich ihm Gelegenheit geben sich auszusprechen. Es war ihm anzusehen, dass er sich vergewissern wollte, dass mir nicht die Hauptsache entgangen war. Im Idealfall war es natürlich Aufgabe des Chefs, diese Hauptsache zu extrahieren und hervorzuheben, aber dazu fehlte mir schon die Kraft.

»Du willst noch etwas hinzufügen?«, fragte ich.

»Ja. Das will ich.« Er schnippte ein unsichtbares Stäubchen von der Tischplatte. »Die ungewöhnliche Technologie ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist die Streubreite der Reaktionen.«

»Das heißt?« (Ich musste ihn auch noch anstoßen!)

»Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass die Ereignisse die Augenzeugen in zwei ungleiche Gruppen teilten. Streng genommen sogar in drei. Die Mehrheit der Betroffenen verfiel in kopflose Panik. Der Teufel im mittelalterlichen Dorf. Totaler Verlust der Selbstbeherrschung. Die Leute sind nicht einfach aus Malaja Pescha geflohen; sie sind von der Erde geflohen. Die zweite Gruppe: Der Viehzuchttechniker Anatoli Sergejewitsch und die Malererin Sossja Ljadowa bekamen zunächst zwar einen gehörigen Schreck, fanden aber dann den Mut zurückzukehren, wobei die Malerin in diesen Tieren sogar eine gewisse Faszination sah. Und schließlich die alte Ballerina, der junge Kir und wohl auch Pankratow, der Mann Sossja Ljadowas. Sie hatten überhaupt keine Angst. Im Gegenteil. Es ist die Streubreite der Reaktionen«, wiederholte er.

Ich wusste, was er jetzt von mir erwartete. Die Schlussfolgerungen lagen auf der Hand: In Malaja Pescha war ein Experiment zur künstlichen Auslese durchgeführt worden; es hatte die Menschen ihren Reaktionen entsprechend aufgeteilt

Doch ich machte keinen Gebrauch von meinem Vorrecht. Dazu reichte meine Kraft nicht mehr.

»Die Streubreite«, wiederholte ich. »Überzeugend.«

Mir unterlief wohl doch ein falscher Ton, denn Toivo zog plötzlich die weißen Brauen hoch und starrte mich an.

»War das alles?«, fragte ich schleunigst.

»Ja«, antwortete er. »Alles.«

»Gut. Warten wir auf die Expertise. Was hast du jetzt vor? Schlafen gehen?«

Er holte Luft. Kaum merklich. »Der Vorgesetzte hat es nicht für angebracht gehalten.« … Jemand mit weniger Selbstbeherrschung hätte an seiner Stelle etwas Herausforderndes oder gar Unverschämtes gesagt. Toivo aber sagte: »Ich weiß nicht. Ich werde wohl noch etwas arbeiten. Die Zählung muss noch fertig werden.«

»Die Walzählung?«

»Ja.«

»Gut«, sagte ich. »Wenn du willst. Und morgen reist du bitte nach Charkow.«

Toivo hob wieder seine weißblonden Augenbrauen, erwiderte aber nichts.

»Was das Institut der Sonderlinge ist, weißt du?«, fragte ich.

»Ja. Kikin hat es mir erzählt.«

Nun war ich es, der die Brauen hochzog. In Gedanken natürlich. Hol sie doch alle der Teufel. Lassen sich völlig gehen. Muss ich denn jedes Mal und jeden Einzelnen von ihnen ermahnen, den Mund zu halten? Das ist nicht die KomKon 2, sondern ein Kaffeekränzchen.

»Und was hat dir Kikin erzählt?«

»Es ist eine Filiale des Instituts für Metaphysische Forschungen, wo die extremalen und transextremalen Eigenschaften der menschlichen Psyche untersucht werden. Es gibt dort reichlich viele sonderbare Menschen.«

»Richtig«, sagte ich. »Morgen fährst du dorthin. Das ist dein Auftrag.«

Den Auftrag formulierte ich so: Am 25. März beehrte der berühmte Hexenmeister vom Planeten Saraksch das Institut der Sonderlinge in Charkow mit seinem Besuch. Wer ist dieser Hexenmeister? Zweifellos ein Mutant. Außerdem ist er Herr und Gebieter aller Mutanten in den radioaktiven Dschungeln jenseits der Blauen Schlange. Er verfügt über viele erstaunliche, außergewöhnliche Fähigkeiten, unter anderem ist er ein Psychokrat. Was ist ein Psychokrat? »Psychokrat« ist die Sammelbezeichnung für Wesen, die sich eine fremde Psyche unterwerfen können. Außerdem ist Hexenmeister ein Wesen von ungewöhnlicher intellektueller Potenz, einer von jenen Sapientes, denen ein Tropfen Wasser genügt, um auf die Existenz von Ozeanen zu schließen. Hexenmeister war zu einem privaten Besuch auf die Erde gekommen. Aus irgendeinem Grund interessierte er sich vor allem für ebendieses Institut der Sonderlinge. Vielleicht wollte er seinesgleichen finden; wir wissen es nicht. Sein Besuch sollte vier Tage dauern, doch nach einer Stunde reiste er ab. Er kehrte auf den Saraksch zurück und verschwand in seinen radioaktiven Dschungeln.

Bis zu diesem Punkt enthielt meine Instruktion für Toivo Glumow die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Nun aber folgten die Pseudo- und Quasiwahrheiten.

Auf meine Bitte hin versuchen unsere Progressoren auf dem Saraksch seit einem Monat, mit Hexenmeister in Verbindung zu treten. Aber es gelingt ihnen nicht. Entweder haben wir, ohne es zu wissen, Hexenmeister bei seinem Aufenthalt auf der Erde gekränkt. Oder eine Stunde hat ihm genügt, um alle Informationen zu bekommen, die er über uns brauchte. Oder aber es geschah etwas, was spezifisch »hexenmeisterhaft« und für uns daher unvorstellbar war. Kurzum, Toivo sollte sich in das Institut begeben, alle Materialien über die Untersuchung Hexenmeisters (falls solche existierten) durchsehen, sich mit allen Mitarbeitern unterhalten, die mit ihm zu tun gehabt hatten, klären, ob sich in der Zeit, als sich Hexenmeister im Institut aufhielt, vielleicht etwas Seltsames ereignet hatte, ob sich jemand vielleicht an Äußerungen Hexenmeisters über die Erde oder über uns Menschen erinnerte, ob er etwas getan hatte, was damals vielleicht unbeachtet blieb, jetzt aber in einem neuem Licht erscheine.

»Alles klar?«, fragte ich.

Toivo warf mir einen kurzen Blick zu. »Sie haben nicht gesagt, welchem Projekt die Dienstreise zugeordnet wird.«

Nein, das war kein Funke von Inspiration. Und er hatte mich wohl auch kaum bei den Pseudo- und Quasiwahrheiten ertappt. Er konnte nur einfach nicht begreifen, dass sich sein Chef im Besitz so folgenschwerer Informationen über das Eindringen der verhassten Wanderer mit Nebensächlichkeiten abgab. Und ich sagte: »Dasselbe Projekt. ›Besuch der alten Dame‹.« (Eigentlich traf das sogar zu. Im weitesten Sinne des Wortes. Im allerweitesten.)

Eine Zeit lang schwieg er und trommelte mit seinen Fingern lautlos auf den Tisch. Dann sagte er in einem Ton, als bitte er um Entschuldigung: »Ich sehe keinen Zusammenhang …«

»Du wirst ihn sehen«, versprach ich.

Er schwieg.

»Und wenn es keinen gibt, umso besser«, erklärte ich. »Er ist Hexenmeister, verstehst du? Ich kenne ihn. Ein richtiger Hexenmeister. Wie aus dem Märchen, mit einem sprechenden Vogel auf der Schulter und allen anderen Utensilien. Noch dazu ein Hexenmeister von einem anderen Planeten. Ich brauche ihn unbedingt!«

»Ein möglicher Verbündeter«, sagte Toivo mit einem leicht fragenden Ton in der Stimme.

Na also, er hatte es sich selbst erklärt. Jetzt würde er arbeiten wie besessen. Vielleicht würde er Hexenmeister sogar finden. Das allerdings war zu bezweifeln.

»Vergiss nicht«, sagte ich, »dass du in Charkow als Mitarbeiter der Großen KomKon auftreten wirst. Das ist keine Tarnung, denn die Große KomKon ist tatsächlich mit der Suche nach Hexenmeister befasst.«

»Gut«, sagte er.

»Ist alles klar? Dann geh. Geh nur. Grüß Assja.«

Er ging, und endlich blieb ich allein. Für ein paar selige Minuten. Bis zum nächsten Videoanruf. Und in ebendiesen seligen Minuten beschloss ich nun, zu Athos zu gehen. Sofort, denn wenn er sich erst einmal zur Operation ins Krankenhaus begeben hatte, blieb kein einziger Mensch in der Nähe, zu dem ich noch gehen konnte.

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